COPYRIGHT Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von Deutschlandradio Kultur benutzt werden. Sendung: Religionen Sendedatum: 30.10.16 Bibelübersetzungen Gottes Wort in Menschenhand Autorin: Kirsten Dietrich Redakteurin: Anne Françoise Weber Teaser: Gerade die Evangelische Kirche in Deutschland die neueste Version der Lutherbibel eingeführt. Und auch die katholische Kirche hat kürzlich ihre neue Einheitsübersetzung präsentiert. Aber was passiert eigentlich, wenn die Bibel aus dem hebräischen und griechischen Urtext übersetzt wird? Beitrag: „Ich kann mich gut erinnern, als ich Hebräisch gelernt habe, wie ich zum ersten Mal Genesis 1 übersetzen konnte. Das war voll ehrfürchtigem Schauer, weil das einfach so ein alter Text ist mit so einer Sprache - das war schon ein Gefühl von Heiligkeit.“ Heiligkeit vielleicht – aber nicht: Einstimmigkeit. „Im Anfang schuf Gott Himmel und Erde.“ „Am Anfang erschuf Gott den Himmel und die Erde.“ „Durch einen Anfang hat Gott Himmel und Erde geschaffen.“ Nach dem Anfang kommt die Übersetzung. Zumindest für die, die kein Hebräisch für das Alte Testament oder Griechisch für das Neue können. „Noch war die Erde leer und ohne Leben.“ „Die Erde aber war unförmlich und vermischt.“ „Wüst und leer.“ „Leer und öde.“ „Chaos und Wüste.“ „Irrnis und Wirrnis.“ All das sind gültige Übersetzungen der Anfangsverse der Bibel. Und es gibt noch viele weitere Varianten. Übersetzen bedeutet, Vielfalt deutlich zu machen. Sprache ist nie eindeutig – beim Übersetzen wird das greifbar. Damit gibt es einen Bereich, in dem Übersetzen gleichzeitig unvermeidlich und äußerst problematisch wird: beim Übersetzen von Texten, die als heilig, von Gott gegeben, als Wort Gottes verstanden werden. Denn bei ihnen herrscht besondere Sehnsucht nach Klarheit. Ein Gott, ein Wort. Aber: viele Übersetzungen. Die Sehnsucht nach der eindeutigen Übersetzung – sie schwingt schon mit in der Gründungslegende der Bibel in deutscher Sprache. Die geht so: im Mai 1521 verhängt der Reichstag zu Worms die Reichsacht über Martin Luther. Damit dieser als nunmehr Vogelfreier nicht getötet wird, lässt ihn der sächsische Kurfürst Friedrich der Weise entführen. Luther wird unerkannt auf die thüringische Wartburg gebracht, und dort – so will es der Mythos – übersetzt er, allein mit dem griechischen Text, das Neue Testament ins Deutsche. Zum allerersten Mal macht das jemand, möchte man meinen: Ein Herzensanliegen, für das der volksnahe Kirchenkritiker erst jetzt in seinem erzwungenen Sabbatical Zeit findet. „Da würde ich ganz massiv widersprechen. Das fängt damit an, dass er gar nicht selber angefangen hat zu sagen, jetzt muss ich die Bibel übersetzen,“ Sagt Altbischof Christoph Kähler. Er hat in den letzten Jahren die Durchsicht der Lutherbibel geleitet. „Luther ist während seines Wartburgaufenthaltes inkognito und heimlich im Dezember 1521 nach Wittenberg gefahren, und da hat Melanchthon ihm u.a. gesagt: Jetzt setzt du dich bitte hin und jetzt übersetzt du das gesamte Neue Testament. Es geht nicht anders, der eine mal so und der andere mal so und der dritte noch ne andere Schrift übersetzt, sondern wir brauchen das gesamte Neue Testament, alles in Deutsch, wir brauchen vor allem auch die Paulus-Briefe, damit die wirklich ins Bewusstsein kommen, und nicht nur ein Evangelium, das Lukasevangelium, und nicht nur die kleinen Briefe, wir brauchen alles – jetzt mach mal!“ Luther machte – allzu hart wird ihm der Auftrag seines Vertrauten Philipp Melanchthon nicht erschienen sein, schließlich lehrte Luther als Professor die Auslegung des Alten und Neuen Testaments. Und vom Geist der Renaissance, der zurück zu den Quellen wollte, hatte er den Wunsch übernommen, die biblischen Urtexte zu lesen, und dementsprechend die nötigen Sprachen erlernt. Und doch: er war nicht das einsame Genie, das allein mit sich und der Bibel rang – auch wenn die Legende vom Tintenfasswurf nach dem Teufel anderes nahelegt. „Luther hat – so genial der Mann war und so einsam er gelegentlich sein konnte, aber wirklich nur gelegentlich – bei der Bibel sich von Anfang an darauf verständigt, andere Leute zu fragen und einzubeziehen.“ In der Wartburgzeit geschah das im Briefwechsel, später dann in Wittenberg im direkten Gespräch – egal, welche äußeren Wogen die Reformation im bewegten Jahr 1522 schlug. Christoph Kähler: „Und innerhalb dieses Prozesses hat er vom März bis zum Sommer mit Melanchthon Satz für Satz im Neuen Testament durchgearbeitet und sich von Melanchthon beraten lassen. Dasselbe ist noch viel umfangreicher mit dem Alten Testament passiert, da hat er immer eine Arbeitsgruppe um sich gehabt. Natürlich hat Luther am Schluss in der Arbeitsgruppe irgendwann mal gesagt, so, und jetzt wird so übersetzt und die Debatte ist zu Ende. Aber er hat sich die quälend lange Suche nach dem richtigen Wort zum Teil Wochen kosten lassen. Und er ist in einer Weise beratungsoffen gewesen, die man bei dem Bild, das wir von den Denkmälern haben, sich überhaupt nicht vorstellen kann.“ 1522 war das Neue Testament übersetzt, 1534 schließlich auch das Alte Testament komplett. Die Bibel war mit Luther zum ersten Mal in deutscher Sprache verfügbar. Zum ersten Mal? Noch so eine Legende, sagt Martin Schubert. „Er hat im Grunde genommen die ganze Bibelübersetzung davor aus dem kollektiven Gedächtnis getilgt, indem er so eine ungemein gute und erfolgreiche Übersetzung vorgelegt hat.“ Der Mediävist Martin Schubert von der Universität Duisburg-Essen forscht unter anderem zu Bibelübersetzungen des Mittelalters. Schubert sagt: Luther nutzte die Gunst der Stunde. „Wenn man sich anguckt, was in eben in Wittenberg für ein Konzern dort aufgebaut wurde, um Bücher zu drucken, dass man 100.000 Exemplare von der Lutherbibel innerhalb von wenigen Jahrzehnten gedruckt und verkauft hat, das ist immens. Das ist unwahrscheinlich. Das hat natürlich alles andere, was an Bibelübersetzung vorhanden war, in die Ecken gedrängt.“ Schon vor Luther waren Übersetzer am Werk. Im 9. Jahrhundert entstand der „Heliand“, ein Epos, das den Stoff der vier Evangelien zu einer durchlaufenden Geschichte Jesu zusammenfasste – in Stabreimen. Seitdem wurden immer wieder Teile der Bibel ins Deutsche übertragen, etwa 70 Schriften sind aus dem Mittelalter überliefert. Wirklich wörtlich am Text bleibt so gut wie keine. „Die Unantastbarkeit des Bibeltextes gilt sicherlich für den lateinischen Text. Da ist man sehr konsequent und überliefert den so genau wie möglich. Lustigerweise ist es eben so: in dem Moment, wo jemand zu übersetzen beginnt, arbeitet er in einer neuen Sprache und gewinnt damit neue Freiheit. Einerseits eben die poetische Freiheit, Umsetzen in Verse oder in Strophen oder was auch immer, und der andere Teil ist eben die inhaltliche Freiheit. Das geht offenbar Hand in Hand.“ Martin Schubert arbeitet für die Berlin-Brandenburgische und die Bayerische Akademie der Wissenschaften an einem Projekt, das sich einem der erfolgreichsten Bibelübersetzer des Mittelalters widmet: 80 Handschriften sind von seinen Übersetzungen überliefert, die Evangelien hat er geschafft, die Psalmen und Teile des Alten Testaments, und sein Deutsch wurde schon von Zeitgenossen weithin gelobt. Nur einen Namen hat er nicht – die Wissenschaftler behelfen sich mit dem Kürzel ÖBü – für Österreichischer Bibelübersetzer. „Wer der Österreichische Bibelübersetzer genau ist, wissen wir nicht, deshalb haben wir diesen Notnamen. Es ist auf jeden Fall jemand, der im 14. Jahrhundert, so ungefähr 1330, sich drangegeben hat, die Bibel so weit wie möglich ins Deutsche zu übersetzen. So umfangreich wie möglich.“ Allerdings übersetzt der Österreichische Bibelübersetzer nicht nur, er kommentiert auch. Und er füllt im Sinne des mittelalterlichen Ideals der Vollständigkeit da auf, wo die Überlieferung Lücken hat. Martin Schubert: „Also, das schöne Beispiel: wenn es in der Bibel geht um die Auferstehung und über die Erscheinungen Jesu vor den Jüngern, vor Maria Magdalena und so weiter, dann sagt der Bibelübersetzer: Ja, das ist natürlich alles schön und klar in der Bibel, aber es fehlt die Erscheinung Jesu vor Maria. Und man kann sich doch eigentlich gar nicht vorstellen, dass jemand von den Toten aufersteht und der eigenen Mutter das nicht mitteilen geht.“ Aus der Übersetzung des Neuen Testaments durch den Österreichischen Bibelübersetzer: „Obwohl aber die heiligen Evangelisten nicht schreiben, dass unser Herre Jesus Christus seiner Mutter, der reinen Jungfrau Sankt Marien, zuerst erschienen sei, so ist es doch wahr.“ Martin Schubert kommentiert: „Das passt eigentlich nicht zu der Akkuratheit, mit der er den Bibeltext selber übersetzt hat. Aber es ist natürlich auch ein Streben nach Vollständigkeit. Und eigentlich ist in der mittelalterlichen Überlieferung das Streben nach Vollständigkeit sehr groß, man hat versucht, eben das, was in der Bibel ausgelassen ist, zu füllen.“ Die Geschichte des Übersetzens der Bibel reicht weit vor das Mittelalter oder gar Luther. Im zweiten Jahrhundert vor Christus begann die Übersetzung der hebräischen Bibel ins Griechische, ausgehend von der jüdischen Gemeinde im ägyptischen Alexandria, einem der geistigen Zentren der damaligen Welt: es entstand die Septuaginta. So grundlegend griff diese Übersetzung in die Welt des Glaubens ein, dass sich schon bald Legenden um sie rankten. Septuaginta nach dem lateinischen Wort für 70 heißt die Übersetzung, weil angeblich 70, oder genauer: 72 weise Männer, sechs aus jedem der zwölf Stämme Israels, eigens für diese Arbeit aus Jerusalem kamen, auf Einladung des Vorstehers der königlichen Bibliothek in Alexandria. Aus dem Aristeasbrief: „Dann versammelte er sie in einem am Strand erbauten, prächtigen und still gelegenen Hause und forderte die Männer auf, die Übersetzung auszuführen, da alles, was zu der Arbeit nötig war, wohl vorgesehen war. Und sie führten sie aus, indem sie durch gegenseitige Vergleiche in einem Wortlaut übereinkamen.“ Die 72 Männer brauchten für die Übersetzung – genau – 72 Tage. So erzählt es der sogenannte Aristeasbrief, geschrieben von einem angeblichen Zeitzeugen. 200 Jahre später war das Übersetzen im kollegialen Austausch in der Überlieferung noch viel wundersamer geworden: Nun hieß es, 70 Übersetzer hätten jeder für sich im stillen Kämmerlein gearbeitet. Und als man hinterher die Texte verglichen habe, seien alle 70 zu wortwörtlich dem gleichen Ergebnis gekommen. Ein Übersetzertraum und für die Antike der Beweis dafür, dass auch die griechische Übersetzung und nicht nur der Ursprungstext des Alten Testaments von Gott gegeben sei. Der Mediävist Martin Schubert: „Das hat Luther ja selber auch im Vorwort zum Alten Testament thematisiert: die Geschichte von den 70 Übersetzern, ob die nun wirklich in verschiedenen Räumen gesessen haben oder ob sie in einem Saal gesessen haben und sich unterhalten konnten. Man hat offenbar dieses Anliegen da, den heiligen Text auch mit einer möglichst wunderbaren Geschichte auszustatten.“ In Wahrheit ist der Großteil der Septuaginta über zwei Jahrhunderte entstanden, und die einzelnen Bücher zeigen so deutliche Stilunterschiede, dass klar ist: der leitende Geist für die eine wahre Übersetzung bleibt ein Traum. Nun ist die Septuaginta weit mehr als der erste dokumentierte Sprachwechsel biblischer Texte. Mit ihr kam die Gedankenwelt der hellenistischen Philosophie in die Erzählungen vom Gott Israels. Und weil die junge christliche Kirche in diese hellenistische Welt hinein wuchs, übernahm sie auch die hebräische Bibel in ihrer griechischen Version. Das war mehr als nur eine sprachliche Entscheidung: an einigen Stellen sind die theologischen Folgen bis heute spürbar. Zum Beispiel bei der katholischen Lehre von der jungfräulichen Geburt Jesu. „Darum wird euch der Herr von sich aus ein Zeichen geben: Seht, die Jungfrau wird ein Kind empfangen, sie wird einen Sohn gebären und sie wird ihm den Namen Immanuel (Gott mit uns) geben.“ Jesaja 7, Vers 14 – katholische Einheitsübersetzung von 1980 In einer Fußnote heißt es: „Das hebräische Wort almáh wird auch als ‚junge Frau‘ gedeutet.“ „Die ersten Christen und auch diese jüdische Tradition aus der Septuaginta, die haben mit Jungfrauenschaft weniger den hebräischen Klang im Ohr gehabt, die haben eher den ägyptischen Kontext und diese Tradition von Gottessohn von einer Jungfrau gehabt. Das gab es als Tradition, wie man über besondere Menschen, göttliche Menschen spricht: die sind von einer Jungfrau geboren.“ Katrin Brockmöller ist geschäftsführende Direktorin des katholischen Bibelwerks. In dieser Funktion vermarktet sie die überarbeitete Version der Einheitsübersetzung von 2016. Diese neue Einheitsübersetzung legt die Hand an das Prophetenwort von der Jungfrau – denn was bisher als abweichende Deutungsmöglichkeit in der Fußnote genannt wurde, entspricht dem hebräischen Original viel besser, sagt Brockmöller. „Das ist dieses Zitat, was dann bei Matthäus die Verheißung bringt: Seht, die Jungfrau wird ein Kind gebären – das ist die Frage, über die jetzt viel diskutiert wurde, ob es Jungfrau heißt bei Jesaja 7, und im Hebräischen steht einfach junge Frau an dieser Stelle.“ Im Matthäus-Evangelium erscheint ein Engel dem hadernden Josef im Traum und erklärt die Schwangerschaft Marias als Erfüllung dieser Prophetie Jesajas. So groß ist die Kraft dieses theologischen Konzepts der Empfängnis durch den heiligen Geist, dass es rückwirkend in den Ursprungstext hineingelesen wird: gegen die textlichen Belege übersetzen alle maßgeblichen deutschen Bibeln mit der Septuaginta „Jungfrau“. Auch in der neuen Einheitsübersetzung bleibt es bei der Jungfrau mit Fußnote – die aber wird deutlicher: „junge Frau“, so heißt es jetzt, ist nicht etwa eine weitere mögliche Übersetzungsvariante, sondern die eigentliche Bedeutung. Harte Kost für manche Gläubigen, die meinen…. „die katholische Kirche würde sich von Jungfrauenschaft Mariens verabschieden. Das ist natürlich Quatsch. Dieser Zusammenhang von Verheißung und Erfüllung, der funktioniert nicht so banal.“ So Katrin Brockmöller. Die Jungfrau wurde in der neuen Einheitsübersetzung gerettet – aus der dramatischen Verheißung wurde aber, dem Original entsprechend, eine eher nüchterne Beschreibung. „Siehe, die Jungfrau hat empfangen, sie gebiert einen Sohn.“ Konservative katholische Kreise allerdings schlagen angesichts dieser neuen Einheitsübersetzung in Internetforen Alarm. „Möge Gott verhindern, dass die Würde und der Titel der allerseligsten Jungfrau und Gottesmutter Maria angegriffen werden.“ „Man muss wohl anfangen alte Bibeln zu kaufen, damit nachfolgende Generationen noch die Wahrheit lesen können.“ Der Zorn der Gläubigen, die befürchten, mit einer neuen Übersetzung gleich die ganze Bibel zu verlieren – er verweist darauf, dass die Bibel für Übersetzer eben keine Aufgabe wie jede andere ist. Wenn die Bibel als „heilige Schrift“ bezeichnet wird, könnte das doch mehr sein als eine Metapher. Rückt der Text selbst in den Bereich des Göttlichen? Es gibt da auch innerhalb der Theologie eine breite Palette an Positionen – und jede ist mit eigenen Erwartungen an Übersetzungen verbunden. „Das kommt drauf an, wie wir heilig definieren. Die Bibel kann ich als heilige Schrift bezeichnen, weil der Inhalt, den sie hat, das umschreibt, was mir heilig ist. Was für mein Leben das Zentrum beschreibt und für mein Leben die Maßstäbe gibt.“ Der Neutestamentler und Altbischof Christoph Kähler ist verantwortlich für die neubearbeitete Lutherbibel der evangelischen Kirche. „Der bloße Buchstabe, die bloße Seite, der bloße Einband als solcher ist nicht heilig, heilig ist Gott. Und dann kann man natürlich abgeleitet von einer Würde der heiligen Schrift, auch des einzelnen Buches reden. Aber da würde ich eher nicht von Heiligkeit, sondern von Würde reden.“ Für Kähler heißt das: es gibt einen Text der Bibel, der sich in der Tradition der Kirche etabliert und bewährt hat. Sakrosankt ist er nicht. Nicht Gott hat ihn gegeben, sondern die Praxis der Gläubigen hat ihn etabliert. „Aber selbst im Alten Testament hat die mittelalterliche Kirche noch das eine oder andere für möglich gehalten, dass es zur Bibel gehört, oder auch bestimmt, dass es nicht zur Bibel gehört wird, die endgültige Festlegung des alttestamentlichen Kanons ist in der katholischen Kirche erst im Tridentinischen Konzil passiert, und für die evangelischen Kirchen dann im Grunde durch die Übersetzung Martin Luthers.“ Schaut man auf die ganz konkreten Texte, wird der Befund eigentlich schwammiger, je genauer man schaut: Für die jüdische Überlieferung der heiligen Schriften gibt es eine strenge, rituelle Bindung – sie garantierte über Jahrhunderte eine erstaunliche Texttreue für alle Bücher der hebräischen Bibel. Die entstehende Kirche übernahm diese Tradition nicht. Deswegen finden sich tausende Textvarianten, Fehler beim Abschreiben, widersprüchliche Überlieferungen. Ein Teil der Arbeit an der Übersetzung ist deswegen immer wieder die Suche nach der ursprünglichen Lesart. „Habt acht auf eure Frömmigkeit, dass ihr die nicht übt vor den Leuten.“ Matthäus 6 Vers 1 Lutherbibel von 1984 „Habt aber acht, dass ihr eure Gerechtigkeit nicht übt vor den Leuten, um von ihnen gesehen zu werden.“ Matthäus 6 Vers 1 Lutherbibel 2017 Frömmigkeit oder Gerechtigkeit – der Unterschied ist so relevant, dass in der neuen Lutherbibel der Text gegen Luthers Version an die neuesten griechischen Textbefunde angeglichen wird. „Die Bibel ist das Wort Gottes, weil es das auch von sich selbst behauptet und diesen Selbstanspruch erhebt.“ Heinrich Derksen ist Schulleiter am Bibelseminar Bonn, einer freikirchlichen Ausbildungsstätte. „Den Zweifel, den ich zunächst mal an jedes Buch, von mir aus auch an die Bibel haben kann, den habe ich ja auch, wenn ich irgendwelche Geschichtsbücher lese. Und entsprechend: Wenn sich das dann aber bewahrheitet, was in diesem Geschichtsbuch steht, dann ist es zuverlässig, dann kann ich mich drauf verlassen. Diesem Anspruch stellt sich die Bibel selbst, und beim Studium der Bibel kommen wir immer wieder zu dem Ergebnis: die Bibel hält, was sie verspricht.“ Heinrich Derksen hat promoviert in neutestamentlicher Exegese, er weiß also um den vielschichtigen Charakter der griechischen Textgrundlage. Das Bibelseminar Bonn sagt in seiner Selbstdarstellung klar: „Wir glauben aufgrund der Heiligen Schrift, dass die 66 Bücher der Bibel das göttlich inspirierte und deshalb in den Urschriften in jeder Hinsicht unfehlbare und irrtumslose Wort Gottes sind, dessen Auslegung der innerbiblisch fortschreitenden Heilsoffenbarung Rechnung zu tragen hat.“ Heinrich Derksen: „Inspiriert waren die Originaltexte, sprich: der Urtext. Der liegt uns nicht mehr vor. Aber die Rekonstruktion dieses Textes ist möglich durch die vielen Kopien und Abschriften. So dass wir heute gut 99% des Originaltextes vor uns liegen haben, das nennt man Textkritik. Das ist berechtigt, so müssen wir auch mit der Bibel umgehen, denn von Gott eingegeben, von Gott inspiriert, waren die Originalschriften.“ Wobei die Schreiber der biblischen Bücher zwar von Gottes Geist geleitet worden seien, aber nicht völlig ferngesteuert unter göttlichem Diktat gestanden hätten. Derksens Aussage steht in der Tradition der „Chicago-Erklärung zur Irrtumslosigkeit der Bibel“, die vor allem evangelikale, bibelfromme Gläubige Ende der 1970er Jahre verfasst haben. Diese positivistische Sicht gilt allerdings vor allem für die hebräischen und griechischen Texte. „Keine Übersetzung ist inspiriert. Sie ist immer Interpretation, sie ist immer auch ein Stück Menschenwerk, sie hilft den Menschen, zu verstehen, was Gott gesagt hat und was Gott meint, aber sie ist immer begrenzt.“ Heinrich Derksen bevorzugt deshalb keine Übersetzung besonders – er versteht sich im Gegenüber zur Bibel an sich; in diesem Glauben spielt Übersetzung dann keine Rolle mehr. „Die Bibel sagt, dass sie selber die heilige Schrift ist. Das lesen wir z.B. bei Paulus im Römerbrief, Kapitel 1, dass er, also Jesus, zuvor verheißen wurde durch seine Propheten in der heiligen Schrift. D.h. auch die neutestamentlichen Schreiber wussten, dass das Alte Testament von Gott inspiriert war, dass es Gottes Wort war, und entsprechend, weil Gott ein heiliger Gott ist, auch sein Wort die heilige Schrift ist.“ Kerstin Schiffner: „Wir nehmen das zwar landläufig mit diesem: die heilige Schrift sagt dies und das, aber strenggenommen sind die biblischen Texte für uns nicht heilige Texte im Sinne von unveränderlich usw., dann hätten wir zum Beispiel kein Neues Testament, das haben wir ja nur als Komposition von unterschiedlichen Textfragmenten, die uns überliefert sind, wir haben keinen einen Urtext Neues Testament.“ Die Alttestamentlerin und evangelische Pfarrerin Kerstin Schiffner zieht aus der Überlieferungsgeschichte vollkommen andere Schlüsse als der freikirchliche Seminarleiter Derksen. „Das ist ja nicht, dass irgendwie die Stimme vom Himmel gesprochen hat: Das Thomas-Evangelium muss raus und das Markus-Evangelium nehmt ihr rein, sondern das waren ja Diskussionsprozesse. Der große Teil unserer Bibel ist genau so entstanden, durch Mehrheitsentscheidung und weil manches überliefert wurde und anderes eben nicht.“ Kerstin Schiffner sieht dieses sehr irdische Überlieferungsverständnis als Chance: Sie hat deshalb mitgearbeitet an einer Bibelübersetzung, die sich bewusst mit menschlichen Unzulänglichkeiten auseinandersetzt: die „Bibel in gerechter Sprache“. Vielleicht ist das die Gewissensfrage für Glaubende: ist es akzeptabel, dass Gott auch in den Mehrheitsentscheidungen wirkt – oder braucht es die eine, widerspruchslose Autorität? „Das ist ein anderes Verständnis, als es zum Beispiel der Islam vom Koran hat. Zu sagen: Das ist ein heiliger Text, deshalb wird auf er auf Arabisch rezitiert, und es geht nicht darum, da die unterschiedlichen Sachen im Übersetzen deutlich zu machen. Jedenfalls ist das an vielen Stellen gängige Auffassung.“ „Für die christlichen Kirchen hat der biblische Text immer insofern auch eine Interpretationsoffenheit gehabt, als die christlichen Kirchen von Anfang an die Bibel für übersetzbar gehalten haben.“ Sagt Christoph Kähler. Eine Offenheit, die möglicherweise auch daher rührt, dass ja schon das Neue Testament nicht in der Sprache Jesu und seiner Umgebung verfasst ist. Seine aramäischen Worte sind uns gar nicht überliefert. Das schafft eine gewisse Freiheit, aber auch neue Probleme. Darf man heilige Schriften übersetzen? Ein Blick auf die Buchreligionen neben dem Christentum kann da weiterhelfen. Weder im Islam noch im Judentum ist die Übersetzung der heiligen Schriften vorgesehen. In der Moschee wird der Koran auf Arabisch rezitiert, in der Synagoge die Tora in hebräischer Sprache gelesen. Und doch kennen beide Religionen natürlich Übersetzungen – schließlich lebt bei beiden ein großer Teil der Gläubigen außerhalb des Sprachraums der Offenbarung. „Das ist einfach die Frage: wer hat die Deutungshoheit über den Koran? Wie kann man damit umgehen, dass Muslime und Musliminnen keine Angst haben müssen, selbst mit diesem Buch umzugehen, eigene Entscheidungen zu treffen - ich glaube, das ist eine ganz wichtige Voraussetzung, um überhaupt damit zu arbeiten.“ Die islamische Theologin Rabeya Müller hat den Koran übersetzt, oder zumindest eine Auswahl. Zusammen mit der Religionslehrerin Lamya Kaddor hat sie den „Koran für Kinder und Erwachsene“ erarbeitet. Dabei weiß Müller natürlich, dass diese Übersetzung keine offizielle Gültigkeit hat. Aber um den Koran in seiner Vielfalt wahrzunehmen, muss man ihn überhaupt erst einmal verstehen. Sonst bleibt man leicht bei den immer gleichen Auswahlzitaten hängen – oder beim vertrauten Klang. „Das hat etwas Beruhigendes und für manche allerdings auch etwas Beängstigendes zugleich. Einmal beruhigend, weil man davon ausgeht, dass es tatsächlich der übertragene Text von Gott an Mohammed ist. Beängstigend deshalb, weil viele sich sagen, ich verstehe die arabische Sprache nicht. Aber der Klang und diese Art und Weise, wie man den Koran liest, hat tatsächlich eine große Beruhigung aufs Gemüt.“ Sich im Klang der arabischen Koranrezitation zuhause zu fühlen, findet Rabeya Müller gut– aber Heimatgefühle dürfen ihrer Meinung nach im Glauben nicht das einzige sein. Deswegen ist ihr ein Aspekt sehr wichtig, trotz aller Kritik, die sie für ihre Koranübersetzung auch bekommen hat: dass nämlich gerade im Umgang mit Schriften, die als heilig gelten, eine Übersetzung ganz neue Freiheiten öffnet. Rabeya Müller: „Jede Übersetzung, egal in welche Sprache, ist bereits eine Interpretation. Das find ich persönlich sehr beruhigend. Wenn man eine Übersetzung gefunden hat, dann muss das nicht das non plus ultra oder das Gelbe vom Ei der Wahrheit sein, sondern dann ist es ein Stück von der Wahrheit. Das hält mich dazu an, immer weiter nach der Wahrheit zu suchen, was ich für dringend notwendig halte.“ Bruno Landthaler: „Das Christentum hat in seiner ganzen Geschichte sowohl das Neue Testament als auch das Alte immer in einer Übersetzung lesen müssen. Wir hatten immer die Möglichkeit, das war auch immer wesentlich, dass die Tora auch in Hebräisch gelesen wird. Das ist natürlich immer ein Punkt, dass man sagt, bevor wir übersetzen, sollen sie hebräisch lernen. Dass natürlich die Realität heute ein bisschen anders ist, das erkennt man daran, dass es dann eben doch auch Kinderbibeln gibt, auch jüdische.“ Eine solche Kinderbibel hat der jüdische Theologe Bruno Landthaler zusammen mit der Professorin Hanna Liss in den letzten Jahren selbst erarbeitet. Sie umfasst die ersten fünf Bücher der Bibel, die Tora. „Im protestantischen Bereich gab‘s immer schon richtig viele Kinderbibeln. Kurz nach Luther schon irgendwann hat sich der erste hingesetzt und hat eine Kinderbibel gemacht, im Judentum nicht.“ Aber religiöse Bildung verändert sich. Auch wenn jüdische Kinder bei ihrer formellen Aufnahme als Erwachsene in die Gemeinde, der Bar bzw. Bat Mitzwa, einen Abschnitt der Tora im Original vortragen können müssen: der Text der Tora fühle sich immer öfter fremd an, sagt Bruno Landthaler. Das liegt an der Sprache, aber auch daran, dass der Abstand zur Lebenswelt der Bibel so groß ist. Übersetzung tut not – allerdings, und das ist Landthaler wichtig, nur um Verstehen zu ermöglichen. Nicht etwa, um die Texte gefälliger zu machen. „Wir können natürlich ein bisschen glätten, wenn es sehr viele Aufzählungen sind, können wir diese Aufzählungen etwas reduzieren, man muss nicht jedes einzelne Detail aufführen. Aber von der Sache her bleibt natürlich der Text als sperriger Text stehen, das war unser Prinzip eigentlich auch.“ Und so enthält seine jüdische Kinderbibel auch diese Passage: „Wer seinen Vater oder seine Mutter schlägt, muss zur Strafe ebenfalls getötet werden. Das gilt auch, wenn einer seine Mutter oder seinen Vater aufs Übelste beschimpft. Auch dann muss er getötet werden.“ Rechtsbestimmungen im Buch Sche’mot, dem 2. Buch Mose Bruno Landthaler: „Jeder kann in die Bibel schauen und sich den Text raussuchen, den er braucht, und ihn verstehen, wie er will. Diese Art, mit alten Texten umzugehen, ist ja ein relativ modernes Phänomen, dieses fundamentalistische Problem, dass man einfach, und zwar, ob man von der bibelkritischen oder von der bibeltreuen Seite her angeht, hat man immer die gleiche Art: man pickt sich etwas raus, schustert sich das zurecht, wie man es braucht, und der Text im Grunde geht völlig daneben. Aber das ist ein ganz wesentlicher Teil unserer Bildungsaufgaben, dass Kinder auch in der Lage sind, mit Texten umzugehen, die nicht das liefern, was sie ohnehin schon eigentlich erwarten.“ 2006 erschien die Erstauflage der „Bibel in gerechter Sprache“ – von den einen enthusiastisch als Meilenstein begrüßt, von den anderen ebenso emotional als dem feministischen Zeitgeist geschuldete Anmaßung verdammt. Die „Bibel in gerechter Sprache“ ist in ihrer Übersetzung dem Thema der Gerechtigkeit verpflichtet, das sie auf verschiedenen Ebenen als roten Faden in der Bibel selbst identifiziert: Gerechtigkeit im Verhältnis Mann-Frau, im Verhältnis Christen-Juden und in sozialen Verhältnissen. Kerstin Schiffner: „Die Kriterien sind gut, und die würde ich auch weiterhin genau so verfolgen wollen. Ich würde weiterhin aber auch versuchen, dass in der Wahrnehmung nicht immer nur das eine Kriterium als Hauptkriterium kommt, zu sagen: ach, das ist doch diese Emanzen-Bibel, wo‘s immer nur um die Frauen geht. Sondern zu sagen: nein, wir haben schon bewusst auch andere Facetten von Gerechtigkeit, die uns wichtig sind und die fürs Übersetzen genauso maßgeblich waren.“ Die „Bibel in gerechter Sprache“ fand für ihr Anliegen manchmal radikal neue Sprachformen, ohne Rücksicht auf Vertrautes. Befremdend – oder inspirierend. Zitat aus der Bibel in gerechter Sprache, Lk 2,8f: „In jener Gegend gab es auch Hirten und Hirtinnen, die draußen lebten und über ihre Herde in der Nacht wachten. Da trat ein Engel der Lebendigen zu ihnen und der Feuerglanz der Lebendigen umhüllte sie. Sie aber fürchteten sich sehr.“ Die Weihnachtsgeschichte nach Lukas – kaum wiederzuerkennen. Und trotzdem, sagt Christoph Kähler mit Blick auf seine Überarbeitung der Lutherbibel: „Die Bibel in gerechter Sprache hat mit der Übersetzung richtige Fragen gestellt, und wir haben uns die Fragen, die dort besonders gestellt worden sind, auch stellen müssen, nämlich: wie gehen wir mit Frauen um, die in der Bibel erwähnt werden? Da war bisher in der Lutherbibel es so eingerichtet, dass es einen Artikel „Sara“ gab, und da stand dann nur „siehe Abraham“, und das haben wir natürlich geändert.“ Sowohl in der Lutherbibel als auch in der Einheitsübersetzung schreibt Paulus jetzt an die „Brüder und Schwestern“ in den Gemeinden, obwohl im Originaltext nur die allgemein verstandenen Brüder stehen. Beide lassen Paulus im Römerbrief jetzt ausdrücklich die lange unbekannte Apostelin Junia grüßen, die bisher unter einem Männernamen versteckt war. Und gerade in der Lutherbibel hat man sich bemüht, Stellen zu überarbeiten, die sonst heute nur antijudaistisch verstanden werden können: Zwischentitel im Römerbrief wurden von der „Anklage gegen die Juden“ in „Fragen an die Juden“ geändert. Und in der Offenbarung heißt es statt „Synagoge des Satans“ jetzt „Versammlung des Satans“ – da könne man sich sogar auf Luther selbst berufen, sagt Christoph Kähler, der habe an dieser Stelle fairer übersetzt als spätere Revisoren. „Die Bibel in gerechter Sprache hat auch nach den sozialen Bedingungen gefragt, da haben wir noch am wenigsten ändern wollen und können, und wir haben manches, was patriarchalisch ist in der biblischen Kultur, nicht ändern können, denn dann hätten wir die Bibel umschreiben müssen, dann hätten wir dem Informationsauftrag, der Texttreue nicht wirklich gerecht werden können..“ „Wo Luther von den Knechten und Mägden schreibt, wir haben in der Bibel in gerechter Sprache bewusst gesagt, wir schreiben von Sklavinnen und Sklaven, nämlich schlicht, weil heutigen Lesenden das, was an Härte mit der Bezeichnung Knecht und Magd verbunden war, noch zu Luthers Zeiten, so überhaupt nicht mehr präsent ist.“ Das Ringen um die richtige Übersetzung gehört zum Bibellesen immer dazu, da sind sich der Vertreter der Lutherbibel und die Vertreterin der Bibel in gerechter Sprache einig. Nur einen Vorwurf lässt sich Kerstin Schiffner nicht machen: dass man bei der Bibel in gerechter Sprache dem Text von außen das eigene Wunschdenken aufgezwungen habe. „Wer immer Texte übersetzt, tut das mit einer eigenen Brille, mit einer eigenen exegetischen Idee, auch alle Übersetzungen, die nicht so klar wie wir im Vorwort sagen, das sind unsere Kriterien und darum geht’s uns, haben eine Brille auf und haben Ideen, zu sagen: das steckt bei uns dahinter. Ich finde wie immer das Unausgesprochene viel gefährlicher, als wenn man offen sagt: das ist uns wichtig.“ Dabei kann sich die Bibel in gerechter Sprache auf einen ganz unerwarteten Kronzeugen berufen – nämlich Martin Luther persönlich. Ein für ihn zentraler Text findet sich im 3. Kapitel des Römerbriefes, Vers 28 – in der katholischen Einheitsübersetzung klingt der recht unspektakulär. „Denn wir sind der Überzeugung, dass der Mensch gerecht wird durch Glauben, unabhängig von Werken des Gesetzes.“ (Einheitsübersetzung von 1980 von Römer 3,28): In Luthers Hand wurde aus diesem Vers die Essenz seiner theologischen Überzeugung: „So halten wir nun dafür, dass der Mensch gerecht wird ohne des Gesetzes Werke, allein durch den Glauben.“ (neue Lutherbibel, Römer 3,28): Die katholische Übersetzung ist hier deutlich näher am Original – darauf verweist auch eine Fußnote in der revidierten Lutherbibel. Das „allein durch den Glauben“ klingt gut, doch „allein“, lateinisch „sola“ findet sich im Original nicht. Die Abweichung war schon Luthers Zeitgenossen aufgefallen. Im „Sendbrief vom Dolmetschen“ schreibt Luther 1530, ganz der selbstbewusste Übersetzer: „Ebenso habe ich hier Römer 3,28 sehr gut gewusst, dass im lateinischen und griechischen Text das Wort „solum“ nicht steht. Diese Buchstaben sehen die Eselsköpfe an wie die Kühe ein neues Tor, sehen aber nicht, dass gleichwohl die Absicht des Textes das „sola“ in sich hat, und wo man’s klar und eindringlich verdeutschen will, da gehört es hinein.“ Um der Klarheit seiner Zielsprache willen fügt Luther also das „allein“ ein, nur so werde der Gegensatz auch im Deutschen angemessen geschärft. Und zudem fordere auch die theologische Interpretation an dieser Stelle den Zusatz: „Wer deutlich und klar von solchem Abschneiden der Werke reden will, der muss sagen: „Allein“ der Glaube und nicht die Werke machen uns gerecht. Das erzwingt die Sache selbst neben der Art der Sprache.“ An anderen Stellen folge er dem griechischen Wortlaut, selbst wenn das Deutsche dann ungelenk klinge, versichert Luther. Bei jeder Übersetzung ist die möglichst genaue Wiedergabe des Originals ein objektives Kriterium für Qualität. Gerade bei der Übersetzung von heiligen Texten ist aber noch etwas anderes entscheidend: der Klang. Auch wenn man nicht mehr weiß, was drin steht –man weiß noch, wie die Bibel auf Deutsch klingen soll. Und zwar: nach Luther. Erhaben. In der evangelischen Kirche, aber auch in der katholischen. Katrin Brockmöller vom katholischen Bibelwerk: „Bei der jetzt alten Einheitsübersetzung war sehr im Vordergrund, dass man ein modernes, gehobenes Deutsch hat. Und das hat man einfach gemerkt, dass das moderne gehobene Deutsch der 70er und Ende der 60er 1990 schon alt war und 2016 erst recht altertümlich klingt. Manche Worte kann man heute einfach nicht mehr hören.“ „Als Jesus diese Rede beendet hatte, war die Menge sehr betroffen von seiner Lehre.“ (Alte Einheitsübersetzung, Mt 7,28) Katrin Brockmöller: „Alle Leute waren betroffen. Heute hört man das nicht mehr so gerne. Vom Griechischen ist das in den Evangelien meist Staunen oder Entsetztsein, und so hat man es dann auch übertragen.“ „Und es geschah, als Jesus diese Rede beendet hatte, war die Menge voll Staunen über seine Lehre.“ (Neue Einheitsübersetzung, Mt 7,28) Katrin Brockmöller: „Ich finde einfach, das ist der biblische Klang. Wir sind auch in Deutschland durch die Übersetzung von Martin Luther geprägt, vielleicht ist es auch der Klang, der dann wieder zu uns zurückkommt ein bisschen.“ Da liegen die neue katholische Einheitsübersetzung und die neue Durchsicht der Lutherbibel tatsächlich so nahe beisammen im generellen Ton, als ob man zusammengearbeitet hätte. Dabei hat sich die geplante ökumenische Zusammenarbeit bei der Revision der Einheitsübersetzung schon vor Jahren wegen theologischer Differenzen recht spektakulär zerschlagen – obwohl an der ersten Fassung zahlreiche evangelische Theologen mitgewirkt hatten. Der neuen Lutherbibel soll man nach dem Willen der Verantwortlichen ruhig anhören, dass sie als Textgrundlage den letzten von Luther persönlich abgesegneten Druck aus dem Jahr 1545 hat. In der Weihnachtsgeschichte nach Lukas geht Josef nicht mehr nach Nazareth, weil er, sondern: darum dass er von dem Haus und Geschlechte Davids war. Da klingt gleich noch ein bisschen mehr das Weihnachtsoratorium von Bach mit. Und dann gibt es die Texte, bei denen klar war: Hier verbietet sich jede Änderung, soll die neue Bibel nicht sofort bei der Gemeinde durchfallen. „Zum Beispiel Psalm 23 ‚Der Herr ist meine Hirte‘. Das ist ein Psalm, den die Gemeinden, jedenfalls die hochverbundenen Gemeindeglieder, am Grabe zum Teil noch mitsprechen. Und wenn eine ganze Gemeinde diesen Psalm, der einfach auch ein Herzenspsalm ist, auswendig kann, dann war klar: den können wir nicht ändern.“ Man sei gewarnt, sagt Christoph Kähler. Schließlich bekam eine erste Version der jetzt abgelösten Lutherbibel den Spottnamen „Eimerevangelium“, weil die Bearbeiter das sprichwörtlich gewordene Licht nicht mehr unter den Scheffel, sondern stattdessen unter einen moderneren Eimer stellen wollten. Kerstin Schiffner: „Das ist immer so eine schwere Frage: was ist das Ziel dabei, wie nah an unsere Gegenwartsalltagssprache muss das?“ Kerstin Schiffner hat sich als eine der Übersetzerinnen der Bibel in gerechter Sprache weit ins sprachliche Neuland gewagt - aber als Christin und in ihrer Arbeit als Pfarrerin kennt sie auch die Sehnsucht nach dem vertrauten Ton. „Es gibt da nicht nur die Sehnsucht nach Eindeutigkeit, sondern auch die Sehnsucht nach dem etwas Fremden, ich muss das gar nicht so genau verstehen, der Klang oder das Gesamte ist es, ich bin da immer so hin und her gerissen, weil immer die Frage ist, wer fragt hier. Wer ist man, der oder die das verstehen können soll? Wer ist der Maßstab, also an wem orientieren wir uns?“ „Adonaj weidet mich, mir fehlt es an nichts. Auf grüner Wiese lässt Gott mich lagern.“ (Bibel in gerechter Sprache, Psalm 23) Theologisch ist die Übersetzung von Psalm 23 der Bibel in gerechter Sprache vielleicht präziser – das Herz öffnet sie nicht unbedingt. Neben der neuen Lutherbibel und der neuen Einheitsübersetzung, beide erhaben klingend und wissenschaftlich verantwortet, stehen die Versuche, in ganz neuen Ausgaben die biblischen Inhalte und Texte so weit wie möglich herunterzubrechen. So sollen sie auch für die wieder verständlich werden, die nicht mehr in den Luther-Sound hineingewachsen sind. Im evangelischen Projekt der Basis-Bibel zum Beispiel sollen die Sätze so kurz und klar sein, dass sie bequem auch auf dem Smartphone lesbar sind. „Ich bin der wahre Weinstock. Mein Vater ist der Weinbauer. Er entfernt jede Rebe an mir, die keine Frucht trägt. Und er reinigt jede Rebe, die Frucht trägt, damit sie noch mehr Frucht bringt.“ (Basisbibel, Johannes 15,1-2): Katrin Brockmöller: „Wir machen zum Beispiel beim Bibelwerk etwas, da gibt’s auch manchmal kritische Stimmen, da übertragen wir Sonntag für Sonntag das Evangelium in sogenannte Leichte Sprache. Wir nennen es aber nicht Übersetzung, sondern Übertragung.“ „Einmal sagte Jesus zu den Jüngern: Ich bin wie der Wein-Stock. Mein Vater im Himmel ist der Winzer. Mein Vater im Himmel sorgt richtig gut für den Wein-Stock. Mein Vater im Himmel schneidet die schlechten Reben von mir ab. Auf die anderen Reben passt mein Vater gut auf.“ (Einheitsübersetzung in leichter Sprache, Johannes 15,1-2) Katrin Brockmöller: „Das können manche Leute nicht hören, andere finden es toll, dass man nicht mehr so viele Nebensätze gleichzeitig aufnehmen muss, wenn man einen Bibeltext aufnimmt.“ Neben dem Abwägen zwischen Vertrautheit und Verständlichkeit gibt es allerdings auch Änderungen am bekannten Text, die für echten Zündstoff sorgen können, sagt Christoph Kähler. „Wir haben auch sehr bekannte Stellen geändert, also es gibt einen großen Streit in der wissenschaftlichen Auslegung, wie man den Missionsbefehl am Ende des Matthäusevangeliums übersetzt: Gehet hin in alle Welt und macht zu Jüngern alle Völker? Oder: lehret alle Völker? Da haben wir festgestellt, dass die Veränderung zu ‚macht zu Jüngern alle Völker‘ erst 1956 von den Revisoren eingeführt worden ist und Luther die bescheidenere Formulierung ‚lehret alle Völker‘ verwendet hat.“ Für Heinrich Derksen ist das ein zentraler Text, denn am Bibelseminar Bonn steht der missionarische Aspekt stark im Vordergrund. „Wenn das heute verständlicher ist, um zu verstehen, dass wir einen Missionsauftrag haben, dann hab ich kein so großes Problem damit. Wenn das aber ablenken soll von dem eigentlichen Auftrag, der nun einmal dasteht – zumindest in unserem griechischen Text – dann muss man sich fragen, warum ändere ich den Text so ab?“ Christoph Kähler: „Letztlich muss man sagen ist die Formulierung ‚macht zu Jüngern‘ eine Formulierung, die sich übernimmt, denn zu Christen oder Jüngern macht der Heilige Geist nach unserer Überzeugung, insofern ist die Luthersche Übersetzung, die wir wieder in ihr Recht eingesetzt haben, die bescheidenere Übersetzung, die uns nicht zu viel Macht zuspricht.“ Ein erkennbarer Streitpunkt, gewinnen doch gerade in der evangelischen Kirche die Stimmen an Kraft, die wieder aktivere Missionstätigkeit fordern. Damit wird klar: beim Übersetzen geht es eben nicht nur um den richtigen Klang fürs Herz. Übersetzen ist auch politisch – und das Bibelübersetzen: Kirchenpolitisch. Das war schon zu Luthers Zeiten so und auch in den nur scheinbar idyllischen Zeiten davor, wenn man mit Martin Schubert noch einmal einen Blick ins Mittelalter der Klöster und Handschriften wirft. „Übersetzen stellt die Machtfrage und sozialisiert das Wissen. Sie verteilt das Wissen unter alle, nicht nur unter die, die Latein können. Das hat offenbar auch zu Schwierigkeiten geführt. Dass die Übersetzer sich an den Text richten, aber dass sie im Hinterkopf eben immer die Orthodoxie haben. Also: Was ist die richtige Meinung, was ist die richtige Auslegung?“ Christoph Kähler: „Wenn man Wahrheit als 1:1 Richtigkeit definiert, dann kann keine Übersetzung wahr sein. Es bleibt ein Nachschöpfen, ein schöpferischer Prozess, bei dem hoffentlich viel Geist dabei ist, aber man kann das nicht garantieren, und es gibt keine Regel, die es in irgendeiner Weise sichern kann. Die Sehnsucht bleibt. Lutherbibel, Einheitsübersetzung: Schon die Namen der wichtigsten deutschen Übersetzungen tragen die Fokussierung auf ein ordnendes Prinzip in sich. Und doch können sie – jetzt neu akzentuiert – die Bibel nur als eines zeigen: als vielstimmig. Kerstin Schiffner findet: es ist höchste Zeit, das als Stärke zu entdecken. „Natürlich gibt es die Sehnsucht, und gerade als Pfarrerin, natürlich kann ich die Sehnsucht der Menschen ernstnehmen und sagen, ich versteh das, aber ich muss immer wieder sagen, das ist aber biblisch nicht so. Die Bibel ist quasi Medizin gegen Vereindeutigung. Dann kann man sagen: Tut mir leid, ihr Lieben, ich finde aber, es ist eine ihrer größten Stärken.“ „Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und das Wort war Gott.“ „Am Anfang war die Weisheit und die Weisheit war bei Gott und die Weisheit war wie Gott.“ „Von Anfang an gab es den, der das Wort ist. Er, das Wort, gehörte zu Gott. Und er, das Wort, war Gott in allem gleich.“ (Verschiedene Versionen der ersten Verses des Johannesevangeliums): Selbst wenn der Text noch so klar scheint – es gibt viele Wege, seine Botschaft zu übersetzen. Vielleicht meinte Martin Luther das, als er im Sendschreiben vom Dolmetschen schrieb: „Ach, es ist Dolmetschen ja nicht eines jeden Kunst, wie die tollen Heiligen meinen. Es gehört dazu ein recht, fromm, treu, fleißig, furchtsam, christlich, gelehrt, erfahren, geübt Herz.“ Seite 21 von 21