KULTUR UND GESELLSCHAFT Organisationseinheit : 46 Reihe : Literatur Ko Kostenträger : P 62 110 T Titel der Sendung : "Was vom Dichter bleibt" Literarische Vor- und Nachlässe - und der Nachruhm der Autoren Üb Autor/in : Ulrich Rüdenauer Redakteurin : Dorothea Westphal Sendetermin : 21.11.2014 Besetzung : Sprecher (Kommentar), 3 Zitate (W. Genazino u. S. Kirsch) bitte vorab aufnehmen Regie : Beatrix Ackers Produktion : O-Töne, Musik Urheberrechtlicher Hinweis: Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Jede Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in den §§ 45 bis 63 Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig (c) Deutschlandradio Deutschlandradio Kultur Funkhaus Berlin Literarische Nachlässe Feature von Ulrich Rüdenauer DRadio Kultur Redaktion: Dorothea Westphal Zitat 1 Genazino (aus: Tarzan am Main) "Gegen Mittag erscheinen zwei Herren. Ich weiß, was sie sich anschauen wollen, ihrem Besuch ging ein Briefwechsel voraus. Ich führe die beiden in der Wohnung umher und zeige ihnen das Material. Ich habe es in Kisten und Kartons vorsortiert, ich gebe kurze erläuternde Kommentare. Die zwei Herren kommen vom Deutschen Literaturarchiv in Marbach, und sie sind hier, weil sie für ihr Archiv meinen ‚Vorlass' kaufen wollen. Leider bin ich ein wenig aufgeregt." Sprecher Es ist eine seltsame Situation, die Wilhelm Genazino da in einer kleinen Skizze in seinem Buch "Tarzan am Main" beschreibt: Manuskripte, Briefe, Notizen werden von zwei fachkundigen Archivaren durchforstet und begutachtet. Als wäre der Autor posthum bei der Entrümpelung und Sicherstellung seines eigenen Erbes dabei. Ganz ungewöhnlich ist das aber nicht: Immer häufiger bemüht sich die Forschung schon zu Lebzeiten eines Autors um dessen Arbeitsarchiv - um den sogenannten Vorlass. O-Ton 1 Genazino Die haben, zu meinem eigenen Erstaunen, weil ich damit auch nie gerechnet hatte, irgendwann angerufen und zeigten sich interessiert. Und dann war ich erst gerührt, dann auch angetan, weil, das ist ja sozusagen für den Nachlass die beste Adresse. Ich habe eine erwachsene Tochter, die, glaube ich, mit meinem Nachlass überfordert gewesen wäre. Die ist nicht so furchtbar interessiert in literarischen Dingen. Sprecher Bei jedem Autor dürfte früher oder später ein Bewusstsein dafür entstehen, dass für die Germanistik oder für Sammler nicht nur die veröffentlichten Bücher von Interesse sind - sondern auch deren Vorstufen - Handschriftliches, Unvollendetes. O-Ton 2 Genazino Ich hab's gemerkt schon in den 70er Jahren, als Privatleute oder auch Freunde von mir, die wollten das "Abschaffel"-Manuskript haben, das erste. Und ich war ahnungslos, aber auch gutmütig, dann hab ich gefragt, ja, wozu, ja, sie wollen sich das aufbewahren, und das ist doch ein Buch, das sie sehr schätzen usw. Und dann habe ich mir das überlegt und hab gedacht, nee, das behalte ich dann doch lieber selber. Sprecher Wilhelm Genazinos Frankfurter Wohnung ist geräumig: drei Zimmer mit drei verschiedenen Schreibtischen - jeder Arbeitsplatz für eine andere Tätigkeit, jeder Blick aus dem Fenster ein anderer Weltausschnitt. Es ist hier genug Platz für die Bibliothek des Autors. Aber dann auch wieder nicht genug für all das, was sich in einem Schriftstellerleben an Material ansammelt. Vieles von dem, was nun in Marbach liegt, lagerte zuvor in einem feuchten Keller. Dazu gehörte auch das Herz der Sammlung. O-Ton 3 Genazino (...) das wichtigste Stück sind 30 Ordner, von der normalen Leitz-Ordner-Stärke. Das sind meine laufenden Notizen. Die habe ich über 30 Jahre oder so angefertigt. Das ist eben meine Arbeitsmethode, das mache ich bis heute. Also, wenn ich irgendeinen Einfall habe oder eine Entdeckung mache oder eine Beobachtung, dann tippe ich die aus der Lameng heraus auf ein Blatt Papier, und die kriegen eine laufende Nummer und werden mit einer laufenden Fortsetzungsnummer eingeklemmt und aufbewahrt. (...) Und die Sachen, die ich nach Marbach gegeben habe, sind weitgehend ausgebeutet. Zitat 2 Genazino (aus: Tarzan am Main) "Nach ein paar Tagen kommt ein Lieferwagen aus Marbach und holt meinen kompletten Vorlass ab. Noch ein paar Tage später schickt mir das Archiv einen Übereignungsvertrag." Musikakzent Contriva: Never Shown Again Sprecher Deutsches Literaturarchiv Marbach am Neckar. Tief im Schwäbischen. Das Literaturarchiv residiert auf einem Hügel, der Schillerhöhe. Hier ist eine ganze Legion von Wissenschaftlern und Bibliothekaren rund um die Uhr mit der Ordnung und Aufarbeitung literarischer Bestände befasst. Neben jenem von Wilhelm Genazino lagern im Archiv rund 1400 weitere Vor- und Nachlässe. Sie sind gesammelt in 40.000 grünen Archivboxen, einsortiert in kilometerlangen Regalreihen, sicher aufbewahrt bei einer Temperatur von 18 Grad. Ulrich von Bülow leitet die Marbacher Handschriftenabteilung; mit ihm geht es hinab in die Katakomben des "schwäbischen Alexandria", wie der Literaturwissenschaftler Detlev Schöttker das Deutsche Literaturarchiv in Anspielung auf die sagenhafte antike Bibliothek einmal bezeichnete. Atmo 1 (Bülow) Schritte O-Ton 4 Bülow Ja, das ist jetzt hier der Nachlass von Martin Heidegger. Wenn man jetzt seine Papiere sich anschaut und allein die Fülle sich vor Augen führt, dann merkt man, dass er ohne Papier nicht denken konnte. (...) Es gibt ja den anderen Typus, das sind die Kopfarbeiter, die im Kopf sich alles zurechtlegen und dann nur noch niederschreiben, das ist natürlich für ein Archiv oder für die Forschung, die dann die Papiere anschaut, weniger interessant als dieser Fall, wo man sieht, dass ein Philosoph praktisch auch im permanenten Dialog mit sich selber war. Sprecher In Marbach werden schriftliche Unikate von Philosophen und Dichtern gesammelt. Der Begriff Unikat umfasst allerdings weitaus mehr als man zunächst annehmen mag: Im klassischen Fall sind das Autografen, daneben Typoskripte und selbst Dateien. Hinzu kommen zuweilen ganze Bibliotheken, denn die Autoren haben mit den von ihnen gesammelten Büchern gearbeitet, haben Anstreichungen gemacht, Texte mit Anmerkungen versehen. Fotografien, Gemälde, Zeichnungen, Totenmasken, Medaillen, Grafiken, Skulpturen, Erinnerungsstücke werden ebenfalls katalogisiert und schließlich der Forschung zugänglich gemacht, oder es werden die Ausstellungen des Literaturmuseums der Moderne damit bestückt. Doch es geht nicht nur um die Aura dieser Gegenstände, um den Reliquiencharakter eines Nachlasses - an den Hinterlassenschaften lässt sich einiges ablesen. O-Ton 5 Bülow Man kann die Entstehung eines Textes daraus erkennen, man kann die Art wie jemand schreibt, ob er mit der Hand schreibt, in welchem Duktus, wie er das Blatt füllt, daraus kann man sehr viel erkennen für die Schaffensweise, die Arbeitsweise, man kommt da zu neuen Erkenntnissen tatsächlich über die Texte, auch wenn man die schon vorher gekannt hat. Sprecher Marbach ist das Gedächtnis der deutschen Literatur. Das Archiv platzt inzwischen aus allen Nähten; die Kapazitäten - sowohl was den Raum als auch das Personal angeht - stoßen an Grenzen. Hier lagern nicht nur einzelne Dichter- oder Philosophennachlässe, sondern auch ganze Verlagsarchive. Spektakulär war der Ankauf des Suhrkamp-Archivs im Jahre 2009. Nach dem Cotta-Archiv, das ebenfalls in Marbach beheimatet ist, ist der Suhrkamp-Bestand eine Art Bernsteinzimmer der Nachkriegsliteratur: Mit ihm lässt sich die bundesrepublikanische Geistesgeschichte seit 1950 nachvollziehen. Jan Bürger ist im Deutschen Literaturarchiv mit der Erschließung dieser Schatzkammer betraut: O-Ton 6 Bürger Das ganze Archiv ist so groß, Sie müssen sich vorstellen, das ist, als hätte man hier in Marbach ungefähr ein Viertel bis ein Drittel Bestand einfach auf einen Schlag dazubekommen. Das hat eigentlich keine völlig realen Erfahrungswerte. Ich rechne mal damit, dass das eine Aufgabe für die nächsten zehn bis 15 Jahre sein wird, dass man das wirklich im Griff hat. Sprecher Öffentliche Forschungsgelder garantieren die kontinuierliche Arbeit. Sieben Bibliothekare arbeiten momentan an der Erschließung des Archivs, und die Benutzung durch Wissenschaftler nimmt stetig zu. Musikakzent Contriva: Never Shown again Sprecher In Marbach sind literarische Dokumente seit der Aufklärung beheimatet. 1750 gilt als Grenzjahr. Der Sammlungsschwerpunkt liegt im 20. Jahrhundert. Ulrich von Bülow erklärt, warum es sinnvoll ist, unterschiedlichste Nachlässe an einem zentralen Ort aufzubewahren: O-Ton 7 Bülow Literatur ist eine vernetzte Angelegenheit, das spielt sich in Konstellationen ab. Und das ist auch der Grund, warum wir es richtig finden, dass man an einem Ort sehr viele Nachlässe versammelt. Denken Sie an Paul Celan, wir haben eben nicht nur seinen Nachlass, sondern wir haben auch alle möglichen Verlagsarchive, wo man eben nachvollziehen kann, wie aus Sicht des Verlages die Publikation zustande kam. Oder auch von etlichen Korrespondenzpartnern von Celan haben wir eben die Nachlässe, und deshalb ist jemand, der über Celan forscht eben nicht darauf angewiesen, an verschiedene Orte, zu verschiedenen Archiven zu fahren, sondern findet hier doch relativ viel. Sprecher Auch im Suhrkamp-Archiv findet sich viel zu Paul Celan. Und zu den meisten anderen Granden der deutschsprachigen Literatur nach 1945. O-Ton 8 Bürger Dann gehen wir mal runter. Unten ist es kalt, aber das soll uns nicht stören, ne. (...) [Schritte] Sprecher Das Suhrkamp-Archiv, das einen riesigen unterirdischen Saal einnimmt, ist ein Eldorado für Forscher und Literaturliebhaber. Spannend ist die Vermischung von Literarischem und Ökonomischem, von Geschäftspost und Privatem. Während man in der Regel nur von verwirklichten Projekten weiß, erschließt sich hier zudem noch eine Parallelgeschichte der gescheiterten Vorhaben und damit der Diskussionen, die innerhalb des Verlags und unter den Autoren geführt wurden. Jan Bürger: O-Ton 9 Bürger Sie sehen schon hier, das sind diese großen Korrespondenzen, die meist von der Verlagsleitung geführt wurden, mit Jurek Becker oder Ingeborg Bachmann, sieht man hier, Adorno, die großen Namen halt. Es geht hier gnadenlos nach dem Alphabet. Das sind die Sachen, die zum Großteil auch schon katalogisiert sind, und Sie sehen, das ist auch schon schön sortiert. Sprecher In jedem der schweren Roll-Regale kann man auf Überraschungen stoßen. O-Ton 10 Bürger Das ist hier noch ein bisschen das Sammelsurium von Sachen, die einsortiert werden müssen....[blättern, rascheln]...ein Sammelsurium ohne Ende, aber zwischendurch immer Originale, Werbeprospekte, das ist offenbar ein Text von Unseld, Kopien, dann gibt es zwischendrin Blätter, dann findet man wieder ein paar Originale, Zeitungsausschnitte, (...) Immer wieder was zu entdecken, hat auch ein bisschen was Archäologisches manchmal [lachen] ... Wenn man eben auch ein bisschen in dieses Wirtschaftsgeschichtliche geht und auch ein bisschen so einen Verlag auch als Medium an sich ernst nimmt, dass einem plötzlich sowas wie Auflagezahlen, Produktionszahlen, Produktionsbedingungen, auch manchmal so Wirtschaftsberichte, die gewinnen auch so ein eigenes Interesse, weil man sich auch vorstellt, mein Gott, was bedeutet das denn eigentlich. Musikakzent Contriva: Never Shown Again Kurz frei stehen lassen, dann unter dem nächsten Sprechertext legen Sprecher In Marbach sind nicht nur Nachlässe, sondern auch Vorlässe gelagert. Der Begriff Vorlass wurde hier geprägt. Manchmal kommen Schriftsteller selbst auf die Institution zu - weil sie Ordnung schaffen wollen in ihrem Archiv, weil sie Platz brauchen in ihren eigenen vier Wänden, weil sie auf Nachruhm hoffen. Manchmal aber auch, weil sie ihre Papiere zu Geld machen wollen. Zuweilen versuchen die Archivare selbst, bedeutende Dichter für Marbach zu gewinnen, deren Schätze schon zu Lebzeiten zu sichten - wie im Falle des Büchnerpreisträgers Wilhelm Genazino. Musikakzent Contriva: Never Shown Again Sprecher Wer mit Autoren über deren Erbe spricht, spricht zugleich über deren Stellung in der Literaturgeschichte und über Vergänglichkeit - eine durchaus heikle Situation. Ulrich von Bülow: O-Ton 11 Bülow Es ist natürlich der eigene Tod, der irgendwie mitschwingt, und ganz unterschiedlich wird das auch von den Autoren sozusagen aufgenommen. Es gibt Autoren, die hier in die Magazine gehen und denen das vorkommt wie eine Gruft, andere Leute sagen, das ist der Himmel sozusagen, weil es eben hier auch die Vorstellung ist, dass das Werk eben weiterwirkt. Wir sind ja nicht nur die Nachwelt in dem Sinne, dass nichts kommt nach dem Tod, sondern wir sind ja gerade die Stätte, wo man sagen kann, hier geht es weiter, hier wird weiter mit den Gedanken, auch mit den unveröffentlichten Gedanken weiter gearbeitet. Das ist dann schon auch ein Trost. Sprecher Manche Schriftsteller blicken angesichts dieses riesigen Clubs der toten Dichter - viele davon fast vergessen - mit ein bisschen Skepsis auf ihr eigenes Schaffen. Oder aber es kann eine sanfte Beruhigung entstehen, weil man nun Teil dieses sehr exklusiven Clubs geworden ist. Wilhelm Genazino: O-Ton 12 Genazino (...) es geht davon eine erfreuliche Abstrahlung auf mich nieder, weil ich ja dann doch sozusagen gegenständlich erleben kann, es gibt Menschen, die das tatsächlich für wertvoll halten. Und das wiederum wirkt sich aus auf meine eigene, auf die Wertschätzung meiner Person, für meine eigenen Sachen. Und da es mit dieser eigenen Wertschätzung oft nicht sehr gut bestellt ist, dann hat man da plötzlich nichts mehr dagegen. Sprecher Nachruhm garantiert die Aufnahme in olympische Gefilde freilich nicht. O-Ton 13 Genazino Also, im Moment ist es so, dass das einer erfreulich sachlichen Einschätzung gewichen ist, denn ich weiß natürlich inzwischen auch, dass die wunderbare Marbacher Institution sozusagen kein Fahrschein in die Ewigkeit ist. Das kann auch sein, dass mein eigener Vorlass auch dort in der Bedeutungslosigkeit versinkt. Das weiß man nicht. Das ist so, nicht. Sprecher Siegfried Lenz' Stellung in der Geschichte der Nachkriegsliteratur ist unbestritten. Der Nachlass des im Oktober 2014 gestorbenen Autors liegt ebenfalls in Marbach. In einem der letzten Interviews, das Lenz wenige Monate vor seinem Tod dem Hessischen Rundfunk gab, spricht er nüchtern über die Nachwirkung seines Werks: O-Ton 14 Lenz (Archiv HR) Als Autor verliebt man sich nicht in einen Ewigkeitskomplex oder in die Hoffnung, das wird bleiben oder das wird auch morgen gelesen werden. Überhaupt nicht. Man schreibt aus Verantwortung für den jeweiligen Text, für die jeweiligen Urteile, und schreibt, weil man das verantworten möchte und verantworten muss. Musikakzent Contriva: Never Shown Again Sprecher Sarah Kirsch, die 2013 im Alter von 78 Jahren starb, hatte schon zu Lebzeiten den Großteil ihres Archivs nach Marbach gegeben. Bis auf die Tagebücher. Die erschienen in den vergangenen Jahren auszugsweise in Buchform - kleine, poetische Alltagsskizzen. Zitat 3 (Sarah Kirsch, aus: "Krähengeschwätz) "Beim Sammeln und Sortieren organisieren sich die Gebilde in bestimmte Bahnen und bringen weitere Sätze hervor." Sprecher Das Gesammelte und Sortierte wird nun in Marbach verwaltet und für die Germanistik aufbereitet. Auch die vollständige Tagebuchsammlung ist inzwischen auf der Schillerhöhe eingetroffen. O-Ton 15 Bülow Das ist hier von 1976. Das war das Jahr, in dem Biermann ausgebürgert wurde. Das war im November. Das könnte man mal schauen. "Morgens völlig heiser"... das ist Oktober noch...[blättern] ... Hier, am 16. November schreibt sie: "Lesung WB"... das hat sie sich offensichtlich vorher schon notiert, das war, meine ich, diese Veranstaltung, die im Fernsehen zu sehen war, den Auftritt von Wolf Biermann, und dann schreibt sie hier: "Nachmittags über ADN, Biermann ist ausgebürgert, völlig fertig. Mit Christoph telefoniert" ... vermutlich Christoph Meckel ..."abends Gäste. Nach Kongresshalle gewesen"... [blättern]... (...) einen Brief gemacht, zu 13 unterschrieben" ... das ist diese berühmte Unterzeichnung dieses Protestbriefes gegen die Ausbürgerung. Dann am nächsten Tag, am 18. November: "Vormittags Gäste, Kartoffeln gekocht etc. Anrufe und eine Drohung hier aus dem Haus, schon gestern Abend"... das könnte dann die Staatssicherheit gewesen sein im Haus... usw. Man kann da wirklich die Zeitgeschichte und die Geschichte des literarischen Lebens in Deutschland an diesen Tagebüchern doch ganz gut erkennen. ... Sprecher Sarah Kirsch ist im Marbacher Pantheon aufgenommen; sie hat sich frühzeitig um die Bewahrung ihres eigenen Archivs bemüht. Viele bedeutsame literarische Nachlässe aus der jüngeren Literaturgeschichte werden so nach und nach erschlossen. Natürlich gibt es in manchen Fällen Beschränkungen: Briefwechsel mit noch lebenden Zeitgenossen dürfen nur im Einverständnis mit den beteiligten Briefpartnern in den Lesesälen des Archivs eingesehen werden. Andere Sperrklauseln werden mit den Erben, Nachlassverwaltern oder Autoren selbst festgelegt. Das Ziel der Marbacher Bibliothekare aber ist langfristig immer, die Bestände in ihrer Vielfalt und ohne Einschränkung verfügbar machen zu können. Musikakzent Vorschlag: Contriva: Never Shown Again Unter dem Sprechertext weiterlaufen lassen Sprecher Nun ist es nicht so, dass sich jeder Dichter, noch im Schaffensrausch befindlich, um die Nachwelt oder die Ordnung seiner Angelegenheiten schert. Was aber tun, wenn ein Autor plötzlich stirbt? Wenn ein Erbe oder Nachlassverwalter Entscheidungen treffen muss, was mit Manuskripten, Tagebüchern, Briefen geschehen soll? Was veröffentlicht und was besser im stillen Kämmerlein bleiben sollte? Und welcher Aufbewahrungsort für die nachgelassenen Konvolute der Beste sein könnte? Musikakzent Contriva: Never Shown again Nochmal hochfahren Sprecher Peter Kurzeck starb im November 2013 siebzigjährig nach einem Schlaganfall. Wenige Jahre zuvor hatte er in dem Hörbuch "Mein wildes Herz" mit seiner genauen, noch die kleinsten Details festhaltenden Sprache von seiner Wahlheimat Uzès in Südfrankreich erzählt - und von einem leichten Schlaganfall, den er damals nur zu gerne ignoriert hätte und der nun wie ein Vorbote der Erkrankung erscheint, die ihn im letzten Jahr ereilt hat. O-Ton 16 Deuble Nein... Nein, er ist nicht davon ausgegangen, dass er stirbt. Und schon gar nicht so schnell. Sprecher Rudi Deuble, Lektor und Nachlassverwalter von Peter Kurzeck. O-Ton 17 Deuble (Fortsetzung) Er hatte schon das Gefühl, dass er noch so eine große Aufgabe vor sich hat, dass er auch noch einige Jahre lebt. Für ihn gab es keinen Tod, keinen eigenen. Wir haben manchmal Witze darüber gemacht, er hatte auch genau vier Sätze formuliert, die mal auf meinem Grabstein stehen sollen und solche Sachen. Also, wir haben da schon drüber gesprochen, aber eher in so einer distanziert-ironischen Form. Sprecher Peter Kurzeck ist vielleicht der bekannteste unter den unbekannten deutschsprachigen Autoren. Er war ein geradezu manischer Schreiber, der manchmal über der Arbeit das Essen vergaß, der an einem autobiographischen Projekt Proust'schen Ausmaßes arbeitete, das in einem einzigen Menschenleben nicht abgeschlossen werden konnte. Kurzeck wollte die Wirklichkeit nachschaffen, die "ruckende" Zeit einfrieren. O-Ton 18 Kurzeck (aus: Vorabend, Hörbuch, CD 3, Track 1) "Erst nur den einen Moment, sagte ich, damit man ihn dann für immer hat! Und dann, sagte ich und sah alles vor mir, mit nur ein paar wenigen sparsamen Sätzen die ganze Zeit von damals bis jetzt! Man müßte, sagte ich, die ganze Gegend erzählen, die Zeit!" Sprecher Für den Nachlassverwalter Rudi Deuble dürfte es eine Herkulesaufgabe sein, die Veröffentlichung weiterer Bücher vorzubereiten. Zunächst wird das Romanfragment "Bis er kommt" erscheinen. O-Ton 19 Deuble Er hatte ja auch eigene Schreibweisen bei vielen Wörtern und so, das behalten wir bei, wenn wir meinen, das ist hier eine Falschschreibung, dann wird das im Apparat eben auch kenntlich gemacht, dass wir da eingegriffen haben. Aber wir stellen nichts um, wir kürzen nichts, wir fügen schon gar nichts hinzu, also, wir nehmen das Manuskript so, wie er es geschrieben hat. Und sie sind auch so, dass man sie so veröffentlichen kann. Es ist dann wirklich auch ein Kurzeck-Text - der ist nicht von letzter Hand, aber er ist trotzdem ein ausgezeichnetes Stück Literatur, auch wenn es eben dann nur ein Fragment ist. Das machen wir auch deutlich. Sprecher Vieles findet sich in Kurzecks Nachlass, in seiner Wohnung in Südfrankreich - ein unveröffentlichter Jugendroman, Kalendereinträge, Angefangenes und Unausgegorenes ebenso wie vollendete Texte. O-Ton 20 Deuble Also, ich war schon öfter bei ihm, in den Ferien habe ich ihn auch oft besucht oder war dann auch in Uzès. Ich wusste schon, dass er sehr viele Manuskripte und Notizen da aufbewahrt. Er hatte auch so ein Schränkchen, ein Manuskriptschränkchen, hat er mir oft gezeigt, da ist das drin, da ist das drin. (...) Also, er hatte ja eine ganz kleine Wohnung da, und da war eigentlich, es war, überall, wo man was aufbewahren kann, lagen Teile seines literarischen Nachlasses. Also, Manuskripte und Notizhefte und alles Mögliche, was er gesammelt hat, neben den Büchern und CDs, die er auch hatte. Sprecher Rudi Deuble arbeitete nicht nur mit Peter Kurzeck zusammen; die beiden verband auch eine enge Freundschaft. O-Ton 21 Deuble Klar, ich hab selbst natürlich schon ein großes Interesse dran, dass wir so viel wie möglich von dem, was er vorhatte auch noch realisieren können. Klar, da fühle ich mich auch...verpflichtet, ihm gegenüber. Für mich war das ja auch vollkommen überraschend, das ging sehr schnell, ich hatte damit überhaupt nicht gerechnet, mir auch keine Vorstellung gemacht, dass er jetzt von einem Tag auf den andern einfach nicht mehr da ist. Und ich merke, dass jetzt bei der Vorbereitung dieses "Bis er kommt"-Romans - wenn man früher eine Frage hatte, hab ich angerufen und gefragt, was heißt denn das, und dann hat er gesagt, wieso kannst'n das nicht lesen oder so. Jetzt ist da eben keine Instanz mehr, die man befragen kann. Das ist schon (...) traurig eben, dass er nicht mehr da ist, ja. Sprecher Peter Kurzeck war kein Bestsellerautor; keiner, den man mit Preisen überschüttet hat. Und sein Verlag hat gewiss keine Reichtümer mit Kurzecks Büchern verdient. So stellt sich die Frage, wie ein kleines Haus wie der Stroemfeld Verlag die Herausgabe der bislang unveröffentlichten Manuskripte Kurzecks überhaupt stemmen kann: O-Ton 22 Deuble Wir stellen uns vor, entweder dass es vielleicht über ein universitäres Projekt, dass irgendwo Mittel aufgetrieben werden zur Edition dieses Nachlasses, dass da Arbeitsstellen irgendwo geschaffen werden können, mit denen man dann wirklich am Stück auch kontinuierlich und auch wirklich abgesichert die Edition vorbereiten kann. Musikakzent Vorschlag: Contriva: Never Shown Again Kurz frei stehen lassen, dann unter dem nächsten Sprechertext ausblenden Sprecher Peter Kurzeck war ein Handarbeiter. Er schrieb auf Zettel, Fahrscheine, Pappdeckel - was immer zur Hand war. Dann tippte er die Notizen ab. Wilhelm Genazino arbeitet ähnlich. In seiner Wohnung stehen vier Schreibmaschinen, die alle tadellos funktionieren - die hatte er sich einmal auf Vorrat gekauft, weil er befürchtete, der Computer würde den alten Schreibinstrumenten den Garaus machen. Ein bis zwei Seiten produziert er täglich. O-Ton 23 Genazino (...) das liegt dann neben der Schreibmaschine, ich kann's am nächsten Tag korrigieren, und ich kann sogar neue Teile einkleben, was ich oft mache. Und daran habe ich dann wieder Spaß, weil das dann plötzlich so eine Klebearbeit wird. Und es kriegt so einen pappigen Charakter, das habe ich auch gerne. Und das gefällt mir dann plötzlich wieder, dass ich denke, das ist ja ein tolles Produkt, das will ich dann eigentlich fast schon wieder behalten. So stark ist also das Moment der Selbstverliebtheit in das Selbsthervorgebrachte, dass ich dann denke, das behalte ich und das gebe ich nicht her. Sprecher Ob zukünftige Dichternachlässe noch einen solchen handwerklichen, sinnlichen Charakter haben werden, wenn bei der Arbeit am Computer die verschiedenen Produktionsstufen nicht mehr ersichtlich, sondern jeweils überschrieben sind? O-Ton 24 Genazino Ja, das unterschätzen diese Herren und Damen, die nur noch am Computer arbeiten. Das habe ich lange gar nicht bemerkt, dass das ein wichtiger Grund für mich ist, nicht am Computer zu arbeiten, sondern an einer gewöhnlichen Schreibmaschine. Das habe ich erst später gemerkt. Ich habe gar nichts gegen Computer. Das hängt mit meiner technischen Unbegabtheit zusammen. Ich müsste dauernd irgendeinen Reparateur anrufen, der das Ding wieder auf Vordermann bringt, das würde mir dermaßen auf die Nerven gehen, das könnte ich einfach nicht aushalten, auch mit diesem Risiko dauernd zu schreiben oder mich da zu verhauen, und dann stürzt mir etwas ab, das ist ja das Fürchterlichste, dass plötzlich ein langer Text, weiß der Himmel, für immer verschwunden ist. Ein Alptraum. Also, unmöglich. Sprecher Dichternachlässe des 21. Jahrhunderts werden tatsächlich anders aussehen. Aber welche Aura besitzt eine am Laptop geschriebene Seite im Vergleich zum handschriftlichen, in Quartheften angelegten Manuskript von Kafkas "Process"? Wie sammelt man eigentlich E-Mail-Wechsel, wenn es davon keine Ausdrucke gibt? Handelt es sich bei Einträgen auf Websites überhaupt noch um Unikate? Und wie geht man mit den technischen Problemen um? Bekanntlich wechseln die Speicherformate in rascher Folge. Ulrich von Bülow vom Deutschen Literaturarchiv: O-Ton 25 Bülow Das ist kein triviales Problem, weil man oft schon, wenn die Dateien vor einigen Jahren entstanden sind, womöglich sogar Jahrzehnten, dann ist es sehr schwierig oft, die nötigen Konvertierungsprogramme noch aufzutreiben. Und unsere Kollegen korrespondieren da durchaus auch mit Bundeskriminalämtern, um da noch seltene Konvertierungsprogramme zu bekommen. Und deren Arbeit ist dann im ersten Schritt getan, wenn die Daten auf unseren Server überspielt sind und im Laufe eines mehrstufigen Konvertierungsprogramms eben lesbar sind und in einem üblichen Format abgespeichert sind. Dann beginnt wieder die Arbeit unserer Erschließer in der Archivabteilung. Die beschreiben dann nämlich die Dateien genauso wie sie einen Hefter mit einem Manuskript beschreiben würden. Sprecher Die Marbacher Archivare sind den Autoren auch im Internet auf der Spur: O-Ton 26 Bülow (...) zum Beispiel die Websites von Autoren, die werden durchaus (...) gesammelt. Das macht dann unsere Bibliothek. Da gibt es Programme, welche Bibliothek in Deutschland welche Textsorten sammelt und in welcher Form. Aber natürlich auch bei den E-Mails oder SMS, denken Sie daran, oft geht da wohl auch was verloren. Und wir haben schon manchmal im Scherz gedacht, wir müssten die Autoren doch mal bitten, bedeutende Autoren, dass sie ihre E-Mails gleich cc an uns schicken, ans Literaturarchiv. Aber das ist natürlich nicht machbar. Sprecher Machbar ist es vielleicht nicht. Aber denkbar schon: Autoren, die sich ihres Rangs bewusst oder gewiss sind, schreiben - insgeheim - ohnehin cc ans Literaturarchiv. Sie bewahren ihre alten Manuskripte, Briefdurchschläge, Notizbücher, Computerausdrucke auf - durchaus in der Hoffnung, irgendwann würdig in einem großen Literaturarchiv aufgenommen zu werden. Und mehr zu sein als nur eine kleine Fußnote in der Literaturgeschichte. 1