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Atmo kurz hochziehen Sprecher: Je zu viert in einer Mannschaft sprinten oder hecheln sie auf zwei kleinen Hartplatzfeldern einem Ball hinterher. Es geht um den "Homeless Worldcup", die Fußball-Weltmeisterschaft der Obdachlosen. Seit 2003 wird sie jährlich ausgetragen. Die Idee für diesen Wettbewerb hatte der Schotte Mel Young bei einem Treffen des "International Network of Streetpapers": 1. O-Ton: Mel Young ÜBERSETZER: "Geboren wurde die Idee in einer Bar, wo wir ein paar Bier getrunken haben. Es war beim Jahrestreffen des Internationalen Netzwerks der Straßenzeitungen in Kapstadt 2001. Es war eine tolle Konferenz, mit viel Energie und guten Ideen. Ich saß also mit einem Kollegen zusammen und wir fragten uns, wie die [betroffenen] Obdachlosen an einem solchen internationalen Austausch teilhaben könnten. Wir dachten, dass es bestimmt Probleme mit Visa, nationalen Gesetzen und der Verständigung geben würde, bis wir darauf kamen, dass es eine internationale Sprache gibt: den Fußball..." Atmo: Homeless Worldcup Sprecher: Was Mel Young, Mitherausgeber der schottischen Straßenzeitung "The Big Issue", bei einem Kneipengespräch aus der Wiege gehoben hatte, ist mittlerweile ein international beachtetes Ereignis, und der jährliche "Homeless Worldcup" wird heute nicht nur von der Uefa, also dem Europäischen Fußballverband, gesponsert, sondern auch von Sportartikelherstellern. Wie viele Menschen inzwischen an den vorbereitenden Länderturnieren teilnehmen, weiß selbst Mel Young nicht genau. 2. O-Ton: Mel Young ÜBERSETZER: "Die Teilnehmer zu zählen, ist nicht ganz einfach, aber es müssten mittlerweile rund 50.000 im Jahr sein. Es ist unglaublich, wie das Ganze gewachsen ist. Ich war gerade in Mexiko, da haben etwa 990 Straßenmannschaften von Wohnungslosen am Vorbereitungsturnier für Rio teilgenommen. Atmo-2: Homeless Worldcup, Deutschland Sprecher: Männer-Teams aus über 50 Nationen sind dieses Jahr in Rio de Janeiro dabei, dazu kommen 15 Frauen-Auswahlmannschaften. Auch Deutschland tritt an. Gecoacht werden die sechs Spieler des "Teams Germany" von Stefan Huhn. Wer möchte, darf ihn auch "Nationaltrainer" nennen - aber bitte immer mit einem "Augenzwinkern", wie Huhn anmerkt. Der 48jährige weiß von den letzten Titelkämpfen, dass Deutschland nicht gerade als Favorit gilt. Trotzdem will Huhn, dass seine "Jungs" alles geben. 3. O-Ton: Stefan Huhn "Jeder, der da hinfährt und sich auf einen Fußballplatz stellt, möchte Tore schießen und möchte am Besten gewinnen. Und deswegen gehört das einfach dazu. Ich habe selber mein Leben lang Fußball gespielt und befördere das auch, und möchte, dass man sich reinhängt und versucht zu gewinnen. Aber man darf eben auch nicht an seinen eigenen Erwartungen scheitern. Es geht darum, Spaß am Fußball zu haben und eben trotzdem sein Bestes zu geben. Atmo-1b-d: Homeless Worldcup Sprecher: Im Vorfeld des "Worldcups" hatte Stefan Huhn eine knifflige Aufgabe zu meistern: Bei den Deutschen Meisterschaften der Wohnungslosen durfte er nur acht Spieler nominieren, ein größerer Kader ist bei dem Kleinfeld-Turnier in Rio nicht erlaubt. Dazu kommt eine weitere Auflage: Man darf nur einmal an einem "Homeless Worldcup" teilnehmen. Dieses Mal hat Huhn weitgehend auf Spieler jener Teams verzichtet, die bei der Deutschen Meisterschaft gut abgeschnitten haben. 4. O-Ton: Stefan Huhn "Es sind jetzt eben aus anderen Mannschaften ganz viele mitgekommen, weil es uns auch mal wichtig war, Mannschaften zu berücksichtigen, die noch keinen schicken konnten zum Homeless Worldcup, und wir uns auch sehr bemüht haben, nicht allein das sportliche Kriterium, sondern wir haben auch ein, zwei Spieler mit, wo die Betreuer gesagt haben, dass sind nicht die besten Spieler, bei uns, aber die sind so engagiert, für die hat das Fußballspielen so viel gebracht, ja die sind dann auch dabei deswegen." Sprecher: Die soziale Integration durch Sport ist wichtig, sagt auch Katrin Kretschmer. Sie organisiert seit Jahren mit einer Schar freiwilliger Helfer die Deutschen Meisterschaften im Straßenfußball und ist an der Seite Stefan Huhns als Betreuerin mit nach Rio gekommen. Für Kretschmer hat der "Homeless Worldcup" vornehmlich das Ziel, die öffentliche Wahrnehmung und das Selbstbild der Obdachlosen zu verbessern. 5. O-Ton: Katrin Kretschmer "Ich sehe die Veranstaltung[, also die Deutsche Meisterschaft so wie auch den Homeless Worldcup] einfach auch als Kommunikationsmittel, dass man auf die Wohnungslosigkeit aufmerksam macht. Und ich denke, dass die Spieler, die daran teilnehmen, das sagt auch der Mel Young vom Homeless Worldcup immer so eindrücklich, wirklich zu einer Art Botschafter werden können und einfach diese Begeisterung und Motivation in ihre Mannschaften tragen können und vielleicht auch weitere Leute motivieren können, Sport zu treiben und mit zu machen und ich denk´ einfach, dass ist `ne schöne Idee." Atmo-1b-d: Homeless Worldcup Sprecher: Das "deutsche" Team ist am Ende nur mit sechs Spielern nach Rio gekommen: Patrick, Savas, Steven, Jiri, Johannis und Thiago. Ein Nominierter hatte sich kurz vor der Abreise verletzt, ein anderer war einfach nicht zum Trainingslager erschienen. Atmo-3: Copacabana, Meer Sprecher: Jiri Pacourek gehört zu den "glorreichen Sechs" die jetzt für Deutschland an der Copacabana antreten. Den tschechisch-stämmigen Jiri haben die ersten Eindrücke am Zuckerhut fast überwältigt. 6. O-Ton: Jiri Pacourek "Zwei Tage hier in Rio und es gibt schon so viele Erlebnisse für mich. Zum ersten Mal Strand überhaupt. Ich habe zum ersten Mal in meinen Leben im Meer geschwommen. Es war einfach unglaublich für mich, ein super Erlebnis. Ich meine Copacabana, das ist schon ein richtiges Highlight. Aber es gibt leider auch von Rio die zweite Seite, und das haben wir auch schon gestern Abend gesehen, Kinder, welche schlafen auf die Straßen. Ja, das ist einfach auch traurig. Also, es ist nicht nur wirklich der Paradies, es ist auch bitter, es ist die böse Realität. Und da kann ich auch sagen, uns in Europa geht es eigentlich ganz gut." Sprecher: Dabei hat auch der 29jährige Jiri schon einiges in seinem Leben durchgemacht: 7. O-Ton: Jiri Pacourek "Ich bin vor sechs Jahren nach Deutschland gekommen, schon auch aus dem Grund, ich bin vor mir selbst weggelaufen, zwecks gerade die Spielsucht. In diesen sechs Jahren Deutschland habe ich auch wirklich die Drogen kennengelernt, harte Drogen und da kam dazu wirklich, ja, sozial richtige Abseits." Sprecher: Jetzt in Rio treffen die deutschen Spieler auf ein "Paradies" mit Schattenseiten. Für eine obdachlose Familie, die ganz in der Nähe des deutschen Quartiers auf Kartons schläft, haben sie spontan gesammelt. Steven Duda, Torwart der deutschen Mannschaft: 8. O-Ton: Steven Duda "Und wir haben die ja gesehen, die haben gefroren, es war kalt, es ist ja Winter hier jetzt in Brasilien, und wir haben ihnen angeboten natürlich, ein paar Kleidungsstücke zu geben, wir haben ihnen auch eine Decke gegeben, dass sie nachts nicht so frieren müssen. Für uns ist es eine Selbstverständlichkeit so was, und wir hoffen natürlich das Beste für die Kinder hier." Sprecher: In ihrem Hostal an der Copacabana sind die Deutschen gemeinsam mit den Österreichern, den Schweizern und Luxemburgern untergebracht. Beim Turnier selbst geht es noch "internationaler" zu: 9. O-Ton: Steven Duda "Aber wir haben auch sämtliche anderen Mannschaften heute bei der Auslosung kennengelernt, und da sind natürlich Mannschaften dabei, von Indien, dann Schottland, Irland, Neuseeland ist dabei, Haiti ist dabei, und das ist wirklich Wahnsinn, was für´n Haufen Menschen, ich hab´ so viele Menschen noch nie gesehen. Und das schönste ist natürlich, es gibt auch Frauenmannschaften und mit denen haben wir uns natürlich auch zusammengeschlossen und bisschen Fußball gespielt mit denen zusammen, und das ist ein Riesenerlebnis hier." Atmo-4: Deutsche Meisterschaft, Spielbudenplatz, Hamburg Sprecher: Sieben Wochen vorher in einer Hafenstadt am anderen Ende der Welt: Der Hansestadt Hamburg. Hier findet am letzten Juli-Wochenende die Deutsche Meisterschaft der Obdachlosen statt. Atmo kurz hochziehen Sprecher: Austragen wird der Straßenfußball-Cup auf dem Spielbudenplatz - einem breiten Fußgängerstreifen gleich neben St. Paulis Reeperbahn. Drumherum billige Kaschemmen, Casinos und Sex-Shops. Atmo kurz hochziehen Sprecher: Der "Fußballplatz" ist wie beim "Worldcup" ein kleiner Käfig, ein "Soccercourt" von 22 mal 16 Metern, je Mannschaft gibt es drei Feldspieler und einen Torwart; ein Spiel dauert zwei Mal sieben Minuten. An den Banden hängen Werbebanner - vor allem von sozialen Einrichtungen. Die Hamburger Straßenzeitung "Hinz & Kunzt", ein Mitveranstalter der Deutschen Obdachlosen-Meisterschaft, hat das Plakat angebracht: "Ihr könnt nach Hause gehen, Wir nicht!" Atmo-4a: Deutsche Meisterschaft Sprecher: Bei den Teilnehmern handelt es sich um eine breite Mischung aus Gestrandeten. Ein großer Teil von ihnen lebt in Übergangseinrichtungen der Wohnungslosenhilfe, andere haben sich mit dem Leben auf der Straße irgendwie eingerichtet, Thorsten Meinartz etwa. 10. O-Ton: Thorsten Meinartz "Ich bin seit fünf Jahren wohnungslos und habe im Winter immer so möglichst festere Quartiere mit leerstehenden Häusern oder Vereinbarungen, dass ich irgendwo schlafen darf, und im Sommer eigentlich ein Sommercamp, oder ein Campingplatz oder so ähnliche Unterkunftsbedingungen." Sprecher: Wohnungslosigkeit ist in Deutschland zwar kein Massenphänomen mehr wie noch vor 100 Jahren, aber weiterhin ein ungelöstes gesellschaftliches Problem. Schätzungen gehen von mindestens 250.000 Menschen aus, die in Deutschland auf der Straße leben. Thorsten Meinartz ist einer von ihnen. Er verkauft die Hamburger Straßenzeitung "Hinz & Kunzt", in deren Mannschaft er auch Fußball spielt. 11. O-Ton: Thorsten Meinartz "Die Hauptursache für meine Wohnungslosigkeit ist Spielsucht, die ist immer noch nicht ganz behoben, die ist zwar abgeschwächt, weil ich wirklich mehr in mich gegangen bin und auch begriffen habe, dass das wirklich eine Sackgasse ist, aber der Verstand ist immer das eine und die Sucht das andere und von daher ist es immer noch nicht ganz weg und deshalb kann ich mir auf Dauer die Wohnung nicht leisten. [Aber es ist trotzdem so, dass ich mir immer noch Gelegenheiten suche, wo ich mir selber beweisen kann, dass ich noch was leisten kann und mit dem Leben einigermaßen zufrieden zurecht komme]." Sprecher: Doch nicht alle, die an der Deutschen Straßenfußball-Meisterschaft teilnehmen, sind im herkömmlichen Sinne Wohnungslose - zum Beispiel Johannis Wendt nicht. 12. O-Ton: Johannis Wendt "Im Moment gerade nicht, Gott sei Dank, ich war mal auch ´ne Zeit wohnungslos, hab´ aber zum Schluss eine Therapie gemacht und bin in die Nachsorge nach Kiel gegangen, ich komme eigentlich aus Hamburg und dadurch bin ich zu Hannibals Erben gekommen... Man kann auch in Einrichtungen gewesen sein, es ist ja nicht Voraussetzung, dass man gerade wohnungslos ist..." Sprecher: Was Johannis am Anfang nicht ausdrücklich sagt, ist der Grund für seine Therapie. 13. O-Ton: Johannis Wendt "Ich hab´ eigentlich alles genommen, hab´ auch paar Mal Crack geraucht, zum Glück nie gespritzt oder so, aber bin zum Glück nie darauf hängengeblieben, aber ich bin auf jeden Fall rauschabhängig und will mich einfach immer wegbeamen." Sprecher: Neben Wohnungslosen dürfen auch Drogenabhängige, die eine Therapie machen, und Asylbewerber an den Deutschen Meisterschaften teilnehmen. Der 25jährige Johannis tritt für "Hannibals Erben" an, die Mannschaft einer Kieler Einrichtung für Sozialarbeit mit Drogenabhängigen. 14. O-Ton: Johannis Wendt "Also, mein Trainer ist ein guter Trainer, wenn´s danach geht. Und auf der einen Seite steht natürlich der Spaß, wenn wir Training haben, dann ist natürlich der Spaß im Vordergrund. Aber er versucht auch gezielt eine Mannschaft zu... zu kreieren, sag´ ich mal, die in einer Form leistungsorientiert ist, dass man sich halt, stetig weiterentwickelt. Sprecher: Die meisten, die beim Turnier mitspielen, haben den Tiefpunkt ihrer Lebenskrise schon überwunden. Das Fußballspielen habe auch ihm dabei geholfen, sagt Johannis. 15. O-Ton: Johannis Wendt "Also, ich glaub´, dass ist alles in allem, natürlich hat mir der Sport auch geholfen, die Leute, man hat etwas einfach, wo dran man Spaß hat, wo man schon mal ein Teil des Tages irgendwie was anderes zu tun hat. Das ist immer wichtig, dass man diese Löcher stopft und da ist natürlich Fußball eine große Hilfe, wir haben drei Mal die Woche zum Schluss trainiert, da hat man viel um die Ohren, dann kommt man nach Hause und ist platt [und will schlafen gehen." Atmo-5: Deutsche Meisterschaft Sprecher: Nach den strengen Regeln der FIFA, des Welt-Fußballverbandes, wird bei der Deutschen Wohnungslosen-Meisterschaft nicht gespielt. Und bei Bedarf wird auch schon Mal unbürokratisch eine Regeländerung vorgenommen: Weil über den Zaun geschossene Bälle direkt auf der Reeperbahn landen und Autofahrer zu gefährlichen Vollbremsungen zwingen, wird beschlossen, dass jeder Schuss über die Bande mit einem Penalty bestraft wird. Atmo-6: Deutsche Meisterschaft Ansage: "Ball kontrollieren, nicht unkontrolliert rüberschicken, der hätte auch schon fast wieder rüberfliegen können. Wir müssen jetzt bisschen aufpassen bitte." Sprecher: Alles in allem geht es bei der Straßenfußball-Meisterschaft ziemlich fair zu - auch wenn im Eifer des Spiels die Emotionen manchmal hoch kochen. Atmo-6a: Deutsche Meisterschaft Sprecher: Meistens entschuldigt man sich nach Fouls, und gibt dem Gegner auch nach schmerzlichen Niederlagen die Hand. Thorsten Meinartz vom Hamburger "Hinz & Kunzt"-Team: 17. O-Ton: Thorsten Meinartz "Insgesamt ist das Niveau der Meisterschaften auch besser geworden, in den letzten Jahren war das fußballerische Niveau nicht ganz so gut, da hatte man eher schon mal Leute, die wirklich auch sehr Robust Körpereinsatz betreiben und gar nicht so sehr spielen. Aber mittlerweile sind wirklich viele Mannschaften die auch spielerische Fähigkeiten haben und Leute, die sehr oft Fußball spielen, sind insgesamt auch fairer." Sprecher: "Django" von der Karlsruher Obdachlosen-Mannschaft ist von der Atmosphäre ebenfalls positiv überrascht. 18. O-Ton: Django "Eigentlich ist es ja anders auf der Straße, weil da sind Reibereien und Schlägereien an der Tagesordnung, weil... gut, die meisten sind nicht alkoholisiert, die Betreuer sind dabei, aber ich find´s super gut, der Umgang ist sehr gut untereinander, von den Leuten, freundschaftlich, gefällt mir, find´ ich gut." Sprecher: Django gehört zu jenen Wohnungslosen, die unter den gegebenen Bedingungen keine staatliche Unterstützung wollen: Hartz-IV lehnt er aus politischen Gründen strikt ab. 19. O-Ton: Django "Ich will... brauch´ keine Hilfe, bis auf die Krickstr. 88, wo ich da immer Essen kann und so, wenn´s finanziell eng wird, und im Winter geh´ ich in den Entfrierungsschutz, wenn´s mir dann zu kalt wird, wobei ich eigentlich draußen Platte mach´, auch bei Minus vierzehn, fünfzehn Grad, mit vier, fünf Schlafsäcken, da muss man sich dann den Kopf schön warm halten, sonst kriegt man hier irgendwie Probleme denk´ ich." Sprecher: Bei vielen Wohnungslosen kommt neben der Kälte im Winter hinzu, dass sie spätestens auf der Straße alkoholabhängig werden - wenn sie es nicht schon vorher waren. 20. O-Ton: Django "Ich trink´ mittlerweile auch mindestens so jeden zweiten Tag meine fünf, sechs, sieben Bier. Ich komm´ damit klar. Ich bin jetzt nicht einer, der da rumtorkelt und im Dreck rumliegt. Solche Fälle gibt's ja leider auch, die dann wirklich voll abstürzen, mit Schnaps und Wein, und dann geht ja gar nichts mehr, um diese Leute muss man sich kümmern." Atmo-7: Deutsche Meisterschaft Sprecher: Bei der Deutschen Meisterschaft ist Trinken aber strengstens verboten, und kann zum Ausschluss führen. In Hamburg ist es indes ein ganz anderer Grund, der fast zum Abbruch führt: Wegen schwerer Sommerschauer muss das Turnier kurz vor dem Finale um ein Haar abgebrochen werden. Da steht auch die Stimmung auf der Kippe, und einige Spieler beschweren sich, dass das Ganze nicht gut vorbereitet sei. Atmo-8: Spieler beschweren sich "Schlecht organisiert", "Ihr habt doch was an der Waffel." Sprecher: Karin Kretschmer zuckt die Achseln. Sie veranstaltet die Deutschen Meisterschaften der Wohnungslosen für "Anstoß!", die "Bundesvereinigung für Soziale Integration durch Sport" von Beginn an. Seit dem ersten Mal 2006 hat sie schon viel improvisieren müssen. Am Ende aber hat es immer irgendwie geklappt: 21. O-Ton: Katrin Kretschmer "Ja, man kann vieles vorbereiten, leider das Wetter nicht. Wir hatten noch Plan B und Plan C, dass wir Penalty-Schießen machen, und im Zweifel... keinen Deutschen Meister haben in diesem Jahr, wenn´s einfach die ganze Zeit durchschüttet und erst im nächsten Jahr einen ausspielen können, aber das Wetter ist wirklich eine unbeeinflussbare Größe. Sprecher: Die "Deutsche Meisterschaft im Straßenfußball" hat den "Homeless Worldcup" als Vorbild genommen, um einen nationalen Pokal auszurichten. Doch bis heute sei die Organisation jedes Jahr von Neuem ein Kampf, sagt Kretschmer. Firmen als Sponsoren seien nur schwer zu finden. 22. O-Ton: Katrin Kretschmer "Ja, Sponsoren aus der freien Wirtschaft wünschen sich selten Wohnungslose als zu sponsernde Klientel... Und seit diesem Jahr unterstützt uns die "Aktion Mensch" tatenkräftig, aber eben auch finanziell, und es gibt eben in Hamburg noch ganz viele Unterstützer, die uns, zum Beispiel das Essen kostenlos und den Platz zur Verfügung gestellt haben." Sprecher: Rund 250.000 Euro bekommt der Verein "Anstoß!" in den kommenden drei Jahren von der Stiftung "Aktion Mensch". Davon müssen allerdings auch Personalkosten bezahlt werden, damit an der Uni Kiel eine erste wissenschaftliche Studie zum Thema Fußball in der Sozialarbeit erstellt werden kann. Dazu kommen die Flüge zum "Homeless Worldcup". Atmo-9: Finale Sprecher: Die Deutsche Meisterschaft der Wohnungslosen nimmt derweil ein gutes Ende. Trotz eines nassen, rutschigen Untergrunds geht es nach dem Sommerregen weiter. Im Finale gewinnen "Hannnibals Erben" schließlich 7:3 gegen den "Kalandhof Celle". Atmo-10: Spielervorstellung Sprecher: Dann kommt der große Moment. "Nationaltrainer" Stefan Huhn präsentiert die acht Spieler, die er mit nach Rio de Janeiro zum "Homeless Worldcup" nehmen will. Mit dabei in Rio ist auch Steven Duda, mit 41 Jahren der mit Abstand Älteste im "Team Germany". 23. O-Ton: Steven Duda "Ich hab´ jetzt fast zehn Jahre kein Sport mehr gemacht, und ich merk´ das natürlich auch von der Kondition her, als Tormann braucht man ja zum Glück nicht so viel Kondition, aber ich muss halt wieder viel mehr Trainieren, grad´ jetzt, wo man weiß, man darf da mitfahren, körperlich muss man natürlich fit sein und das werden wir auch auf die Reihe kriegen, ja." Sprecher: Duda war fast 20 Jahre auf Trebe - bis er vor wenigen Monaten eine Wohnung der Diakonie in Bensheim bezogen hat. Zwei mal schon hatte er in den letzten Jahren den Versuch unternommen, eine Wohnung anzumieten... 24. O-Ton: Steven Duda "...aber halt immer wieder aufgegeben die Wohnungen, weil mir alles zu viel wurde, keine Motivation und keine Hilfe hatte und bin dann wieder rumgereist. War mal ´ne Weile in Spanien gewesen, und auch halt in Polen war ich schon gewesen paar Mal, halt immer bisschen rumgereist." Sprecher: Das war nicht immer leicht für ihn, in Städten Unterschlupf suchen zu müssen: 25. O-Ton: Steven Duda "Weil, ich bin auf dem Land auch groß geworden, sag´ ich jetzt mal, und dann erst mal in die Großstädte gekommen, das war natürlich `ne neue Erfahrung, ich musste viel Lernen. Weil es gibt ja da nicht nur immer schöne Tage, es gibt da wirklich schlimme und harte Tage, gerade im Winter, wenn´s kalt draußen ist und man findet nichts, wo man schlafen kann. Ich bin natürlich immer wieder froh, wenn´s halt Wohnheime gibt, wo man wirklich hingehen kann und auch Hilfe bekommt " Musik: Samba "Copacabana" Kreuzblende auf Atmo-11: Verkehr Sprecher: Zurück an Rio´s Copacabana. Die Stadt hinter dem Strand, einst als "wunderbar" besungen, ist heute auch ein "Concrete Jungle". Ein Fünftel der rund zehn Millionen Einwohner lebt in Favelas. Dort wird das Leben häufig durch die Kämpfe zwischen Polizei und Drogenbanden geprägt. Aber was Rio´s Bewohnern, den "Cariocas", keiner nehmen kann, ist das Meer vor der Haustür, kilometerweite Strände, von Flamengo bis Barra da Tijuca. Atmo-12: Meer, Copacabana (= Atmo-3) Sprecher: An den Stränden kann man auch beobachten, warum Rio die Wiege des brasilianischen "jogo bonito" ist: An der Copacabana stehen Gruppen von Männern im Kreis, gelegentlich gesellt sich auch eine Frau dazu, und halten den Ball mit einer lässigen Leichtigkeit minutenlang in der Luft. Gleich neben diesen akrobatischen "Rodas da Bola" im Sand liegen die zwei kleinen Hartplätze des "Homeless Worldcup". Atmo-13: Homeless Worldcup Sprecher: Mannschaften aus über 50 Ländern, ein fast babylonisches Stimmengewirr. Wie bei den Deutschen gibt es bei den meisten Teams viele Spieler mit Migrations-Hintergrund. Das Ganze ist wie ein großes Fest. Die Neuseeländer etwa stimmen sich mit einem Maori-Tanz ein, während die Südafrikaner vor Anpfiff zusammen singen. Atmo-14: Singen, Südafrikaner Sprecher: "Streetsoccer" ist ein schnelles Spiel, und es fallen viele Tore. Auch wenn das Niveau der Mannschaften doch stark schwankt, kann man beim "Homeless Worldcup" ebenso gekonnte Kombinationen und spektakuläre Tore sehen wie das eine oder andere Talent. Atmo hochziehen Sprecher: Viele, mit denen man hier spricht, haben gute Erfahrungen mit dem Fußball als Instrument der Sozialarbeit gemacht. Stefan Huhn, Trainer der deutschen Mannschaft: 26. O-Ton: Stefan Huhn "Ich glaube, dass Fußballspielen oder Sport überhaupt niemanden wieder zu einem glücklichen Menschen macht oder dass das Fußballspielen das Mittel ist, aber ich glaube, dass [sich im Fußballspielen etwas widerspiegelt und dass] man beim Fußballspielen gute Erfahrungen mit sich selber machen kann und dass das sehr, sehr hilft, eben die anderen Sachen, die wirklich entscheidend im Leben sind, ja, anzugehen oder einfach dabei zu bleiben, wenn man für sich wieder etwas auf die Beine gestellt hat." Sprecher: Nach einer Umfrage im Jahr 2007 sollen 77 Prozent der Teilnehmer ihrem Leben eine Wende haben geben können. Mel Young, Gründer und Präsident des "Homeless Worldcups": 27. O-Ton: Mel Young ÜBERSETZER: "Ich bin jemand, der an den Sport glaubt, vor allem an die Macht des Fußballs, allerdings ist das von den staatlichen Sozialsystemen bisher noch nicht richtig anerkannt worden. Sport gilt hier häufig noch als etwas allein für die Profis. Aber ich denke, dass wir beweisen, dass Sport auch für andere nachhaltige Auswirkungen haben kann." Sprecher: Katrin Kretschmer, Mitorganisatorin der Deutschen Meisterschaft, sieht das ähnlich wie Mel Young: 28. O-Ton: Katrin Kretschmer "Ich glaube, die Sozialarbeiter haben oft so was wie ein Legitimationsproblem. Also, die versuchen, den Sport möglichst als Mittel zur Kommunikation zu nutzen, aber es ist nicht so, dass man belegen kann, wie es funktioniert und dass es funktioniert, und daran arbeiten wir eben. Wir versuchen auch, so einen Leitfaden, sag´ ich einfach mal, zu erstellen. Atmo-13a-b: Homeless Worldcup Sprecher: Dem Vorwurf, man würde mit einem solchem Turnier nichts an den Ursachen der Obdachlosigkeit ändern und ohnehin nur einigen Betroffenen helfen, entgegnet Mel Young, der "Homeless Worldcup"-Präsident: 29. O-Ton: Mel Young ÜBERSETZER: "Das mag eine zutreffende Kritik sein, denn es gibt laut UN-Angaben weltweit immerhin rund eine Milliarde Wohnungslose. Aber ich bin davon überzeugt, dass man irgendetwas dagegen unternehmen sollte. Und wenn man nur einem hilft, ist das besser, als keinem zu helfen, wobei ich weiß, dass wir mehr helfen." Sprecher: Solche persönlichen Erfolgsgeschichten gibt es einige, zum Beispiel die von Daniel Souza. 2003, bei der ersten Wohnungslosen-WM im österreichischen Graz, lief Souza für Brasilien auf. Mittlerweile ist er zweifacher Weltmeister im "Beach Soccer": 30. O-Ton: Daniel Souza ÜBERSETZER: "Das war damals eine tolle Erfahrung, ein anderes Land kennenzulernen, neue Menschen, ihre Kultur und Sprache. Genauso wie wir ihnen unsere Kultur näher bringen konnten. Diese Erfahrung hat mein Leben völlig verändert. Ich hoffe, dass jetzt auch hier andere groß herauskommen und ich ihnen als Vorbild dienen kann." Sprecher: Die Ausrichtung des "Homeless Worldcups" kostet laut Mel Young je nach Austragungsort zwischen einer halben bis über eine Million US-Dollar, aufgebracht zum einen von Sponsoren wie der Vodafone Foundation oder einer Nike-Tochterfirma, zum anderen vom Gastgeberland. So ist es jedenfalls normalerweise: 31. O-Ton: Mel Young ÜBERSETZER: "Im konkreten Fall Brasiliens bezahlt das Land aber unglücklicherweise gar nichts. Alles wird von uns bezahlt. Es scheint mir ein bisschen so zu sein, als ob hier in Brasilien das Problem der Armut und Obdachlosigkeit verleugnet würde. Erst waren sie scharf darauf, dass wir hierher kommen, aber dann hat man uns praktisch nicht geholfen." Sprecher: Bald dürfte Brasilien jedoch mehr im öffentlichen Rampenlicht stehen und daher seine sozialen Probleme weniger verbergen können: 2014 veranstaltet das aufstrebende Land die Fußball-WM, zwei Jahre später finden in Rio die Olympischen Spiele statt. Mel Young hat mittlerweile in vielen Ländern gesehen, dass sich die Gegensätze zwischen arm und reich verschärfen. Daher ist er insgesamt wenig optimistisch: 32. O-Ton: Mel Young ÜBERSETZER: "Die Kluft wird größer. Wenn sich das in diesen Ländern nicht ändert, wird es dort in Zukunft zu sozialen Aufständen kommen, ganze Landstriche werden unregierbar werden. Für eine gesunde gesellschaftliche Struktur dürfte es keine Wohnungslosigkeit geben. Wir Menschen sind so intelligent und haben Dinge wie das Internet erfunden, darum sollte es auch keine Obdachlosigkeit geben. Das wäre auch besser für die Menschen, die ein Zuhause haben." Atmo-15: Homeless Worldcup Sprecher: Solche theoretischen Überlegungen spielen bei denen, die beim "Homeless Worldcup" antreten, aber weniger eine Rolle. Man geht mit vollem Einsatz zur Sache, gelegentlich auch übertrieben hart, aber nach dem Abpfiff umarmen sich die Spieler in der Regel. Atmo hochziehen Sprecher: Die deutsche Mannschaft hat sich in der Vorrunde achtbar gehalten, und ist in einer starken Sechser-Gruppe Vierter geworden. Dabei gab es schon am zweiten Tag mit einem zwei zu zwölf gegen Ghana eine schwere Schlappe. Torwart Steven Duda: 33. O-Ton: Steven Duda "Ja, das war für die Mannschaft natürlich ein richtiger Tiefpunkt nach dem Spiel von gestern, und, ja, wir haben jeder ein bisschen gebraucht, erst mal jetzt. Jeder ist seine eigenen Wege mal für ´nen paar Minuten gegangen, und mal runterzukommen nach dem Spiel, weil es war auch ein bisschen hektisch am Ende noch gewesen, und jetzt natürlich, wo das zweite Spiel gekommen ist, durch den hohen Sieg, auf jeden Fall jetzt, ist die Motivation natürlich wieder da..." Sprecher: Jetzt will man in der Platzierungsrunde noch einmal alles geben. Aber bitte mit Gelassenheit, sagt Jiri: 34. O-Ton: Jiri Pacourek "Ich genieß´ einfach die Atmosphäre, Fußball zu spielen, solcher Event ist einfach großartig. Ob man jetzt verliert, natürlich ist das das schade, man repräsentiert trotzdem eine Nation, Deutschland, aber ich habe in meinem Leben schon so oft verloren, ob im Sport oder im Leben, dass irgendwann lernt man damit umzugehen... So wie das heute war mit Ghana, haben wir verloren und dann haben wir wieder sehr hoch gegen Korea gewonnen: Nach einem Fall, man kann wieder aufstehen und es wird wieder besser, ja. Und so ist halt auch mein Leben." MUSIK: Corcovado (Nr.10) Int.: Joe Pass/Paulinho da Costa Aus der CD Jazz Samba LC 6350 Archiv-Nummer 91-13847 ca. 2 Min. 17