KULTUR UND GESELLSCHAFT Organisationseinheit : 46 Reihe : LITERATUR Titel der Sendung : Chronist des Hasses, Hüter der Vielfalt - Streit um die Bosnien-Bilder des Ivo Andric AutorIn : Ksenija Cvetkovic und Martin Sander Redakteurin : Barbara Wahlster Sendetermin : 27.11.2011 Regie : Friederike Wigger Besetzung : Sprecherin(Autorentext), Zitator, 1. Sprecher/ Overvoice, 2.Sprecher/Overvoice, Sprecherin/Overvoice Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Jede Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in den §§ 45 bis 63 Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig (c) Deutschlandradio Deutschlandradio Kultur Funkhaus Berlin Hans-Rosenthal-Platz 10825 Berlin Telefon (030) 8503-0 Deutschlandradio Kultur - Literatur Chronist des Hasses, Hüter der Vielfalt - Streit um die Bosnien-Bilder des Ivo Andric Sendung: Werkstatt, 27.11.2011 Redaktion: Barbara Wahlster Autor: Ksenija Cvetkovic und Martin Sander Zitator "Ja, Bosnien ist das Land des Hasses. Das ist Bosnien. (...) Eure geliebten Heiligtümer befinden sich regelmäßig hinter dreihundert Flüssen und Bergen, und die Objekte Eures Abscheus und Eures Hasses sind gleich neben Euch, in derselben Stadt, oft nur auf der anderen Seite der Hofmauer. So verlangt Eure Liebe nicht viele Taten, aber Euer Haß geht sehr leicht in die Tat über. Ihr liebt Euer Land, Ihr liebt es glühend, aber auf drei, vier verschiedene Arten, die einander ausschließen, tödlich hassen und oft genug aneinandergeraten." (Ivo Andric: Brief aus dem Jahre 1920, in: ders.: Die verschlossene Tür, aus dem Serbokroatischen von Milo Dor und Reinhard Federmann, Paul Zsolnay Verlag, Wien 2003) Sprecherin Autorentext "Brief aus dem Jahre 1920". In dieser Erzählung lässt Ivo Andric eine Figur namens Max Löwenfeld sprechen. Der Arzt Löwenfeld ist vor dem Ersten Weltkrieg als Kind jüdischer Eltern im österreichischen Sarajevo aufgewachsen. Nach Ende des Krieges und dem Zusammenbruch der Habsburger Monarchie kehrt er Bosnien den Rücken, um dem Hass zu entfliehen - für immer. Zitator "Diesen spezifisch bosnischen Haß müßte man studieren und bekämpfen wie eine gefährliche und weitverbreitete Krankheit. Ich glaube sogar, daß fremde Wissenschaftler nach Bosnien kommen würden, um hier den Haß zu studieren, genauso wie sie die Lepra studieren, wenn der Haß ein ebenso anerkannter und klassifizierter Gegenstand von Untersuchungen wäre wie die Lepra." (Ivo Andric: Brief aus dem Jahre 1920, in: ders.: Die verschlossene Tür, aus dem Serbokroatischen von Milo Dor und Reinhard Federmann, Paul Zsolnay Verlag, Wien 2003) Sprecherin Autorentext Den "Brief aus dem Jahre 1920" stellte der bosnische Serbenführer Radovan Karadzic während des Bosnien-Kriegs der 1990er Jahre westlichen Beobachtern und Diplomaten zu. Andrics Erzählung sollte beweisen: Ein Zusammenleben der Völker in Bosnien ist unmöglich. O-Ton Dzevad Karahasan Zur Zeit des Krieges wurde die Erzählung von Ivo Andric "Brief aus dem Jahre 1920" aufs Schrecklichste missbraucht - von serbischen Nationalisten, von halbgebildeten westlichen Intellektuellen, die der großen nationalen Sache dienen wollten, von unzähligen Pseudoexperten. Sprecherin Autorentext Dzevad Karahasan ist Schriftsteller und Literaturwissenschaftler an der Universität Sarajevo. O-Ton Dzevad Karahasan Alle zitierten ohne irgendeine Einschränkung die Worte von der Figur Ivo Andrics, nämlich Max Löwenfeld, und zitierten diese Aussage als Andrics Behauptung. Aber ich bitte Sie, gibt es denn was wirklich Großes, was von der schlechten Politik, von Pseudopolitik nicht missbraucht werden kann? Ivo Andric hat man aufs Schrecklichste missbraucht, aber was kann man da tun? O-Ton Salmir Kaplan, 1. Sprecher Overvoice Andric hat ein falsches Bild vom Osmanischen Reich vermittelt. Ich möchte das Osmanische Reich nicht idealisieren, aber sicher war es ein Staat, der für die damalige Zeit eine hohe Stufe von Toleranz und Demokratie bot - insbesondere für die Angehörigen anderer Religionen. Andric hat also eine negative Ideologie produziert, und wenn er noch lebte, würde ich als Minister niemals eine wissenschaftliche Tagung über ihn finanzieren... Sprecherin Autorentext Salmir Kaplan hat Orientalistik sowie Geschichte in Sarajevo und Istanbul studiert. Derzeit amtiert er in Sarajevo als Kulturminister der Föderation, des bosniakisch- kroatischen Teilstaats in Bosnien. O-Ton Salmir Kaplan, 1. Sprecher Overvoice Da es aber um eine Persönlichkeit geht, die schon lange nicht mehr unter den Lebenden weilt, und um ein literarisches Werk, auf das wir keinen Einfluss mehr haben, möchte ich der Position so nahe wie möglich kommen, aus der Andric positiv erscheint. Ich gehöre zu denen, die sagen: Lasst uns das Maximum an Positivem aus ihm herausziehen. Lasst uns sagen: Ja, das ist unser bosnisch-herzegowinischer Schriftsteller. Sprecherin Autorentext Im Tito-Staat war Ivo Andric, der einzige jugoslawische Literaturnobelpreisträger, eine Galionsfigur. In den Nachfolgestaaten Jugoslawiens ist er hoch umstritten, vor allem in Bosnien. Wäre er nicht tot, müsste man ihn an das Kriegsverbrechertribunal in Den Haag ausliefern, meinen einige. Das Denkmal stürzte in den 1990er Jahren. Der Verleger, Publizist und Kulturhistoriker Ivan Lovrenovic, ein bosnischer Kroate aus Sarajevo, sieht es so: O-Ton Ivan Lovrenovic, 2. Sprecher Overvoice Bosnien hat sich ethnisch dreigeteilt, und dieses Schicksal Bosniens hat auch Ivo Andric erlitten. Die größte Neuigkeit in der neuen Behandlung Andrics im neuen Bosnien stellt die muslimische Rezeption dar. In der neuen bosniakisch- muslimischen Kultur hat man Andric einen sehr schlechten Platz zugewiesen, in extremen Fällen stempelte man ihn fast zum Volksfeind. Es heißt, er sei gegen die Muslime gewesen, gegen den Islam und sogar gegen Bosnien. Sprecherin Autorentext Ivo Andric kam 1892 in einer katholisch-kroatischen Familie im österreichischen Bosnien zur Welt. Dem ersten jugoslawischen Staat, dem Königreich, diente er als Diplomat. Während des Zweiten Weltkriegs schrieb er unter deutscher Besatzung in Belgrad seine bekanntesten Werke, die historischen Bosnien-Romane "Die Brücke über die Drina" sowie "Wesire und Konsuln". 1961 erhielt er den Nobelpreis. Sprecherin Autorentext Im Osten Bosniens, unweit der Grenze zu Serbien und Montenegro, liegt in einem Talkessel Visegrad. Dort steht jene Brücke über die Drina, die durch Ivo Andric Weltruhm erlangte. Heute leben in der Stadt weniger als 5000 Menschen, überwiegend Serben. Von der Vielvölkervergangenheit zeugen vor allem die Friedhöfe: ein jüdischer, ein muslimischer, ein orthodoxer, ein katholischer ... O-Ton Divna Vasic, Sprecherin Overvoice "Hier ruht Ana Andric-Matkovsik, sie starb mit 67 Jahren, 1927. Meiner teuren Tante und Ziehmutter, Ivan". Ivo Andric ist auf den Namen Ivan getauft worden. Und hier haben wir seinen Onkel: "Ivan Matkovsik, geboren 1852, gestorben am 12.08.1924". Er war Pole... Sprecherin Autorentext Divna Vasic unterrichtet serbische Sprache und Literatur an der Oberschule in Visegrad. Sie führt uns zu den katholischen Gräbern von Tante und Onkel des Autors. Die beiden nahmen den Zweijährigen nach dem Tod des Vaters zu sich. Ivo Andric lebte in Visegrad, bis er zehn Jahre alt war und zu seiner Mutter nach Sarajevo zurückkehrte. Mit der Visegrader Familie und mit der Stadt blieb er eng verbunden. Divna Vasic führt uns höher auf den Berg zum jüdischen Friedhof. Auf dem verwahrlosten Grundstück stehen Heugarben. Divna Vasic geht oft mit ihren Schulklassen hierhin, um zu erklären, dass Andrics jüdische Figuren aus der "Brücke über die Drina" keine Exoten sind, die der Phantasie des Autors entsprangen, wie ihre Zöglinge oft glauben, sondern Menschen aus Fleisch und Blut, die wirklich einmal in Visegrad lebten. O-Ton Divna Vasic, Sprecherin Overvoice Hier ist die Grabstelle der berühmten Heldin von Ivo Andric, der bekanntesten Visegraderin, der polnischen Jüdin Lottika Zellermeier, die - sehen Sie selbst - am 15.02.1938 im 78. Lebensjahr verstorben ist. Sprecherin Autorentext Im späten 19. Jahrhundert war Lottika aus dem polnischen Galizien nach Visegrad gezogen und hatte an der Brücke ein Hotel eröffnet. Streng genommen gehörte das Etablissement ihrem Schwager, wegen Lottikas Ausstrahlung und ihrer besonderen Geschäftstüchtigkeit hieß es im Volksmund jedoch "Lottikas Hotel" - in der Wirklichkeit und in Andrics Roman. Zitator "Leute, die die Welt gesehen und die Geschichte kannten, meinten oft, daß es um diese Frau schade sei, daß ihr das Geschick einen so engen und untergeordneten Arbeitskreis zugedacht. Wäre sie nicht, was sie ist, und dort, wo sie ist, wer weiß, was aus dieser klugen und menschlichen Frau geworden wäre und was sie hätte leisten können, diese Frau, die nicht an sich selbst dachte und die, habgierig aber selbstlos, schön und verführerisch, aber keusch und kalt, ein Provinzhotel führte und kleinstädtischen Lebemännern die Taschen leerte. Vielleicht wäre sie eine jener berühmten Frauen geworden, von denen die Geschichte erzählt und die die Geschicke großer Familien, Höfe oder Staaten leiten und stets alles zum besten wenden." (Ivo Andric: Die Brücke über die Drina, aus dem Serbokroatischen von Ernst E. Jonas, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2003) Sprecherin Autorentext Lottika gehörte zu den "kuferasi", den sogenannten Koffermenschen - Beamten, technischen Spezialisten oder Geschäftsleuten, die nach dem Rückzug der Osmanen und der Besetzung Bosniens durch Österreich-Ungarn 1878 aus allen Teilen der Monarchie herbeiströmten und oft schon bald heimisch wurden. Zitator "Unser Volk, besonders die Christen und Juden, begann zwar in Kleidung und Gebärden den Fremden, die die Besatzung hergeführt hatte, immer ähnlicher zu werden, aber auch die Fremden blieben von der Umgebung, in der sie leben mußten, nicht unberührt und unverändert. Mancher dieser Beamten, ein regsamer Ungar oder stolzer Pole, überschritt voller Besorgnis diese Brücke und betrat mit Abneigung die Stadt, in der er sich zu Anfang von allem abhob wie ein Tropfen Öles, der auf dem Wasser schwimmt. Aber schon ein paar Jahre später saß er stundenlang auf der Kapija (mitten auf der Brücke), rauchte aus einer dicken Bernsteinspitze und schaute wie ein echter Wischegrader, wie sich der Rauch unter dem lichten Himmel in der reglosen Luft der Dämmerung verteilte und verlor." (Ivo Andric: Die Brücke über die Drina, aus dem Serbokroatischen von Ernst E. Jonas, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2003) Sprecherin Autorentext In elf mächtigen Bögen spannt sich die Felssteinbrücke über die türkisblaue Drina. Visegrad wirkt wie ein Anhängsel dieses osmanischen Baukunstwerks, das im späten 16. Jahrhundert geschaffen wurde - und seit 2007 Jahren unter dem Schutz der UNESCO steht. Demnächst soll es mit einer Spende der türkischen Regierung von über drei Millionen Euro restauriert werden. In der kleinen Stadt, in der nur eine Minderheit im Besitz eines Arbeitsplatzes ist, erwartet man viel von der Erneuerung der Brücke. Sie soll den Tourismus ankurbeln. Eigentlich müssten die bosniakischen, sprich muslimischen Bewohner Visegrads besonders stolz sein auf dieses Beispiel schönster osmanischer Architektur. Doch ihre Gefühle sind gemischt. Das hat damit zu tun, dass auf der Brücke im letzten Bosnien-Krieg grausame Verbrechen von Serben an Muslimen begangen wurden. Es hängt aber auch mit Ivo Andrics Roman zusammen. Andric kolportiert eine Geschichte, in der die Osmanen kleine Kinder in die Brücke einmauern. Die Kinder sollen den Bau vor einer Wassernixe schützen, die nachts das zerstörte, was tagsüber aufgebaut wurde. Zitator "Die Kinder wurden eingemauert, denn es konnte nicht anders sein. Aber der Baumeister - so sagt man - empfand Mitleid und ließ in dem Pfeiler Öffnungen, durch die die unglückliche Mutter ihre geopferten Kinder stillen konnte. Das sind die schön ausgehauenen blinden Fenster, eng wie Schießscharten, in denen jetzt die Wildtauben nisten. Zur Erinnerung daran fließt schon seit Jahrhunderten Muttermilch aus dem Gemäuer. Das sind jene weißen Rinnsale, die zu gewissen Jahreszeiten aus den makellosen Fugen herausträufeln und deren unverwischbare Spur auf dem Stein zurückbleibt. (...) Diese milchigen Spuren auf den Pfeilern verreiben die Leute und verkaufen sie als Heilpulver an Frauen, die nach der Niederkunft keine Milch haben." (Ivo Andric: Die Brücke über die Drina, aus dem Serbokroatischen von Ernst E. Jonas, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2003) O-Ton Bilal Memisevic, 1. Sprecher Overvoice Da ich mich mit Mehmed Pascha Sokolovic beschäftigt habe, wurde ich oft gefragt, was es mit diesem Einmauern von lebendigen Menschen auf sich hat: So etwas ist doch gar nicht möglich! Diese Brücke wurde nicht vor fünftausend Jahren gebaut, sondern vor fünfhundert. Sprecherin Autorentext Bilal Memisevic, ein in Algerien ausgebildeter Arabist, hat das Wirken von Mehmed Pascha Sokolovic, dem Großwesir des Osmanischen Reiches, der einst die Brücke über die Drina bauen ließ, wissenschaftlich erforscht. Jüngste bosnische Geschichte hat Memisevic, geboren 1968 in Visegrad, am eigenen Leib erfahren. Seine Eltern wurden 1992 von den Serben umgebracht, die damals die Herrschaft über die Stadt übernahmen und eine "ethnische Säuberung" in Gang setzten. Vor dem Bosnien- Krieg stellten die Muslime zwei Drittel der Bewohner im Bezirk Visegrad, heute sind es gerade fünfzehn Prozent. Bilal Memisevic gehört zu denen, die trotz allem zurückkamen. Der Mann im eleganten Anzug ist nicht nur Vorsteher der islamischen Gemeinde, sondern auch Vorsitzender des Gemeindeparlaments - ein Politiker, der auf Ausgleich bedacht ist. Er hat den Wiederaufbau von Moscheen erreichen können; er setzt sich für die Belange der muslimischen Rückkehrer ein und versucht, Vorurteile zwischen Serben und Muslimen abzubauen. Dazu zählt für ihn auch die Wahrheit über den Bau der alten Brücke. O-Ton Bilal Memisevic, 1. Sprecher Overvoice Die Brücke wurde in der Blütezeit des Osmanischen Reiches gebaut. Was heute die USA verkörpern, stellte damals das Osmanische Reich dar. Wie gesagt, das war nicht vor fünftausend, sondern vor fünfhundert Jahren. Für alles gab es Belege: vom ersten bis zum letzten eingebauten Stein und bis zum letzten ausgegebenen Geldstück. Es handelte sich um die größte, mächtigste und schönste Brücke, deren Bau perfekt organisiert war. Und wenn Sie unter solchen Umständen irgendwelchen Legenden glauben wollen, dass lebendige Menschen eingemauert wurden - Gott bewahre und behüte! Sprecherin Autorentext Mehmed Pascha Sokolovic, der Großwesir und Bauherr der Brücke, kommt in einer serbisch-orthodoxen Familie in einem Dorf nahe Visegrad zur Welt. 1516 holen ihn Vertreter der osmanischen Obrigkeit ab, um ihn zusammen mit weiteren christlichen Bauernjungen nach Istanbul zu bringen, wo sie alle im muslimischen Geist erzogen und für Ämter im Großreich vorbereitet werden sollen. In der "Brücke über die Drina" liest sich das so: Zitator "In einigem Abstand von den letzten Pferden gingen in dieser ungewöhnlichen Karawane, zerstreut und atemlos keuchend, viele Eltern oder Anverwandte dieser Jungen, die man für immer fortführte, damit sie in einer fremden Welt beschnitten, (und) zu Türken gemacht würden (...). Besonders hartnäckig und nicht aufzuhalten waren die Mütter. Sie hasteten, ohne darauf zu achten, wohin sie traten oder wo sie standen, mit entblößten Brüsten, zerzaust, alles um sich vergessend, und weinten und klagten wie um einen Toten, andere schrien und jammerten, als zerschnitten Geburtswehen ihren Schoß, und, blind vor Tränen, liefen sie geradewegs in die Peitschen der Reiter hinein und antworteten auf jeden Peitschenschlag mit der sinnlosen Frage: ,Wohin führt ihr ihn? Wohin entführt ihr ihn mir?' (...) Aber der Weg ist lang, die Erde hart, der Körper schwach und die Osmanen mächtig und umbarmherzig. Nach und nach blieben die Frauen zurück (...)." (Ivo Andric: Die Brücke über die Drina, aus dem Serbokroatischen von Ernst E. Jonas, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2003) O-Ton Dzevad Karahasan Selbstverständlich, ich habe auch selber einiges recherchiert, um meine eigenen Verirrungen, Zweifel usw. irgendwie zu klären. Sprecherin Autorentext ... der Schriftsteller und Literaturwissenschaftler Dzevad Karahasan... O-Ton Dzevad Karahasan Jetzt rede ich von den Knaben, die nach Istanbul verschleppt werden, um eine Militärkarriere zu machen. Selbstverständlich war sie nicht mit dem Zwang oder wenn mit einem Zwang, so mit einem ökonomischen Zwang verbunden. So wie die Knaben von Sizilien zur Polizei in Italien gehen. Verstehen wir uns? Selbstverständlich hat Andric die historische Wahrheit einem ideologischen Konzept angepasst. Aber das kann man sowohl ideologisch als auch literartechnisch deuten. Denn selbstverständlich funktioniert es rein literarisch viel besser, wenn der Junge, der heute Großwesir ist, verschleppt wurde. Das funktioniert literarisch viel besser, als wenn er freiwillig oder nach dem Wunsch seiner Eltern nach Istanbul ging. O-Ton Esad Durakovic, 1. Sprecher Overvoice Meiner tiefen Überzeugung nach schildert Andric in seinem Werk die gesamte orientalisch-islamische bzw. bosniakisch-muslimische Welt sehr negativ - eine ganze Kultur. Sprecherin Autorentext Esad Durakovic ist wie Karahasan Bosniake - so lautet die Nationsbezeichnung für die bosnischen Muslime seit 1990 offiziell. Beide sind an der Philosophischen Fakultät der Universität von Sarajevo tätig. Doch anders als Karahasan glaubt Durakovic nicht, dass es Andric um literarische Effekte ging. O-Ton Esad Durakovic, 1. Sprecher Overvoice Das Problem liegt in der Verallgemeinerung. Es handelt sich nicht um eine oder zwei Figuren, sondern um die negative Darstellung einer ganzen Kultur. Diese Kultur betrachtet er als das Andere, als etwas, was gegensätzlich ist, im Grunde also feindlich. Zitator "Radisaw senkte den Kopf noch tiefer, während die Zigeuner an ihn herantraten und sich anschickten, ihm Joppe und Hemd abzustreifen. Auf der Brust zeigten sich, gerötet und voller Blasen, die Brandwunden der glühenden Ketten." (Ivo Andric: Die Brücke über die Drina, aus dem Serbokroatischen von Ernst E. Jonas, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2003) Sprecherin Autorentext Radisaw ist ein serbischer Bauer, der beim Brückenbau an der Drina für die Osmanen Zwangsarbeit leisten muss. Er organisiert Widerstand und betreibt mit eigenen Händen Sabotage. Auf frischer Tat ertappt, erhält er eine grausame Strafe: Tod durch Pfählung. Zitator "Ohne noch ein Wort zu sprechen, legte sich der Bauer, wie ihm befohlen, nieder, das Gesicht zum Boden gekehrt. Die Zigeuner traten hinzu, banden ihm zunächst die Hände auf den Rücken und befestigten dann an jedem Fuß, am Knöchel, einen Strick. Sie zogen, jeder von einer Seite, und spreizten seine Beine weit auseinander. Inzwischen legte Merdschan den Pfahl auf zwei kurze Rundhölzer, so daß die Spitze dem Bauern zwischen die Beine zeigte. Dann zog er ein kurzes, breites Messer aus dem Gürtel, kniete vor dem ausgestreckten Verurteilten nieder und beugte sich über ihn, um ihm den Stoff der Hose zwischen den Beinen zu zerschneiden und die Öffnung zu erweitern, durch die der Pfahl in den Körper eindringen sollte." (Ivo Andric: Die Brücke über die Drina, aus dem Serbokroatischen von Ernst E. Jonas, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2003) Sprecherin Autorentext Die Pfählung des serbischen Bauern Radisaw auf Befehl der osmanischen Obrigkeit im späten 16. Jahrhundert ist eine Schlüsselszene in der "Brücke über die Drina". Die bosniakischen Kritiker sehen darin einen Beleg für die Verteufelung von Muslimen durch den Nobelpreisträger. Andric, der zu Titos Zeiten als Brückenbauer zwischen Ost und West und zwischen den jugoslawischen Völkern gefeiert wurde, habe Titos Idee von der Brüderlichkeit und Einheit der Nationen im Kern torpediert. O-Ton Esad Durakovic, 1. Sprecher Das Werk von Schriftstellern wie Ivo Andric - er steht dabei nicht allein - wirkt auf zwei Ebenen. Auf einer Ebene ruft es bei den Serben in Bosnien-Herzegowina bzw. in Jugoslawien das Gefühl der Überlegenheit hervor. Auf der anderen Seite fühlen sich die Bosniaken gesellschaftlich herabgesetzt, an den Rand gedrängt. Mir ging es auch so, und anderen, wie ich aus Gesprächen weiß, ebenfalls. Durch Andrics Werk wird den Bosniaken das Gefühl einer kollektiven historischen Schuld vermittelt. Und darin liegt das Problem. O-Ton Dzevad Karahasan Es wird behauptet, Ivo Andric hätte bosnische Muslime bzw. Muslime auf Balkan gehasst. So einen Schwachsinn kann ich nicht mehr anhören. Sprecherin Autorentext ... erregt sich Dzevad Karahasan... O-Ton Dzevad Karahasan Es gibt einen wunderbaren kurzen Text von Ivo Andric: "Der Visegrader Pfad". Da spricht er in seinem Namen nun, jedes Mal wenn er sich schlecht fühlte, wenn er an dem Sinn des Lebens zweifelte, wenn er eine Sehnsucht nach der Grabesruhe empfand, erschien der Pfad vor seinem geistigen Auge in Visegrad, den er unzählige Male gegangen hat. Und da sagt Andric: "In solchen Augenblicken nahm ich diesen Pfad vor mich, wie der Betende oder der Gläubige seinen Gebetsteppich vor sich nimmt." Verstehen wir uns: Er nimmt ein Bild aus dem muslimischen kulturellen Kontext. So spricht man nicht von den Kulturen, die man hasst. Sprecherin Autorentext Den besten Beweis für die Islamfeindschaft von Ivo Andric finden die Kritiker nicht in seinem literarischen Werk, sondern in seiner Doktorarbeit. Unter dem Titel "Die Entwicklung des geistigen Lebens in Bosnien unter der Einwirkung der türkischen Herrschaft" verteidigte er sie 1924 an der Universität Graz. Zitator "Von entscheidender Bedeutung ist die Tatsache, dass Bosnien im kritischesten Momente seiner geistigen Entwicklung, zur Zeit als die Gärung der geistigen Kräfte ihren Höhepunkt erreichte, durch ein asiatisches Kriegervolk erobert wurde, dessen soziale Einrichtungen und Sitten die Negation jedweder christlichen Kultur bedeuten und dessen Religion (...) das geistige Leben des Landes unterbunden, entstellt und zu einer Ausnahmeerscheinung gestaltet hat." (Ivo Andric: Die geistige Entwicklung in Bosnien unter der Einwirkung der türkischen Herrschaft, in: Branko Tosovic: Der Nobelpreisträger Ivo Andric in Graz, Institut für Slawistik der Karl-Franzens- Universität, Graz 2008) O-Ton Miranda Jakisa Ivo Andric war zum Zeitpunkt des Erscheinens der Dissertation Anfang der zwanziger Jahre bereits längere Zeit im diplomatischen Dienst. Er hat vorab in der Vorkriegszeit an verschiedenen habsburgischen Universitäten studiert und konnte aufgrund des Krieges sein Studium nicht abschließen. Sprecherin Autorentext Miranda Jakisa lehrt Slawistik an der Humboldt-Universität zu Berlin und ist Expertin für bosnische Literatur. O-Ton Miranda Jakisa Jetzt geschieht etwas, was in dieser Diskussion wenig beachtet wird, nämlich: Es gibt eine Änderung im diplomatischen Dienst des damaligen Staates Jugoslawien. Es wird nämlich notwendig, über einen Hochschulabschluss als Diplomat zu verfügen, was Ivo Andric nicht tut. Die einfachste Lösung für dieses Problem stellt es dar, eine Dissertation - in dem Fall an der Universität Graz - einzureichen, und zwar innerhalb von kürzester Zeit. Ivo Andric - wir wissen ja gerade heute in Deutschland, wie schön, wichtig es sein kann, in der Politik eine Dissertation aufweisen zu können - wollte da etwas abhaken. O-Ton Dzevad Karahasan Ich bitte Sie, Ivo Andric hat seine Dissertation unter Zwang geschrieben. Sprecherin Autorentext ... gibt auch Dzevad Karahasan zu bedenken... O-Ton Dzevad Karahasan So hat er in aller Eile ein Machwerk verfasst - voller Improvisationen, Fälschungen, herzlich bemüht, allen Vorurteilen seiner Kommission, seiner Jury Recht zu geben, nur damit er endlich das verdammte Papier bekommt. Und dessen war er sich auch bewusst, denn zu seiner Lebenszeit durfte diese Dissertation nicht veröffentlicht werden. Sprecherin Autorentext Von 1919 bis 1941 arbeitete Ivo Andric als Diplomat des Königreichs Jugoslawien. Bereits als Gymnasiast in Sarajevo hatte er sich für die jugoslawische Idee, also für die Vereinigung aller Südslawen in einem gemeinsamen Staat, stark gemacht. Andric stand auf vertrautem Fuß mit Gavrilo Princip, der 1914 das Attentat auf den österreichischen Thronfolger verübte und so den Anlass für die Entfesselung des Ersten Weltkriegs lieferte. Im Krieg kam Andric als Student wegen seiner politischen Gesinnung in österreichische Haft. Die Gründung des Königreichs der Serben, Kroaten und Slowenen, wie das erste Jugoslawien zunächst hieß, nahm er mit Begeisterung auf. Obwohl selbst Kroate, hatte er wenig Verständnis für kroatische Vorbehalte gegen die serbische Vormachtstellung im gemeinsamen Staat. Ganz im Sinne der damaligen Staatsdoktrin stellten für den jungen Schriftsteller Serben und Kroaten zwei Stämme eines Volkes dar. Kurz nach der Gründung des Königreichs zog Andric nach Belgrad und machte bald Karriere als Diplomat. Sie endete 1941 auf dem Posten des jugoslawischen Botschafters im nationalsozialistischen Berlin. Beim Beitritt seines Landes zum Dreimächtepakt von Deutschland, Italien und Japan war Andric noch zugegen. Das Photo, das ihn zusammen mit Joachim Ribbentrop, dem Außenminister des NS-Staats, zeigt, wird später, nach dem Zweiten Weltkrieg, auf Wunsch des Schriftstellers in Jugoslawien aus dem Verkehr gezogen. Sprecherin Autorentext Andric, der während des Zweiten Weltkriegs und der deutschen Besatzung zurückgezogen in Belgrad lebt und schreibt, findet im neuen sozialistischen Jugoslawien auf Anhieb seinen Platz. 1945 erscheinen die Romane "Die Brücke über die Drina" und "Wesire und Konsuln". 1946 avanciert er zum Präsidenten des jugoslawischen Schriftstellerverbands. Der Eintritt in die kommunistische Partei einige Jahre später ist nur mehr Formsache. Und dennoch... O-Ton Ivan Lovrenovic, 2. Sprecher Overvoice Tito mochte Andric nicht, er ertrug ihn nur. Als Andric den Nobelpreis erhielt, war Tito sehr enttäuscht, sogar sauer. Die Leute vom staatlichen Protokoll hatten große Schwierigkeiten, Tito zu überreden, dass er Andric überhaupt gratulierte. Zufällig bin ich im Besitz einer unveröffentlichten Aufzeichnung dieses Gesprächs - unglaublich langweilig, unglaublich trivial. "Welche Zigaretten rauchen Sie, Genosse Andric?" "Ach, ich rauche gar nicht richtig, ich zünde mir nur manchmal eine an." Man spürt, dass beide, der eine wie der andere, es kaum erwarten können, sich zu verabschieden. Sprecherin Autorentext Ivan Lovrenovic, Publizist, Kulturhistoriker und Herausgeber von Andrics Werken. Er deutet das Verhältnis der beiden großen Jugoslawen so: O-Ton Ivan Lovrenovic, 2. Sprecher Overvoice Ideologisch verkörpern sie vollkommen unterschiedliche Welten. Andric war ein hoher Beamter des königlichen Regimes, des Regimes, das Tito als Rebell stürzen wollte. Aber es gibt etwas, was Andric außerordentlich kompatibel machte mit dem neuen Tito-Regime. Das war die Frage Jugoslawiens. Ihn interessierte der Fortbestand Jugoslawiens. Das war dieses sehr starke Verbindungselement. Und Titos Leute haben sofort begriffen, dass Andric als großer Schriftsteller in dieser Hinsicht für sie sehr wichtig war. Sprecherin Autorentext Belgrad, Oktober 2011. In einer Seitengasse des Stadtzentrums residiert die Ivo- Andric-Stiftung. Sie wurde auf Wunsch des Autors nach seinem Tod ins Leben gerufen. O-Ton Dragan Dragojlovic, 1. Sprecher Overvoice Andric schrieb die Wahrheit, er schrieb über Tatsachen. Nicht er ist das Problem, sondern seine Interpreten. Sprecherin Autorentext Dragan Dragojlovic, ein serbischer Dichter und ehemaliger Diplomat, leitet die Ivo- Andric-Stiftung. O-Ton Dragan Dragojlovic, 1. Sprecher Overvoice Als er in der "Brücke über die Drina" die Szene mit der Pfählung des serbischen Bauern schrieb, hatte er keine Rache an den Muslimen im Sinn. Die Serben wissen, dass sie 400 Jahre lang gepfählt wurden. Dürfen wir das denn nicht sagen? Andric hat über diese Dinge nicht geschrieben, damit sie sich wiederholen, sondern er sagt uns: "Meine Herren, Brüder, Genossen, damit müssen wir Schluss machen." So sehe ich Andric. Sprecherin Autorentext Die Ivo-Andric-Stiftung besitzt alle Rechte am Werk des Nobelpreisträgers - und macht sie ohne zu zögern geltend. Das hat im Jubliläumsjahr in Serbien, Bosnien und Kroatien für Schlagzeilen gesorgt. Die Stiftung hat die "Matica hrvatska" in Sarajevo, eine Kultureinrichtung der bosnischen Kroaten, verklagt, weil die "Matica hrvatska" in Sarajevo Texte von Ivo Andric ohne Genehmigung der Belgrader Stiftung publiziert hat - und zwar in einer Reihe namens "Kroatische Literatur Bosnien-Herzegowinas in 100 Bänden". Andric, sagt die Stiftung, darf natürlich überall gedruckt werden, selbstverständlich auch in Sarajevo, aber auf keinen Fall mit dem Hinweis, er gehöre zur kroatischen Literatur. Denn Andric sei kein kroatischer, sondern ein serbischer Schriftsteller, so der Standpunkt der Stiftung. Dragan Dragojlovic fasst zusammen: O-Ton Dragan Dragojlovic, 1. Sprecher Overvoice Niemand hier bestreitet, dass Ivo Andric in einer katholischen, kroatischen Familie zur Welt kam. Aber für die Zugehörigkeit zu einer Nationalliteratur ist es unerheblich, in was für einer Familie man geboren wurde. Ivo Andric ist ja nicht der einzige, der in einer ethnisch-religiösen Umgebung aufwuchs, um sich dann später für etwas anderes zu entscheiden. Nehmen sie nur Joseph Conrad, den großen britischen Schriftsteller, der seiner Geburt nach Pole ist. Sprecherin Autorentext Für das Serbentum von Ivo Andric nennt Stiftungsleiter Dragojlovic zwei Argumente. Das erste: Bereits in den 1920er Jahren wechselte der Autor von der in Bosnien und Kroatien üblichen "ijekavischen", also der - vereinfacht gesprochen - westlichen Variante auf die in Serbien gebräuchliche "ekavische", mithin östliche Variante des Serbokroatischen. Was früher nur Varianten einer gemeinsamen serbokroatischen Sprache waren, betrachtet man heute allgemein als eigenständige Standardsprachen - Kroatisch, Serbisch oder Bosnisch, auch wenn die Sprecher dieser neuen verschiedenen Sprachen untereinander keine Verständigungsprobleme haben. Zweites Argument: die persönlichen Dokumente des Schriftstellers. Dragan Dragojlovic beugt sich in seinem Sessel vor und holt ein Papier nach dem anderen aus der Klarsichthülle. O-Ton Dragan Dragojlovic, 1. Sprecher Overvoice Das hier ist sein Personalausweis: "Nationalität: serbisch". Hier, 1955, als er in den Bund der Kommunisten aufgenommen wurde - das ist das Aufnahmeblatt, das jeder Kandidat ausfüllen musste: "Nationalität: serbisch". Das hat er eigenhändig in kyrillischer Schrift ausgefüllt und unterschrieben, hier sehen Sie: Ivo Andric. Wir sollten hier weder etwas unterschlagen noch hinzufügen. Der Mann hat seine Entscheidung getroffen. Wenn ich Kroate wäre, würde ich es vielleicht auch bedauern, dass er sich dafür entschieden hat, serbischer Schriftsteller zu sein. Aber was soll man da machen? O-Ton Ivan Lovrenovic, 2. Sprecher Overvoice Die Ivo-Andric-Stiftung wurde damals als jugoslawische Institution gegründet. Ihr Sitz war zwar in Belgrad, doch sie hatte jugoslawischen Charakter. Durch den Zerfall Jugoslawiens wurde sie serbisch und begann sich als serbischer Sachwalter von Ivo Andric aufzuführen. Sprecherin Autorentext Im Konflikt um die Rechte am Werk von Ivo Andric ist Ivan Lovrenovic aus Sarajevo der Gegner von Dragojlovic. Er hat die Andric-Texte in der Reihe "Kroatische Literatur Bosniens-Herzegowinas in 100 Bänden" für den Druck vorbereitet. O-Ton Ivan Lovrenovic, 2. Sprecher Overvoice Noch zu seinen Lebzeiten wurde die Vorstellung von Andric als serbischer Schriftsteller geschaffen. Wenn Sie aber sorgfältig all das analysieren, was er selbst dazu sagte, werden Sie von dieser Vorstellung nichts finden, und Sie können nichts finden. Denn Ivo Andric steht über den Ethnien. Er kann aus dem Wesen seiner Literatur heraus und aufgrund seiner Einstellung zu Jugoslawien niemandem allein gehören. Aber die Vorstellung wurde nun mal geschaffen: Er lebte in Belgrad, er schrieb in der ekavischen Variante. Die serbische Kultur hat ihn sehr gut integriert. Dort veröffentlichte er, war Mitglied der Serbischen Akademie der Wissenschaften und Künste. Es gibt also tausend Aspekte, die literarisch alles andere als bedeutend sind. Aber bürgerlich, privat sind sie von Bedeutung. O-Ton Dzevad Karahasan Selbstverständlich war Andric als Mensch Karrierist, hat sehr viele Kompromisse mit dem moralischen Gefühl gemacht. Sprecherin Autorentext ...räumt Dzevad Karahasan ein... O-Ton Dzevad Karahasan Aber: Ivo Andric als Mensch interessiert mich nicht im Geringsten. Ich bin glücklich verheiratet und möchte mich mit dem Menschen Ivo Andric nur insoweit befassen, dass ich ihn als Menschen einigermaßen verstehe. Mich interessiert ausschließlich sein Werk. Diesem Werk kann man nicht ein einseitiges ideologisches Bild aufdrängen. Nur das behaupte ich. Zitator "Bis zu dem Augenblick, da der Reiterzug in die Hauptstraße einbog, ging alles gut, und der Konsul durfte zufrieden sein. Kaum hatten sie jedoch die ersten Türkenhäuser erreicht, ließen ihn verdächtige Zurufe aufhorchen; Hoftüren und Fensterläden krachten laut auf und zu. Schon beim ersten Haustor öffnete ein kleines Mädchen einen Spalt breit den Türflügel, murmelte unverständliche Worte und spuckte abergläubisch vor sich auf den Boden, als spreche es einen Fluch aus. So ging es nun der Reihe nach: Türen flogen auf, hölzerne Fensterläden wurden hochgezogen, und für eine Sekunde tauchten Gesichter auf, haßverzerrt, glühend vor Fanatismus. Vermummte Weiber spien aus, zischten Verwünschungen, Kinder riefen Schimpfworte, unterstrichen von drastischen Gesten und unzweideutigen Drohungen, sie klatschten sich auf den Hintern oder fuhren mit der Hand an die Gurgel, zum Zeichen des Halsabschneidens." (Ivo Andric: Wesire und Konsuln, aus dem Serbokroatischen von Hans Thurn, Carl Hanser Verlag, München 1961) Sprecherin Autorentext Im Roman "Wesire und Konsuln" erzählt Ivo Andric ein Kapitel aus der Geschichte der bosnischen Stadt Travnik in den Jahren von 1807 bis 1815. Dort, wo der Wesir als bosnischer Statthalter des türkischen Sultans residiert, eröffnen zur Zeit Napoleons die Franzosen ein Konsulat - und kurz darauf die Österreicher. Zitator "Gleich zu Beginn verlangsamte der Konsul, aus der Fassung gebracht, den Trab seines Pferdes, aber (sein Dolmetscher) d`Avenat näherte sich ihm sofort und beschwor ihn, aufgeregt, doch still auf ihn einredend und darauf bedacht, jede Bewegung zu vermeiden und keine Miene zu verziehen: ,Ich bitte Eure Exzellenz, ruhig weiterzureiten und die Vorgänge nicht zu beachten. Das Volk ist wild, es ist ein niedriges Gesindel, haßt alles, was ihm fremd ist, und begrüßt jeden Fremden auf diese Weise. Am gescheitesten ist es, Sie kümmern sich nicht darum. Auch der Wesir übersieht solche Straßenszenen. Das ist nun mal ihre wilde Art. Ich bitte Eure Exzellenz, den Weg gelassen fortzusetzen.' Der Konsul ritt weiter, verlegen und verstimmt, wenn auch bemüht, seine Fassungslosigkeit zu verbergen, nachdem er sich davon überzeugt hatte, wie in der Tat die Männer des Wesirs all dem keine Aufmerksamkeit zollten. Dennoch spürte er, wie ihm das Blut zu Kopfe stieg. (...) Seine erste Überlegung war: Durfte er, der Vertreter des großen Napoleon, das einfach dulden, oder sollte er sofort kehrtmachen und einen Skandal heraufbeschwören?" (Ivo Andric: Wesire und Konsuln, aus dem Serbokroatischen von Hans Thurn, Carl Hanser Verlag, München 1961) Sprecherin Autorentext In seinem Travnik-Roman stellt Ivo Andric Bosnien vor allem aus der Sicht der Fremden vor, die nur eine Zeitlang in der Stadt leben. Es dominiert eine westliche Perspektive. O-Ton Salmir Kaplan, 1. Sprecher Overvoice Mich stört die Beschreibung der Bevölkerung von Bosnien-Herzegowina in seinem Roman "Wesire und Konsuln", wenn der französische Konsul ins Land kommt und erzählt, was er da antrifft. Auf zahllosen Seiten werden die Bosnier - grob gesprochen - als Barbaren geschildert. Damit wir uns verstehen, ich erwarte nicht, dass ein Konsul Frankreichs, der nach Bosnien kommt, begeistert ist. Und es geht hier um Literatur, natürlich muss man das alles nicht so tragisch nehmen. Aber ich glaube, dass diese Schilderung der bosnischen Bewohner zu den Teilen von Andrics Werk gehört, in denen die Ideologie im Vordergrund steht. Sprecherin Autorentext ... wägt Kulturminister Salmir Kaplan ab. Der Literaturwissenschaftler Esad Durakovic formuliert die Kritik schärfer: O-Ton Esad Durakovic, 1. Sprecher Overvoice Das Problem von Andrics Werk besteht eben darin, dass der Autor der kulturellen Vielfalt Bosniens nicht positiv gegenübersteht, sondern vielmehr von einer hoffnungslosen Unversöhnlichkeit zwischen zwei zivilisatorischen Kreisen ausgeht, dem jüdisch-christlichen auf der einen sowie dem orientalisch-islamischen auf der anderen Seite. Die Lektüre von Andrics Oeuvre vom Standpunkt der postkolonialen Kritik ist heute besonders aktuell, in einer Zeit, wo in den europäischen Ländern die Islamfeindschaft zunimmt und auf der anderen Seite die Taliban und al-Qaida-Leute stehen. Andrics Werk muss man auch in diesem Kontext lesen. O-Ton Miranda Jakisa Zweifelsohne ist Ivo Andric jemand, der in seinen Texten eine Zwei-Welten-Theorie vertritt. Sprecherin Autorentext Darin stimmt Miranda Jakisa mit dem Literaturforscher aus Sarajevo überein. Dennoch deutet die Berliner Slawistin Andrics Werk ganz anders: O-Ton Miranda Jakisa Also ich würde das Zweigerichtetheit der Kultur nennen. Insofern ist er ein Vertreter einer Zwei-Welten-Theorie, aber die ist inhaltlich - würde ich sagen - niemals als etwas konzipiert, was die Zwei-Welten-Theorie vielleicht heute wäre: Samuel Huntington, "The Clash of Civilisations". Es geht also nicht um die Vorstellung von Kulturen im Kampf miteinander, sondern es geht ihm um die Ausrichtung Bosniens, eine gewisse Gespaltenheit, die historisch unterschiedlich variiert in zwei große Richtungen, wenn man so möchte. Wenn man sich die literarischen Texte Ivo Andrics genauer ansieht, dann sind die Differenzen, die es gibt, die Schwierigkeiten zwischen Religionen oder den Weltausrichtungen auf Orient und Okzident eigentlich für die Rede von Fremden in Bosnien vorbehalten. Wenn die Bosnier, also diese vielfältig religiös unterschiedenen Bosnier bei Ivo Andric vorkommen, dann sind vielmehr Diskussionen ausfindig zu machen, in denen die Unterschiede benannt, aber letztlich auf einer gemeinsamen Ebene diskutiert werden. Es sind die diplomatischen Vertreter, es sind Konsuln, Botschafter in Bosnien, es sind auch die Wesire, die osmanischen, die solche Unterschiede religiöser Art aufmachen. Zitator "Das Gespräch schwenkte (...) sehr schnell auf Bosnien über und auf die Verhältnisse, unter denen der Wesir und der Konsul in dem Lande leben mußten. Ibrahim-Paschas Vorrat an geißelnden Worten und düsteren Bildern reichte nicht aus, wenn er auf Bosnien und die Bosniaken zu sprechen kam (...). (...) ,Sie sehen es ja mit eigenen Augen, edler Freund, wo wir leben und mit wem ich hier kämpfen und mich herumschlagen muß. Eine Herde wilder Büffel ist leichter zu regieren als diese bosnischen Begs und Ajanen (anderen Honoratioren). Sie sind wild, jawohl, wild, und haben keine Einsicht, sie sind derb und primitiv, aber überempfindlich und aufgeblasen. Sie handeln nach ihrem eigenen Kopf, der aber hohl und leer ist. (...) Sie streiten sich und hintergehen einander um die Wette, das ist das einzige, was sie können und verstehen. Und mit so einem Volk soll ich jetzt den Aufstand in Serbien niederschlagen?'" (Ivo Andric: Wesire und Konsuln, aus dem Serbokroatischen von Hans Thurn, Carl Hanser Verlag, München 1961) O-Ton Enes Skrgo, 2. Sprecher Overvoice Nach dem Bosnien-Krieg habe ich oft gesagt: Wenn man nur die Namen der Protagonisten aus "Wesire und Konsuln" durch die Namen einiger zeitgenössischer Vertreter der Diplomatie, der Internationalen Gemeinschaft ersetzen würde, von Politikern und lokalen Machthabern, dann würde man erkennen, dass es eigentlich keine Unterschiede gibt zwischen der Zeit vor zweihundert Jahren, von der Andric erzählt, und dem heutigen Bosnien der Post-Dayton-Ära. Sprecherin Autorentext Travnik, Oktober 2011. Enes Skrgo, ein muslimischer Bosnier, verehrt Ivo Andric und arbeitet im Ivo-Andric-Gedenkhaus von Travnik. Hier kam der Schriftsteller 1892 zur Welt - eher zufällig, während eines Verwandtenbesuchs seiner Mutter aus Sarajevo. O-Ton Enes Skrgo, 2. Sprecher Overvoice Ich kenne Menschen hier, die Andrics Werke - besonders "Wesire und Konsuln" - zehn, fünfzehn Mal gelesen haben. Ein Freund von mir hält diesen Roman für so etwas wie die Verfassung von Travnik. Das ist doch wirklich bezeichnend für das Verhältnis unserer Bürger zu diesem Schriftsteller, der hier geboren wurde. Wenn Sie andererseits in Travnik Passanten aufs Gratewohl befragten, würden Sie wahrscheinlich auch auf Menschen treffen, die sagen: "Der hat doch schlecht über Travnik und die Travniker geschrieben. Den brauchen wir nicht. Wir haben hier keine Straße, die nach ihm heißt. Und so soll es auch bleiben." Sprecherin Autorentext Nicht einmal 20.000 Menschen wohnen heute in Travnik, einer für Bosnien mittelgroßen Stadt. Seit dem Dayton-Vertrag von 1995, durch den das Land de facto zweigeteilt wurde, gehört die Stadt im engen Lasva-Tal wie Sarajevo zur Föderation, der bosniakisch-kroatischen Hälfte. Im politischen Leben der Stadt dominieren die Andric-Skeptiker. Das Sagen hat die muslimische Nationalpartei SDA. Nicht- Regierungs-Organisationen forderten in den vergangenen Jahren mehrfach, eine Straße oder Institution nach Ivo Andric zu benennen. Die Stadtoberen ignorierten die Forderungen - ein Ärgernis für Enes Skrgo. O-Ton Enes Skrgo, 2. Sprecher Overvoice Es stimmt mich traurig, dass Travnik sein symbolisches Kapital immer noch nicht erkannt hat. Diese Stadt könnte von Ivo Andric, seinem Werk und seiner Bekanntheit wirklich leben. Sprecherin Autorentext Eine ganz andere Rolle spielt der Literaturnobelpreisträger in der Serbischen Republik. Das Kulturministerium dieses zweiten bosnischen Teilstaats hat angekündigt, jedem Bürger, der "Die Brücke über die Drina" nicht gelesen hat, ein Exemplar zu schenken. Und: In Visegrad an der Drina wird gerade ein Mammutprojekt aus der Taufe gehoben, die Andric-Stadt. Als Initiator und Bauherr fungiert der Filmemacher Emir Kusturica. Kusturica ist in seiner Heimatstadt Sarajevo Persona non grata, in der Serbischen Republik hingegen ein überaus gern gesehener Gast. Er sympathisierte mit der großserbischen Politik von Radovan Karadzic und konvertierte unlängst vom Islam zur serbischen Orthodoxie. Nicht nur als Kulisse für eine bevorstehende Verfilmung der "Brücke über die Drina", sondern als Stadtteil für die weitere Zukunft entstehen auf zweieinhalb Hektar Grund rund 50 Häuser aus Stein, darunter eine Universität der Künste, ein Kino, ein Theater, natürlich ein Ivo-Andric-Haus, eine orthodoxe Kirche und ein orthodoxes Kloster. Eine Moschee ist nicht geplant, erklärt auf Nachfrage Radomir Stojic, der Bauleiter: O-Ton Radomir Stojic, 1. Sprecher Overvoice Den Hauptplatz wird nach der Idee von Professor Emir Kusturica eine Statue von Ivo Andric beherrschen - wie er über die Drina läuft. Da hinten wird es einen Jachthafen geben und einen Hubschrauberlandeplatz. Gestern ist Professor Emir Kusturica dort mit dem Hubschrauber gelandet... Alle hier sind von den Bauarbeiten begeistert. Man kann nicht glauben, dass wir so gut organisiert sind, als wären wir fast schon Europa. O-Ton Dzevad Karahasan Das hat mit Ivo Andric absolut nichts zu tun. Dieses Projekt ist nur ein Versuch, oberflächliche Eindrücke von einer Kultur an die Fremden zu verkaufen. Sprecherin Autorentext ... empört sich Dzevad Karahasan. Auch der Journalist Boro Kontic, der über die Bedeutung von Ivo Andric für Bosnien gerade einen Film gedreht hat, lässt kein gutes Haar am Kusturica-Projekt: O-Ton Boro Kontic, 2. Sprecher Overvoice Was mich am meisten aufgeregt hat: Es kann nirgendwo einen Ivo Andric geben, weder als Schriftsteller noch als Mensch, wenn es da nicht sowohl eine Moschee als auch katholische Franziskaner und sephardische Juden als auch eine orthodoxe Kirche gibt. Ohne dies gibt es keinen Andric, denn Andric ist ein Schriftsteller des ganzen Bosnien. Ich fürchte, dass diese Andric-Stadt nur eine Kirche haben wird, und zwar eine orthodoxe. Dann aber ist es keine Stadt, sondern eine Manipulation. Sprecherin Autorentext Von den Einen wird Ivo Andric verdrängt, von den Anderen verfälscht. Kaum ein Schriftsteller spaltet die Gemüter in Bosnien mehr als der einzige Literaturnobelpreisträger des Landes, ein Schriftsteller, der sich so eingehend wie kein anderer mit diesem Land auseinandergesetzt hat, mit allen Glaubensgemeinschaften, mit allen sozialen Schichten, mit allen Facetten des Alltags. O-Ton Ivan Lovrenovic, 2. Sprecher Overvoice Andric interessierte alles auf gleiche Weise. Er bewegte sich durch Bosnien wie ein Wissenschaftler, wie ein Anthropologe. Und gleichgültig, ob es sich um Muslime, Katholiken, Orthodoxe oder Juden handelt, er hat niemanden bevorzugt oder vernachlässigt oder noch etwas Schlimmeres... Sprecherin Autorentext Das Werk von Ivo Andric sei heute der einzige Ort, an dem die vielschichtige Identität Bosnien-Herzegowinas aufgehoben werde, sagt der Publizist Ivan Lovrenovic. Diese Vielschichtigkeit ist allerdings gerade nicht erwünscht - in einer Zeit, in der die ethnischen Grenzen im Land zementiert sind. Lovrenovic nennt einen weiteren Grund für den Streit: O-Ton Ivan Lovrenovic, 2. Sprecher Overvoice Andrics Verhältnis zu Bosnien war in jeder Hinsicht ambivalent. Es war ein Verhältnis mit einer Amplitude von der Liebe bis zum Hass und zurück. Doch nur so konnte diese großartige Literatur überhaupt entstehen, sonst wäre es politische Propaganda. Andric hat das ganze historische Unglück Bosniens erkannt und ist als Schriftsteller nicht vor ihm zurückgeschreckt. Im Gegenteil: Er ist dort am stärksten, wo er diesem Unglück ins Gesicht sieht, wo er es beschreibt. Daraus ergeben sich vielleicht all die Missverständnisse. Sprecherin Autorentext Trotz alledem: Eine Ivo-Andric-Renaissance in Bosnien wird kommen. Davon sind viele Bosnier überzeugt. Vorher müssten sich jedoch die politischen Machtverhältnisse wandeln. Der Schriftsteller, Literaturwissenschaftler und Andric- Fan Dzevad Karahasan bilanziert: O-Ton Dzevad Karahasan Die Mafiabosse, die Balkan heute kontrollieren und sich für Nationalisten ausgeben, müssen alles Bindende zerstören. Denn sie profitieren von Streitereien, Kriegen. Und Andric ist nun mal eine von den bindenden Tatsachen auf Balkan. Ivo Andric ist ein Kroate, ein Katholik aus Bosnien, ein Bosnier zu hundert Prozent, der in Serbien einen Großteil seines Lebens verbracht hat. Hat sich immer als Jugoslawe gefühlt und als Jugoslawe gehandelt. Das ist eben eine Tatsache. Ivo Andric muss man eben irgendwie serbisieren oder kroatisieren oder bosnisieren. Und der Mann lässt sich nicht -isieren. Im Geiste kann man klare Grenzen nicht ziehen. Ein Schriftsteller gehört nun mal zu denjenigen, die ihn lesen - ich schwöre, er gehört mir. * * * 1