COPYRIGHT: Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von DeutschlandRadio / Funkhaus Berlin benutzt werden. Deutschlandradio Kultur Forschung und Gesellschaft am 24. Januar 2008 Redaktion: Peter Kirsten "Alles ist Zahl!" Mathematik für Schlüsseltechnologien Von Matthias Eckoldt Im O-Ton: - Peter Deuflhard, Professor für Numerische Analysis und Präsident des Konrad-Zuse- Instituts Berlin + Matheon - Christian Liebchen vom Institut für Mathematik der Technischen Universität + Matheon - Andreas Eisenblätter, Zuse Institut Berlin + Matheon - Konrad Polthier, Professor für Mathematik und Informatik an der Freien Universität und Leiter des Matheon-Projekts "Visualisierung von Algorithmen" - Regie: Minimalmusik (1)O-Ton(Deuflhard 33:19): Was macht ein Mathematiker? Was zeichnet ihn aus? ... Ein Mathematiker, wenn er ein konkretes Problem vor sich hat - ob das jetzt aus der Natur kommt, oder ob er sich das selber ausgedacht hat, oder ob das eine Vermutung ist, die seit dreihundert Jahren offen ist, weil es einfach formulierbar, aber wahnsinnig schwer zu beweisen ist - das ist egal. Er tritt einen Schritt zurück, er löst sich von diesem konkreten Problem, versucht, auf einer viel abstrakteren Ebene die Grundstrukturen zu verstehen. Wenn er die dann verstanden hat, dann gibt's zwei Wege: Entweder er sagt: Ich bin fertig - das war über viele Jahre das Manko der Mathematik. Oder - und das ist etwas, was in Berlin sehr hoch gehalten wird - oder er sagt: Jetzt prüfe ich nach, ob das, was ich verstanden hab, in der Realität Bestand hat. Sie hören, dass es überhaupt nicht klar ist, dass die Mathematik, die wir machen auch in der Realität wirklich beschreibt, was wir wollten. Wenn nicht, dann geht der moderne Mathematiker wieder seinen Schritt zurück und denkt wieder nach - diesmal vertieft auf Basis von neuen Informationen - geht dann wieder nach vorne, und wenn das nicht zu einer Echternacher Springprozession ausartet, kommt das irgendwann zum Erfolg. (1,15) Regie: Musik hoch und unter Sprecherin verschwinden lassen. Sprecherin: Das Gesicht der Mathematik hat sich in den letzten Jahren verändert. Sie ist - nicht zuletzt unter dem Druck der Hochtechnologien - aus ihrem Abstraktionshimmel herabgestiegen in die Niederungen der Realität. Die strenge Trennlinie zwischen reiner und angewandter Mathematik ist - wenn nicht aufgehoben - so doch recht durchlässig geworden. Sprecher: Dementsprechend hat sich auch das Selbstverständnis der Mathematik verändert. Für Pythagoras galt noch: Zitator: Alles ist Zahl! Sprecherin: Galilei meinte nicht weniger bescheiden: Zitator: Das Buch der Natur ist in der Sprache der Mathematik geschrieben. Sprecherin: Der deutsche Ausnahmemathematiker David Hilbert schlug im 20. Jahrhundert leisere Töne an: Zitator: Die Mathematik ist das Instrument, welches die Vermittlung zwischen Theorie und Praxis bewirkt, zwischen Denken und Beobachten. Sie baut die verbindende Brücke und gestaltet sie immer tragfähiger. Sprecher: Die Definitionsversuche der Mathematik führen zu einer erkenntnistheoretischen Fragestellung: Sprecherin: Ist die Mathematik die bestehende Struktur der Welt selbst, die es von den entsprechenden Experten zu erkennen gilt, oder ist die Mathematik vielmehr ein vom Menschen geschaffenes Werkzeug zur Erforschung und Beherrschung der Natur? Sprecher: Diese Frage, die so alt wie die Mathematik selbst ist, interessiert heute eher die Philosophen. (2)O-Ton(Deuflhard 32:54): Wenn wir die Struktur gut verstanden haben, dann stellt sich raus, dann können wir sie auch schnell rechnen. Und umgekehrt: Um etwas schnell zu rechnen, müssen wir die Struktur gut verstehen. Deswegen ist also die Frage, ob das jetzt die Sprache der Natur ist oder nicht, für mich nicht sehr ergiebig. (15'') Sprecherin: Peter Deuflhard ist Professor für Numerische Analysis und Präsident des Konrad- Zuse-Instituts Berlin - kurz ZIB. Gemeinsam mit den drei großen Universitäten der Hauptstadt trägt das Weierstraß-Institut für Angewandte Analysis und Stochastik sowie das ZIB das DFG-Forschungszentrum MATHEON. Eine 2002 gegründete Exzellenzinitiative, die jährlich mit fünfeinhalb Millionen Euro von der Deutschen Forschungsgemeinschaft gefördert wird. Ziel des Matheons ist eine anwendungsnahe Grundlagenforschung in engem Kontakt mit Partnern aus Industrie und Wirtschaft. Sprecher: Dabei sind es in der Regel die Mathematiker, die sich Probleme in der Realität suchen. Regie: Rattern eines U-Bahn-Zugs. Sprecher: So wären die Verantwortlichen der Berliner Verkehrsbetriebe sicher nicht darauf gekommen, dass ein Mathematiker mit seinen rechnerischen Fähigkeiten einen besseren Fahrplan hinbekäme als sie selbst mit ihren jahrzehntelangen Planungserfahrungen. Sprecherin: Christian Liebchen vom Institut für Mathematik der Technischen Universität hat sich im Rahmen des Matheon die Optimierung des BVG-Netzes zur Forschungsaufgabe gemacht: (3)O-Ton(Liebchen 2:15): Die wesentlichen Daten zur Fahrplanoptimierung sind natürlich erstmal die korrekten Fahrzeiten aller Linien. Dann ist ein ganz wichtiger Punkt, dass man natürlich wissen muss, welche Umsteigeverbindung von wie vielen Fahrgästen genutzt wird, wie vielen Leuten man weh tut, wenn dort eine lange Wartezeit eingeplant wird. Kurze Wartezeiten überall gehen einfach nicht. Auch nicht mit Mathematik. Im Gegenteil: Mathematik kann beweisen, wieviel Wartezeit in dem System insgesamt erforderlich ist, und wie diese dann möglichst gut zu verteilen ist, um möglichst wenigen Leuten weh zu tun. Weitere Eingangsdaten sind sehr technischer Natur: Dass man sich darum kümmert, wie vor den Endpunkten der Linien die Gleise liegen, wann dann halt welche Züge aneinander vorbeifahren können. ... Last but not least der Kostenaskpekt: Dass selbst wenn die Anzahl der Fahrten dieselbe ist, die Lage zu einander - Richtung und Gegenrichtung - den Ausschlag gibt, ob man noch ein zusätzliches Fahrzeug für den Betrieb einer Linie benötigt oder nicht. (1') Regie: Rattern eines U-Bahn-Zugs. Sprecherin: Insgesamt müssen im Berliner U-Bahn-Netz hundertsiebzig Anschlüsse miteinander vernetzt werden, um auf neun Linien mehr als eine Million Fahrgäste täglich befördern zu können. Die Gesamtzahl möglicher Fahrpläne beläuft sich dabei auf etwa zehn hoch fünfzig. Sprecher: Eine Eins mit fünfzig Nullen. Jener Kometenschweif von Nullen, von dem Thomas Mann einmal in Bezug auf die Dimensionen unseres Universums gesprochen hat. Um die Sache etwas anschaulicher zu machen, kann man sagen, dass es in etwa so viele mögliche U-Bahn-Fahrpläne wie Atome in und auf der Erdkugel gibt. Regie: Rattern eines U-Bahn-Zugs - evt. mit Ansage. Sprecherin: In die Grunddaten für die Modellierung fließen unter anderem die Mindestumsteigezeiten an den einzelnen Bahnhöfen ein, ebenso die Anzahl der Reisenden, die im Durchschnitt eine Umsteigemöglichkeit benutzen, die Fahrzeiten der Linien selbst und die Mindestwendezeiten der Züge. Sprecher: Neben der Vorgabe, möglichst wenig rollendes Material einzusetzen, um die Betriebskosten so gering wie möglich zu halten, stellen sich weitere Grundanforderungen an einen Fahrplan. In das mathematische Modell gehen diese Rahmenbedingungen als so genannte Restriktionen ein: (4)O-Ton(Liebchen 9:23): Ganz konkret ist eine Restriktion, dass die Haltezeit in einem Unterwegsbahnhof höchstens zweieinhalb Minuten betragen darf. Die Taktzeit in der Berliner U-Bahn ... beträgt zehn Minuten und dort wird eine Haltezeit von zweieinhalb Minuten zur Anschlussgewährung toleriert, aber mehr darf es auch wirklich nicht sein. (8:52): Und letztlich geht es dann darum, in der Menge aller möglichen Pläne, die alle Nebenbedingungen erfüllen, einen solchen zu finden, der in der Zielfunktion einen möglichst guten Wert liefert. Und die Zielfunktion besteht halt aus einer Mischung aus Fahrgastwartezeit und Kosten. Beides soll natürlich minimiert werden - sind jedoch im Allgemeinen gegenläufige Ziele, und da ist dann halt ein guter Kompromiss zu suchen. (45'') Regie: Rattern eines U-Bahn-Zugs - evt. mit Ansage Sprecherin: Das Lösungsverfahren, das Christian Liebchen mit seinem Team angewendet hat, kommt aus dem Gebiet der sogenannten kombinatorischen Optimierung und hier als Spezialfall der ganzzahligen Optimierung. Denn am Schluss muss - sowohl bei den eingesetzten Zügen, als auch bei den Takten im Fahrplan - ein glattes, ganzzahliges Ergebnis vorliegen. Halbe Züge und krumme Intervalle wären zwar mathematisch kein Problem, wohl aber für die Verkehrsbetriebe und deren Fahrgäste ein Ärgernis. Sprecher: Die Mathematiker des Matheon ließen ihre Computer heiß laufen. Dabei ging es nicht um die Berechnung aller möglichen Fahrpläne - diese Aufgabe würde selbst für Hochleistungscomputer die Lebenszeit überschreiten. Sprecherin: Die menschliche Lebenszeit wohlgemerkt! Sprecher: Christian Liebchen entwickelte ein Programm, das es ermöglichte, die jeweiligen Fahrpläne bereits im frühest möglichen Stadium zu bewerten. (5)O-Ton(Liebchen 13:57): Die Verfahren starten im Grunde mit einem leeren Netz. Und für dieses wird dann für die erste ausgewählte Linie eine Zeit festgelegt. Da kann man natürlich erstmal noch nichts falsch machen. Und dann werden die Lagen der weiteren Linien um diese eine Linie herumgelegt, wobei der Anspruch besteht, ausdrücklich alle Möglichkeiten zu bewerten - entweder im Detail zu analysieren, oder halt frühzeitig zu überprüfen, dass diese Lösungen keine sinnvollen Werte erzielen werden. Von daher werden dann für die weiteren Linien auch Zeiten festgelegt und wenn diese vielversprechend sind, werden die dann auch weiter verfolgt und zur Betrachtung weiterer Linien dann herangezogen und zugrunde gelegt. ... Rein theoretisch könnte man das zu lösende Optimierungsproblem auch durch vollständiges Ausprobieren aller erdenklichen Lösungen lösen. Aber der Punkt ist, dass das halt viel zu viele Möglichkeiten sind und an dieser Stelle Mathematik eingreifen muss, um möglichst frühzeitig abgesicherte Abschätzungen dafür zu gewinnen, dass eine Teillösung nicht mehr zu einer vollständigen Lösung erweitert werden kann, die kurze Wartezeiten ermöglicht. (1,20') Sprecher: Nach einem halben Jahr spuckte der Computer das optimierte Ergebnis für das Berliner U-Bahn-Netz aus. Es ist der weltweit erste mit rein mathematischen Methoden erarbeitete Fahrplan. Sprecherin: So skeptisch die Praktiker von der BVG anfangs waren, so überzeugt waren sie von den Segnungen der Mathematik, nachdem sie ihre Züge so fahren ließen, wie es die Computer vom Matheon ausgerechnet hatten. Geringere Wartezeiten für die Fahrgäste, kürzere Haltezeiten für die U-Bahnen und trotzdem ein Zug weniger im Einsatz - das waren die überzeugenden Argumente der Mathematiker. Regie: Rattern eines U-Bahn-Zugs - evt. mit Ansage: Aussteigen, Zug endet hier. O.ä. Geht über in Minimalmusik. Sprecher: Im Matheon ist die Zusammenarbeit der fünf beteiligten Trägerinstitutionen durch einen Kooperationsvertrag geregelt, in dem auch die Verwendungsrichtlinien für die Gelder von der Deutschen-Forschungs-Gemeinschaft festgeschrieben sind. Sprecherin: Zusätzliche Mittel erhält die Exzellenzinitiative in der Hauptstadt von der Industrie. So co-finanzieren Firmen, die von der Lösung konkreter mathematischer Probleme profitieren, einzelne Projekte und Mitarbeiterstellen. Sprecher: Die Forschungsarbeiten des Matheons laufen auf insgesamt sieben verschiedenen Ebenen: Sprecherin: Bei den "Lebenswissenschaften" geht es um Modellierungen und Berechnungen für die Biologie, Medizin und die Pharmakologie. Sprecher: Unter "Produktion" fasst das Matheon Projekte zusammen, die sich mit der Dynamik industrieller Herstellungsverfahren beschäftigen. Sprecherin: Die Effekte in optoelektronischen Bauelemente stehen im Zentrum einer weiteren Gruppe. Sprecher: Schließlich beschäftigen sich die Mathematiker vom Matheon mit Finanzmathematik... Sprecherin: ... sowie mit den Verfahren digitaler Visualisation. Sprecher: Außerdem kümmert sich das Matheon um Mathematikunterricht für die Schule, aber auch für Techniker und Ingenieure. Sprecherin: Ein weiterer Schwerpunkt ist Logistik, Verkehr und Telekommunikation. Regie: Handyklingeln schon unter Sprecherin oben. Sprecher: So beschäftigt sich Andreas Eisenblätter, der vom Zuse Institut Berlin aus für das Matheon forscht, mit der Optimierung von UMTS-Netzen für den Mobilfunksektor. Sprecherin: Besonders brisant wird die Optimierung in diesem Bereich, weil die UMTS- Betreiber ihre Sendeantennen nicht mehr nach Gutdünken im Land verteilen können. Vielen Klagen wegen der erwarteten Strahlenbelastung wurden stattgegeben, so dass man es bei UMTS - anders als bei der Vorgängertechnologie GSM - nicht mehr mit einem Wachstumsmarkt zu tun hat. Sprecher: Mit mathematischem Geschick müssen die vorhandenen Antennen so ausgerichtet werden, dass eine möglichst flächendeckende Netzabdeckung erreicht wird. (6)O-Ton(Eisenblätter 6:45): Also nehmen wir uns ein ganz einfaches Beispiel: Sie wollen eine einzige Station jetzt zusätzlich in das Netz mit aufnehmen, haben diese Station in einem Bereich positioniert, wo Sie bisher eine Versorgungslücke haben und möchten jetzt eine möglichst gute Verzahnung dieser neuen Station mit den Stationen drum herum erhalten und fragen sich: Drei Antennen - in welche Richtung sollen die jeweils zeigen, ... um eine möglichst flächendeckende Abdeckung in diesem Bereich zu erhalten und mit den anderen Antennen, die bereits da sind, in nicht zu große Störbeziehungen zu treten. (14:38): Die Mathematik, die wir zur Anwendung bringen, ist in erster Linie so genannte diskrete Mathematik ... Diskret deswegen, weil die Gegenstände diskret sind. Das heißt also nicht, dass sie im klassischen Sinne diskret sind, sondern die Entscheidungen, die zu treffen sind, sind Entscheidungen, die der Sache nach nicht ein bisschen mehr oder ein bisschen weniger bedeuten, sondern: Ich baue eine Basisstation oder nicht. Das heißt, ich habe einen klaren Unterschied zwischen den beiden Entscheidungen, die ich treffen muss. Es sind keine kontinuierlichen Entscheidungen, sondern in vielen Fällen eine klare Ja/Nein- Entscheidung. (1,15') Sprecher: Diese klare Ja-Nein-Entscheidung ist jedoch der Anfang einer Vielzahl folgender Ja-Nein-Entscheidungen. Hauptproblem der UMTS-Netze sind so genannte Interferenz-Phänomene. An den Rändern des von jeweils einer Antenne abgedeckten Bereichs können sich die Strahlungen auslöschen, so dass schließlich Empfangslöcher entstehen. Sprecherin: Um diesen störenden Effekt zu vermeiden oder zumindest zu minimieren ist die kombinatorische Mathematik gefragt, die sich mit den Verkettungen von Ja-Nein- Entscheidungen beschäftigt. Auf deren Grundlage errechnen die Computer des Matheons die präzise Einstellung der Antennen im gesamten Ausbreitungsgebiet. Der dabei entstehende Möglichkeitsraum ist sogar noch größer als bei den U- Bahn-Fahrplänen: (7)O-Ton(Eisenblätter 17:40): Man kann sich das folgendermaßen zurechtlegen: Wenn ich mir einen einzigen Sektor anschaue - das ist also eine dieser Antennen an einem Standort. Ich sage, die hat eine Normalausrichtung, die ist nach Norden und strahlt einfach geradeaus. Jetzt erlaube ich mir, den zum einen dreißig Grad nach links zu drehen, dreißig Grad nach rechts zu drehen und in sagen wir mal fünf Abstufungen nach unten zu neigen. Dann sind das drei verschiedene Richtungen - also Norden, leicht westlich, leicht östlich davon und fünf Neigungen. Das sind fünfzehn Möglichkeiten für einen Sektor. Wenn ich jetzt insgesamt zum Beispiel dreihundert Sektoren mir anschauen möchte, dann geht die Fünfzehn in die Basis und die Dreihundert in den Exponenten, das heißt, wir sind bei fünfzehn hoch dreihundert Möglichkeiten. Und das ist eine beeindruckend große Zahl. Eine Zahl, die größer ist als das Weltall Atome hat. (1') Regie: Handyklingeln. Sprecher: Mathematik hilft nicht nur in der Verkehrsplanung und der Mobilfunkoptimierung, sondern sie ist auch in der Medizin gefragt, wenn es beispielsweise um eine Form der Heilung von Tumorerkrankungen geht. Sprecherin: Hyperthermie heißt eine Therapie zur Bekämpfung bestimmter Krebsarten. Dabei wird mit Radiowellen Wärme in den Tumor gebracht, um das wuchernde Gewebe zu erhitzen und die Zellen dort abzutöten. Sprecher: Das Problem dabei ist nun, die Hitzewirkung wirklich nur auf den gewünschten Bereich und nicht auf die angrenzende Umgebung des Tumors zu konzentrieren. Für Peter Deuflhard stellte sich das als ein mathematisches Problem dar: (8)O-Ton(Deuflhard 1:25): Damals kam ein Mediziner zu mir aus dem Virchow-Klinikum, der gleichzeitig auch noch Diplom-Physiker war. Und mit sich hatte er einen Elektrotechniker, der hat für ihn die Computersimulationen gemacht. Und die wollten von mir zunächst nur ein Programm, um eine zweidimensionale Gleichung zu lösen. Also nur in der Ebene. Und diese Gleichung sollte allerdings schon über Computertomogrammen von individuellen Patienten gelöst werden. Ich hab mir das angeschaut. ... Und es hat sich dann rausgestellt, dass die Rechnungen im Zweidimensionalen nicht die von den Medizinern erwarteten Ergebnisse erbracht haben. Ich vereinfache mal: Im Zweidimensionalen wären die Patienten wunderbar behandelbar mit Hyperthermie. Da gäbs keine Probleme. Nun haben aber die realen Patienten in der medizinischen Klinik darüber geklagt, dass sie heiße Stellen am Körper haben und zwar an ganz anderen Stellen als denen, die den Tumor darstellen. Da gabs dann die einen Mediziner, die gesagt haben, da müssen wir neu nachdenken und die anderen, die gesagt haben: Das sind halt Simulanten. Wir haben das dann nachgerechnet mithilfe von Computersimulationen und haben festgestellt: In der Tat, es entstehen heiße Punkte deutlich außerhalb vom Tumorgeschehen. Und ich hab dann gesagt: Simulanten aller Länder vereinigt euch! (1,20') Sprecherin: Um den Patienten aber helfen zu können, musste Peter Deuflhard mit seinem Team einen realen Körper virtuell errechnen, um ihn präzise simulieren zu können. Grundlage dafür bildeten die Daten aus dem Computertomografen. Die Hauptschwierigkeit bestand darin, diese zweidimensionalen Werte, die eigentlich nur die Dichteverhältnisse des jeweils untersuchten Querschnitts angeben, in ein dreidimensionales System umzurechnen. Sprecher: Um eine tatsächlich getreue Abbildung zu erhalten, an der man die Einstellung des Hyperthermiegeräts virtuell erproben konnte, mussten viele Gleichungen gefunden und vor allem gelöst werden. Denn letztlich sollte ja nicht nur die Geometrie des Patienten stimmen, sondern auch die verschiedenen Eigenschaften von Knochen, Fett- und Muskelgewebe simuliert werden können. Sprecherin: Für die Simulation des virtuellen Patienten werden so genannte partielle Differentialgleichungen verwendet, die mit numerischen Verfahren ausgerechnet werden können. Das Spezialgebiet von Professor Deuflhardt: (9)O-Ton(Deuflhard 9:32): Die Gleichungen, die da eine Rolle spielen, kann ich Ihnen auf einer Din-A4-Seite aufschreiben. Die zu lösen - tatsächlich im Computer zu lösen - ist eine schwierige mathematische Aufgabe, die dann in ein anderes Gebiet der Mathematik geht - nämlich numerische Mathematik. Also Algorithmen: Wie können diese Rechenmethoden (Algorithmen) so geführt werden, dass sie schnell sind. ... Im Zusammenhang mit unserem Problem in der Hyperthermie müssen Sie rechnen, dass wir zwischen hunderttausend und fünfhunderttausend Unbekannte haben. Und da geht diese von Gauss ursprünglich entwickelte Methode, die wir in der Schule gelernt haben, nicht mehr. Da gehen allerdings Methoden, die von deutschen Wissenschaftlern maßgeblich mit entwickelt worden sind, die dann von uns wesentlich verfeinert worden sind. ... Und diese Methoden sind heute so schnell, dass Sie eine Hyperthermierechnung auf einem heutigen Laptop in eins, zwei Minuten rechnen können. Angefangen hat das ursprünglich mal mit einer Woche. Die Beschleunigung , die wir inzwischen haben, ist nicht etwa durch die Computer gekommen, sondern die dramatische Beschleunigung dieser Rechnungen ist durch die Mathematik gekommen. (1,15') Sprecher: Durch den Einsatz mathematischer Algorithmen ist heute eine auf die individuellen Besonderheiten eines jeden Patienten abgestimmte Hyperthermietherapie möglich geworden. Sprecherin: Wenn die Mathematiker Lösungswege für bestimmte Problemstellungen gefunden haben, sind diese Erkenntnisse oft auch in ganz anderen Bereichen anwendbar. So konnten Teillösungen aus der Hyperthermiebehandlung wiederum in der Nanotechnologie angewendet werden. Denn diese beiden auf den ersten Blick sehr unterschiedlichen Gebiete haben doch eine strukturelle Gemeinsamkeit: Sowohl bei der Hyperthermie, als auch bei Bohrungen im Nanobereich, geht es um Objekte, die mit einer Strahlung konfrontiert werden sollen, deren Wellenlänge in der Größenordnung des zu behandelnden Objekts liegt. Sprecher: Diese Art von Wissens- und Know-How-Transfer von makroskopisch- medizinischer zu nanotechnologischer Anwendung ist wohl innerhalb der Naturwissenschaften einzigartig und weist an dieser Stelle noch einmal die Besonderheit der Mathematik aus: Sie ist eine Strukturwissenschaft und kann als solche vom realen Objekt abstrahieren. Genau diese Abstraktion aber macht ihre Erkenntnisse bei vielen realen Objekten anwendbar. Sprecherin: So haben die Wissenschaftler vom Matheon in der Arbeitsgruppe "Computational Drug Design" auch einen neuen Wirkstoff für die Diabetes-Behandlung simuliert. Wie ein Sicherheitsschlüssel passt der Stoff molekülgenau an ein Enzym, das für die Regelung des Insulinhaushalts verantwortlich ist. Nun müssen die Molekularpharmakologen nachziehen und Wege finden, den Stoff auch herzustellen. Regie: Minimalmusik ggf. Ausschnitt "Matrix" oder "Herr der Ringe". Sprecher: Die Kinohelden unserer Tage können sich blitzschnell verwandeln, sie können erschossen werden und sich aus flüssigem Metall wieder zusammensetzen, sie können fliegen, Geschossen ausweichen und an Häuserwänden hochklettern. Sie kämpfen gegen angsteinflößende Ungeheuer und Fabelwesen. Sprecherin: Ein Besuch am Set allerdings wäre wohl sehr ernüchternd. Denn viele der Szenen, die so effektvoll daherkommen, werden vor einem Blue Screen gedreht. Die Schauspieler hantieren im Studio vor blauem Hintergrund, in den dann später die Wunderwelten eingerechnet werden. Per Computer. (10)O-Ton(Polthier 3:02): Stellen Sie sich vor, Sie wollen die Welt außen im Computer nachbilden. Sprecher: Konrad Polthier, Professor für Mathematik und Informatik an der Freien Universität, leitet das Matheon-Projekt "Visualisierung von Algorithmen". (11)O-Ton(dito): Alle Bäume, Häuser bestehen aus einzelnen Dreiecken. Die kleinste Schraube besteht aus Dreiecken oder Vierecken. Das sind gigantisch große Daten. Und Hollywood will uns diese Sachen auf den Bildschirm zaubern, so dass sie aussehen, als wenn wir draußen in der freien Natur sind. (5:54): Die dreidimensionalen Geometrien müssen mit einer endlichen Anzahl von Punkten beschrieben werden. Sie können nicht alle Punkte einer Oberfläche einem Computer beibringen, weil das kann man nicht speichern. Ein Dreieck ist gegeben durch drei Punkte. Wenn Sie drei Punkte kennen, ist eindeutig klar, wie die Fläche innen drin ist. ..... Dadurch, dass man Oberflächen in Punkte und kleine, elementare Geometrien - Dreiecke, Vierecke - zerlegt, werden sie am Computer handhabbar. (55'') Sprecher: Allerdings setzt sich so ein Monstrum aus einhunderttausend bis zu zehn Millionen Dreiecken zusammen. Eine selbst für Hochleistungscomputer nicht zu beherrschende Menge an Daten muss da bei der kleinsten Bewegung bewältigt werden. Sprecherin: Deshalb stehen die Kompressionsverfahren hoch im Kurs. Mit ihnen können bis zu achtzig Prozent der Datenflut ausgeblendet werden - und zwar ohne Qualitätsverlust! (12)O-Ton(Polthier 1:30): Das können Sie sich so vorstellen: Ein Bild aus einer Digitalkamera wird im JPEG-Verfahren komprimiert, damit es schnell verschickt und gespeichert werden kann. Ein MP3-Player komprimiert Audio-Signale, und MP3 ist das Kompressionsverfahren und hat diese ganze Miniaturisierung ermöglicht. Für Geometrien wird eine ähnliche Kompression dieser gigantischen Daten benötigt. Und daran arbeiten wir und forschen und haben momentan den besten Algorithmus weltweit. (21:05): Ein Algorithmus ist ein Verfahren. Das heißt, sie tun eine Dreiecksfläche hinein - einen Dinosaurier - und das wird dann in einer komprimierten Art dargestellt. ..... Es ist auch so, dass man diesen Algorithmus natürlich auch in einem Forschungsartikel niederschreiben kann. Wenn man's komprimiert schreibt - für Experten - sind das vielleicht acht, zehn, fünfzehn, zwanzig Seiten. Wenn man es für einen Unbedarften hinschreibt, dass ein Student das lesen kann, dann werden es auch schon zweihundert Seiten. Und wenn man es für einen Techniker hinschreibt, der nicht in dem Bereich ist, dann kommt noch soviel Sekundärliteratur hinzu, dass es dann schon sehr aufwendig wird und eigentlich muss man Experte in dem Bereich sein, um den Algorithmus implementieren und übersetzen zu können. (1,10') Regie: Minimalmusik / ggf. Ausschnitt "Matrix" oder "Herr der Ringe". Sprecher: Beim Komprimieren geht es vorwiegend darum, Redundanzen aus dem Datenvolumen zu entfernen. Dazu stellen die Mathematiker vom Absoluten aufs Relative um. Sprecherin: Bei einem Urlaubs-Foto mit strahlend blauem Himmel beispielsweise kann man die Datenmenge drastisch reduzieren, indem man nicht für jeden einzelnen Pixel die Farbe blau abspeichert, sondern formuliert: Die oberen fünfhunderttausend Pixel sind blau. Wenn sich das Blau dann Richtung Horizont aufhellt, müssen auch diese Nuancen nicht mit ihren Absolutwerten abgespeichert werden, da man sie auf wesentlich geringerem Speicherplatz in Relation zu den tieferen Blautönen darüber aufschreiben kann. Also: zehntausend Pixel zwei Punkte heller blau, dann tausend wiederum einen Punkt heller, dann fünfhundert einen weiteren Punkt heller ... Regie: Sprecherin wird ab "wiederum einen Punkt heller" geblendet. Dazu Musik und Sprecher geht rauf. Sprecher: Mit den immer effizienteren Algorithmen der Mathematiker werden die Computer eine neue digitale Wunderwelt schaffen, die vielleicht schon bald kaum noch von unserer ersten, ursprünglich angeschauten Realität zu unterscheiden sein wird. (13)O-Ton(Polthier 16:03): Wir sehen das mit Navigationssystemen, die auch schon in 3 D Informationen geben, Sie sehen das mit Reiseplanungen, wo Sie vielleicht in Ihrem favorisierten Urlaubsziel schon einmal durch das Hotel virtuell durchfliegen wollen. Das heißt, wir brauchen unsere ganze Welt digital. Und die Grenze der Dreiecke, die verwendet werden ist eine nach oben hin offene Richterskala. (20'') Regie: Musik hoch und unter letzten Ton legen. (14)O-Ton(Eisenblätter 41:38): Mathematik kommt heute im Prinzip überall vor. Es gibt quasi keine technische Entwicklung, in der nicht irgendwo Mathematik - in vielen Fällen sogar sehr komplexe Mathematik wesentlich dazu beiträgt, dass die Dinge so funktionieren, wie sie funktionieren. ... Die Digitaltechnik ist wesentlicher Nutznießer der Mathematik. Zum einen das grundsätzliche Verständnis darüber, wie man mit Nullen und Einsen rechnen kann. ... Nicht zuletzt die Codierungstheorie, von der wir heute alle Nutznießer sind - sei es die digitale Übertragung im Handy, sei es der MP3-Player, sei es der CD-Spieler, sei es die DVD. All das sind Medien, bei denen die Grundlage fürs Funktionieren in ganz wesentlichem Ausmaß in der Mathematik gelegt worden sind. Und an diesen Dingen mitzuwirken, macht ganz persönlich großen Spaß. (1') Regie: Musik hoch und aus. 1