Deutschlandradio Kultur - Nachspiel am 01.09.2013 Ein Ball für viele Fälle Die Geschichte des Medizinballs Autor: Günter Herkel Atmo 1 (0:10) Ballgeräusche in der Halle Autor: Generationen von Schülern wurden mit ihm malträtiert, vielen hat er die Lust am Sport vermiest. Am Medizinball scheiden sich die Geister. Take 1 (0:09) Ruisinger: Ich hab den Medizinball gehasst, ganz ehrlich. Ich geb das zu, und der Sportunterricht, vor allem die Medizinballübungen waren für mich das Grauen schlechthin. Take 2 (0:15) Stukenbrock: Ich fand früher schon diesen Ball, auch als Kind in der Schule sehr schön, schönes Leder, schöne Farbe, schön glatt, war ne ganz tolle Haptik. Der war eben auch nicht so klein, der war schön groß, und was ich ganz toll fand beim Zirkeltraining - es waren kurze, knackige Übungen, und dann war wieder Pause. Musik: Nina Simone "My Baby just cares for me" Autor: Schon der Begriff Ball klingt irgendwie irreführend. Schließlich handelt es sich um eine eher harte Kugel, die bis zu zehn Kilo schwer sein kann. Und was, bitte schön, hat dieses unhandliche Sportgerät mit Medizin zu tun? Zwei Medizinhistorikerinnen gingen dieser Frage in den letzten Jahren nach. Und förderten erstaunliche Erkenntnisse zutage. Take 3 (0:19) Ruisinger: Es ist keine offensichtliche Beziehung, denn er tut ja weh, dieser Medizinball. Dieser Ball ist nicht für zarte Schülerinnen gedacht, sondern für amerikanische Leistungsboxer und Ringer, die damit trainiert haben. Und er hieß dann sehr bald auch schon medicine ball, und diese Bezeichnung medicine ball wurde dann einfach ins Deutsche übernommen, als Medizinball übersetzt. Autor: Marion Ruisinger, Leiterin des Medizinhistorischen Museums Ingolstadt. Als Erfinder des Medizinballs gilt der US-Amerikaner William Muldoon. Ein New Yorker Polizist, Boxer und Weltklasseringer. Er schleuderte beim Boxtraining die Kugel in schneller Folge in Richtung seiner Trainingspartner, um deren Muskelkraft, Reaktionsgeschwindigkeit und Beweglichkeit zu trainieren. Das war Ende des 19. Jahrhunderts. In Deutschland machte der Ball erst in der Weimarer Republik Karriere. Verantwortlich dafür waren die damals wichtigsten deutschen Sportlehrer: Carl Diem, Prorektor der 1920 gegründeten Hochschule für Leibesübungen in Berlin und Hans Surén, der Begründer der "Deutschen Gymnastik", seit 1919 Leiter der Heeresschule für Leibesübungen. Take 4 (0:19) Ruisinger: Hans Surén hat ihn angeblich als Kriegsgefangener der Briten gefunden und sofort angefangen, damit zu üben und zu trainieren und ihn dann auch seinen Sportsoldaten zu geben. Carl Diem hat den Ball wohl in Amerika, auf Amerikareisen bereits kennen gelernt und hat ihn dann auch an der Hochschule eingeführt als Trainingsgerät. Autor: Beide beanspruchten für sich die Vorreiterrolle bei der Einführung des Sportgeräts. Surén gab 1925 seine vielbeachtete Schrift "Surén-Gymnastik mit Medizinbällen" heraus, die zur Popularität des Geräts entscheidend beitrug. Eine Kostprobe: Zitator 1: Medizinballüben heißt den Gliedern Freiheit geben - heißt Individualität wecken - heißt Körperfreude schenken. Medizinball-Gymnastik gießt, hämmert Kraft, Ausdauer, Stehvermögen in die Körper! Sie schärft Sinne und Konzentration, sie stärkt die Nerven, fordert Gewandheit und Schneid. Ein Prasseln, Knallen, Schlagen - ein stampfendes Atmen, fast ein Flimmern von Konzentration wie zitternde Luft über sonnenheißem Sand - so überwältigend ist der Anblick, wenn 30 nackte, schlankkräftige Jünglinge und Männer, ölglänzende Athleten, sich blitzschnell mit 15 Medizinbällen bearbeiten." Autor: Dass Surén später durch sein Wirken in der NS-Zeit den zweifelhaften Ruf eines "braunen Herolds der Nacktgymnastik" erwarb, verwundert angesichts solch schwülstiger Erbauungsliteratur kaum. Den Körper zu stählen und gesund zu erhalten, avancierte nach dem Grauen des Ersten Weltkriegs in Deutschland geradezu zur patriotischen Pflicht. Es galt, die demoralisierte Bevölkerung wieder aufzurichten. Leibesübungen mit dem Medizinball und anderen Sportgeräten passten perfekt ins Wiederaufbau- und Remilitarisierungsprogramm. Take 5 (0:20) Stukenbrock: Die Wehrfähigkeit der deutschen Männer sollte wiederhergestellt werden und langfristig dann ja auch wieder zur Wehrtüchtigkeit führen. Bei den Frauen war es ganz anders: Die sollten nicht wehrertüchtigt werden, sondern gebärfähig erhalten oder dahin gebracht werden. Da ging es darum, die Frauen auf Geburten vorzubereiten und auf ihre spätere Rolle als Mutter. Autor: Karin Stukenbrock, Leiterin der Medizinbibliothek des Uniklinikums Halle an der Saale. Gemeinsam mit Marion Ruisinger konzipierte sie eine kleine Ausstellung über den Medizinball als "Grenzgänger zwischen Sport, Medizin und Politik". Von Spaßfaktor konnte bei einigen damals üblichen Übungen kaum die Rede sein. Take 6 (0:22) Stukenbrock: Seilspringen mit dem Medizinball, mit eingeklemmtem Medizinball. Oder die Sprossenwand: Der Mann hängt an der Sprossenwand, hat den Medizinball zwischen die Knie geklemmt, oder zwischen die Füße und muss dann die Beine waagerecht im 45-Grad-Winkel heben. Das ist dann schon die verstärkte Variante. Das war wirklich dann Wehrertüchtigung. Autor: Der steigenden Popularität der Lederkugel in der breiten Bevölkerung tat diese Art von Schinderei keinen Abbruch. Der Medizinball etablierte sich als praktisches, vielseitig verwendbares Sportgerät: nutzbar im Freien, in der Sporthalle und zu Hause. Heinrich Meusel, ein Zeitgenosse Suréns und wie dieser Propagandist der Medizinball-Gymnastik sah im Training mit der braunen Lederkugel den kürzesten Weg zu einer optimalen Körperbildung. Daher Zitator 2 "sollte der Medizinball nicht nur in jedem Turn- und Sportverein, sondern auch in jeder deutschen Familie recht bald als Gesundheits- und Freudespender Eingang finden. Wir würden dann bald nicht mehr so viel schleichende Krankheiten, die man zu neunzehntel dem Bewegungsmangel des Zivilisationsmenschen zuschreiben kann, mit uns schleppen und gesunde, widerstandsfähige und schöne Körper darstellen". Autor: Aufgrund seines hohen Gewichts ließen sich mit ihm Muskeln, Skelett und sogar die inneren Organe trainieren. Auch Kinder wurden mit einfachen Übungen an den Medizinball herangeführt. Take 7 (0:19) Stukenbrock: Bei den Kindern sollte das alles wieder noch ein bisschen spielerischer sein, die sollten ja nicht merken, dass sie trainieren. Weil wenn die keinen Spaß daran haben nach der fünften Übung, dann machen sie's ja nicht mehr. Und da wurden ganz viel Medizinballspiele gemacht. Einfach nur oben über den Kopf heben und dann weiter geben oder sich zurollen, und welche Mannschaft kann das am besten. Atmo 2 Sporthalle Take 8 (0:19) Habelt: Nichts Schöneres als ein rundes molliges lebendiges und deshalb Leder-Tier, was man rumrollen, rumschieben kann und dabei dann auch noch bis zu zwei Kilo hochwuchten muss oder den Partner anstoßen muss, drüber krabbeln, drüber fallen. Autor: Klaus Habelt gerät ins Schwärmen, wenn er sich an die die sinnlichen Eigenschaften des traditionellen Medizinballs erinnert. Der sportliche Achtzigjährige weiß, wovon er redet. Habelt war bis 1987 Inhaber der Firma Kaspar Berg in Nürnberg, dem seinerzeit in Europa führenden Sportartikelproduzenten. Berg lieferte unter anderem Hürden, Speere, Diskuswurfscheiben, Startblöcke und Wurfhämmer zu allen wichtigen internationalen Wettkämpfen. Von 1928 in Amsterdam bis Seoul 1988 war Berg bei allen Olympischen Spielen vertreten. Auch der Jahrhundertwettkampf Max Schmeling gegen Joe Louis 1936 soll mit Boxhandschuhen der Firma Berg ausgetragen worden sein. Take 9 (0:25) Habelt: Für die Turnhalle von Schwingkeulen, Turnstäbe, Bänder zur Erkennung der Mannschaften, und Fähnchen und solche Sachen bis dann hin zu Stoßkugeln, Stoßsteinen - hat man damals auch noch gemacht - Schwinggriffe, aber für die Halle war natürlich auch der Schwingball eine Art Medizinball, der dann einen Lederriemen rum hat. Autor: Bekommt man heutzutage noch einen der alten ledernen Medizinbälle zu fassen, handelt es sich mit einiger Wahrscheinlichkeit um ein Produkt mit dem Stempel Berg. Take 10 (0:19) Neidiger: Ich hatte als frühesten Beleg in einer Aufstellung, die nach dem Krieg erst erstellt wurde, gefunden, dass in den 30er Jahren auf jeden Fall Medizinbälle hergestellt wurden. Eine größere Stückzahl ist wohl auch 1934 an die Wehrmacht geliefert worden. Autor: Christof Neidiger, Mitarbeiter im Nürnberger Stadtarchiv, dem nach dem Ende von Berg das Firmenarchiv zur Verfügung gestellt wurde. Take 11 (0:16) Neidiger: Ich hab garantiert auch mit einem Medizinball der Firma Berg zu tun gehabt. Die haben ja die Schulen damit ausgestattet, nicht nur mit Bällen, auch mit Barren und Kasten und Bock. Das sind genau diese Geräte, die ich zutiefst gehasst hab. Autor: Medizinbälle gab und gibt es es in allen möglichen Gewichtsabstufungen und Materialien. In der Regel haben sie einen Durchmesser von 20 bis 35 cm und wiegen zwischen 500 Gramm und zehn Kilogramm. Für den klassischen Medizinball galt eine eherne Regel. Take 12 (0:19) Ruisinger: Ein hochwertiger Medizinball, das wird auch immer wieder betont, muss aus Rindleder sein, krummgegerbt oder nicht, aber Rindleder, und wichtig war die Füllung. Eigentlich gilt für den Medizinball: Zeig mir, was du im Bauch hast und ich sag dir, wer du bist. Ein hochwertiger Medizinball hat Rentierhaare im Bauch. Autor: Medizinhistorikerin Marion Ruisinger. Take 13 (0:31) Ruisinger: Diese Fasern - hab ich mir sagen lassen - sind relativ lang und biegsam, also nicht so spröde wie andere Haarfasern. Ein bisschen fettig auch, man kann sich das vorstellen, diese Haare sind dem Winterpelz des Rentiers entnommen, und ein Rentier wohnt ja in kalten Gegenden, also braucht eine Isolierschicht, deswegen diese Fettschicht an den Haaren, und gleichzeitig aber auch Haare, die durch Luftkammern die Isolierung noch verbessern. Und das ergibt scheinbar in der Summe genau die physikalischen Eigenschaften, die man für diesen Ball braucht. Autor: Klaus Habelt erinnert sich noch lebhaft an die Rentierhaar-Ballen, die so schwer waren, dass vier Männer sie kaum stemmen konnten. Take 14 (0:21) Habelt: Wir haben damals große Ballen aus Finnland bekommen von Winterrentierhaaren, die dann gezupft wurden, die waren gepresst. Und die wurden dann in den vorgenähten Ball hineingestopft, und mussten aber dann sehr genau in alle Teile verteilt werden. Take 15 (0:29) Ruisinger: Das Problem war, diese Rentierhaare dann auch so fest in den Ball hineinzubringen, dass der hart und stabil wurde. Und das war eine unglaubliche Knochenarbeit. Es waren eigene Handwerker, Stopfer, die mit einem Stopfholz, das ähnlich wie ein kleiner Spazierstock vorzustellen ist, aber vorn spitz zuläuft, eine Metallspitze, und mit diesem spitzen Stopfholz wurden diese fettigen Fasern in die Lederhülle hineingepresst. Unter dem Einsatz der ganzen Körperkraft, des ganzen Oberkörpers. Autor: Stadtarchivar Neidiger wird beim Blättern in einem Produktkatalog der Firma Berg fündig. Take 16 (0:12) Neidiger: Das könnte ein Medizinball sein, dies hier ist dann wohl die Befüllung. Der Herr Körner stopft da wohl gerade die Rentierhaare in die Lederummantelung rein. Take 17 (0:12) Habelt: Alles per Handarbeit. Also das Leder einweichen, das Spannen, das Ausstanzen, das Füllen, das Zunähen - war alles reine Handarbeit. Und dadurch ein hoher Preis. Autor: In Schulen und Sportstätten galt und gilt daher die Devise, möglichst schonend mit dem kostbaren Trainingsgerät umzugehen. So darf das Leder zur Vermeidung von Brüchen keinesfalls nass werden. Auch die bei Schülern beliebte Übung, sich während der Spielpausen auf den Ball zu setzen, bekommt dem Leder nicht gut. Ganz zu schweigen von der Unart, auf dem Ball stehend zu balancieren. Welcher Typ eingesetzt wurde, hing natürlich mit den Bedürfnissen der jeweiligen Institution zusammen. Take 18 (0:22) Habelt: Ja, die 10 Kilo wurden für Fitness, für die Universität Mainz, für die Zehnkämpfer zum Beispiel, die haben da viel mit gearbeitet. Oder die Deutsche Sporthochschule. Aber im normalen Schulgebrauch war eigentlich der 3-Kilo-Ball und der 5-Kilo-Ball das gebräuchlichste, für die Mädchen zwei Kilo. Autor: Das Vielzweckgerät Medizinball fand auch im Gesundheitswesen früh überzeugte Anhänger. Bereits 1927, so fanden Stukenbrock/Ruisinger heraus, hatte man am Barmbeker Krankenhaus in Hamburg eine "Abteilung für Leibesübungen als Therapie" eingerichtet. Dort absolvierten die Patienten neben gymnastischen Übungen auch leichte Geschicklichkeits- und Kraftübungen mit dem Medizinball. Take 19 (0:24) Stukenbrock: Es ging nicht mehr darum, dass die Leute sich ins Bett legten und sich auskurieren sollten, sondern sie sollten, sobald sie in der Lage waren, sich bewegen, sich kräftigen, mit dem Ziel natürlich, schneller gesund zu werden. Und auch da war der Medizinball ideal, weil er kompakt war und auch leichte und kurze Übungen mit ihm möglich waren. Das war ein schon ziemlich durchdachtes Konzept. Heute würde man das Physiotherapie nennen. Autor: Sogar im Zusammenhang mit der Bekämpfung der Tuberkulose wird der Medizinball in diesen Jahren erwähnt. Natürlich nicht als Heilmittel, sondern zur Prophylaxe. Die Übungen mit dem Sportgerät sollten die Lungen kräftigen und die Betroffenen und Gefährdeten widerstandsfähiger machen. Take 20 (0:17) Ruisinger Und bei Wirbelsäulenverkrümmungen, die damals wegen Mangelernährung, Fehlernährung, Rachitis auch sehr viel verbreiteter waren als heute, war der Medizinball, das leuchtet unmittelbar ein, als ein Sportgerät im Rahmen der Krankengymnastik natürlich auch sehr hilfreich. Da gab's ganz viele Übungen, die da durchgeführt wurden. Autor: Ruisingers Zwischenbilanz: Take 21 (0:13) Ruisinger: Der Medizinball ist nach dem Ersten Weltkrieg in Deutschland aufgeschlagen, rollt durch die Weimarer Republik, macht ne richtige Karriere, im Dritten Reich noch verstärkt und rollt dann auch 45 weiter munter durch die Sporthallen der Schulen. Autor: Und heute? Take 22 (0:14) Rühl: Er ist nie ganz in der Versenkung verschwunden, zumindest nicht im Bereich des Leistungssports. Dort in der Leichtathletik oder auch im Fußball - als Beispiel sei nur Felix Magath genannt, der immer mit dem Medizinball auch in Verbindung gebracht wird - ist er nicht ganz verschwunden. Autor: Jörn Rühl, Diplom-Sportwissenschaftler und als hauptamtlicher Mitarbeiter beim Deutschen Turnerbund zuständig für den Bereich Fitness und Gesundheitssport. Take 23 (0:31) Rühl: Er ist verschwunden im Breitensport, im Bereich des Freizeit-, Fitness- und Gesundheitssportes, der sich im Bereich 90er Jahre bis heute entwickelt hat und der zunächst mal immer das Ansinnen hatte, möglichst sanft und möglichst schonend gerade im Gesundheitssportbereich den Körper zu trainieren. Und dort hat man dann zunächst mal Abstand genommen zunächst von dem Medizinball, weil man gedacht hat, das ist zu wenig kontrollierbar und er ist nicht sanft genug einsetzbar in diesem Bereich des Trainings. Autor: Auch Rühl konserviert Erinnerungen an sein persönliches Medizinball-Trauma. Ein Trauma, das er aber längst überwunden und verarbeitet hat. Der Medizinball, findet Rühl, hat darunter zu leiden, dass ihn zwar nicht der Staub der Geschichte, häufig aber der Staub von Sporthallen bedeckt. Quod erat demonstrandum. Besuch im Rückert-Gymnasium in Berlin-Schöneberg. Dass die Turnhalle wie das gesamte Gebäude mehr als 100 Jahre auf dem Buckel hat, sieht man ihr an. Turnmatratzen, Sprossenwände, Klimmseile, Sprungböcke. Und Medizinbälle. Sportlehrer Matthias Schimmelpfennig öffnet das Schloss eines abseits stehenden Holzschranks. Take 24 (0:33) Schimmelpfennig: Zum Vorschein kommen von oben nach unten in staubigerer Version die Medizinbälle. Hier die leichteren mit anderthalb Kilo, das ist für die, die in der siebten Klasse was machen. Und hier kommen natürlich so zweieinhalb Kilo. Das sind schon drei Kilo entsprechende Medizinbälle, mit denen wir in der Oberstufe arbeiten. Und ganz hinten, die wag ich gar nicht mehr anzufassen, weil die schon im Auflösungsprozess sind... Autor: In der Tat gammeln im hinteren Teil des Regals reichlich invalide Bälle herum. Das Leder eingerissen, auch die Hülle darunter schadhaft, beim Berühren rieselt eine undefinierbare Substanz heraus. Take 25 (0:05) Schimmelpfennig: ... Staub mit dran, hier ist bestimmt die letzten zehn Jahre nicht mehr gewischt worden. Autor: Immerhin: Die intakten Bälle kommen gelegentlich noch zum Einsatz, im Winter, etwa als Vorbereitung auf das Kugelstoßen. Auch in den Oberstufenkursen werden sie immer mal wieder herausgeholt, hauptsächlich für Kraftausdauer-Übungen. Take 26 (020) Schimmelpfennig: Und in der Mittelstufe für Zirkeltraining, als eine Station, wo man dann mit dem Medizinball entweder über Kopf werfen soll oder eben den vorm Bauch halten soll, wie auch immer dann rumreicht. Also sozusagen als ein Instrument, was n kleines Gewicht hat und Stützkraft und Stoßkraft mehr oder weniger schulen soll. Autor: Eine massiv medizinballfeindliche Einstellung kann der Sportlehrer unter seinen Schülern nicht mehr ausmachen. Take 27 (0:17) Schimmelpfennig: Da das Gerät sehr selten eingesetzt wird, ist natürlich für die Schüler das ein relativ unbelastetes Instrument mittlerweile geworden. Im Gegensatz zu Generationen wie wir, die wir damit gepeinigt wurden über viele Winter, können die damit relativ störungsfrei umgehen. Autor: Matthias Schimmelpfennig demonstriert die unterschiedlichen physikalischen Eigenschaften der verschiedenen Balltypen. Take 28 (0:29) Schimmelpfennig: Also Hupfen: Die sind ja meistens so, dass sie, wenn ich das mal vorführe - da ist nicht mehr viel mit Hupfen drin. (Knall) Wir haben hier noch ein Gerät, das ist aus, ja, mit Kunststoffhülle, das geht schon ein bisschen schwerer nieder und hüft n bisschen rum.(Knall) Kann natürlich auch entsprechend, wenn's zehn, 15 Meter durch die Halle geflogen ist, schon dem einen oder anderen in den Rücken fliegen, aber da denke ich, haben wir weniger Probleme mit. (Knalll) Na, die Kleinen, die bleiben fast liegen. Autor: Ein neuer Trend kündigt sich an, der auch der stiefmütterlichen Behandlung des Medizinballs ein Ende setzen könnte. Jörn Rühl: Take 29 (0:30) Rühl: Wir haben im Moment einen sehr starken Trend im Bereich des Fitness- und Gesundheitssports hin zu komplexen Bewegungen, zu Training in Muskelketten, zum Training in Ganzkörperbewegungen. Also nicht mehr das, was man über Jahre und Jahrzehnte gekannt hat - möglichst sanft, möglichst schonend den Muskel isoliert trainieren bis hin zu der Trainingsform, die man aus dem Fitnessstudio kennt, wo man gestützt irgendwo sitzt und dann ganz isoliert einen Muskel in einer Maschine trainiert. Da geht der Trend von weg. Autor: Das klingt nach einer Rehabilitation von Felix Magath, dem Ex-Trainer von Fußball-Bundesligisten wie Schalke 04 und dem VfL Wolfsburg. Magath wird gelegentlich als Schinder - Spitzname: Quälix - geschmäht. Unter anderem, weil er nach wie vor auf die konditionsbildende Kraft des Medizinballtrainings schwört. Was ihm gelegentlich den Ruf eines antiquierten Fußballlehrers eintrug. Take 30 (0:25) Rühl: Ja, es wurde ne Zeitlang belacht, dass zum Beispiel ein Felix Magath immer wieder auch im Training mit dem Medizinball arbeitet. Wurde aber natürlich auch n bisschen belacht von Leuten, die das als unmodern empfunden haben. Heutzutage weiß man: Es ist eigentlich ein sehr, sehr modernes Training, was auch ein Felix Magath mit dem Medizinball vollzogen hat. Und ich denke mal, heute und auch in den nächsten Jahren wird über ein solches Training niemand mehr lachen. Autor: Im Gegenteil. Höchst erfolgreiche Athleten, gar Weltrekordler in der Leichtathletik bekennen sich neuerdings offensiv zum Medizinball und seinen hervorragenden Trainingseigenschaften. Take 31 (0:15) Stukenbrock Auch der Zehnkämpfer bei den Olympischen Spielen in London hat ja seinen Sieg nicht direkt, aber auch damit begründet, dass er jeden Tag Medizinballübungen macht. Auch da Kräftigung, Muskelaufbau, gerade beim Zehnkampf, wo man wirklich alles trainieren muss, scheint das nach wie vor das ideale Sportgerät zu sein. Autor: Gemeint ist US-Zehnkämpfer Ashton Eaton, der zu seiner Londoner Goldmedaille unlängst bei der Leichtathletik-WM in Moskau weiteres Gold gewann. Atmo 3 Medizinballtraining Take 32 (0:07) Pohler: Der Medizinball wird immer eingesetzt zur Fitness, zur Kraftausdauer und einfach als alternative Trainingsmethode. Autor: Dieter Pohler, Sportlehrer an der Berliner Poelchau-Oberschule , einer Eliteschule für Sport. Der durchtrainierte 60jährige - er ist aktiver Triathlet - engagiert sich auch an Volkshochschulen im Allgemeinsport. Er schwört auf Übungen mit dem Medizinball. Take 33 (0:21) Pohler: Volkshochschul-Programm heißt, das sind Leute zwischen Mitte 40 bis Anfang 60, und das ist für mich ne Kraft-Ausdauer-Übung in allen Bereichen: Rückenmuskulatur, Armmuskulatur, Beinmuskulatur, Bauchmuskulatur. Und da gibt's eben ne ganze Reihe Übungsformen, mit denen man das gut trainieren kann. Autor: Vor allem, wenn der Übende darauf achtet, Take 34 (0:09) Pohler: ...dass zum Beispiel die Wirbelsäule, speziell die Lendenwirbelsäule entlastet wird oder möglichst entlastet wird und die entsprechende Muskulatur dann eben auch richtig gefördert wird. Autor: Viele Übungen sind gleich geblieben, das Sportgerät selbst ist es nicht. Der hochwertige Ball aus Rindsleder mit Rentier- oder Rosshaarfüllung stirbt allmählich aus. An seine Stelle treten Medizinbälle aus Gummi oder Kunststoff. Nicht unbedingt ein Fortschritt, findet Medizinhistorikerin Ruisinger. Take 35 (0:12) Ruisinger: Knallbunt, stinken, ich find, die riechen extrem unangenehm, und liegen lange nicht so gut in der Hand, einfach vom Gefühl her, wie der Lederball. Autor: Eine Position, die auch von Klaus Habelt, dem ehemaligen Produzenten traditioneller Medizinbälle geteilt wird. Er bedauert die Ablösung des hochwertigen Leders durch Kunststoff. Take 36 (0:26) Habelt: Meine Beziehung zu diesem fremden, nicht körpernahen Gerät war nicht mehr dasselbe. Auch wenn man heute sagt: Der Gummiball springt etwas und dadurch kann man andere Übungen mit machen. Aber wenn die einen sagen: Ja, man verstaucht sich, verletzt sich an dem nichtspringenden, dann müsste man sich eigentlich an dem Springenden noch mehr verletzen. Autor: Jörn Rühl vom Deutschen Turnerbund. Take 37 (0:15) Rühl: Was ich zum Beispiel mit dem Hartgummiball nicht so gut machen kann, sind Stützübungen auf dem Ball, weil er da einfach zu große Rolleigenschaften hat. Da ist wiederum der Lederball geeigneter, der oftmals nicht ganz so rund ist und auf dem man dann Stützübungen viel besser vollziehen kann. Atmo 4 Zirkeltraining mit: Medizinbällen, Ringen, Seilchenspringen Autor: Neue Zeiten, neue Trainingsmethoden. Der Medizinball sei in einer Zeit ins Abseits geraten, als im Fitnesstraining Dynamik und Schnellkraft keine Rolle spielten und Belastungen eher gering gehalten wurden, analysiert DTB-Mann Rühl. Jede Übung sei einer überkritischen Überprüfung nach Verletzungsgefahren unterzogen worden. Damit sei es jetzt vorbei. Die neue Losung im Fitness- und Gesundheitssport laute: "Weg von der Kuschel-Fitness". Take 38 (0:27) Rühl: Im Zuge des Functional Training entwickeln sich im Moment Trainingsformen wie zum Beispiel das Core Training, verstärktes Training des Körperkerns oder Cross Fit. Cross Fit ist ne Trainingsform, die sich ganz ursprünglichen Übungen, die aus dem Gewichtheben, Turnen oder Leichtathletik kommen, bedienen und auch sehr intensiv den Körper trainieren und den einzelnen Sportler an die Leistungsgrenze bringen. In diesen Bereichen findet der Medizinball im Moment wieder sehr verstärkt Einsatz. Atmo 5 (0:10) Autor: Functional Training setze auf freie Übungen zur Stabilisierung und Gesunderhaltung des Bewegungsapparates. Da leistet der Medizinball wertvolle Dienste. Take 39 (0:26) Rühl: Er wird eingesetzt bei Wurfübungen, er wird eingesetzt bei komplexen Körperübungen, als zusätzliches Gewicht. Ich kann mich bei unterschiedlichen Übungen mit den Händen darauf stützen und dadurch ne Instabilität erzeugen und dadurch n so genanntes sensomotorisches Training, also auch ein verstärktes Training tiefer Muskulatur des Köperkerns erreichen. Ich kann natürlich auch Rollübungen und weite Wurfübungen mit dem Medizinball machen. Er ist sehr flexibel und vielseitig einsetzbar. Autor: Eine der besonders schweißtreibenden Übungen ist die so genannte Kniebeuge mit dem Medizinball. Sie fördert die Koordination und in erheblichem Maße auch die Beinmuskulatur. Take 40 (0:15) Rühl: Das ist ne Übung, also mit dem Rücken an der Wand zu lehnen, dazwischen n Medizinball, dann an dem Medizinball nach unten zu gehen, bis man nen 90-Grad-Winkel in den Knien hat - wenn man das n paar Mal macht und vor allem langsam macht, dann spürt man nach ca. 30 Sekunden sehr, sehr deutlich, welche Muskeln man trainiert. Autor: Einen zusätzlichen Kick bekommt die Übung, wenn dabei die Arme einen weiteren Medizinball vor dem Körper halten. Solche und andere Exerzitien eigenen sich natürlich nicht nur für die Ertüchtigung männlicher Athletenkörper. Erst unlängst machte Karin Stukenbrock beim Blättern in einer Frauen- Zeitschrift eine interessante Entdeckung. In einem Artikel über besonders geeignete Fitnessübungen und -geräte für das weibliche Geschlecht stieß sie auf einige alte Bekannte. Take 41 (0:14) Stukenbrock: Einer von den Trainern für die Frauen hat explizit auf den Medizinball hingewiesen und das Sprungseil. Alles klassische alte Sportgeräte, die jetzt wieder hervorgeholt werden, um die moderne Frau in einen Top-Zustand zu bringen. Autor: Über ähnliche Erfahrungen berichtet auch DTB-Mann Jörn Rühl. Take 42 (0:44) Rühl: Wenn man heute sich umschaut in modernen, teilweise modernsten Fitnessanlagen, die dazu übergehen, diese Hochglanzgeräte aus ihren Studios raus zu räumen und einfach nur Medizinbälle hinzulegen, Klimmzugstangen anzubringen, Sprungseile auf den Boden zu legen - das scheint einem fast eine Art des Trainings, die einem vorkommt wie eine Reinkarnation von Turnvater Jahn im neuen Jahrtausend. Plötzlich werden wieder ganz ursprüngliche Übungen durchgeführt, man macht wieder Sit-ups, man arbeitet wieder an Sprossenwänden, und das alles spricht für diese neue Art des Trainings und spricht eben auch dafür, dass in diesem Zuge auch der Medizinball wieder zu nem modernen Trainingsgerät wird. Autor: Im Zuge dieses Comebacks könnte auch der schon als Auslaufmodell angesehene klassische Rindsleder-Medizinball noch mal ein begehrtes Gut werden. Schon jetzt findet mancherorts eine kreative Resteverwertung des einst so unbeliebten Gegenstands statt, beobachtet Medizinhistorikerin Ruisinger. Take 43 (0:09) Ruisinger: Es gibt sogar Accessoires, Taschen, Gürtel, die aus alten Medizinbällen gebastelt werden, und die für relativ viel Geld in Berlin zu erwerben sind. Autor: Klaus Habelt erfüllt diese Entwicklung mit einer gewissen Genugtuung. Take 44 (0:22) Habelt: Man fängt ja an, aus alten Turngeräten jetzt Koffer für Laptops zu machen. Das ist ganz modern. Wenn man sportif ist, hat man seinen Laptop in einem handgenähten Koffer aus alten Turngeräten: Bock, Pferd oder sonstwas. Wo man hinschaut, lebt dieses alte Leder wieder auf. Autor: Und mit ihm schöne Geschichten. Als Marion Rusinger und Karin Stukenbrock ihre gesammelten Medizinball-Forschungen in einer kleinen Ausstellung bündelten, erwarben sie per Internet-Auktion auch eine Reihe historischer Medizinbälle. Darunter auch ein besonders gut erhaltenes 3000-Gramm schweres Exemplar der Firma Berg, inklusive Firmenstempel und Reichsadler. Wie sie vom Verkäufer erfuhren, gehörte dieser Ball ursprünglich einem Ehepaar, das seit Ende des Zweiten Weltkriegs in einer Pankower Schrebergartenkolonie wohnte. Irgendwann in den 70er Jahren hatten sie den Ball an die Kinder der Laubenpieper-Nachbarn verschenkt. Take 45 (0:30) Ruisinger: Das besonders Hübsche an der Geschichte ist, dass das nicht irgendein Ehepaar war in diesem Schrebergartenhäuschen, sondern dass die beiden in ihrer Jugend Zirkusartisten waren. Und so liegt jetzt hier vor uns auf dem Tisch nicht nur ein besonders attraktiver Medizinball, sondern einer, der tatsächlich aus dem Zirkus stammt, mit dem trainiert wurde, der vielleicht auch mal bei einem Hochseilakt jongliert wurde, auf dem ein kleiner Elefant stand - das vielleicht nicht ganz, aber der zumindest eine schöne bunte Geschichte hat... Autor: Längst hat sich auch Marion Ruisinger mit dem von ihr einst so gehassten Sportgerät versöhnt. Take 46 (0:10) Ruisinger: ...durch die intensivere Handhabung des Objekts im Rahmen der Ausstellungsarbeit habe ich ihn inzwischen tatsächlich fast lieben gelernt. Es ist ein wunderschönes Stück Leder, dieser Medizinball. 1