KULTUR UND GESELLSCHAFT Reihe : Literatur Titel der Sendung : "Meine Armut kotzt mich an" Literatur über das prekäre Leben Autor/in : Elke Brüns und Ralph Gerstenberg Redakteurin : Dorothea Westphal Sendetermin : 22.07.2012 Besetzung : Sprecher (Kommentar) Zitatorin Zitator n) Regie : Klaus-Michael Klingsporn Produktion : O-Töne, Musik COPYRIGHT Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von Deutschlandradio Kultur benutzt werden. "Meine Armut kotzt mich an - Literatur über das prekäre Leben" von Elke Brüns und Ralph Gerstenberg Musik: Toni Mahoni "Armut" (ca. 10 sec, dann (instrumental) unter O-Töne) O-Ton Meyer: Man kennt das, man geht zur Bank und kriegt plötzlich kein Geld mehr, weil das Konto überzogen ist oder der Überziehungskredit überzogen ist. Ich weiß nicht, ob das Leuten, die ihr Geld vom Staat kriegen, auch öfter so geht, gut - die können halt kalkulieren mit ihren 330 Euro oder so. (...) Was ist denn eigentlich die genaue Übersetzung von Prekariat? O-Ton Kuhn: Das Wort Prekariat ist ja erfunden worden so um 2004/2005. (...) Das bedeutete erstmal nur, man befindet sich in einer prekärer Arbeitssituation, d.h. man hat keinen festen Job und wurschtelt sich halt irgendwie durch. Zitator: Prekariat ist ein Begriff aus der Soziologie und definiert "ungeschützte Arbeitende und Arbeitslose" als eine neue soziale Gruppierung. Der Begriff selbst ist ein Neologismus, der vom Adjektiv prekär (schwierig, misslich, bedenklich) analog zu Proletariat abgeleitet ist. (...) Betroffen sind einkommensschwache Selbstständige, Arbeiter und teilweise auch Angestellte auf Zeit, Praktikanten, auch chronisch Kranke, Alleinerziehende, Zeitarbeitnehmer und Langzeitarbeitslose, aber zunehmend auch Angestellte aus wissenschaftlichen Arbeitsverhältnissen. Sprecher: So definiert die freie Enzyklopädie Wikipedia das Wort "Prekariat", das seit einigen Jahren in aller Munde ist. Prekäre Lebensverhältnisse hängen nicht nur von objektiven Faktoren wie dem Einkommen ab, sondern auch davon, wie die jeweilige Mangellage in den öffentlichen Debatten, in den Medien und auch in der Literatur wahrgenommen, empfunden und gedeutet wird. Musik: R. Cousinsky "Dicht bei der Unterschicht" (0:56 - 1:40 frei, Zwischenspiel dann unter Sprecher) Sprecher: Bereits 2006 registrierte die Autorin Jana Hensel einen neuen Trend in der jüngeren deutschen Literatur: Die Texte setzten sich immer häufiger mit sozialen Härtefällen auseinander. In der Süddeutschen Zeitung beschrieb sie eine markante ästhetische Zäsur. Durch die Umbrüche in der Arbeitswelt und der Sozialgesetzgebung, die Flexibilisierung der Erwerbsbiographien und die immer größer werdende Kluft zwischen Arm und Reich komme eine Realität in den Blick, die lange nicht als literaturwürdig angesehen wurde. Zitatorin: In den letzten Monaten sind von jungen deutschen Autoren (...) Romane erschienen, die in der sozialen Wirklichkeit der deutschen Unterschichten spielen. Sie alle sind in der Ära der rot-grünen Koalition entstanden und erzählen mehr von Arbeitsämtern, Ich-AGs, Arbeitslosigkeit, Sozialhilfe und Hartz IV als von einer neuen Bürgerlichkeit, die so mancher zugereiste Feuilletonist glaubt, im Kulturbetrieb entstehen zu sehen. Von all diesen Autoren wirkt Clemens Meyer wahrscheinlich am stärksten, als käme er aus seinem eigenen Text. Sprecher: Der erwähnte Clemens Meyer debütierte im selben Jahr mit seinem epischen Generationenporträt "Als wir träumten". Hier hatte der Leipziger Autor das Lebensgefühl von Jugendlichen nach dem Ende der DDR beschrieben: ein Leben zwischen Träumen, Drogen, Fußball und Prügeleien. Wie die Autorin Jana Hensel hatten auch viele Literaturkritiker eine starke Ähnlichkeit der Figuren seines Romans mit dem Autor vermutet. Für seinen Erzählband "Die Nacht, die Lichter" erhielt Clemens Meyer 2008 nicht nur den Preis der Leipziger Buchmesse. Er schien auch endgültig zu dem Schriftsteller der Unterschicht zu werden - schließlich besteht das Personal seiner Stories aus Arbeitslosen, Verlierern, Drogenabhängigen, Kleinkriminellen. O-Ton Meyer: Ich glaube, die, die in meinen Büchern vorkommen, solche romantische Asis gibt's gar nicht. Zitator: Ich fuhr die leere Gabel ganz nach oben, so weit es ging. Der Stapler machte die üblichen Geräusche dabei, ein Brummen und ein metallisches Klingen, dann ließ ich den Hebel los. Ich legte den Kopf in den Nacken und blickte hoch zu der Gabel, die noch ein wenig schwankte. "Und jetzt?" "Lass sie wieder runter, aber ganz langsam. Und dann sei still." Ich bewegte den Hebel nur ein kleines Stück, und das Gestänge sank mit der Gabel wieder langsam nach unten. "Und jetzt? Ich versteh's nicht." "Du musst ganz still sein. Ganz still sein. Das Rauschen, hörst Du, wie das Meer." Und sie hatte recht, jetzt hörte ich es auch und wunderte mich, dass mir das nie aufgefallen war. Die Gabel senkte sich mit einem Zischen und Rauschen, das war die austretende Luft der Hydraulikanlage, und es klang tatsächlich ein wenig wie das Rauschen der Wellen am Meer. (...) "Hörst du's", flüsterte sie, und ich nickte. Dann schwiegen wir und lauschten. Sprecher: Dass ein Gabelstaplerfahrer mitten im Großmarkt das Meer hören kann - diese Fähigkeit verdankt er seinem Schöpfer, dem Autor Clemens Meyer. Denn statt die Realität der HartzIVler, der Armen und Loser in sozialkritischer Manier einfach abzubilden, geht es ihm um poetische Wahrhaftigkeit. O-Ton Meyer: Sozialreportage ist ja nun doch was anderes. (...) Es spielt keine Rolle, ob das in der Wirklichkeit alles so oder so passiert ist oder passieren kann. Natürlich kann es auch solche Figuren in der Realität geben, aber ich weiß es natürlich nicht hundertprozentig und muss das auch nicht wissen. Sprecher: Clemens Meyer fand seinen Stoff in Leipzig Ost, wo er aufwuchs und immer noch lebt. Nicht gerade die Vorzeigegegend seiner Heimatstadt. Arbeitslose und viele Menschen, die irgendwie durch das Raster gefallen sind, leben in seiner Nachbarschaft: prekäre Existenzen. O-Ton Meyer Und ich hab eben da viel Zeit verbracht in Kneipen mit Leuten zusammen und fand immer, dass das ein großes literarische Potential hat, wenn man das richtig anpackt, dass das eine große Tragik auch entwickelt (...) und schnell auch eine Romantik. Wie der Mann, der zum Briefkasten geht, weil er Post von Südamerika kriegt: Das ist doch ein unglaublich romantisches Motiv! Und das kann der aber nur haben, weil er eben in diesem kaputten Viertel wohnt und keine Arbeit hat und aufgegeben hat im Prinzip. Sprecher: In der Erzählung "Warten auf Südamerika" erhält der arbeitslose Frank Briefe seines ehemaligen Schulkameraden Wolfgang. Darin schreibt er, dass er von seinem Onkel Rudi Geld geerbt habe, nun in Brasilien lebe, unter der ewigen Sonne, am weißen Strand, umgeben von schönen Frauen. Frank empfindet keinen Neid, er freut sich, dass sein Freund es geschafft hat. In einer Kneipe erzählt er einem Bekannten von Wolfgangs neuem Leben. Der kurze Dialog am Tresen offenbart die Lebensträume von Meyers Figuren. Plötzlich geht es nicht mehr um die Briefe, sondern um die Briefmarken und die Frage, wo die Briefe abgeschickt wurden: Kommen sie wirklich aus Südamerika? Oder vielleicht doch aus einer Stadt irgendwo in Deutschland? Denn der Bekannte am Tresen, mittlerweile ein alter Mann, hat früher bei der Post gearbeitet und erinnert sich, dass Wolfgang damals exotische Marken gesammelt hat: Zitator: "Hab ihm immer die besten Marken besorgt, damals." "Marken?" Frank trank sein Glas aus und schob es neben das Leere des Alten. "Noch zwei", sagte er, "und zwei Tequila", und die Barfrau sagte: "Dauert'n kleinen Moment." "War bei der Post", sagte der Alte, "damals", und plötzlich wusste Frank wieder, wer er war. Sie hatten bei Rudi an der Theke gesessen und das große Briefmarkenalbum durchgeblättert. "Zwei neue Pelé-Marken", sagte Wolfgang, "ganz selten, ungestempelt." (38) Musik: Peter Licht "An meine Freunde vom leidenden Leben" (2: 42- 3:18) Sprecher: Dick, rauchend, mit der Bierflasche in der einen und der Fernbedienung in der anderen Hand rund um die Uhr vor dem Riesenflachbildschirm - so sieht das Klischee der Unterschicht aus. Über Menschen zu schreiben, die mit wenig Geld leben müssen, die Hartz IV beziehen oder sich als Boxer oder Prostituierte durchschlagen, bedeutet deshalb, sich einer permanenten ästhetischen Gratwanderung auszusetzen. So wurde Clemens Meyer vorgeworfen, ein "Unterschichten- Kasperle-Theater" zu veranstalten. O-Ton Meyer: Da musste aufpassen, die Klischees sind dort noch mehr als anderswo sehr eng gesteckt und man gerät da ganz leicht rein. Und das vergessen nämlich auch immer schnell die Leute oder die Kritiker (...), die einen da in so ne Ecke ... Ja, er schreibt ja im Prinzip nur über die Unterschicht. Es ist viel schwieriger. Sagen wir mal Romane, die in ner Art Oberschicht spielen, da gibt's ja so was weniger. Wo sind da die Klischees, möchte ich wissen? Der Professor, der alleinstehende? (...) Da kann man ja ungestraft sämtliches Zeug (...) schreiben. Sprecher: Für Clemens Meyer sind es gerade die Randgestalten der Gesellschaft, die auf Grund ihrer Nöte in besonderer Weise existenziellen Erlebnissen ausgesetzt sind. In seinem Erzählband "Die Nacht, die Lichter" schreibt er seinen Protagonisten deshalb eine Fallhöhe zu, die sonst nur den großen Figuren der Literatur zugebilligt wird. So erzählt die Geschichte "Von Hunden und Pferden" von Rolf, dessen Hund Piet plötzlich anfängt zu humpeln. O-Ton Meyer: Dann hast du den Mann, der hat kein Geld, natürlich ist das erst mal ein Klischee: Arbeitsloser hat kein Geld, aber dann muss man sich was einfallen lassen. Hat der nen Hund. Ist der Hund krank. Braucht der Geld für den Hund. Schon mal ne ungewöhliche Sache. Dann versucht er, auf die Rennbahn zu gehen und das Geld dort für den Hund zu gewinnen. Und dann trinken die dort Mojito am Stand, alles solche Details. Da umschifft man schon mal die ganzen Klippen. Sprecher: Rolf gewinnt tatsächlich beim Pferderennen. Er hat die Summe für die Operation seines Hundes zusammen. Doch mit dem letzten Satz der Erzählung wird dem Leser schlagartig alle Hoffung auf ein Happy Ende genommen. Zitator: Und dann dachte er an Piet und lief weiter Richtung Stadtrand, Richtung Osten, wo er wohnte, und er sah nicht die drei Männer, die hinter ihm liefen. Musik: Tom Waits "Rainbirds", kurz, dann unter Sprecher / O-Ton 8/ Sprecher /O-Ton 9 Sprecher: In dem Erzählband "Die Nacht, die Lichter" leben die Figuren auf der Schattenseite der Gesellschaft. Sie sitzen im Dunkeln, weil ihnen der Strom abgestellt wurde oder sie schauen von weitem auf das Licht der Stadt. Wie die Outsider in amerikanischen Filmen bewegen sie sich durch eine Nacht, die zum einen an das Dunkel des Kinosaals erinnert, zum andern an gesellschaftliche Orte, die hierzulande wenig beleuchtet sind. O-Ton Meyer: Das Dunkel und die Lichter ist programmatisch (...), häufig sind sie auch ganz profan eben nur die Lichter, weil viele der Figuren sich durch die Nacht bewegen, (...) im Zug, auf Reisen sind, die Drifters, wie man im Hollywood-Film sagen würde. Häufig verschwinden die Figuren ja auch in der Nacht, in der Bedeutungslosigkeit, in der Masse, (...) in der Anonymität. Dieses Buch ist ja auch eine Reise durch die Nacht, durch die nächtliche Gesellschaft mit fünfzehn Stationen. Sprecher: Meyers Figuren erscheinen wie die literarischen Vorboten einer neuen, globalisierten Welt, einer Welt, die zunehmend nomadische Existenzen hervorbringt: Menschen, die reisen, weil ihr Job es erfordert oder weil sie auf der Suche nach Arbeit sind. Als Nachtgestalten verkörpern sie auch das Prekäre des Lebens zwischen schönen Wunschträumen und der oftmals weniger schönen Realität. Der Autor jedenfalls lässt mit seiner Schreibweise einen weiten Assoziationsraum offen: O-Ton Meyer: Einige von denen lassen sich ja wirklich auch so treiben, das ist ja auch so ein Motiv. So Menschen, die eben so nicht verankert sind, die nächtelang durch die Kneipen ziehen (...) oder auf Bahnhöfen rumhängen und so was, so'n Sich-Treiben-Lassen, so'n Nicht-Mehr-Verortet-Sein, nicht in der Gesellschaft, aber auch nicht im eigenen Privaten, nicht in der Welt eigentlich, überhaupt in der Welt irgendwie. Musik: Tom Waits "Rainbirds" (hoch, Schluss finden) Sprecher: Helmut Kuhn schildert in seinem Roman "Gehwegschäden" eine andere Form des modernen Nomadisierens. Seine Protagonisten stammen aus dem Bildungsprekariat von Berlin-Mitte. O-Ton Kuhn: Es sind vielleicht einerseits bürolose Nomaden, aber andererseits ist es auch hipp, es ist so ein Ausdruck von einer neuen Kultur: Wir haben keine Büros mehr, wir brauchen das nicht, wir sind nicht angestellt, wir sind freie Menschen und wir können den ganzen Tag im Café sitzen und dabei arbeiten und Geld verdienen. Wenn man aber genau hinschaut, glaube ich, sind die meisten Leute, die noch von zu Hause gesponsert werden. Ich würde mal sagen, von sehr ratlosen Eltern des Wirtschaftswunders. (...) Und ohne diese Zuwendungen würde es wahrscheinlich gar nicht gehen. Sprecher: Parallelen zu Alfred Döblins "Berlin Alexanderplatz" sind bei Helmut Kuhn keineswegs zufällig. In den Kneipen, in denen einst Proletarier beim Bier saßen, sitzt nun die Digitale Bohéme beim Kaffee Latte an ihren iBooks. Im Unterschied zur Arbeiterklasse alter Provenienz gehört die Digitale Bohéme zwar zur gut ausgebildeten Elite. Das angesagte Outfit und der Habitus verdecken aber, dass dem schicken Schein oft kein materielles Sein entspricht. O-Ton Kuhn: Die Grundidee ist natürlich schon zu sagen: Wer hat denn hier vor 80 Jahren rund um den Alexanderplatz gelebt. Und da muss man sagen: Das war damals das Proletariat. Also Franz Bieberkopf ist ja auch ein proletarischer Held. (...) Und wer lebt heute hier? Wenn man ehrlich ist und genau ist, ist es das Prekariat (...) Ich wollte mich auf gar keinen Fall mit Döblin messen. Ich wollte nur versuchen, das, was er versucht hat, die Gesellschaft zu zeigen, so eine Art Sittenbild, einen Gesellschaftszustand darzustellen. Sprecher: Thomas Frantz, die Hauptfigur in Kuhns Roman, ist so eine prekäre Existenz. Der freiberufliche Journalist war einst Kriegsberichterstatter, schrieb gut bezahlte Reportagen und Artikel für Hochglanzmagazine. Mit Mitte vierzig fristet er nun ein Leben am Existenzminimum. Die Lebensverhältnisse sind brüchig geworden. Immer mehr gut ausgebildete Freelancer rücken nach. Indes schrumpfen die Honorare. Für eine rechercheaufwendige Reportage auf der renommierten Seite Drei einer Tageszeitung erhält Thomas Frantz gerade mal 350 Euro. Dennoch hat er keine Wahl, muss selbst schlecht bezahlte Arbeiten annehmen, sonst kappt der Energiekonzern den Strom, der Gerichtsvollzieher steht bereits auf der Matte. Wenn es eng wird, muss Frantz sich Geld von seiner Freundin borgen. Zitator: Marie-France geht an ihre Handtasche, zückt den roten Geldbeutel und gibt Frantz einen kleinen Schein. Frantz fühlt sich elend. Er steckt den Schein ein, streift seine Jacke über und geht runter. Im Laden kauft er eine Schachtel Zigaretten. Es ist kalt, die Straße nass. Frantz steht draußen an einem der beiden Tische, an denen sonst die Arbeitslosen stehen, rauchen und Bier trinken. Frantz raucht. Fehlt nur noch das Bier, denkt er. Es ist das erste Mal, dass er hier steht. Leistungsträger. Der Begriff fällt ihm auf einmal ein. O-Ton Kuhn: "Leistungsträger! Das ist so ein FDP-Wort. Es ist einfach ein kalter Begriff, ein Begriff, der aussortiert. Frantz fragt sich, ob er denn überhaupt noch ein Leistungsträger ist. Eine Mutter mit zwei Kindern, die vielleicht nicht mehr berufstätig sein kann, ist die überhaupt noch ein Leistungsträger? Wer fällt darunter? Es ist einfach ein eiskalter, ökonomischer Begriff. (...) Eigentlich sollte es ein Unwort sein. (...) Über diese Dinge regt er sich dann zunehmend auf und wird wütender. Eigentlich ist es eine gesunde Wut, finde ich. Viel mehr Menschen sollten sich aufregen. (...) Das Problem ist, dass Leute, die an den Rand gedrängt werden, die Neigung verspüren, darüber nicht zu reden. Armut ist etwas, was man nicht gerne zeigt. (...) Man gibt sich selber die Schuld dafür. Ich bin arm, weil ich's nicht gebracht habe. (...) Dieses Gefühl gibt einem die Gesellschaft. Musik: Britta "Wer wird Millionär" (0:57-1:28 frei) Sprecher: Egal ob sie sich als Digitale Bohémians einen glamourösen Anstrich verleihen oder nach ihrer Promotion als Pagen in Nobelhotels verdingen, ob sie Programme für Webportale schreiben oder als Filmcutter den Aufträgen hinterher jagen, die Prekarianer in Helmut Kuhns Roman sind Meister darin, sich irgendwie durchzuschlagen. Nicht nur aus sportlichen Gründen betreibt Kuhns Romanfigur Thomas Frantz - übrigens ebenso wie ihr Schöpfer - eine Hybridsportart, das Schachboxen. O-Ton Kuhn: In einem Schachboxkampf treten also zwei Kämpfer gegeneinander an. Wechselweise wird eine Runde Schach gespielt. (...) Und dazwischen wird eine Runde geboxt. Und jetzt ist das Schwierige daran, nach einer Runde Boxen sich auf etwas zu konzentrieren, was sehr kompliziert ist. Genau dieses lernen sie aber sozusagen. Man kann das trainieren. Und das ist für mich interessant, dass ich sage: In diesem Schachboxen lernen die Leute sprichwörtlich, sich intelligent durchzuschlagen. Das sind auch alles Leute, die tatsächlich im weitesten Sinne aus dem Prekariat kommen oder junge Leute, die sich wirklich im Leben noch durchschlagen (...), die sich da dieses Rüstzeug holen in diesem Intellectuell Fightclub. Sprecher: Das Prekariat ist keine Gesellschaftsklasse wie das Proletariat, keine sozial homogene Gruppierung. Es hat kein Druckmittel, kein Kampfinstrument. Die hoch gebildeten Prekarianer in Berlins Mitte arbeiten oft nach dem Prinzip der Selbstausbeutung. Bestenfalls zehren sie von dem Gefühl, kreativ zu sein, und empfinden ihre Vereinzelung als Autonomie. Gewerkschaftliche Errungenschaften wie bezahlten Urlaub, festgelegte Arbeitszeiten, Kündigungsfristen, geregelte Tarife sind für sie Fremdworte. Einmal im Jahr treffen sie sich jedoch zu einer großen Demonstration. Musik: Toni Mahoni "Armut" (instrumental), ca. 5 sec, dann unter Sprecher. Zitator: Da hocken sie auf dem Bebelplatz und lümmeln und dösen in der Sonne, schwarz gekleidet und in Jeans, viel Flipflop, viel Top, Frantz hat sein kaputtes Rad am Zaun geparkt und schlendert durch die kleine Wagenburg, wo die Prekarianer Flugblätter verteilen und kommunistische Zeitungen. (...) Eine weiche Männerstimmer klingt jetzt aus den Boxen. Ich krieg die Krise. Jeden Morgen Weckerklingeln, sagt der sympathische junge Mann, beim Jobcenterterror und beim Ausländerbehördenhorror, sie schwebt über dem Krampf meiner Selbstvermarktung und den Resten meines Dispos. Und was wird morgen? Wie geht's weiter? (...) Frantz sieht hinauf in den Himmel (...). Der Dachgarten gehört zum alten Bankhaus Löbbecke. Die Krise ruft jetzt der sympathische junge Mann, ist schon lange existent in den Slums unserer Stadt, die bevölkert sind von multinationalen Überflüssigen, von Schattengesellschaften ohne Perspektive. Frantz kann jetzt einen Butler auf dem Dachgarten erkennen, der Mann trägt so eine Art Frack und scheint etwas mit der Kelle zu servieren. (...) Revolution!, ruft der junge Mann. Die zunehmenden Proteste gegen den Sozialabbau zeigen, dass die Zeit des ruhigen Hinterlandes zu Ende ist. Das Kapital und seine Vasallen fürchten um ihre Herrschaft. (...) Auf dem Dachgarten des Bankhauses Löbbecke treten Gäste ans Geländer, es sind zwei Herren und eine Dame, wohl um zu sehen, wer da unten einen solchen Spektakel macht. O-Ton Kuhn: Dann setzt sich der Prekarianerzug langsam in Bewegung, die Leute oben auf dem Dachgarten gehen wieder zurück, sind gelangweilt. (...) Plötzlich leert sich der Platz und die Flaschensammler erobern das Feld und prügeln und schlagen sich regelrecht um die Flaschen auf dem Boden. Darunter auch ein Alter, der mit seinem rundum mit Flaschen und Säcken behangenen Rollator keift und spuckt (...) und dann gibt's Kinder, die wie Balljungen auf dem Tennisplatz vorpreschen und einzelnes Leergut sich schnappen. Und das, finde ich einfach, ist ein Mikrokosmos für unsere Gesellschaft: Die da ganz oben, die völlig gelangweilt sind, die mit dem Rest der Welt nichts mehr zu tun haben, dann die da unten, die Tamtam machen, und zum Schluss kommen die wirklich Armen aufs Feld. Und das ist in der Realität tatsächlich so. Sprecher: In einer Welt, in der Proteste als linke Folklore verklingen, in der jeder auf sich gestellt und sich selbst der nächste ist, in der niemand mehr sicher sein kann, das er nicht bald als überflüssig ausgesondert und an den Rand gedrängt wird, wird das Wort von der Solidargemeinschaft zur leeren Floskel. Helmut Kuhn zeigt in "Gehwegschäden", wie der Frust über prekäre Lebensverhältnisse wächst, wie Angst zu Wut wird und letztendlich zu Gewalt, die sich unkontrolliert im Alltag äußert. O-Ton Kuhn: Thomas Frantz stellt sich die Frage, wie oft darf die Gerechtigkeit, also der Gerichtsvollzieher, kommen. Er entscheidet: 23 Mal. Beim 24. Mal greift der Mensch zur Axt und rastet aus. (...) In Berliner Straßen kommt es öfter aus heiterem Himmel zu regelrechten Amokszenen. Die schießen vielleicht nicht gleich, aber es gibt Gewaltszenen. Jemand dreht sich um und schlägt einfach zu. Zitator: Ein Stück neben Frantz hatte eine Frau mit ihrer Tochter den U-Bahnhof verlassen und ging in gleicher Richtung. Frantz nahm sie im Augenwinkel wahr. Ein Mann überholte sie. Er hatte einen kahlen Kopf, war sehr groß und drahtig. (...) Der Mann strahlte eine Gereiztheit aus, die Frantz spürte. Rasch war er ihnen zwei, drei Schritte voraus. Der Typ blieb stehen. Er schnellte herum und schlug der Frau mit beiden flachen Händen auf den Oberkörper. Frantz erschrak. Es war ein kontrollierter Schlag. Das erkannte er sofort. O-Ton Kuhn: Passiert immer häufiger. Einfach nur, weil das Fass überläuft. Die Stimmung ist sehr oft aggressiv. In der U-Bahn, S-Bahn oder so. Weil es viele Menschen gibt, die immer so am Rande vor sich hinköcheln und irgendwann mal - Baff!!! - explodieren, hochgehen wie ne Bombe. Sprecher: Immer wieder findet Helmut Kuhn Bilder, um die Einzelkämpfer des Prekariats in seinem realitätsnahen, teilweise geradezu dokumentarisch anmutenden Roman in Szene zu setzen. Ein simples Straßenschild mit der Titel gebenden Aufschrift "Gehwegschäden", das man in Berlin beinahe an jeder Ecke sehen kann, wird zur Metapher für den Zustand der Gesellschaft. O-Ton Kuhn: Was bedeutet dieses Schild eigentlich? Es bedeutet: Lieber Bürger, der Gehweg ist kaputt oder der Bürgersteig ist brüchig. Das ist erstmal schon ne Feststellung. Es bedeutet auch: Lieber Bürger, wenn du hier lang läufst und auf die Schnauze fällst und dir ein Bein brichst, zahlen wir nicht. Es heißt aber auch: Wir machen hier nichts mehr. Es wird hier nichts mehr repariert, wir haben resigniert, wir haben uns mit diesem Zustand abgefunden, wir verwalten den Verfall nur noch. Und das fand ich irgendwann so ein wahnsinnig treffendes Sinnbild für den Zustand der Gesellschaft, dass wir sehen: Es springt uns noch nicht so ins Auge. (...) Wir sind nicht in Somalia, wir haben keine Hungersnot. Es ist aber ein kleines Schild, das uns doch irgendwann mal ins Auge springt und uns sagt: Stopp! Irgendetwas ist hier kaputt und wir machen nichts mehr dran. Sprecher: In "Gehwegschäden" stellt Helmut Kuhn fest, dass sich diese Gesellschaft in den letzten zwanzig Jahren grundsätzlich verändert hat. Seine Figur Thomas Frantz wirkt gelegentlich wie ein hoffnungsloser Moralist und Sozialromantiker, weil er an Werten wie Gerechtigkeit und Solidarität festhält, Werten, die nicht mehr zeitgemäß erscheinen - was Helmut Kuhn von einigen Kritikern auch prompt den Vorwurf der Larmoyanz einbrachte. O-Ton Kuhn: Wenn Sie vor zwanzig Jahren beispielsweise ein Sozialarbeiter waren und sind in eine Kneipe gegangen in Kreuzberg. Dann waren Sie ein Held. Sind Sie ein Werbemensch gewesen und sind in dieselbe Kneipe gegangen, dann waren Sie ein Arschloch, weil Sie Lügen verkauft haben und damit viel Geld verdient haben. Heute ist es genau umgekehrt: Heute ist der Werber der großer Zampano, weil er viel Geld verdient, ganz egal womit, und der Sozialarbeiter ist ein Volltrottel, weil er wenig Geld verdient und auch noch was für andere tut. Igittigitt. Also das ist ein Wertewandel innerhalb von kürzester Zeit. Zwanzig Jahre sind nicht allzu lang, und es hat sich komplett umgedreht. Das finde ich erstaunlich. Musik: Tom Waits (instrumental), ca. 5 sec, dann unter O-Ton und Sprecher. O-Ton Gröschner: Mittlerweile wird's immer schwerer für Leute, die keine Karriere machen wollen, irgendwie durchzukommen. Das war natürlich vor fünfzehn Jahren noch viel einfacher. Da hat sich doch ganz schön viel verändert. Aber die haben meine absolute Sympathie, diese Leute. Sprecher: Dass Annett Gröschner ein Herz für Außenseiter hat, merkt man ihrem Roman "Walpurgistag" beinahe auf jeder Seite an. Das Buch beginnt am selben Ort wie "Gehwegschäden" von Helmut Kuhn, am Berliner Alexanderplatz. Dort sucht ein Obdachloser mit dem passenden Namen Alex ein wenig Ruhe und Schutz unter der Weltzeituhr. Doch Gottfried und Bartuschewski, zwei altbekannte Polizisten, scheuchen ihn auf. Zitatorin: "Immer das Gleiche mit dir, Ali. Hast Platzverweis, schon vergessen?" "Manchmal ist das Gleiche auch dasselbe", antworte ich, in der Hoffnung, wir könnten uns auf eine höfliche Kommunikation verständigen. "im Übrigen ist mein Name Alexander. Alex lass ich mir gerade noch gefallen." "Lass die Spitzfindigkeiten, hast wohl wieder gesoffen?" Dass Bartuschewski auch immer glauben muss, einen mit Du anreden zu dürfen, nur weil man keine vier Wände um sich herum hat. Als würden einem die Wände erst Respekt verschaffen, als könne man nicht ohne enge Begrenzung aufrecht gehen. (...) "Hoch, Professor Unrat, auf dem Alexanderplatz ist das Liegen verboten. (...) Mann bin ich froh, dass das hier mal ein bisschen schicker wird und das ganze Kroppzeug verschwindet. So wie am Potsdamer Platz." Sprecher: In "Walpurgistag" schildert Annett Gröschner auf gut 400 Seiten den 30. April 2002, also den Tag vor der Walpurgisnacht, in der sich Polizisten und Autonome ihre alljährliche Schlacht liefern. Zirka zwei Dutzend Figuren werden an diesem Tag auf ihren sich kreuzenden Wegen durch die Stadt begleitet, darunter ein Taxifahrer, eine türkische Mädchenclique, ein Teenager, der einsam durch die Straßen streift, und eine Pizzalieferantin. O-Ton Gröschner: Das ist mir irgendwie unterlaufen, dass es Leute sind, die (...) eher was mit mir zu tun haben, als wenn ich jetzt über 'nen Investmentbanker geschrieben hätte. (...) Dann habe ich mich entschlossen, das Berlin von unten zu beschreiben. Sprecher: Annja Kobe, die der Leser bereits aus Annett Gröschners Debütroman "Moskauer Eis" kennt, lebt buchstäblich ganz tief unten, in einem Bunker unter der Stadt. Dort wohnt sie mit ihrem Vater, der seit Jahren in einer Tiefkühltruhe im Gefrierschlaf liegt. Da ihr Versteck, das einst zum Parteiarchiv der SED gehörte, im Rahmen von Bauarbeiten kurz vor der Entdeckung steht, muss sie samt gefrorenem Vater und einigen anderen Leuten, die ohne Papiere dort leben, aus ihrem unterirdischen Refugium weichen. Von der Polizei wird sie als Vatermörderin gesucht. Deshalb ist Annja Kobe abgetaucht, sie lebt - wie viele andere - in der Illegalität. Zitatorin: Ich habe mir über die Jahre hinweg angewöhnt, die Frisuren nach den Passbildern der geklauten Ausweise auszuwählen, was meine Kleidung anbelangt aber immer Mittelmaß zu sein. Inzwischen sehe ich aus wie meine Mutter, als sie Vater und mich verließ. Da war sie neununddreißig. Bald bin ich in dem Alter, in dem Polizisten einen zu übersehen pflegen. Man ist statistisch keine Gefahr mehr für sie. Mittelalte Frauen töten höchstens ihre Ehemänner, bleiben dann aber neben der Leiche sitzen und warten auf ihre Verhaftung. Sprecher: In einer Episode beschreibt Annett Gröschner eine Grenzüberschreitung der absurd-komischen Art. Die freiberufliche Dramaturgin Viola Karstädt, selbst Expertin prekärer Lebensverhältnisse, quartiert sich im Rahmen des experimentellen Projektes "Theater auf Rädern" für eine Schlafperformance bei einer bildungsfernen Familie in Neukölln ein. Bald muss die Performerin jedoch feststellen, dass hier niemand versteht, was sie vorhat. In der Annahme, sie habe keine Unterkunft, lassen die mitleidigen Unterschichtler sie auf ihrem Klappsofa vor dem Fernseher schlafen. O-Ton Gröschner: Da ist sie dann doch sehr beschämt. Sprecher: Um diesen Culture-Clash prekärer Milieus auf die Spitze zu treiben, arbeitet Annett Gröschner mit Klischees, die aus einem Bilderbuch von Thilo Sarrazin stammen könnten. Ihre Neuköllner Gastfamilie ist übergewichtig, kinderreich und multiethnisch, trinkt Cola aus 2-Literflaschen, schaut Wrestling im Fernsehen und trägt Jogginganzüge zum blondierten Haar. Im Gegensatz zu Clemens Meyer stilisiert Annett Gröschner ihre Protagonisten also nicht, sondern zeigt sie genau so, wie man sie sich vorstellt. Aber auch sie stellt ihre Protagonisten keineswegs bloß. Der Kulturschock der Dramaturgin Viola Karstädt weicht der Anteilnahme. Zitatorin: Viola möchte sich sofort beim Arbeitsamt erkundigen, ob Melanie Schöller mit drei Kindern keinen Anspruch auf Wiedereingliederungsunterstützung hat. Aber dann denkt sie, dass es doch nur das schlechte Gewissen ist, das sie treibt. "Warum machen Sie denn keine Umschulung als Verkäuferin?" "Weil ich schon als Verkäuferin gearbeitet habe. Das war schön, an der Kasse von Aldi. Ich kann heute noch die Preise auswendig. Aber dann wurde ich wieder schwanger. Ich hätte ja sogar aufs Gymnasium gekonnt, aber als ich sechzehn war, kam Vivian, und dann wurde es nur ein erweiterter Hauptschulabschluss. Naja, Vivi wird's mal besser haben, die passt auf. "Ja", sagt Vivian, "und ich will eine Schultüte voller Süßigkeiten und nicht mit Zeitungspapier drin wie deine." "Kein Zeitungspapier, versprochen", sagt Melanie, "da kommen lauter Bonbons rein." Sprecher: In Ihrem Roman "Walpurgistag" zeigt Annett Gröschner auch ein subversives Potential, einen Widerstand gegen den Anpassungsdruck, der im letzten Jahrzehnt stetig gestiegen ist. Ihr Personal wird mit Veränderungen konfrontiert, die unter dem Schlagwort Gentrifizierung längst Schule gemacht haben. Der Prenzlauer Berg, das Berliner Viertel in dem die Autorin und ein Teil ihres Romanpersonals leben, steht für diesen Wandel, der zur Zeit der Romanhandlung gerade erst begonnen hat. Rentnerinnen kämpfen gegen ihre Verdrängung aus den Wohnungen, in denen sie ihr ganzes Leben verbracht haben. Der Schach spielende Friedhofsmusiker Liebig frönt einem Boheme- Leben wie zu DDR-Zeiten und denkt nicht daran, seine Freiheit etablierten Wohlstandstandards zu opfern. Bereits in dieser Verweigerungshaltung steckt ein subversives Potential, weil sie gesellschaftskonforme Lebensentwürfe infrage stellt. O-Ton Gröschner: Es gibt ja auch so einen gewissen Druck innerhalb von so einer bestimmten Gruppe, (...) dass man eben das haben muss oder jenes. Das heißt, das muss man ja irgendwie auch erarbeiten, in dem Moment ist man dann plötzlich abhängig und macht vielleicht auch Sachen, die dem Staat ganz zupass kommen. (...) Und es gibt aber auch genug Leute, die sich dem entziehen, indem sie sagen: Ich brauch diesen ganzen technologischen Schnickschnack nicht. Wozu brauch ich ein Haus oder ein Wochenendhaus? Ist ja Quatsch. Dann brauch ich auch noch ein Auto. Und schon ist man drin in der Falle. Ich kann das ganz gut hier beobachten, in dem Viertel, in dem ich wohne, weil mittlerweile fast nur noch Leute hier wohnen, die genau in diesen Zwängen stecken. (...) Also wo man so eine ständige Anstrengung sieht: schön sein, erfolgreich sein, einschließlich Kinder, und was besitzen. Musik: Toni Mahoni "Armut" instrumental, kurz, dann unter Sprecher Sprecher: Viele Autoren, die sich mit ihrer literarischen Produktion finanzieren müssen, leben traditionell in prekären Verhältnissen. Notgedrungen sind sie Experten darin, sich irgendwie durchzuschlagen. Die Entscheidung, selbst zu bestimmen, woran man arbeitet, hatte immer schon seinen Preis. O-Ton Gröschner: Und es wird aber immer prekärer. Ich hab das neulich mal für mich so ausgerechnet. Meine erste Reportage, die ich geschrieben habe 1992, da habe ich 400 Mark für bekommen. Bei derselben Zeitung hab ich vor zwei Jahren eine Reportage veröffentlicht, da hab ich 200 Euro bekommen, d.h. ich habe haargenau dasselbe bekommen und bezahle aber ungefähr sieben- oder achtmal soviel Miete. (...) Das sind dann schon Entscheidungen, die sind dann auch prekär. Und wenn man noch ne Familie hat, die ernährt werden muss, natürlich umso mehr. O-Ton Hacker Aber ich kann das nicht so richtig beurteilen, weil ich (...) natürlich in einem bestimmten Teil der Gesellschaft lebe, einerseits sehr, sehr bürgerlich und anderseits natürlich komplett daran gewöhnt bin, dass ich nicht weiß, wie es finanziell weitergeht. Und eben auch an Zeiten gewöhnt, wo ich ehrlicherweise nicht mehr hin zurück möchte, (...) wo ich vierzehn bis sechzehn Stunden gearbeitet habe und immer dachte: Wie soll denn das jetzt werden? Sprecher: Diese Zeiten endeten für die Schriftstellerin Katharina Hacker spätestens mit ihrem Roman "Die Habenichtse", für den sie 2006 den Deutschen Buchpreis erhielt. Das Buch wurde ein großer Erfolg, auch wenn der Titel ziemlich irreführend ist. Denn im Mittelpunkt steht ein junges, erfolgreiches Paar, dem es an nichts zu fehlen scheint: Jakob ist Anwalt, Isabelle Graphikerin. Durch einen berufsbedingten Umzug nach London werden sie allerdings mit einem anderen Milieu konfrontiert: In ihrer neuen Nachbarschaft wohnt nicht nur der kleinkriminelle Drogendealer Jim, sondern auch ein daueralkoholisiertes Arbeiterpaar, das seine Kinder verwahrlosen lässt. Die Tochter Sara wird vom Vater mit dem Gürtel geschlagen, sie selbst quält ihre Katze Polly. Isabelle hört die Gewalt im Nachbarhaus, tut sich aber schwer damit, einzugreifen und zu helfen. Die Not der Einen und das saturierte Leben der Anderen prallen aufeinander. Zitatorin: Da lag das Mädchen, zusammengekrümmt. Es trug eine Art Trainingshose, darüber ein nicht sehr sauberes T-Shirt, das zu klein war. Isabel betrachtete den Streifen Kinderfleisch ohne Freundlichkeit. Der Garten war übersät von Müll, altem Spielzeug, auf der Terrasse standen Bierflaschen und Küchengerät, eine Pfanne, einen Putzeimer entdeckte sie. Auswurf, Tüten voller Müll, und das Kind stellte sich tot wie ein Tier, der Stock lag noch neben ihm im Gras. O-Ton Hacker: Für mich ist aber eine der abgründigsten Szenen wirklich diejenige, wo Isabel mit so einem Missfallen und einem begründeten Missfallen auf das Kind kuckt. Dieser Moment, wo das physisch wird, (...) so dass sie sich auch gar nicht richtig dagegen wehren kann. Dieses Kind ist ihr irgendwie unangenehm, aber sie hilft ihm ja trotzdem. Das ist komischerweise bei den Lesern ganz oft nicht richtig angekommen, sie hilft dem Kind ja trotzdem. Zitatorin: Aber ich will dir helfen, sagte Isabell ärgerlich. Sara fing an zu weinen, Isabel beobachtete sie verblüfft, ein lautloses, stoßhaftes Weinen. Vorsichtig setzte Isabell Polly ab, schaute sich um. Auf der Terrasse stand ein umgestürzter Tisch, die Beine ragten waagerecht ins Leere. Der verwahrloste Garten diente nur dazu auszusortieren, was man nicht länger brauchte, was kaputt war. Eine Amsel landete auf der Mauer, schüttelte das Gefieder, tirilierte. Von irgendwoher roch es nach Fäulnis. Ein paar Meter entfernt wartete ihr Arbeitszimmer, ihr Computer, ihre schöne, saubere Wohnung. Das Kind weinte, die Katze strich an ihren Beinen entlang, schnurrend. - Was hast du mit ihr gemacht? fragte Isabel. Sie ist verletzt. Aber anscheinend war es nur eine Platzwunde, das Blut trocknete schon. - Nun komm schon, es ist nicht so schlimm, sagte Isabell ungeduldig. Sie nahm die Terrasse, den Garten noch einmal in Augenschein. Es könnte überall sein, dachte sie, in Bosnien, in Bagdad, es war immer die Gegenseite ihres eigenen Lebens. O-Ton Hacker: Ich finde es einfach komplett inadäquat zu leugnen, dass es immer diese Gegenseite gibt. (...) Und dann geben wir vielleicht irgendeinem Obdachlosen Geld (...) oder geben im Winter wenn's kalt ist mehr (....). Aber man lebt ja trotzdem sein eigenes Leben, ich gehe einfach nach Hause und mache meine Wohnungstür auf und da ist es warm und ich habe einigermaßen keine Furcht. Sprecher: Der Schauplatz des Romans ist London, also eine Stadt, in der sich soziale Ausgrenzung und Armut deutlicher zeigen als in deutschen Großstädten. Katharina Hacker lebte längere Zeit in der englischen Hauptstadt und griff bei der Gestaltung der Figur Isabell auch auf eigene Erlebnisse und Erfahrungen zurück. O-Ton Hacker: Der Grund für diese Konstellation war der Versuch, schon das Politische, was passiert in dieser Zeit, also Irakkrieg und so weiter, die Frage, was man in der Zeitung eigentlich wahrnimmt, welche Brutalitäten man aufnimmt, auf welche Brutalitäten man überhaupt reagiert, auf der privaten Seite zu spiegeln. Aber trotzdem muss ich ganz klar sagen, Isabell ist einfach eine Frau, die, deswegen verteidige ich sie an diesem Punkt auch, in London genau das tut, mit Abweichungen vielleicht, was ich auch getan habe. Der Erste, der quer über'm Bürgersteig lag, den hab ich noch versucht aufzuheben. Und dann hab ich's gelassen. (...) Es hat einem keiner geholfen (...). Und da bin ich da genau wie alle anderen: ein Schritt und man ist drüber. (...). Und wenn's aus der Nachbarschaft Geräusche gibt, dann renne ich nicht gleich hin, weil ich das als so einen unglaublichen Übergriff empfände. (...) Und das ist so schwierig, wie verhält man sich denn dann richtig? Ich glaub, es gibt gar kein richtiges Verhalten. Musik: Fanny van Dannen "Angst und Eigentum" (ab 1:51) Sprecher: Isabelle ist in Wohlstand und Frieden aufgewachsen. Sie gehört einer Generation an, die von schrecklichen Ereignissen bislang verschont geblieben ist und medienwirksam als "Generation Golf" gelabelt wurde. Ein Etikett, das aus Sicht der Autorin nicht passt. Katharina Hacker, die nicht nur in London, sondern auch lange in Israel lebte, und dort die Auswirkungen des Ersten Golfskrieges mitbekam, geht es deshalb um die Frage, welche Persönlichkeitsstrukturen sich in einer von Krieg und Elend verschonten Wohlstandgesellschaft herausbilden. O-Ton Hacker: Ja, wer sind wir denn eigentlich? Wenn wir Sachen sehen und lesen und uns in unseren alltäglichen Lebensvollzügen nicht stören lassen. Ich wollte nur sagen, diese Generation ist (...) vielleicht aus einem Grund angreifbar gewesen oder verunsichert, nämlich dass sie so sehr verschont waren. Und wenn man sich so verschont fühlt, von diesen Zuspitzungen, Unglücken, kann ich nur sagen "Gott sei Dank", was sehne ich mich nicht danach, durchs brennende Nürnberg oder das zerbombte Berlin zu rennen. Dass man sich im Spiegel der Elterngeneration, die immer darauf rekurieren konnte, plötzlich fragen muss, ja aber, wie ist das denn mit diesem so Undefinierten? Und wie geht man dann damit um? (...) Insofern fand ich auch die Reaktionen auf das Buch signifikant (...): Die sind ja kaltherzig, die sind ja die Habenichtse im Geiste Da kann ich nur sagen: Nicht die Spur, das war jedenfalls nicht meine Absicht. Musik: Stereo Total "Die Krise", ca. 45 sec, dann unter Sprecher Sprecher: Die Krise macht auch vor den jungen, erfolgreichen, aufstrebenden Aktivisten der schönen, neuen Arbeitswelt nicht Halt. Magnus, Thorsten und Laura gehören einer Spezies an, die etwas Destruktives und Ungesundes in sich trägt, einer Spezies, für die der Autor Thomas Melle in seinem gleichnamigen Roman einen Begriff erfunden hat. Seine Figuren sind "Sickster". O-Ton Melle: Der Titel "Sickster" schwebt mir schon länger im Kopf herum. Ich dachte an Hippster oder Gangster, nur halt dann die kranke Version dessen. Ich dachte auch, dass das Hipp-Sein oder das Hipp-sein-Wollen manche Neurose befördert in den Szenekreisen Berlins, und hatte auch vor, ein Wort zu nehmen, mit dem jeder machen kann, was er will. Natürlich, es kommt von "sick" - krank, und ist die Substantivierung dessen. Ich dachte: Ja, was ist denn jetzt dieser Sickster? Das Wort kommt im Buch nicht mal vor. Ist es der sickste Roman? Wer ist denn jetzt wirklich sicker als der andere? Thorsten oder Laura oder Magnus oder die Kontexte, in denen sie sich bewegen? Sprecher: Thomas Melle beschreibt in "Sickster" keine gesellschaftlichen Randfiguren, die aufgrund psychischer Probleme aus den sozialen Zusammenhängen herausgefallen sind. Im Gegenteil: Seine Protagonisten sind sehr bemüht, den Leitbildern der Gesellschaft zu entsprechen. Dafür zahlen sie mit Entfremdung und psychischem Leid. O-Ton Melle: In unserer Gesellschaft gibt es sehr viele versteckt kranke Menschen. Ich wollte zeigen, wie es dazu kommen kann. Die Medizin hat ja auch schnell solche Labels für psychische Sachen bei Hand und versucht die mit Medikamenten irgendwie abzustillen. Ich wollte genau diese Zwischenstufen zwischen Normalität und Krankheit beleuchten. Sprecher: Melles Protagonist Thorsten Kühnemund arbeitet als Manager für einen Ölkonzern. Er trinkt und kokst und versumpft regelmäßig im Berliner Nachtleben. Seit Monaten hat er eine Affäre mit einer Popjournalistin, mit der er sich viermal wöchentlich in einer angemieteten Wohnung trifft. In seiner zwanghaften Phantasie erscheinen Praktikantinnen stets in Pornoposen. Seine sexualisierte Wahrnehmung korrespondiert mit seinem Job, in dem er Bilder und Schablonen produziert, die er inzwischen mit der Wirklichkeit zu verwechseln scheint. Diskrepanzen werden im Alkohol ertränkt. Der nüchterne Blick auf das eigene Elend ist schwer zu ertragen. Zitator: "Natürlich", sagte Thorsten und spürte, wie sich eine große Leere in seinem Kopf breitmachte. (...) Er sah und dachte einen Augenblick lang gar nichts mehr. Ein grässliches Nichts ballte sich in ihm zusammen. "Herr Kühnemund?" Eine Panik, so zu bleiben für immer, so voller Nichts. Weiße Panik. "Entschuldigung", sagte Thorsten, "kleine Tagträumerei." O-Ton Melle: Thorsten, der Manager, hat ein Suchtproblem und überhaupt auch ein Lebensproblem. Er ist so Macher, fühlt sich aber überhaupt nicht wohl dabei und muss trotzdem sich immer weiter nach vorne pushen mit verschiedenen Substanzen. Mit Alkohol vor allem. Sprecher: Auch Thorstens depressive Freundin Laura leidet - an ihrer Partnerschaft, ihrer Orientierungslosigkeit, an den Zumutungen und Unterforderungen ihres Halbtagsjobs in einem Callcenter. Auf der Toilette kratzt sie sich eine Wunde, die sie sich selbst zugefügt hat, immer wieder auf. Zitator: Es war notwendig. Eine Narbe an dieser Stelle hieße bloß Küchenunfall oder Partyscherbe oder Sturz von der Rutsche in der Kindheit. Die Lüge aber war schon so übermächtig vorhanden in Laura, in ihrem Körper, dass sie diese kleine Stelle Wahrheit offen halten wollte, so lange es ging, diese Wunde. Sie stand im Bad und hörte Thorsten und seine Kollegen, sie redeten leichte Worte, noch immer. Je schwerer die Zunge, desto leichter die Worte, bei solchen Leuten, dachte sie und stellte den Föhn an und legte ihn auf den Waschbeckenrand. Mittwoch war das letzte Mal gewesen. Donnerstag hatte sie die Wunde sein lassen können. Heute war sie wieder fällig. Sie saß auf dem Klodeckel, das Handtuch lag auf ihrem Schoß. Draußen derselbe Himmel wie immer. O-Ton Melle: Laura ist ja so als Hochbegabte konzipiert, die einfach nicht weiß, wohin mit sich, die in der Beziehung völlig entfremdet ist, die vom Leben völlig entfremdet ist und denkt: Mir wurde gesagt, ich sei so intelligent, ich könne dies, ich könne das, alles toll, nur wohin damit? Es ist dann so eine Orientierungslosigkeit, die sich bei manchen, auch im Bekanntenkreis von mir, so eingestellt hat, wenn die dann auf sich selbst zurückgeworfen waren und vielleicht die ersten Ansätze nicht so geklappt haben, im Studium beispielsweise, sie ist ja noch jünger als die beiden anderen. Sprecher: Magnus, der dritte "Sickster" in Thomas Melles Roman, bezichtigt sich selbst der "Worthurerei". Er schreibt Artikel für das Kundenmagazin der Ölfirma, in der auch Thorsten arbeitet. Nach dem Abitur, das er in einem Bonner Eliteinternat ablegte, ist der einstige Überflieger auf dem Boden der Realitäten gelandet. An seinen Traum vom Filmemachen klammert er sich genauso wie an seine Jugendliebe, die inzwischen von einem anderen Mann ein Kind erwartet. Bis das eigentliche Leben beginnt, will er noch ein wenig seine Freiheiten genießen. Dabei ist dem Mittdreißiger längst klar, dass seine Jugend schon eine Weile vorbei ist. Zitator: Sein schlechtes Gewissen paarte sich immer mit einer Art trotziger Slacker-Arroganz, wenn Magnus über berufliche Dinge reden sollte. Natürlich dachte er auch irgendwie an die Zukunft, natürlich hatte auch er irgendwas Richtiges vor, zum Beispiel endlich seinen Film in Angriff zu nehmen, den er so lange schon plante, aber er mochte es auch, durch die Tage zu driften, ohne Ziel, ohne die so genannten Perspektiven, und die Jobs anzunehmen, wie sie halbwegs kamen. Auf die Zielstrebigkeit der gestriegelten Juristen und BWLer und ihre jetzt schon geregelten Lebensläufe blickte er verächtlich hinab - ohne die Anflüge von Neid, die sich zu diesem Übermut gesellten, vor sich selbst zu verleugnen. Sprecher: Mit diesem Personal hat Thomas Melle einen Roman konstruiert, der sich in den ersten zwei Dritteln ganz den individuellen Krankheitssymptomen widmet, die mit fortschreitender Handlung immer deutlicher zutage treten. Dabei interessieren Melle nicht die medizinischen Aspekte der Erkrankungen, sondern die Verhältnisse, die diese Menschen krank machen. Krankwerden bedeutet hier auch, zur Einsicht über die gesellschaftlichen Verhältnisse zu kommen. Die Sickster in seinem Roman stellen fest: Wer gestern noch angesagt war, kann heute schon abgeschrieben sein. Magnus und Laura landen in einer psychiatrischen Anstalt, wo Thorsten, der inzwischen seine Job verloren hat, sie immer häufiger besucht. O-Ton Melle: Dieses Schräg-daneben-Stehen im Leben, diese Entfremdung, die dann wirklich in das Kranksein umkippt und diese Selbsterkenntnis, dass man in der Gesellschaft einen ganz anderen Platz plötzlich hat als vorher gedacht, hat dann so einen Handlungsimpetus oder so eine Möglichkeit, die Dinge ändern zu wollen, in sich, dass man merkt: Hier ist ein Stigma, hier werde ich irgendwie weggeschoben. Das hat eine Gegenreaktion zur Folge, dass man zurückprallt und sagt: Nee, nee, Moment, wir sind auch noch da und wir wollen jetzt die Sachen, die uns vielleicht unbewusst über Jahre mürbe gemacht haben, mal benennen oder irgendwas machen und sei es nur ne Art von kurzer Revolte. Zitator: In der fünften Woche begann Magnus die Therapiestunden zu torpedieren, indem er statt Selbstwahrnehmung, Achtsamkeit und Rückfallquote die Stigmatisierung auf die Tagesordnung brachte. (...) Und die Mitpatienten diskutierten eifrig mit, von Magnus befeuert und angestachelt. (...) "Es ist unmöglich, dass ich eine Wohnung bekomme. Man wird doch gleich aussortiert von den Hausverwaltungen, wenn da irgendwo etwas von 'Klinik' steht." "Und die Schufa. Jetzt habe ich schon eine Bürgschaft von meinen Eltern, und die wollen noch deren Schufa-Auskunft." (...) "Ich sag mal so: Bist du einmal in der Spirale abwärts unterwegs, kommst du da so schnell nicht wieder raus. Da tut es ganz gut, quasi als Weckruf, so ganz weit unten auf dem Arsch zu landen, dass es klatscht." "Richtig. Ganz genau. Ganz genau." "Ich sag mal so: Wer bist zum Kinn in der Scheiße steht, sollte den Kopf nicht hängen lassen. Jetzt im Ernst: Die wollen uns gar nicht. Für die sind wir doch abgestempelt." Sprecher: Als unwert ausgesondert aus einer Gesellschaft, die unablässig Leitbilder des Erfolges generiert, schlagen die beschädigten Randgestalten irgendwann zurück. Am Ende des Buches steht eine Vision, vielleicht ein Traum: Die Abgestempelten und Ausgesonderten nutzen ihre Fähigkeiten und Kenntnisse aus ihrer ehemaligen Arbeitswelt, um gegen das System, dessen Opfer sie wurden, zu revoltieren. Sie räumen die Anstaltsbetten und erobern die Medien sowie die Zentrale des Ölimperiums, für das Thorsten und Magnus gearbeitet haben. Zitator: Ein stiller heimlicher Flashmob hatte sich da zusammengefunden, um, für einen Tag, eine Utopie wahr zu machen, nämlich: die Leute, die ihn zahlten, und nicht nur die, die daran verdienten, den Ölpreis bestimmen zu lassen. Sprecher: Thomas Melles Kritik an den gesellschaftlichen Zuständen äußert sich nicht nur in diesem vielleicht nicht ganz ernst gemeinten Schluss. Auch seine um äußerste Präzision bemühte Sprache wird zum subversiven Instrument. O-Ton Melle: Ich versuche, möglichst genau zu beschreiben. Und ich glaube auch an die Genauigkeit der Beschreibung, dass, wenn man sie wirklich zur Spitze treibt, da auch Kritik erwächst an den Zuständen. Ich fühl mich gar nicht so als politischen Autor, der jetzt den Kapitalismus an sich angreifen möchte, aber je genauer der Blick ist und je genauer die Wortwahl, desto mehr rücken auch mögliche Objekte der Kritik in den Mittelpunkt. Musik: Toni Mahoni "Armut" (ca. 10 sec, dann (instrumental) unter Sprecher) Sprecher: Prekäre Lebensverhältnisse, Armut, Ausgrenzung und krankmachende Arbeitswelten haben in der Literatur der letzten Jahre einen unüberhörbaren Ausdruck gefunden. Texte, die neue soziale Härten in ihren unterschiedlichen Facetten und Milieus beschreiben, werden zu Seismographen rasanter Veränderungen. Sie schärfen die Wahrnehmung für einen gesellschaftlichen Wandel, der vielfach existenzielle Ängste auslöst. Autoren, die sich nicht damit begnügen, gepflegte Mittelstandsprosa zu produzieren, machen eines klar: Blendete man das prekäre Leben und die Armut aus, ginge der Literatur ein großer Reichtum verloren. O-Ton Meyer: Wenn's all das nicht gäbe, dann wäre ja unsere ganze Kultur, unsere ganze Gesellschaft um so viele Legenden ärmer, um so viele Motive für Filme und Bücher. Musik: Die Sterne "Universal Tellerwäscher" 14