DEUTSCHLANDFUNK Sendung: Hörspiel/Hintergrund Kultur Dienstag, 02.11.2010 Redaktion: Karin Beindorff 19.15 ? 20.00 Uhr "UNSERE LIEBE. UNSERE MANNSCHAFT. UNSER STOLZ." Kult statt Kommerz beim 1. FC Union Berlin Von Jörn Klare URHEBERRECHTLICHER HINWEIS Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Jede Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in §§ 45 bis 63 Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. ? Deutschlandradio - Unkorrigiertes Manuskript - Atmo Fangesang: "Unsere Liebe. Unsere Mannschaft. Unser Stolz." ERZÄHLER: Ein später Herbstabend im Stadion An der Alten Försterei in Berlin Köpenick. Es ist kalt, es ist windig und es regnet. Um mich herum stehen ein paar Tausend Männer und ein paar Dutzend Frauen. Das Spiel ist längst abgepfiffen. Der 1. FC Union Berlin, ein Verein der 2. Fußballbundesliga, hat deutlich verloren. Atmo Fangesang: "Unsere Liebe. Unsere Mannschaft. Unser Stolz." ERZÄHLER: Alle singen und singen ... und singen ... und singen ... Und ich frage mich, welche Droge kann das sein und beschließe, mich auf die Suche nach dieser rauschauslösenden Substanz zu machen. Atmo Fangesang: "Unsere Liebe. Unsere Mannschaft. Unser Stolz." Ansage: "Unsere Liebe. Unsere Mannschaft. Unser Stolz." Kult statt Kommerz beim 1. FC Union Berlin Ein Feature von Jörn Klare Atmo Fangesang: "Unsere Liebe. Unsere Mannschaft. Unser Stolz." O-Ton Terraske: Erfolgserlebnisse. Das ist relativ, wa. ERZÄHLER: Rudi Terraske ist 76 Jahre alt, gelernter Kunstkeramiker, ein eher kleiner vor allem aber aufrechter Rentner. Mit Drogen hat er nichts am Hut. Es sei denn "Fußball" wäre als solche anerkannt, dann allerdings muss man sich Terasske als einen Schwerstabhängigen vorstellen. Seine erste Lektion: Ein echter Unioner muss vor allem leiden können. Er rückt sich die Krawatte zurecht. O-Ton Terraske: Wer das nicht kann, der hat bei Union nichts zu suchen. Der passt da nicht rin. Das Leiden, das ist angeboren. Das geht ja gar nicht anders. Wir leiden, wenn wir Niederlagen haben, wir leiden auch, wenn es dem Verein sehr, sehr schlecht geht, wie es war. Aber wir freuen uns och, wenn es Union gut geht. Dann sind wir auch da. Aber wie! ERZÄHLER: Terraske ist eine Art Vereinslegende, weil er in dreißig Jahren incl. aller Auswärtsfahrten exakt drei Union-Spiele verpasste. O-Ton Terraske: Wenn ich jetzt in die Alte Försterei komme, stehen mir immer die Tränen in den Augen. Wir herrlich das Ding geworden ist. ERZÄHLER: Seinen Stammstehplatz kostet am Ticketschalter 10 Euro: Sektor H der Waldtribüne, direkt hinter dem Tor. O-Ton Terraske: Mann, das haben wir alles selber gemacht. Herrlich. Herrlich. Das ist ja, das es auszeichnet bei Union. Wie viele da geholfen haben. Die haben das Ding so durchgezogen ohne Murren, ohne alles. ERZÄHLER: Die traditionsreiche, 1920 eröffnete Alte Försterei hat der traditionell arme Verein im Jahr 2008 und 2009 über zehn Monate in Eigenregie komplett saniert und überdacht. 2000 freiwillige Helfer schaufelten, schleppten, schweißten, betonierten, strichen oder bewachten wie Rentner Terraske nachts die Baustelle.140 000 unbezahlte Arbeitsstunden kamen da zusammen. Atmo Fangesang: "Unsere Liebe. Unsere Mannschaft. Unser Stolz." ERZÄHLER: Bei dieser Aktion entstand ein reines Fußballstadion für gut 18 000 Menschen - mit über 80 Prozent Stehplätzen. Eine bewusste, von den Fans geforderte Entscheidung obwohl in Deutschland aus Sicherheitsgründen immer wieder auch ein Stehplatzverbot diskutiert wird, wie es international kein Geringerer als Weltfußball-Verbands-Präsident Joseph Blatter fordert. Doch jene Sitzplätze, die aufgrund einer Auflage des Deutschen Fußball Bundes nachträglich eingerichtet werden mussten, bleiben hier im Zweifelsfall leer. Auch für Terraske war die Entscheidung eindeutig, trotz seiner Beine, die, wie er zugibt, nicht mehr die besten sind: O-Ton Terraske: Da kann man sich besser bewegen und: Wow! Atmo Fangesang: "Unsere Liebe. Unsere Mannschaft. Unser Stolz." ERZÄHLER: Ausgiebig kann er von den düsteren Fan-Zeiten vor und nach der Wende erzählen, von den Prügeln, die er bekommen hat von der Polizei und von gegnerischen Fans, und von den "anderen" Schlägen, die dem Verein verpasst wurden. Von den Partei- und Staatsfunktionären vor der Wende und den Finanzhasardeuren und Selbstdarstellern, die nach der Wende über den ostdeutschen Fußball herfielen. O-Ton Terraske: Marmor, Stein und Eisen bricht, aber unsere Union nicht. Das hat immer gesessen. Alles, alles geht vorbei, doch wir bleiben treu. Wum, das hat immer gesessen. ERZÄHLER: Rudi Terraskes Leben als Union-Fan ist ein Leben voller Widrigkeiten, geprägt von Treue, Trotz und Stolz. Und dann ist da noch etwas, was einen echten Unioner - quasi historisch bedingt - auszuzeichnen scheint: ein gewisser Hang zur Subversion. O-Ton Terraske: In der DDR haben wir gerufen. Die Mauer muss weg! Gerade hier in der Alten Försterei, wenn da mal so ein Freistoß gegeben wurde, und dann musste die Mauer gezogen werden. Und wir gleich: Die Mauer muss weg! Die Mauer muss weg, haben wir immer gerufen. Die kiekten dann, da waren ja immer welche da. ERZÄHLER: Die, "die kiekten" und von denen immer "welche da waren", gehörten zur Staatsicherheit der DDR. Mit denen waren die Unioner nicht so dicke. Eher das Gegenteil. Doch davon später. Terasske strahlt. Er möchte noch etwas loswerden. Es geht um den Idealismus der Anhänger und die nicht immer ganz idealistischen Bedingungen im professionellen Fußball. O-Ton Terraske: Das ist ein Arbeiterverein bei Union. Das ist ein Arbeiterverein, man fühlt sich da wohl. Kommerz, das behagt uns nicht. Wir müssen das aus eigener Kraft schaffen, was wir machen. Und das geht in Fleisch und Blut über. O-Ton Arbeit: Ja meine Damen und Herren, herzlich Willkommen bei der Pressekonferenz des 1. FC Union Berlin. Wir möchten Ihnen UFA Sports als exklusiven Vermarkter des Vereins vorstellen. ERZÄHLER: Wenige Wochen nach meiner ersten beeindruckenden Begegnung auf den Stehrängen der Alten Försterei: Eine Pressekonferenz im eher bescheidenen VIP-Bereich des Stadions. Auf einem kleinen Podium sitzen neben dem Vereins-Pressesprecher Christian Arbeit zwei Vertreter einer Vermarktungsfirma und Union-Präsident Dirk Zingler. Ein großer, kräftiger Mann, dessen schwarzer Anzug heute ebenso zu einer Beerdigung passen würde wie sein Gesichtsausdruck. O-Ton Zingler: Wir haben in den letzten Monaten sehr oft davon gesprochen, dass wir uns Stück für Stück weiterentwickeln wollen, dass wir die Basis legen wollen, uns dauerhaft im DFL Bereich zu etablieren. ERZÄHLER: Es geht - nein, nicht um die gesuchte Droge. Es geht eher ganz profan um die wirtschaftliche Zukunft des Vereins, seine Rolle im professionellen Fußball. O-Ton Zingler: Für einige von Ihnen wird das möglicherweise Fragen aufwerfen, weil wir ja, auch ich persönlich in den letzen Jahren und auch Monaten immer wieder gesagt habe: Nein, Zentralvermarktung nicht. Das haben wir auch nicht getan, sondern wir wollen wachsen, das wissen Sie. ERZÄHLER: Mit UFA Sports, einem Tochterunternehmen der RTL-Group, soll beim Wachsen ein professioneller Vermarkter helfen. Deswegen sitzt neben Zingler UFA-Sports Geschäftsführer Philip Cordes, ein gut vierzigjähriger Diplombetriebswirt mit 16 Jahren Erfahrung im Sport-Marketing. Ein Manager wie aus einem bunten Wirtschaftsmagazin: elegant, gewandt und braungebrannt. Ich versuche ihn mir neben Alt-Unioner Rudi Terraske vorzustellen ? und scheitere. Das geht nicht zusammen. O-Ton Cordes: Wir werden quasi als Vermarktungseinheit des Vereins im Verein agieren. ERZÄHLER: Es geht um die Vermarktung von Werberechten, die Akquise von Sponsoren. Es geht um den Verein als Produkt, als Marke, wie es Vermarkter Cordes im Statement nach der offiziellen Pressekonferenz auf den Punkt zu bringen versucht. O-Ton Cordes: Dass ist hier schon ein eigenes Charakteristikum, dass die Marke da ist, dass die Marke auch was besonderes ist, die prägnant ist und die wahrnehmbar ist, das empfinden wir als extrem erfreulich und das erleichtert uns die Aufgabe auch. Atmo Herzlich Willkommen unsere Gäste von Hertha BSC Pfeifen ERZÄHLER: Ein Freitagabend in der Alten Försterei. Der Marken - nein, Stadionsprecher - begrüßt eine ganz besondere Gastmannschaft ? Hertha BSC Berlin aus dem Westen der Stadt. Weil Hertha im vergangenen Jahr überraschend abgestiegen ist, kommt es in dieser Spielzeit zum ersten offiziellen Punktspiel der beiden Berliner Traditionsvereine seit 60 Jahren. Der Etat der Hertha ist mit 33 Millionen Euro etwa zweieinhalb Mal so hoch wie der von Union, was den West-Berlinern auch den Beinamen "FC Bayern der zweiten Liga" eingebracht hat. Im Gegensatz zu dem Münchner Verein ist Hertha hoch verschuldet und aus wirtschaftlichen Gründen zum direkten Wiederaufstieg "verdammt". Atmo Vorstellung der Gästespieler / Reaktionen ERZÄHLER: Die Gästespieler bekommen, so ist es hier üblich, von den Unionfans alle denselben zweiten Familiennamen verpasst. Er lautet: "Na und!". Atmo Vorstellung der Gästespieler / Reaktionen ERZÄHLER: Auch die Union-Spieler scheinen einer gemeinsamen Sippe zu entstammen. Es ist die Familie "Fußballgott". Atmo Vorstellung der Heimspieler / Reaktionen O-Ton Mattuschka: Jeder, der Fußball spielt, will ja in so einem Stadion spielen, wo Stimmung ist, wo es eng ist, das macht ja gerade Spaß. Jeder wird sagen, der hier schon mal gespielt hat, dass es ne super geile Stimmung ist. Was Schöneres gibt es nicht. ERZÄHLER: Der Kapitän der Fußballgötter heißt Thorsten Mattuschka. Atmo Lied "Torsten Mattuschka, du bist der beste Mann, Torsten Mattuschka, an dich kommt keiner ran. Torsten Mattuschka hau ihn rein für den Verein". ERZÄHLER: Für einen Fußballgötterkapitän ist die Alte Försterei - um im Bild zu bleiben - eine Art Himmel. O-Ton Mattuschka: Bei jeder Ecke, bei jedem Schuss, den man macht, kommen die Fans richtig und / man kriegt als Spieler immer noch Gänsehaut, wenn du in das Stadion einläufst. Die stehen komplett hinter uns 90 Minuten. Und dafür müssen wir alles geben, dass die uns halt unermüdlich unterstützen egal, wie es läuft. Ob es scheiße läuft oder gut läuft. Atmo Lied "Torsten Mattuschka, du bist der beste Mann, Torsten Mattuschka, an dich kommt keiner ran. Torsten Mattuschka hau ihn rein für den Verein". ERZÄHLER: Thorsten Mattuschka war bei den letzen beiden Aufstiegen dabei. O-Ton Mattuschka: Ich bin jetzt fünf Jahre hier und habe den Verein schon in mein Herz geschlossen, definitiv. ERZÄHLER: Fünf Jahre bei einem Verein, einem Arbeitgeber ist im bezahlten Fußball bereits überdurchschnittlich lang. Bei aller Liebe, ewige Treue möchte er nicht schwören. Er ist ehrlich und er ist Profi. O-Ton Mattuschka: Jeder Fußballer will ja mal in der Ersten Liga spielen. Da ist ja normal. Und wenn das kommen würde, egal welcher Spieler das ist, muss man natürlich überlegen. ERZÄHLER: Mattuschka ist 30 Jahre alt. Das Karriereende ist nicht nah, aber absehbar. O-Ton Mattuschka: Als Fußballer hat man nur gewisse Jahre, die man spielen kann. 15, 16 Jahre, wenn es gut läuft, wo man Geld verdienen kann. Das ist nicht so, dass man hier soviel Geld verdienen kann, das man nie wieder arbeiten gehen braucht. Das ist nicht. Das ist halt in der Bundesliga anders. Man hat ja auch seiner Familie gegenüber eine Verantwortung. Wenn ein Verein aus der Ersten Liga anruft und sagt, Du kannst das Achtfache haben wie hier, dann muss man natürlich schon abwägen, was man macht. Nicht nur wegen dem Geld. Auch das Sportliche sicherlich, aber das Geld spielt dann auch ne Rolle. Sicherlich. Das ist ja normal. Atmo Gesänge ERZÄHLER: Für dieses Berliner Derby hätten die offiziell 18 432 Plätze drei oder auch viermal verkauft werden können. Im Berliner Olympiastadion, wo Hertha BSC seine Heimspiele austrägt, hätten so viele Leute auch Platz gefunden. O-Ton Mattuschka: Was im Raum stand eine Million Euro Zusatzeinnahmen ?klar, da muss man schon überlegen. Aber uns Spielern war es eigentlich klar, dass es der Verein nicht machen wird. Weil das kannste ja nicht machen. Du kannst den Fans ja nicht, die das Stadion hier aufgebaut haben mit ihren eigenen Händen, kannst dieses Spiel des Jahrzehnts ja hier zuhause nicht wegnehmen. Atmo Gesänge ERZÄHLER: Das Stadion in rot und weiß, der Himmel grau, der Rasen grün. Der Großteil der Werbebanden verweist auf Unternehmen aus dem lokalen oder regionalen Umfeld. Der Hauptsponsor macht sein Geld mit Autoersatzteilen. Atmo Gesänge ERZÄHLER: Unions Fanszene ist vielfältig: Arbeiter und Arbeitslose, Angestellte und Kleinunternehmer, Kinder, Schüler, ein paar Studenten, ein paar Akademiker, Rentner, die extrem engagierten, meist jüngeren Ultras, und ein ganzer Haufen eigenwilliger, schräger Typen mit dicken Ohrringen, bisweilen mit Dreadlocks oder auch im Schottenrock. Kantige Figuren mit kantigen Gesichtern. Der Umgangston bisweilen recht rüde: Atmo Ey du Fotze ... Atmo Pathetische Stimme vom Band erzählt: Es war in den goldenen Zwanzigern, so erzählt die Legende, als in Zeiten eines ungleichen Kampfes ein Schlachtruf ertönte, ein Schlachtruf wie Donnerhall der all jenen, so erzählt die Legende weiter, die ihn in diesem Augenblick zum ersten Mal hörten, das Blut in den Adern zum Sieden brachte. Niemand konnte damals ahnen, dass er Zeuge eines historischen Moments geworden ist. Noch heute, Jahrzehnte danach, in scheinbar aussichtslosen Kämpfen, erschallt er laut von den Rängen, so wie damals, als der Durchhaltewillen der Schlosserjungs aus Oberschöneweide, ins Unermessliche stieg. Eine Legende nahm ihren Lauf, ein Mythos begann zu leben, und er wird niemals, niemals vergessen: Eisern Union! ERZÄHLER: Auf den Rängen beginnt eine Art Parallelwettkampf. Die Ultras, junge Hardcore-Fans der beiden Vereine duellieren sich mit ihren jeweils einstudierten Choreographien. Während die Gäste etwas einfallslos erst eine riesige Berlin-, dann eine ebenso große Hertha-Fahne über ihren gesamten Block ziehen, fragen auf der gegenüberliegenden Tribüne die Unioner mit einem Spruchband "Fußballkultur nimmt ihren Lauf ? auf welchen Zug springst du nun auf?". Im Angebot sind zwei auf riesigen Pappen liebevoll gemalte S-Bahnen, die in unterschiedlichen Richtungen durch den Fanblock gezogen werden. Sie sind mit den Emblemen der beiden Vereine verziert, wobei dem Unions-Zug noch das Attribut "Fußball pur" zugefügt ist. Niemand im Publikum ist wirklich überrascht, als sich ein überdimensionierter "neutraler Fußballfan" ebenfalls aus Pappe genau für diesen Zug entscheidet. Atmo Vereinshymne Wir aus dem Osten geh'n immer nach vorn Schulter an Schulter für Eisern Union Hart sind die Zeiten und hart ist das Team Darum siegen wir mit Eisern Union ERZÄHLER: Die Vereinshymne. Auch die wenigen, die sonst sitzen, stehen jetzt auf. Wer einen Vereinsschal hat ? und fast jeder hat hier einen - streckt ihn mit beiden Händen so hoch es eben geht. Atmo Vereinshymne Eisern Union Immer wieder Eisern Union Immer weiter ganz nach vorn Immer weiter mit Eisern Union O-Ton Karpa: Wir sind aufgestiegen, der Klub war gerade gegründet 66, haben dann 67/68 in der Oberliga gespielt, sind 68/69 abgestiegen und 1970 wieder auf, ERZÄHLER: Gerald Karpa ist ein entspannter Mittvierziger in Jeans und T-Shirt. Seit über dreißig Jahren geht er zu Unionsspielen und ist so etwas wie ein inoffizieller Vereinschronist. Er versucht die Auf- und Abstiege in der neueren Vereinsgeschichte aufzuzählen. Das ist etwas kompliziert. O-Ton Karpa: Ich muss auf jeden Fall die Finger nehmen. Ich glaube dreizehnmal. ERZÄHLER: Der Ursprungsverein wurde 1906 in Berlin Köpenick gegründet. 1923 reichte es gar zur deutschen Vizemeisterschaft. Bereits in dieser Zeit entstand der Ruf, mit dem die Fans bis heute ihre Mannschaft nach vorn treiben: Eisern Union! Atmo Vereinshymne (mit Nina Hagen unterlegt) Wer spielt immer volles Rohr? Eisern Union, Eisern Union Wer schießt gern ein Extra-Tor? Eisern Union, Eisern Union O-Ton Karpa: Wir sind auf jeden Fall 84 abgestiegen, wir sind dann nach einem Jahr wieder aufgestiegen, 88 den Abstieg gerade noch mal so verhindert im letzten Spiel in der letzten Minute mit einem Siegtor in Karl-Marx-Stadt. ERZÄHLER: Der Verein mit seinem jetzigen Namen wurde 1966 als eine Art ziviler Fußballgegenpol zum Armee-Klub Vorwärts Berlin und zu BFC Dynamo, dem Berliner Verein des Ministeriums für Staatssicherheit, neugegründet. Union bekam die Rolle des im Zweifelsfall benachteiligten Underdogs. Hassgegner war der stets bevorzugte, weil von Stasi-Chef Erich Mielke gehätschelte BFC Dynamo. Als während eines Spiels in den 70ern gegen den BFC ein Unions-Akteur seinen Gegenspieler mit "Du alte Stasi- Sau" begrüßte, wurde das mit einer lebenslangen Sperre quittiert. O-Ton Karpa: Hinweise zu Mängeln in der Arbeit des Sportklubs Union Berlin ? streng vertraulich! ERZÄHLER: In Karpas kleinem, privaten Union- Archiv befindet sich auch ein Stapel mit Kopien von Stasi-Unterlagen in bestem Behörden-Deutsch: O-Ton Karpa: Zuverlässig gelangten im Rahmen der operativen Arbeit Hinweise zu Mängeln in der politischen und ideologischen Arbeit mit Nachwuchskadern im Sportklub Union Berlin zur Kenntnis. // Im Einzelnen wurden der Quelle folgende Probleme bekannt: Die Kinder wurden darauf orientiert, sich Fernsehsendungen über Spiele in der Bundesliga der BRD und anderer ausländischer Profi-Mannschaften anzusehen und daraus eigene Verhaltensweisen und Spielweisen abzuleiten. Dadurch und durch die Tatsache, dass die Nachwuchsspieler nicht zur kollektiver Spielweise und gegenseitiger Hilfe beim Training und Spiel erzogen werden, würde sich immer mehr individuelles und egoistisches verhalten herausbilden. Außerdem wurden Fouls am Gegner im Straf- und Torraum empfohlen. ERZÄHLER: In einem andern Bericht der Sicherheitsorgane zu den lückenlos bespitzelten Union-Fan-Clubs heißt es wörtlich: "Diese durch ihr negativ-dekadentes Aussehen erkennbaren Fans versuchten ständig zu provozieren und sich über die bestehenden Normen des gesellschaftlichen Zusammenlebens bewusst hinwegzusetzen". Atmo Vereinshymne Eisern Union Immer wieder Eisern Union Immer weiter ganz nach vorn Immer weiter mit Eisern Union ERZÄHLER: Aus den zahlreichen verschobenen Spielen, den Niederlagen und Nackenschlägen, den regelmäßig erzwungenen Transfers der besten Union-Spieler zum Hassgegner Dynamo entwickelte sich die bis heute wirksame Kultur des aufrechten Scheiterns, des trotzigen Weiter-So. O-Ton Karpa: Dass da einiges nicht überzeugend und glaubwürdig war, das hat so ziemlich jeder mitbekommen im Lande. Diese Unbehaglichkeit mit der FDJ, mit der Staatlichkeit, die einen überkommt. Und wenn dann eben die Frage steht, sich zu entscheiden, gehst du für dein Hobby, für deinen Sport zum Staatsverein Dynamo oder gehst Du zu den besser beleumundeten Unionern, dann ist die Antwort, glaube ich, bei vielen klar gewesen. ERZÄHLER: Nicht alle Union-Fans waren Staatsfeinde der DDR, lautet ein beliebtes Bonmot, aber alle Staatsfeinde waren Union-Fans. Irritiert notierte die Stasi: "Ermittlungen haben ergeben, dass diese rowdyhaften Anhänger oft gar nichts vom Fußball verstehen." Atmo Vereinshymne Den Sieg vor den Augen, den Blick weit nach vorn Ziehn'n wir gemeinsam durch die Nation Osten und Westen - Unser Berlin Gemeinsam für Eisern Union O-Ton Karpa: 88/89 abgestiegen und dann lange Zeit die Klasse gehalten, aber dann wird es auch kompliziert. ERZÄHLER: 2001 war der Verein gerade wieder in die 2. Bundesliga aufgestiegen und kam sogar bis ins Pokalendspiel. Und obwohl das am Ende verloren wurde, hatte die Mannschaft es damit immerhin bis in den UEFA Pokal geschafft. Als im Jahr 2005 ? die erste Mannschaft war wieder bis in die Oberliga Nordost abgerutscht ? dann über eine Million Euro für den Spielbetrieb fehlte, spendeten Hunderte Fans tatsächlich eigenes Blut, um das Geld aufzutreiben. Atmo Vereinshymne Wo riecht's nach verbranntem Rasen? Eisern Union, Eisern Union Da wo wir zum Angriff blasen Eisern Union, Eisern Union O-Ton Karpa: Wir gehen arbeiten irgendwo, aber wir sind nicht der Chef. Wir sind alle nur in einem bestimmten Maße erfolgreich. Und tun dafür was. Und die Spieler tun das auch. ERZÄHLER: Karpa fasst das Credo der Leidens- und Begeisterungsfähigkeit der Union-Fans zusammen. O-Ton Karpa: Die sind auch nur bedingt erfolgreich, die sind eben nicht Deutscher Meister und nicht mal Tabellenführer der 2. Liga, aber sie ackern dafür und das wird anerkannt. Und das ist es. Und das ist auch die Bedingung. Die Leute sind sehr empfindlich dafür. Atmo Vereinshymne Es kann nur einen geben Eisern Union, Eisern Union Wir werden ewig leben Eisern Union, Eisern Union ERZÄHLER: Die Geschichte des Vereins wird durch die von den Fans getragene Kultur geprägt. In einer Zeit, in der Spieler, Trainer und oft auch Präsidenten kaum länger als ein paar Jahre dazugehören, ist diese Fankultur ? vom Stadion abgesehen ? die einzige Konstante. Keine Droge also, sondern ein identitätsstiftendes, soziales Konstrukt, dynamisch im Inneren wie Äußeren. Nur wie passt das zusammen mit der zwangsläufigen Vermarktung im Profisport? Gerald Karpa, der Unions-Historiker, bleibt entspannt. O-Ton Karpa: Das ist schon auch Konsens, dass Leistungsfußball gewollt ist. Und wird ja auch kritisch beobachtet. Jede Veränderung im Marketingbereich wird natürlich beobachtet. Die UFA, der Einstieg der UFA, ein Vertrag, eine Vermarktungsagentur über 10 Jahre lang, an die bindet sich der Verein. Das wird natürlich betrachtet und beäugt und so. Atmo Vereinshymne Wer lässt Ball und Gegner laufen? Eisern Union, Eisern Union Wer lässt sich nicht vom Westen kaufen? Eisern Union, Eisern Union O-Ton Taubitz: Am Ende will man natürlich auch Geschäft versuchen anzukurbeln. ERZÄHLER: Der freundliche Mann unter Beobachtung heißt Jörg Taubitz, ist Mitte vierzig, Diplomkaufmann, Angestellter der UFA Sports und hat als "Teamleiter Vermarktung" seinen Arbeitsplatz in der kleinen Geschäftsstelle des 1 FC Union Berlin. UFA Sports macht einen insgesamt zweistelligen Millionenumsatz unter anderem auch mit der Vermarktung von Auslandslizenzen für den Deutschen Fußball-Bund. O-Ton Taubitz: Mein Auftrag, mein Auftrag lautet, sich möglichst passgenau in das Umfeld von Union einzubringen und zu gucken, dass man ein bisschen mehr Bekanntheit für den Verein schafft, dass man ein bisschen mehr in der Breite geht, neue Werbetreibende dafür zu begeistern. ERZÄHLER: Taubitz streicht sich über die wenigen, dafür aber sehr kurzen Haare. Bevor er vor wenigen Monaten zu Union kam, arbeitete er in der Mobiltelefonbranche und organisierte Außenwerbung. Den Verein beschreibt er als einen "ungeschliffenen Diamanten", als einen "Schatz, der auf der Strecke geblieben ist". Für diesen Schatz sucht er Werbemöglichkeiten und Sponsoren, deren Gelder dem Verein ein stabiles zukunftsträchtiges Fundament verschaffen sollen. Der Gesamtetat beläuft sich in dieser Saison auf gut 13 Millionen Euro, im Ligavergleich eher bescheiden. Die Haupteinnahmen sind die gut zwei Millionen Euro für verkaufte Eintrittskarten, vier Millionen Euro für Fernsehrechte und knapp fünf Millionen Euro von zurzeit gut 180 Sponsoren. Die müssen sich allerdings mit einem misstrauischen Umfeld auseinandersetzen. Atmo Spiel, Gesänge O-Ton Taubitz: Na gut, am Ende ist es natürlich auch der Spagat, jemanden klar zu machen, dass er da einen wirtschaftlichen Mehrwert hat am Ende. Jeder Euro, den man halt als Sponsor bringt, ist in dem Fall auch ein Euro, den man gegenüber einem anderen rechtfertigen muss. ERZÄHLER: Der 1. FC Union hat aber seine Vermarktungsrechte nicht, wie in den beiden Fußballbundesligen durchaus üblich, komplett abgetreten. Die UFA macht Vorschläge und erhält für abgeschlossene Sponsorenverträge eine Provision, über deren genaue Höhe mir aber niemand Auskunft geben will. Die Entscheidung, wo welche Werbung wie möglich sein soll, trifft der 1. FC Union. Ein Beispiel sind die in den anderen Stadien abgedudelten Werbejingles während des Spiels, zum Beispiel nach einem Tor oder bei ... O-Ton Taubitz: ... Verletzungspausen, Auswechslungen, das ist normal aber letztendlich auch "15 Minuten noch", "30 Minuten noch", also da kann man ganz viele Unterbrecher finden, die man bewerben kann ? da fällt mir auch total viel ein. Die Frage ist, ob das wirklich den Kern des Fußballs ausmacht. Auf diesem Grat sich zu bewegen, nicht zu viel und nicht zu wenig, da bewege ich mich. Und das ist manchmal ein Ringen. Also es ist auch nicht immer ganz einfach, das muss man auch mal ganz klar sagen. ERZÄHLER: Taubitz lächelt jetzt ein wenig schief. Er will den Fan, sagt er, "nicht überfordern" und deswegen auch nicht alle vorhandenen Möglichkeiten auf einmal ausschöpfen. Er scheint froh für das "Produkt" 1. FC Union Berlin eine erfolgversprechende Metapher gefunden zu haben, die als Angebot an die Anhänger zu verstehen sei, weil sie ihrem Lebensgefühl entgegen kommen soll. O-Ton Taubitz: Es ist ein Rockkonzert. Und es gibt auf der anderen Seite auch ein Klassikkonzert. Und beides hat seinen Platz, beides hat seine Sponsoren, beides hat seine Grenzen und seine Gäste vor allem. Atmo Gegentor ERZÄHLER: Das Spiel läuft 90 Sekunden und der Ball liegt im Tor der Unioner. Ein Auftakt nach Maß sieht anders aus. Kurzes Aufzucken in den Gesichtern der Fans, dann Umschalten in den vertrauten Trotzmodus. Und die Lieder noch mal eine Ecke lauter. Atmo Kämpfen und Siegen ERZÄHLER: Da drängt sich ein Gedanke auf: Wo sonst kann ein erwachsener Mensch heute einfach mal so befreit rumbrüllen? Und manches, was da abgelassen wird, so der zweite Gedanke, hat mit Fußball vielleicht gar nichts zu tun. Atmo Anfeuerungen O-Ton Alex: Also man muss mit Niederlagen umgehen können. ERZÄHLER: Alexander Cierpka, 28 Jahre alt, lange Haare blond gefärbt, Student der Politik-Wissenschaften und Union-Fan seit Ende der 90er-Jahre. O-Ton Alex: Masochismus braucht eigentlich jeder Fußballfan. Das ist nichts Unionspezifisches. Ich wurde wirklich Fan, als diese Aufstiegsspiele grandios verkackt wurden. Damals in Osnabrück mit drei Anläufen im Elfmeterschießen versagt. Das war der Punkt, wo ich gemerkt habe, es schmerzt. Und als ich gemerkt habe, es schmerzt, habe ich gemerkt, es bedeutet mir was. Von dem Moment wusste ich, es ist so. Ich konnte dagegen auch nichts tun. ERZÄHLER: Leidenschaft entsteht aus "Leiden". Masochismus als Voraussetzung des Fan-Daseins. Zumindest wenn man Unioner ist. Mit "schönem" Fußball, sagt Cierpka, wurde er in all den Jahren eher selten verwöhnt. O-Ton Alex: Das hat mich an Union eben auch immer fasziniert, dass bei den ganzen Niederschlägen auch in der Geschichte, die man dann ja mitkriegt von den Alten, dass eigentlich immer wieder aufgestanden wird. Und das widerspiegelt sich jetzt immer noch auf den Rängen. Also nach Niederlagen wird nicht gepfiffen, es wird stehengeblieben. Es wird nicht früher gegangen. Das sind so Grundregeln, mit denen ich mich absolut identifizieren kann. Atmo Herthafans ERZÄHLER: Im Stadion versuchen sich knapp 2000 Herthafans an einer akustischen Selbstbehauptung. Ohne Chance. Atmo Unionfans O-Ton Alex: Zwei grundsätzlich verschiedene Vereinsidentitäten prallen aufeinander. Zumindest das, was Hertha jetzt auszeichnet, was Union heute auszeichnet. Atmo Herthafans und Unionfans O-Ton Alex: Gerade wenn man mal denen Gegensatz zweier völlig unterschiedlicher Fußballprodukte erleben möchte, muss man einfach nicht weit fahren. Das sind 30 Kilometer von der Alten Försterei zum Olympiastadion und da hast du zwei völlig verschiedene Entwürfe gelebter Fußballkultur. Atmo Herthafans und Unionfans ERZÄHLER: Zwei Entwürfe mit einer recht klaren Demarkationslinie O-Ton Alex: Bei Hertha hat man alles. Man hat die VIP-Logen, man hat die Stadionanimation, man hat die kreischende Bums-Fallera-Musik, man hat das ganze Paket Jubel-Trubel-Heiterkeit. Es nennt sich Event, ist nicht das, was ich unter Fußball verstehe. Atmo Herthafans und Unionfans O-Ton Alex: Union hat wirklich gesehen, wo die Basis ist / und bietet eine Alternative in dieser lauten, bunten, grellen Fußballwelt an, und ich bin dafür sehr dankbar, sonst hätte ich keine Fußballheimat. ERZÄHLER: Und wie es der Zufall oder weil es der Fußball will, zeigen sich in diesem ersten Aufeinandertreffen der Berliner Traditionsvereine seit 60 Jahren diese unterschiedlichen 'Fußballkulturproduktidentitäten' auch auf dem Platz. Die 1:0 zurückliegenden Union-Spieler grätschen jedem Ball hinterher und dabei immer öfter auch den Gegner um. Der ist von der spielerischen Klasse her wohl eine Ecke besser, wirkt im Moment aber hilflos und ein wenig erschrocken. Die Zuschauer, deren Reihen zwei Meter hinter den Außenlinien beginnen, pumpen unermüdlich ihre Energie auf das Spielfeld. Atmo Vorsänger mit Megaphon ERZÄHLER: Auf zwei kleinen Podesten stehen die Vorsänger der Ultras. Mit dem Megaphon in der Hand, den Rücken zum Spielfeld fordern und treiben sie die Anhänger in neue Rhythmen, neu Gesänge. Atmo Vorsänger mit Megaphon ERZÄHLER: Gemeinsam gilt ? es geht um Union, nicht um Politik. Die soll draußen bleiben. O-Ton Alex: Diesen Keine-Politik-im-Stadion-Diskurs, den gibt es glaube ich bei fast jedem Verein. Ich finde den auch gut, also ganz ehrlich. Das Problem ist nur, dass es Leute gibt, die sich nicht daran halten. ERZÄHLER: Anfang 2009 hat Alexander Cierpka mit ein paar Gleichgesinnten die Initiative "Schöner Eisern ohne Nazis" gegründet. O-Ton Alex: Wir sind nicht gegen Rechte. Wir sind gegen Nazis. Wirklich dezidiert Nazis. Leute, die "Vizeweltmeister 45" auf den T-Shirts tragen, die halt "Herrenrasse Fürstenwalde" auf den T-Shirts tragen, die "Opa war in Ordnung" auf den T-Shirts tragen, Landser-T-Shirts tragen. Wir wollten eigentlich diesen Leuten mit unserer Präsenz, die nicht aufdringlich sein soll, mit das Klima vergiften. ERZÄHLER: Von vielen Seiten musste er sich anhören, dass er mit der Initiative das Nazithema plakativ ins Stadion gebracht hat, und damit gegen den Keine-Politik-Kodex verstößt. O-Ton Alex: Ist ein schweres Feld. Definitiv. Aber da sollte man auch so ehrlich sein und einfach sagen: Ja, es gibt welche. Es sind wenige. Aber man muss was gegen tun. ERZÄHLER: Das Motto: Wehret den Anfängen! In der Stadionordnung der Alten Försterei gibt es einen Antidiskriminierungsparagraphen, der dem Verein bei Verstößen rechtliche Schritte, wie Stadionverbote ermöglicht. O-Ton Alex: Union hat kein Naziproblem. Es gibt überall Nazis bei Union auch, aber es ist jetzt nicht so, dass Union ein besonderes Problem hätte. Im Gegenteil: Eigentlich sind wir in Punkto Osterverein wirklich sehr gut aufgestellt, was gerade den Widerstand gegen diese Truppenteile anbelangt. Atmo Hier regiert der FCU! ERZÄHLER: Die Revierbehauptung auf den Stehplatzrängen hat eine durchaus auch archaische Komponente. Die Halsschlagader des Vorsängers ist stark angeschwollen, der Kopf knallrot, die Stimme bald am Ende. Aufgeben? Undenkbar. Atmo Hier regiert der FCU! ERZÄHLER: Das Spiel gegen Hertha ist in der zweiten Halbzeit angekommen. Seit einer Stunde liegt die Mannschaft Unions mit einem Tor zurück. Seit einer Stunde kämpfen die elf Spieler dagegen an. Seit einer Stunde werden sie dabei von etwa 17 000 Fans angefeuert. Mittendrin Dirk Zingler. O-Ton Zingler: Der 1. FC Union ist letzten Endes ein Fußballverein in Deutschland, muss sich dem Wettbewerb stellen. Die Frage ist, wie er es tut. Tut er es, in dem er einen Kapitalwettstreit aufnimmt mit anderen erfolgreichen Vereinen in der zweiten Liga und vielleicht auch mal in der dritten, ersten Liga? ERZÄHLER: Seit knapp 40 Jahren ist der sechsundvierzigjährige Bauunternehmer Anhänger des 1. FC Union Berlin. Seit sechs Jahren ist er Präsident des Vereins. O-Ton Zingler: Das sollte und kann nicht unser Weg sein. Diesen Weg sind viele gegangen. Jeder möchte im Grunde genommen der zweite FC Bayern München werden. Enden tut es mit horrender Verschuldung, ob man nach Schalke schaut oder anderen Vereinen. ERZÄHLER: Zingler hat Union aus dem sportlichen Schlamassel und vor allem wirtschaftlichen Abgrund in die zweite Bundesliga und erst mals in der Vereinsgeschichte auch in die schwarzen Zahlen gebracht. Eine nicht zu unterschätzende Leistung in einer Liga, in der Schulden und Verluste Alltag und Folklore sind. Die Fans vertrauen ihm. Doch nach wie vor drücken auch Union langfristige Verbindlichkeiten und die Infrastruktur insbesondere die Westtribüne der Alten Försterei soll erweitert werden. Vieles ist improvisiert. Presseraum und Umkleidekabinen sind nichts anders als ein paar Container, die bei entsprechendem Wetter im Schlamm stehen. Daher war die Freude groß, als sich 2009 ein Hauptsponsor fand, der bereit war, jährlich zwei Millionen Euro in die Vereinskasse fließen zu lassen. Zwei Monate nach Vertragsunterzeichnung wurde aber bekannt, dass der Aufsichtsratschef der dubiosen Firma, ein früherer Führungsoffizier der Staatssicherheit war. Die Fans waren entsetzt. Der Vertrag wurde aufgelöst. O-Ton Zingler: Wir gehen nicht diesen Kapitalwettstreit, weil wir den am Ende sowieso nur verlieren können. Sondern wir wollen ein einzigartiges Produkt anbieten, was sich unterscheidet. Und Produkt ist für mich nicht nur der ausgezeichnete Stürmer, der Torschützenkönig wird, sondern Produkt ist für mich die Art der Veranstaltung, die Atmosphäre. ERZÄHLER: Ein Gegenprodukt zur herkömmlichen Welt des Profifußballs, die sich mehr und mehr als Zweig der Unterhaltungsindustrie versteht. O-Ton Zingler: ? Stehplatzstadion, Sitzplatzstadion, wie viel Kommerz lasse ich zu während der Veranstaltung? Einspielungen, Präsentationen, das versucht man sehr reduziert zu machen, und sagt hier ist Fußball pur. Bratwurst, Bier, 90 Minuten gutes oder schlechtes Spiel. ERZÄHLER: Aber auch ein Gegenprodukt ist ein Produkt, das sich auf dem Markt behaupten muss. O-Ton Zingler: Das ist wichtig, dass man auch Leute wirken lässt, die nicht alle drei Meter selbstgestrickten Schal umhaben ? einen rot weißen, die einfach sagen: Freunde, zum Spaß gehört auch wirtschaftlicher Erfolg. Und deshalb achte ich sehr darauf, dass die Mischung stimmt. ERZÄHLER: Und zu Zinglers Mischung, das heißt zur professionellen Vermarktung, gehört eben auch UFA Sports Mann Jörg Taubitz. Eine Zusammenarbeit mit Diskussionsbedarf, ein Balanceakt. O-Ton Zingler: Natürlich muss Herr Taubitz, kommt er in den ersten Monaten öfters zu mir und fragt. Geht das? Können wir das tun? Und ich sage fünfmal am Tag ja und fünfmal am Tag nein. Auch ich lerne ja, weil letzten Endes ein Taubitz mich ja überzeugen kann, und sagen kann: Pass auf, das stört überhaupt gar nicht. Da wird die Marke gar nicht mit beeinflusst. ERZÄHLER: Als einmal ? lange vor Taubitz - eine überdimensionierte Werbefahne im Stadion auftauchte gab es heftige Proteste der Fans. Genauso als eine Werbebande installiert wurde, die den großen Zaunfahnen der einzelnen Fanclubs den Platz streitig machte. Seitdem hat die Fan- und Mitgliederabteilung des 1. FC Union Berlin eine eigene Arbeitsgemeinschaft Marketing für den Dialog mit der Geschäftsführung. Unbedingte Tabus sind nach wie vor: Werbung in der Spielzeit und natürlich der Stadionname. Der ist anders als bei den allermeisten Vereinen unverkäuflich. Andererseits kann der geneigte Konsument aber im Union-Fanshop neben Trikots auch Baby-Schnullerketten, Schwimmenten, Zahnbürsten, Toaster und Weihnachtsbaumkugeln mit dem Vereinslogo erwerben. Atmo Gesang ERZÄHLER: Aber auf den Rängen sind nur sehr wenige Trikots aus dem Fanshop zu sehen und wenn dann stammen sie meist aus vergangenen Spielzeiten. Im Block der Hardcore-Fans fehlen sie ganz. Treue zum Verein ist was anderes als Liebe zum Merchandising. Atmo Gesang ERZÄHLER: Noch 15 Minuten. Die Mannschaft von Union drängt und drängt und drängt, kommt immer öfter vor das gegnerische Tor und stellt sich da dann immer wieder ziemlich dämlich an. Das Publikum goutiert derweil auch schon mal eine gelungene Grätsche. Atmo Applaus O-Ton Zingler: Es muss für uns Unioner klar sein, Erfolg und Misserfolg ist Bestandteil unseres Daseins. Und das finde ich auch wichtig unseren Zuschauern, die hierher kommen, zu vermitteln. Bei jedem Mensch, der draußen auf den Fußballrängen steht, findet das nämlich auch statt, dass er mal erfolgreich ist im Beruf, mal nicht erfolgreich ist im Beruf, privat. ERZÄHLER: Präsident Zingler plant eine nachhaltige Entwicklung, ohne den Anspruch etwa in Konkurrenz mit Herthas BSC eine Art Hauptstadtklub für Jedermann zu kreieren. Union, sagt er, ist im Osten der Stadt, insbesondere Köpenick zu Hause. O-Ton Zingler: Und wir sagen, es muss klar sein, dass unsere Jungs verlieren und gewinnen und es muss klar sein, dass wir mal zwei gute Spielzeiten haben und wieder mal drei schlechte haben. Wenn uns das gelingt, die Menschen trotzdem an den Verein zu binden, weil sie sagen: Okay, eigentlich ist der Verein wie ich. Ich bin mal erfolgreich und mal nicht. Dann haben wir es geschafft. ERZÄHLER: Die ökonomischen Herausforderungen des mittelständischen Unternehmens 1. FC Union Berlin müssen erfüllt werden, ohne das soziale Gebilde zu überfordern. Die ideelle Identität des Vereins soll nicht beschädigt werden. Sie ist wichtiger als der Erfolg. Dass Zingler diese Identität zum unabdingbaren und damit schützenswerten Kern der Marke erklärt und ihr unter dem Schlagwort "Fußball pur" ein griffiges Label verpasst, mag die Puristen verstören. Die Alternative läge fern von den Mechanismen des Profifußballs im Bereich der Kreis- und Bezirksligen. Zingler und die große Mehrheit der Unioner wollen aber keine Kreisklasse. Sie suchen die Nische und versuchen eine Gratwanderung, eine Art Union-Kapitalismus an der Schnittstelle zwischen traditioneller Fußballkultur und Fußballkommerz. Die Lücke dazwischen und mit ihr die Absturzgefahr ist groß. Zingler, gleichsam treuer Anhänger und erfolgreicher Unternehmer, scheint gerüstet. Die Fans geprägt von einer über hundert Jahre alten Fußballkultur folgen ihm mit einem ebenso lang gewachsenen Misstrauen. Atmo Gesänge ERZÄHLER: Noch 14 Minuten. Immer noch und immer weiter drängen die Unioner auf dem Platz und auf den Rängen. Trainer Neuhaus bringt mit Santiago Kolk den laut Internetportal transfermarkt.de teuersten Spieler der Unioner. Atmo Wechselansage ERZÄHLER: Letzte Frage an Zingler: Ist das anzustrebende Gegenteil von einem Kommerz-Klub ein Kult-Verein? Der Präsident schüttelt den Kopf. O-Ton Zingler: Wir betrachten das, was wir tun, als vollkommen normal, als richtig für uns. Und wenn Leute, die von außen auf uns schauen, sagen: Oh, das ist aber kultig! Dann ist das schön, dann nehmen wir das zu Kenntnis. Wir selbst benutzen diesen Begriff nicht. Atmo Spiel ERZÄHLER: Und dann ? so schön kann Fußball sein ? bekommt der gerade eingewechselte Kolk acht Minuten vor Spielende und 30 Meter vor dem gegnerischen Tor den Ball, läuft ein paar Schritte, zieht ab - Atmo Spiel ERZÄHLER: ... und drin ist er im Hertha Tor. Ein Unentschieden, das später auch die sogenannten neutralen Beobachter als mindestens gerecht bezeichnen werden. Etwas weniger differenziert sehen es die Union-Fans vor allem auf den Rängen hinter dem Tor. Für sie ist es ein gefühlter Sieg. Der Traum ist wahr. Die Droge wirkt. Hormone explodieren. Der Rausch: kurz und heftig. Die Menge wird zur Meute. Schals fliegen durch die Luft, Mützen und Kappen, vom Leib gerissene T-Shirts, Programmhefte, leere Bierbecher und volle Bierbecher und ein großer Haufen selbst geschnipseltes Konfetti. Atmo Jubel ERZÄHLER: Erleichterung, Freude, Begeisterung ? Pogo, Punk und Ekstase. Natürlich unionsgemäß ohne akustisch eingespielte Jubel-Fanfaren. Atmo Jubel ERZÄHLER: Mit dem Abpfiff komme ich zu meiner letzten Frage. Sie ist ein wenig wehmütig und ketzerisch. Diese Energie auf den Rängen, dieser Zusammenhalt, dieses beeindruckende Engagement, das in vielen anderen gesellschaftlichen Bereichen vermisst wird ? könnte man damit vielleicht nicht mehr anfangen als "nur" einen Fußballverein zu unterstützen? Alexander Cierpka schüttelt den Kopf. O-Ton Alex: Wenn man mal einfach bei Union schaut, was während des Stadionbaus passiert ist, wie sich die Leute untereinander helfen, wie die Gemeinschaft andere, gefallene Leute auffängt. Dann ist das einfach ein Mikrokosmos, der funktioniert, der beeindruckend ist und der ein Musterbeispiel an gesellschaftlichem Engagement darstellt. Also grad in der Zeit, wo jeder einen Ellenbogen ausfährt, wo Egoismen an der Tagesordnung sind, hast du da wirklich eine kleine Gemeinschaft von Leuten, die aufeinander aufpassen. Trotz aller Kritik. Wenn es darauf ankommt, ist man füreinander da. Und ich finde es nicht schade, dass das auf den Fußball fokussiert ist. Weil ich denke, dass jeder ein überschaubares Feld braucht, wo er merkt, dass sein Engagement was bringt. ERZÄHLER: Alexander Cierpka lächelt. O-Ton Alex: So lange ich so was sehe, so lange das funktioniert, ganz ehrlich bei dem Verein, glaube ich auch an das Gute in der Gesellschaft. Das klingt jetzt pathetisch, ist aber so. Atmo Vereinshymne (mit Nina Hagen) Absage: "Unsere Liebe. Unsere Mannschaft. Unser Stolz." Kult statt Kommerz beim 1. FC Union Berlin Ein Feature von Jörn Klare Sie hörten eine Produktion des Deutschlandfunks 2010 Es sprach: Hüseyin Michael Cirpici Ton und Technik: Hendrik Manook und Anna Dhein Regie: Thomas Wolfertz Redaktion: Karin Beindorff 33 33