Deutschlandfunk GESICHTER EUROPAS Samstag, 26. September 2013 - 11.05 - 12.00 Zwischen Boomtown und Armenhaus - Die schottische Industriestadt Glasgow Mit Reportagen von Kirsten Zesewitz Am Mikrofon: Norbert Weber Musikauswahl und Regie: Simonetta Dibbern Urheberrechtlicher Hinweis Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Die Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in §§ 44a bis 63a Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. (c) - unkorrigiertes Exemplar - Opening: (Stimmen) Musik Die Realität ist die: Unsere Kinder bringen sich gegenseitig um. Wir müssen sie von der Straße holen - und zwar, wenn sie drei sind, nicht erst mit 14, dann ist es zu spät. Mod Der Besitzer eines Glasgower Sportklubs, der Kindern aus benachteiligten Vierteln Spiel- und Freizeitaktivitäten anbietet. --- Und eine Rentnerin, die mitgeholfen hat, vermülltes Brachland in einen Gemeinschaftsgarten umzuwandeln. Die meisten Glasgower wohnen in Mietshäusern wie diesen hier. Es gibt einen Hinterhof, aber keinen Garten. Die Folge: Die Menschen wissen gar nicht mehr, wie man mit frischem Gemüse kocht! Mod Gesichter Europas. Zwischen Boomtown und Armenhaus - Die schottische Industriestadt Glasgow. Eine Sendung mit Reportagen von Kirsten Zesewitz. Am Mikrofon begrüßt Sie Norbert Weber. Musik Mod Wohl keine andere europäische Stadt hat so krass Aufstieg und Niedergang erlebt wie die schottische Metropole Glasgow. Zunächst war es der Tabak- und Baumwollhandel mit Übersee, der Wohlstand brachte. James Watt erfand die Dampfmaschine. Gewaltige Werft- und Industrieanlagen entstanden. Bis ins 20. Jahrhundert boomte der Schiffbau. Glasgow wurde zur "Second City of the Empire". Die Brücken, Theater und Jugendstilbauten jener Zeit sind bis heute stilprägend. Doch dann kam der Niedergang. In den 1960er Jahren verlor Glasgow den Anschluss an die modernen europäischen Industriestädte. Investitionen und Innovationen blieben aus. Innerhalb eines Jahrzehnts brach Glasgows industrielles Rückgrat zusammen. Die Folgen: Armut, Arbeitslosigkeit, Bevölkerungsschwund. Glasgow ist heute die ärmste Stadt Schottlands: Ein Drittel der Kinder lebt unterhalb der Armutsgrenze, die Lebenserwartung der Menschen ist deutlich geringer als in reicheren Gegenden Großbritanniens. Pfandhäuser und Billigläden prägen das Straßenbild in Vierteln wie Easterhouse und Shettleston - und mit der Armut stieg auch die Kriminalität: Vor zehn Jahren galt Glasgow als "Mordhauptstadt Europas". Neue Ideen mussten also her in der Polizeiarbeit. Nach dem Vorbild von Los Angeles wurde eine so genannte Violence Reduction Unit - auf Deutsch: Einheit zur Gewaltprävention geschaffen - eine Institution, die in dieser Art einzigartig in Europa ist. Reportage 1 ATMO sorry I am late... I hate being late... AUTORIN Sie ist zu spät, eine Sitzung hat länger gedauert und die Assistentin wartet bereits mit einem Klemmbrett in der Hand - aber Karyn McCluskey wirkt kein bisschen genervt oder müde: ATMO I just turn off my phone... AUTORIN Sie hört sich den Rapport an - ein Bericht über die Glasgower Polizeiarbeit soll erscheinen... Karyns blaue Augen blitzen neugierig: Die Chefin der Gewaltpräventionseinheit trägt Minirock und extrem hohe Riemchenschuhe - ihren Zopf hat sie asymmetrisch am Hinterkopf gebunden. ATMO Oh good! how interesting Einen Cop stellt man sich anders vor - aber Glasgow brauchte unkonventionelle Leute und Ideen: Denn die klassische Polizeiarbeit hatte versagt, in der unter Armut und Arbeitslosigkeit leidenden Metropole. Als ich nach Glasgow zurückkam, war ich erschüttert: Jedes Wochenende ein Mord! Die Leute hatten sich damit abgefunden, "das war halt so". Und dann war da dieser Mord an einem Jungen: er verblutete in den Armen einer älteren Frau - und ich dachte: das ist es, das ist unser "Rosa Parks Moment", nun werden die Menschen aufstehen und sagen, wir haben genug. Aber nichts passierte! Ich fragte mich, warum sind die nicht wütend? Da stirbt ein junger Mann - und die Leute sagen: oh, der war eh nichts wert - er kam ja aus einem dieser Problemviertel. Und da dachte ich: wir müssen das ganz anders machen... ATMO AUTORIN Karyn McCluskey lächelt erwartungsvoll - um gleich noch eins draufzusetzen: ATMO We started to look at violence like a disease... "Wir müssen die Gewalt als Krankheit sehen", sagt sie, "eine Krankheit, die über Generationen vererbt wird." Karyn zeigt auf ein Foto an der Wand. Das Büro hängt voller Bilder von Notaufnahmen, Tatorten und Menschen mit entsetzlichen Verletzungen: Das da hinten links kommt häufiger vor: Ein Operateur hält zwei abgetrennte Finger in der Hand. Wenn Sie ihre Hand zur Verteidigung hoch halten und jemand hat ein Messer - dann sind sie ab. Das sind schreckliche Bilder - aber die Menschen müssen verstehen, was Gewalt bedeutet. Hier in Glasgow galt Gewalt lange als Freizeitbeschäftigung. Da gab es das "Glasgower Lächeln": Sie ziehen ein Messer durch das Gesicht des Opfers, so dass es ein Leben lang lächelt... Eine katastrophale Verletzung! Und wir hatten das alle sechs Stunden, jeden Tag, 365 Tage im Jahr. ATMO AUTORIN Karyn McCluskey hält einen Moment inne, ihre langen Ohrringe beben heftig am Hals: Sie war viele Jahre Chef-Analystin einer englischen Polizeieinheit, zuständig für Strategien zur Verbrechensbekämpfung. Aber auch nach 12 Jahren in Glasgow wirkt sie immer noch "angry" - wütend darüber, dass sich junge Männer aus Langeweile die Körper aufschlitzen. ATMO AUTORIN Vielleicht ist es diese Wut, die sie antreibt, neue Wege in der Gewaltprävention zu suchen: Los ging's mit Sitzungen, wo jungen Delinquenten Fotos von aufgeschnittenen Gesichtern, abgerissenen Ohren und Messerstichen gezeigt wurden, begleitet von Berichten der Opfer. Heute hat die Polizei einen festen Stamm von ehemaligen Gangmitgliedern, die für sie arbeiten. ATMO So who is coming in today? Paul... AUTORIN Einer von ihnen ist James, der sich auf dem Flur vor Karyns Büro einen Kaffee kocht; gemeinsam mit einem Kollegen in Uniform: Es sind immer zwei - ein Polizist und ein Ex-Delinquent - die die Projekte leiten. ATMO AUTORIN James trägt einen grauen Pulli, sein Kopf ist kahl geschoren, eine Narbe am rechten Mundwinkel verrät, dass auch der 37-Jährige in Kämpfe verwickelt war. Seine Geschichte kennen alle hier im Büro: eine Alkoholiker-Mutter, der Vater ein Schläger - als James zur Schule kam, war er bereits auffällig. Ich habe mich ständig geprügelt. Die Psychologin meinte: Ich war auf Gewalt programmiert: Anstatt erschüttert zu sein, wenn jemand geschlagen wurde, hat mich das eher fasziniert... ATMO AUTORIN James schaut auf die Uhr: um zehn wird einer der Jungs vorbei kommen, sagt er, wegen der Sache am Montag. Inspektor Iain Murray nickt: Die beiden sind gerade vom Edinburgher Tattoo zurück: Die letzten 18 Monate haben sie acht junge Männer betreut, die auf dem Militärmusik-Festival arbeiten durften: allesamt Straftäter, die niemals einen Job hatten, keine intakte Familie, keinen Schulabschluss. Es braucht 18 Monate, um einen Menschen so umzuprogrammieren, dass er sein Leben selbst in die Hand nehmen kann. Aber bis dahin müssen wir ihn führen und rund um die Uhr unterstützen. Beispiel: Letzten Sonntag kommen wir mit den Jungs vom Tattoo-Festival wieder - in der Nacht klingeln unsere Handys: ein Junge aus dem Gewaltpräventions-Programm braucht Hilfe. Wir müssen dann sicherstellen, dass er nicht in Gefahr ist; falls nötig, ihn sofort treffen, ins Krankenhaus bringen oder mit der Polizei verhandeln. Es ist nicht unser Job, die Jungs zu retten - aber wir wollen verhindern, dass sie in alte Muster zurückfallen. ATMO AUTORIN Iain schaut zu den anderen Kollegen hinüber, die am Nebentisch ebenfalls über ihre Klienten sprechen - James starrt in seinen Kaffee. Als er endlich spricht, wirkt sein Mund noch schmaler als sonst: Jeder Mensch, egal, wie alt, möchte gebraucht und geschätzt werden. Und all das bekommst du - auf verzerrte Art und Weise - in einer Gang: Diese Jungs haben zu Hause keine Anerkennung bekommen, da war ja keine Vaterfigur. Sie haben sehr abartige männliche Rollenbilder. Diese Lücke versuche ich als Mentor zu füllen: Ich gebe den Jungs ein positives männliches Vorbild. ATMO AUTORIN In ihrem Büro starrt Karyn McCluskey auf ihren Bildschirm, die Beine im kurzen Rock übereinander geschlagen: ATMO Let's have a look: Friday... AUTORIN In ein paar Tagen soll sie beim Glasgower "Festival gefährlicher Ideen" sprechen: fünf Minuten zur Kriminalitätsprävention - im Pecha Kucha Stil... ATMO I don't even know what's Pecha kucha style. AUTORIN Die Assistentin beugt sich näher zum Monitor - keine Ahnung, was "Pecha Kucha" ist. Karyn McCluskey zuckt fröhlich mit den Schultern: Egal, sie weiß ja, was sie erzählen wird: McCluskey will Männer wie James nun auch in die Notaufnahmen bringen - dort, wo die Delinquenten empfänglich sind... Die liegen schwerverletzt in der Notaufnahme - und greifen sofort zum Handy, um Rache schwören. Hier müssen wir intervenieren: Wir haben Leute, die in diesem Moment zu den Jungs gehen und sagen: das nimmt kein gutes Ende für dich, wie kann ich dir helfen da rauszukommen? Das ist Neuland für uns und ich weiß nicht, ob es funktioniert, aber wissen Sie: Wir müssen vorangehen. Ich gehöre nicht zu den Leuten, die sagen: Das funktioniert nie. Die sind böse, stecken wir sie ins Gefängnis. Ich strebe nach etwas anderem... Musik Mod Auch James Kelman, Autor von Romanen und Kurzgeschichten, die sich überwiegend mit dem Leben der Arbeiterklasse in Glasgow beschäftigen, ist ein Kind dieser Stadt. Er schreibt im sprachlichen Stil seiner Helden. Als er 1994 den Booker Preis erhielt, stritten die britischen Feuilletons heftig darüber, ob so ein "Gossenroman" den Preis verdiene. Der Busschaffner Robert Hines lebt mit Frau und kleinem Sohn in einer Glasgower Sozialsiedlung. Das Geld ist knapp. Gern würde Hines vom Schaffner zum Busfahrer aufsteigen - aber er tut sich schwer mit den Dienstvorschriften, kommt zu spät zur Arbeit und legt sich mit seinen Vorgesetzten an. "Busschaffner Hines" wurde 1984 auf dem Höhepunkt der Thatcher-Jahre geschrieben, als in Glasgow die großen Werften dicht machten, die Industrien zusammenbrachen und tausende Glasgower Arbeiter ihren Job verloren. Und so beginnt auch die erste zitierte Szene mit der Schilderung eines Streiks. Musik Lit 1 Lit 1 Was wir brauchen, ist ein trockenes Plätzchen, sagte Reilly, als er in den Hausflur trat. Sie waren vier, die dort Schutz suchten vor dem Regen: Reilly, Hines' fester Fahrer, und dann noch McCulloch und Colin Brown, Fahrer und Schaffner. Ich schlag vor, wir gehen ins Billardzimmer, sagte McCulloch. Da darf jetzt keiner mehr rein wegen dem Vorfall letztens. Colin Brown hatte es gesagt, und McCulloch funkelte ihn an. Was soll das heißen? Gar nichts verdammt, bloß dass da so ein Arschloch in die Ecke gepisst hat - ich war das nicht. Ich auch nicht, verdammt noch mal. Ich war's, knurrte Hines. Bitte, Sir, ich geb's zu. Ich hab's gemacht, aus Protest. Gegen den erbärmlichen Zustand der Busse, sagte Reilly grinsend. Genau. Hines leckte das gummierte Ende des Reispapiers an, steckte sich die gedrehte Zigarette in den Mund und zündete sie an. Jedenfalls, sagte er, ein trockenes Plätzchen, das interessiert mich jetzt wenig, ich muss gleich den Kleinen vom Kindergarten abholen. Dich lassen die da nicht rein, brummte McCulloch. Zu besoffen, fügte Reilly hinzu. Die können mich mal besoffen. Recht hast du. Nee, hab ich nicht. Schön wär's. Das ist ja heute das Schlimme, man kann sich nicht mal richtig besaufen. Musik Atmo Mod Seit dem Niedergang des Schiffbaus in den 1960er Jahren hat Glasgow mit enormen sozialen Problemen zu kämpfen. Im Stadtteil Easterhouse beispielsweise sind fast 40 % der Menschen auf soziale Unterstützung angewiesen. Das Viertel wurde in den 1960er- und 70er- Jahren gebaut, um die Lage der ehemals in Slums lebenden Arbeiter zu verbessern. Doch den monotonen Häusern fehlte das Herz - und eine städtische Infrastruktur. Easterhouse wurde zum sozialen Brennpunkt, berühmt berüchtigt für seine Gangs. Reportage 2 ATMO Ok... So this is super-Charlie. AUTORIN "Das ist unsere Super-Charlie." Das Mädchen auf der Matte geht in die Knie - und stemmt die Langhantel auf ihre schmalen Schultern. ATMO ...that's good, nice and fast... AUTORIN Sie stößt die Gewichte über den Kopf - hält sie einen Moment mit ausgestreckten Armen in der Luft... ATMO OK, let go. AUTORIN Alex Richardson nickt zufrieden - gut gemacht! ATMO All the power is in the hips. Bar comes up... AUTORIN "Die Kraft kommt aus den Hüften!" Alex gibt dem Mädchen den Daumen nach oben: Charlie ist britische Jugendmeisterin, von ihr ist noch einiges zu erwarten. ATMO AUTORIN Eine Matte weiter versucht ein etwa zehnjähriger Junge, die Gewichte an seiner Langhantel zu befestigen: mit schweißnassen Händen reiht er die Scheiben auf, justiert die Klammer. Es ist Dienstagnachmittag im Gladiator Gewichtheber-Club: freie Übungsstunde - drei Pfund kostet das Training. Alex zeigt auf ein Foto an der Wand. Das war der Kohlenkeller, in dem wir 1980 angefangen haben. Sie sehen die Stäbe an den Fenstern: einige Typen wollten das Gebäude einrammen. Es war eine ziemlich wilde Gegend hier, da war einiges los damals. ATMO AUTORIN Alex Richardson ist in den 1960er Jahren in Easterhouse aufgewachsen. Man sieht es dem kleinen, etwas schmächtig wirkenden Mann nicht an, aber Alex ist eine Institution: sein Gladiator-Club genießt Respekt in einer Gegend, in der vor allem Jugendgangs das Sagen haben. Jede Woche ist er im Viertel unterwegs - und versucht mit seinem mobilen Spiel- und Freizeitprogramm, die Kinder von Easterhouse für den Sport zu begeistern - und wegzuholen von den Gangs. Alex hat dafür das Maskottchen "Gladiator" erfunden: ein grüner Alligator im Gladiatoren-Kostüm... ATMO AUTORIN Ein Vater schaut seinen Kindern beim Üben zu: zwei Mädchen im Teenager-Alter und der kleine Junge. Fokussiert stemmen die Mädchen ihre Gewichte - ruppig, kraftvoll - nur ihre pummeligen Bäuche verraten, dass sie erst kürzlich mit dem Training angefangen haben... Der Vater untersucht derweil das mannsgroße, grüne Alligatoren-Kostüm, das hinter ihm an der Sprossenwand hängt... Alex geht in die Schulen und lässt die Kinder das Gewichtheben ausprobieren. Meiner Ältesten gefiel es sofort und dann wollte die nächste auch kommen. Und weil sie es toll fanden, ist nun auch mein Sohn hier. Es gibt ja nicht viel hier im Viertel - Sportgruppen oder so - und Alex hat es uns leicht gemacht... ATMO AUTORIN Alex Richardson ist ins Büro gegangen, zu Liz und John - den beiden Trainern. ATMO Alex: that's Jason talking to him, that's Daniel there... Ein Fotofax ist angekommen: fünf Jungs in Trainingsanzügen winken aufgekratzt in die Kamera: Alex' 16-jähriger Sohn Daniel ist einer von ihnen, er vertritt die schottischen Gewichtheber bei den Jugend Commonwealth Spielen in Samoa. AUTORIN Allerdings gibt es Unstimmigkeiten darüber, wer auf dem Foto ist: Daniel und Jason, die beiden Hoffnungsträger von Gladiator, sehen sich sehr ähnlich... ATMO Frau That's Daniel there, that's Jason... that's them arriving at the hotel... ATMO They spelt Scotland wrong: two "t"s - should be one AUTORIN Liz zeigt auf das Foto und schmunzelt: Sie haben Scotland falsch geschrieben: mit zwei "t" - eins hätte auch gereicht... ATMO AUTORIN Alex Richardson schaut inzwischen die Startlisten durch: der 55-Jährige war selbst ein recht erfolgreicher Gewichtheber: sechs Mal schottischer Meister, zwei Mal britischer Masters-Champion und Nummer sechs der Welt. Er hätte aber genauso gut im Gefängnis enden könnten, sagt Alex: Denn in den 1970er Jahren, als die Industrie in Glasgow den Bach runter ging, stieg auch die Kriminalität in Easterhouse. Ich war auch in einer Gang. Wie jeder hier, das war unsere Freizeitbeschäftigung. Es gab ja nichts: keine Einrichtungen, keine Sportvereine - also spielten wir Krieg. Wo Sie eine Straße sehen, sahen wir eine Grenze. Was für Sie ein Fußballfeld ist, war für uns neutrale Zone: dort traf man sich zum Kräftemessen. Du konntest dein Territorium nicht verlassen - ohne Angst zu haben, angegriffen zu werden. Das ist bis heute so, nur: diese Gangkultur drückt dem Viertel die Luft ab, sie manifestiert die Armut noch. Ich gebe Ihnen ein Beispiel: ATMO AUTORIN Alex sucht nach Papier und Stift. Dann zeichnet er drei Kreise auf - in einen der Kreise setzt er ein Kreuz... Wir haben drei Gangterritorien. Sagen wir, man baut eine Jugendeinrichtung hier, mitten im Gebiet einer Gang. Was passiert? Die Jugendlichen der anderen Territorien kommen nicht, viel zu gefährlich - die Einrichtung ist defizitär und muss schließen. Die Kinder sind wieder auf der Straße, ein Teufelskreis. Aber: Wenn die Stadtplaner auf Leute wie uns hören würden, ließen sie die Einrichtung hier bauen: zwischen den Territorien, in der neutralen Zone! Dann könnten alle Kinder kommen. Mit der Zeit würden sie zusammen wachsen, eine Gemeinschaft bilden und die territorialen Grenzen niederreißen. ATMO AUTORIN In diesen Momenten ist Alex Richardson ein wütender Mann. Er war in so vielen Kommissionen, hat den Glasgower Stadtrat beraten, war Schottlands Vertreter beim Runden Tisch in London, damals nach den Unruhen 2011: Und nun muss Alex selbst um die Früchte seiner Arbeit fürchten, denn kürzlich hat jener Minister, der damals mit am Tisch saß, das britische Sozialsystem radikal zusammen gestrichen: weniger Zuwendungen, weniger soziale Unterstützung - und weniger Geld für Vereine wie Gladiator... Die Realität ist die: Unsere Kinder bringen sich gegenseitig um. Wir müssen sie von der Straße holen - und zwar, wenn sie drei sind, nicht erst mit 14, dann ist es zu spät. Das Umfeld ist zu mächtig. Es gibt zwei Möglichkeiten in Easterhouse: Entweder ich verweigere mich der Gang und bin das Opfer - oder ich schließe mich an und werde zum Täter. Aber: wenn wir bei den Dreijährigen ansetzen, sie in Spielprogramme stecken und weiter schicken zu Sportvereinen, dann erleben sie ihre schwierigen Teenager-Jahre als Sportler - und nicht in einer Gang... ATMO AUTORIN Dann muss Alex weg, seinen jüngsten Sohn von der Schule abholen. Denn auch wer nicht zu einer Gang gehört, lebt als Teenager gefährlich in Easterhouse... Musik MUSIK lit 2 LIT 2 Der Junge nestelte am Türknauf. Hines hatte seine Finger durch den Briefkastenschlitz geschoben und stieß ächzende Geräusche aus. Sandra machte auf. Er küsste sie und setzte dem Jungen die Uniformmütze auf. In der Küche ließ er sich in den Sessel sinken. Schlimm? sagte sie. Ach... Schlaucht ganz schön, so 'n durchgehender Dienst. He ... Er stand vom Sessel auf: Soll ich dir bei den Kartoffeln helfen? Als Sandra ihm ein Gesicht schnitt, setzte er sich wieder, beugte sich hinunter und schnürte seine Schuhe auf. Manche machen jahrelang krank, und ich, der ich immer so geschafft bin, bloß eine lausige Woche, eine scheiß Woche. Wie war's bei dir? Sie lächelte halb. Tja, bei mir war's absolut wunderbar, taktile Überraschungen ohne Ende, erst krieg ich Einkaufstüten in die Kniekehlen gerammt, dann werd ich von räudigen Mischlingskötern angekläfft, oder es machen sich sexy Büromiezen an mich ran. Hau ab, nimm ein Fußbad. Keine Kraft, den ganzen Tag sind mir die Leute draufgetrampelt. Die sind total zerschunden und zerquetscht und wund. Ich sag's dem Arzt dauernd, aber er hört gar nicht hin, bitte, Sir, die sind hin und zerquetscht und wund, Sir. Nein, ich such mir definitiv einen andern Job. Musik hoch Mod Seit nunmehr 15 Jahren erfindet sich Glasgow neu: Anstelle der Lagerhäuser und Docks ragen im Hafen gläserne Bürogebäude in den schottischen Himmel: Glasgow ist ein wichtiger Finanzplatz geworden - angeblich der zweitwichtigste nach London. Barclays, RBS und JP Morgan sitzen hier. 15.000 Arbeitsplätze wurden allein im Bankensektor geschaffen. Und: Seit der Ära Thatcher hat Glasgow - ähnlich wie andere britische Städte auch - ganz auf die Dienstleistungsbranche und den Einzelhandel gesetzt. Zu spät hat die Stadt erkannt, dass Produktions- und Versorgungsunternehmen vernachlässigt wurden. Nun versucht man mehr mittelständische Unternehmen anzusiedeln, qualifizierte Jobs zu schaffen und innovative Unternehmen zu fördern. Eine so genannte "Glasgow Business Gateway" soll die städtischen Zuschüsse und Kredite verteilen. Aber die junge Gründerszene Glasgows hält nicht viel von der städtischen Förderpolitik, sie macht lieber ihr eigenes Ding. Reportage 3 ATMO Billard AUTORIN Michael lehnt sich über den Billardtisch - ein kurzer Stoß, die Kugel ist im Loch. Sein Gegner kreidet noch einmal sein Queue ein - elegant, ruhig - denn rundherum stehen andere junge Männer, die das Spiel aus dem Augenwinkel beobachten: Es ist der erste Montag im Monat: Start-up Treffen im "Rookie Oven" - was so viel bedeutet wie: "Anfängerschmiede". ATMO letzter Stoß AUTORIN Ein letzter Stoß - Michael hat die Partie gewonnen. Die Jungs gehen zu einer weißen Couch hinüber - alles sieht sehr stylisch aus, in der alten Fabriketage im ehemaligen Werftviertel von Govan: Auf dem Fensterbrett lehnt eine Gitarre, die locker im Raum verteilten Schreibtische beherbergen lediglich ein paar Laptops, Festplatten, Kopfhörer - farblich aufgelockert durch Chipstüten und Coladosen. Draußen rumpeln die Doppeldeckerbusse vorbei: Früher lebte der Stadtteil vom Schiffbau - heute sind 40 Prozent der Menschen auf Sozialhilfe angewiesen, im Einkaufszentrum Govan Cross gibt es mehr Pfandleiher als Lebensmittelläden. ATMO AUTORIN Michael Hayes hat die Büro-Gemeinschaft vor ein paar Monaten gegründet, um sich mit den anderen jungen Technologie-Firmen zu vernetzen. Denn die hatten es bisher eher schwer in Glasgow... Einzelhandel ist halt das große Ding hier: Glasgow bewirbt die Innenstadt als "Style Meile", sie ist das zweitgrößte Shoppingparadies nach London. Aber die Technologie-Szene ist klein, verglichen mit Edinburgh. Edinburgh hat eine richtig gute Tech Community: Firmen wie Skyscanner und Fanduel, die Milliarden Dollar wert sind, die gibt es in Glasgow nicht. Aber ich erinnere mich, wie Edinburgh vor fünf Jahren aussah: die waren da, wo Glasgow heute ist. Wir haben einen guten Kern von Start-ups in Glasgow, wir brauchen nur ein paar Erfolgsgeschichten - und wir holen Edinburgh ein. ATMO What is the stuff you do? AUTORIN "Und, was machst du so?" Ein junger Mann im Polo-Hemd ist zum ersten Mal da, sein Gegenüber - ein Endzwanziger mit Strubbelfrisur - antwortet selbstbewusst: Er leitet eine Firma mit zehn Leuten. Seine Smartphone App hilft den Nutzern, persönliche Entscheidungen zu treffen: Soll ich das Kleid heute Abend tragen? Soll ich die Wohnung kaufen? ...Irgendwie machen alle hier etwas Virtuelles: sie betreiben Internetportale oder entwerfen Applikationen. Gut möglich, dass vor 100 Jahren genau solche jungen Männer hier standen und ihre Ideen austauschten: Denn damals wurden in diesem Raum die modernsten Kriegsschiffe der Welt entworfen: Es war das Hauptgebäude von Fairfield Shipbuilding: über 10.000 Menschen hatten Arbeit auf der Werft. Dieses Gebäude war das Silicon Valley seiner Zeit, die Ingenieure hier gehörten zur Weltspitze in Sachen Design und Technologie. Es ist toll, dass wir jetzt hier sind, mir gibt das ein gutes Gefühl. Und es ist so viel besser, mit anderen zusammen zu arbeiten, als alleine zu Hause zu hocken. Es sind Kleinigkeiten: Ashley dort drüben ist Fotografin - und Mark uns gegenüber ist Entwickler, diese Zusammenarbeit macht uns zu einer wirtschaftlichen Gemeinschaft... ATMO Hund AUTORIN Ein kleiner Terrier schleicht um Michaels Bein herum, ganz geheuer ist ihm der Auflauf nicht. Die Fotografin ruft ihn zu sich unter den Schreibtisch - aber der Hund folgt nur widerwillig... Das ist Andy - Ashleys Hund. Ashley hat zwei Hunde, der andere heißt Mac. Ich bin leider allergisch, aber alle anderen lieben die Hunde. Wenn du in Problemen fest steckst und dann kommt so ein Hund angelaufen - das ist schon schön. Nun ja, nicht für mich - ich muss dann niesen, aber alle anderen mögen es... :) ATMO AUTORIN Michael geht nun auch zu seinem Schreibtisch. Sein Partner Chris sitzt mit ein paar Jungs am Laptop - sie wollen sehen, was Add Jam so macht: Add Jam, die Firma von Chris und Michael. Die beiden haben Produktentwicklung studiert: sie entwerfen Smartphone Apps für Unternehmen und Kommunen: Die Stadt Glasgow hat bei ihnen eine Stadterkundungs-App in Auftrag gegeben. Der Großteil unserer Kommilitonen, ich würde sagen 80 bis 90 Prozent, arbeiten heute im Finanz- und Bankensektor: JP Morgan, Barclays oder sowas. Aber das ist nichts für uns. Wir haben es versucht, aber nach sechs Wochen dachten wir: o Gott, ist das schrecklich. Du entwickelst dich nicht weiter in diesen riesigen Unternehmen! Und dann gibt's eine Stechuhr - Leute, die schauen, dass du um 9 Uhr da bist und nicht vor fünf gehst. Aber das Leben läuft nicht so. Wir arbeiten bestimmt mehr als diese Leute, aber wir sind zufriedener. ATMO AUTORIN Michael geht noch einmal zum Billardtisch - wenn das Start-up-Treffen zu Ende ist, wird er sicherlich noch ein paar Stunden arbeiten: Denn bald wollen Chris und er ihr eigenes Internetportal auf den Markt bringen. Musik Musik Lit 3 Lit 3 Mitten im zweiten Teil der Schicht klopfte ein Inspektor an die Tür. Reilly hatte die Fahrerkabine verlassen und ging durch den Bus, um unter den Sitzen nach verlorenen Münzen Ausschau zu halten. Oh, Mist, murmelte er, während er zurückging, um die Tür aufzumachen. Hallo, Inspektor. Fahrplanmäßig sollten Sie erst in 11 Minuten hier sein, Fahrer, ich muss Sie aufschreiben. In der letzten Sitzreihe räusperte sich Hines. Nach einem kurzen Blick nach hinten sagte der Inspektor an Reilly gewandt: Hat Ihr Schaffner beim Sitzen immer die Schuhe auf dem Polster? Hines hüstelte. Der Inspektor sah ihn lange an. Ich hab es Ihnen schon einmal gesagt, Junge, die Füße runter vom Polster da - nur zur Information, da wollen sich Fahrgäste hinsetzen. Hines stand auf, kam nach vorn, die Hände in den Hosentaschen, und baute sich dicht neben dem Inspektor auf. Ihre Kontrollliste, Schaffner. Ich möchte sie sehen. Steckt im Fach. Hines zeigte auf die Ablage. Der Inspektor schniefte und nickte, ehe er ihm das Fahrtenbuch zurückreichte. Ich seh bei Ihnen keine Mütze. Hm. Wo ist sie? Ich hab sie heute Abend nicht dabei; mein Junge ist schuld, hat eine ganze Terrine Hühnercurry drübergekippt. Name und Nummer? Der Inspektor schlug eine Seite in seinem Notizbuch um. Unvollständige Uniform. Wie war der Name noch mal? Hines, Robert. Musik MOD Seit dem Abbau von Werks- und Lagerhallen und Fabriken, gibt es in Glasgow große brachliegende Flächen. Rund 1300 Hektar des Stadtgebietes sind leer, verunkrautet oder kontaminiert. Die Stadt Glasgow und verschiedene Initiativen versuchen daher, mit "community gardens", also Gemeinschaftsgärten, drei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen: Die Brachflächen zu nutzen, den sozialen Zusammenhalt der Bewohner zu fördern und gesunde Nahrung zu produzieren. Denn gerade in vielen sozial schwächer gestellten Familien ist der Konsum von frischem Gemüse und Obst immer noch die Ausnahme. Reportage 4 ATMO Oh, look! here we go! AUTORIN Vorsichtig setzt Margaret die Forke an und drückt sie in den Boden. Die Erde ist locker, es braucht nicht viel Kraft um die Zinken zwischen die Wurzeln zu schieben - und wieder kommt eine Kartoffel zum Vorschein... ATMO Ah, here we go. Nice big potato here... It's like looking for gold in the hills. You get such pleasure eating something that you have put in from seed, you know, in way back when it was cold and damp, way back in February, March and now this is the best time for harvesting... and they taste different from the ones in the shops... So I am get some more cause a few of the ladies want them. Das ist, wie wenn man nach Gold gräbt! Es bereitet mir großes Vergnügen, etwas zu essen, das ich selbst gesät und gezogen habe - damals, als es kalt und neblig war, im Februar und März... Die Ernte ist eine herrliche Zeit. Und das Gemüse schmeckt so anders als im Laden... Ich grabe noch ein paar mehr aus, die anderen Frauen wollen auch welche haben... ATMO AUTORIN Margaret Finch legt die Kartoffel zu den anderen am Rande des Hochbeetes, dann krempelt sie die Ärmel ihrer Fleecejacke nach oben - und geht zum Brokkoli-Beet hinüber. ATMO Brokkoli schneiden AUTORIN Ein halbes Dutzend Leute sind an diesem Freitagmorgen in den Gemeinschaftsgarten im Stadtteil Finnieston gekommen: mit Spaten, Gartenscheren und Gießkannen bewaffnet, wuseln sie zwischen den Hochbeeten umher. Während Margaret den Brokkoli erntet, jätet Liz das Kräuterbeet. James gießt die Bohnen. Seit vier Jahren gibt es den Garten: "G3 Growers" nennen sie sich - die G3 Gärtner also, denn mitmachen darf nur, wer im Postleitzahlbereich G3 wohnt. Ich wohne in der Sozialsiedlung gegenüber. Eines Tages hing in der Arztpraxis hier um die Ecke ein Zettel - Liz muss ihn aufgehängt haben - und als ich der Ärztin von meinen Depressionen erzählte, sagte sie sofort: Hier: Gehen sie zu den G3 Growers und gärtnern Sie! Das wird Ihnen gut tun. Ich hatte ja bisher keine Ahnung vom Gärtnern, aber ich lerne es hier - und das ist wirklich gut. ATMO Schritte - Rascheln AUTORIN Die Häuserwände werfen lange Schatten auf die Gemüsebeete: Außenstehende würden den Garten nur schwerlich finden, er liegt versteckt in einem Hinterhof. Die schmale Gasse, die zu dem schweren Gartentor führt, ist voller Müll. Dabei ist Finnieston keine arme Gegend: das Universitätsviertel mit seinen hippen Cafés ist nur einen Steinwurf entfernt. In den letzten Jahren sind viele junge Glasgower hierher gezogen, aber abseits der feinen viktorianischen Reihen-häuser gibt es immer noch einfache Wohnblocks, die früher der Stadt gehörten. ATMO Ibrahim, what are you doing? What's that? AUTORIN "Ibrahim, was machst du?" Almas beugt sich über den Bohnenbusch zu dem Jungen hinunter, der mit einer Plastikharke Erde in ein Eimerchen schaufelt. Der Kleine kniet im blauen Kaftan am Beetrand, während seine Mutter - ebenfalls im leuchtend bunten pakistanischen Gewand - den Bohnenstrauch nach Früchten absucht. Almas Ramji ist eine der Vorstände des Gartenvereins: sie entscheidet mit darüber, was gesät, gepflanzt und angeschafft wird, verteilt die Schichten - und besitzt den Schlüssel. Sie war es auch, die den Hinterhof entdeckte - als es darum ging, einen geeigneten Platz für einen Gemeinschaftsgarten zu finden. Überall lag Müll: Große Steine, verrostetes Metall, Holzplanken... Die Anwohner benutzten den Hinterhof als Müllabladeplatz, es sah schlimm aus. Matratzen, alter Hausrat - so wie draußen in der Gasse! Und der Boden war verseucht - von der Autowerkstatt, die mal hier war. Die Stadt hat das alles beseitigen lassen und dann wurden die Hochbeete angelegt. Zuerst hatten wir einen Gärtner, der uns half - von uns hatte ja keiner Erfahrungen! Ernten ist ja kinderleicht, und Unkrautjäten auch - aber wenn es ans Säen und Pflanzen geht... dann machen wir das alle zusammen. ATMO I will be going soon... LIZ: you have taken beans? Almas: I take some AUTORIN Almas zieht ihre Strickjacke an, sie muss heute früher weg. "Hast du dir Bohnen genommen?" Liz zeigt zum Gartentisch, auf dem sich Kohlköpfe, Zucchini - und eben auch jede Menge grüne Bohnen stapeln: Almas nimmt sich ein paar und auch einen Kohlkopf. Liz Thompson winkt ihr hinterher und wendet sich dem Kompost zu: sie will frische Erde holen, für die Bienenwiese. Das ist mein Steckenpferd: ich sorge dafür, dass die Bienen genügend Nahrung finden. Hier zum Beispiel: Ich weiß nicht, wie diese gelbe Blume heißt, aber die Bienen lieben sie! Wissen Sie, die Stadt redet viel von Artenvielfalt, es gibt einen Aktionsplan und so, aber in den Parks sehen Sie nichts davon! Da wachsen Geranien - hübsch anzusehen - aber sie haben keine Pollen! Sie tun nichts für die Tierwelt. Aber wir hier, wir machen was! :) ATMO Erde schaufeln AUTORIN Liz schaufelt die Erde aus dem Kompostkasten in ihren Eimer. Mit ihren 75 Jahren ist sie die älteste Gärtnerin hier. Frag Liz! - heißt es, wenn jemand Rat braucht beim Pflanzen oder Jäten, denn Liz Thompson besitzt seit 40 Jahren einen Schrebergarten - eine Rarität in Glasgow, die Wartelisten sind lang. Die meisten Glasgower wohnen in Mietshäusern wie diesen hier. Es gibt einen Hinterhof, aber keinen Garten. Die Folge: Die Menschen wissen gar nicht mehr, wie man mit frischem Gemüse kocht! Es kommen Leute in den Garten - wenn ich denen sage, möchten Sie ein paar Bohnen haben? Dann fragen sie: Wie kocht man die denn? Ich meine, Bohnen sind Bohnen - die kocht man halt! Aber die Leute wissen das nicht! Dabei spart man so viel Geld! Letzte Woche habe ich Äpfel, Schnittlauch, Kartoffeln und Bohnen von hier mitgenommen - das hat mich drei Tage lang ernährt. ATMO That's a nice cabbage AUTORIN Es geht auf zwölf zu - die ersten packen ihre Sachen und räumen die Geräte weg. Liz und Margaret stehen nun auch am Gartentisch und begutachten die Ernte. ATMO Allison! do you want a cabbage? AUTORIN Ob sie einen Kohlkopf haben möchte, ruft Liz einer jungen Frau im Muskelshirt zu - es sei so viel da, ergänzt Margaret: Kartoffeln, Brokkoli... Es scheint fast, als wollten die beiden Frauen ihr Gemüse möglichst weit verteilen - damit vielleicht bald noch mehr Anwohner in den Gemeinschaftsgarten kommen. Musik Musik Lit 4 Lit 4 Hines griff nach der Zigarette, die er sich schon gedreht hatte, und zündete ein Streichholz an. Beim Ausatmen sagte er: Ich geh morgen früh zum Dienst. Ich hab's mir überlegt, wär doch dumm, die Kündigungsfrist nicht abzuarbeiten. Sandra sah ihn an. Na ja, ich dachte bloß - wär doch dumm. Das Geld und so, ich mein, beim Arbeitslosengeld hab ich sowieso erstmal die 6 Wochen Sperrzeit, die schicken mich gleich zur Sozialhilfe. Und da wird das Geld, das du verdienst, angerechnet, und dann stehen wir da und kriegen nur den Mindestsatz. Jetzt, wo bald Weihnachten ist und so weiter, sagte er kopfschüttelnd, wir brauchen das Geld doch, und diese zusätzliche Woche bringt's. Findest du nicht? Sie nickte. Etwa zwanzig Minuten später war er rasiert und hatte seinen Anzug an, trug ein Hemd unter seinem Pullover. Er ging die Treppe hinunter und blieb am Hausflur einen Augenblick stehen. Es regnete gleichmäßig, aber nicht stark. Er knöpfte sein Jackett zu, schlug das Revers und den Kragen hoch, trat zur rechten Seite hinaus und hielt sich dicht an der Hausmauer. Um die Ecke herum, immer weiter, an der Haltestelle für die Busse zum Betriebshof vorbei. Er stieg in einen blauen Bus ein und fuhr nach Drumchapel. Musik ATMO Mod Glasgow ist nicht nur Sozialsumpf. Die Stadt hat auch eine andere, eine schöne und spannende Seite: Es gibt eine lebendige Musikszene, namhafte Museen, eine Oper - und Künstler, die in schöner Regelmäßigkeit den renommierten Turner Preis gewinnen. Brutstätte der Glasgower Kunstszene ist die Glasgower School of Art, die bereits 1845 gegründete Kunsthochschule. Ganz Glasgow weinte, als das von dem schottischen Jugendstil-Architekten Charles Rennie Mackintosh errichtete Gebäude im Mai 2014 bei einem Brand schwer beschädigt wurde. Reportage 5 Atmo Straßenmusik AUTORIN Es ist ein einfacher weißer Raum, in einem alten Fabrikgebäude am Stadtrand. Der Blick aus dem Fenster fällt auf eine Autowerkstatt, dahinter Brachland - wie so oft in Glasgow. Was hier früher mal war, wissen Tess und die anderen auch nicht: die jungen Künstler haben die Halle erst kürzlich angemietet, als Studio für ihr Künstlerkollektiv "Yaka". ATMO AUTORIN Tim und Rae-Yen sitzen auf dem Boden, vor sich das Laptop mit Entwürfen für ein Ausstellungsplakat. Tess kramt in einer Holzkiste, dann hat sie gefunden, was sie sucht: Eimer, Schaufel - und den Sack mit Gips: sie will ein Modell gießen, für eine Skulptur. Wir arbeiten gerade an einer Schau mit dem Titel "Schwarzes Loch". Wir wollen das Konzept des schwarzen Loches untersuchen, in der Psyche, im Weltall, in der Idee der Zeitreise... Das hier soll eine Pflanzenskulptur mit Augen werden... ATMO LACHEN Ein bisschen schräg und bizarr... ATMO AUTORIN Die vier haben vor einem Jahr ihren Abschluss an der Glasgow School of Art gemacht. Sie gehören zum Jahrgang jener Absolventen, deren Abschlussarbeiten beim Brand der Mackintosh Bibliothek im Mai 2014 verbrannten. Tess füllt den Gips in eine faustgroße Gussform. Wir waren dabei, unsere Arbeiten aufzubauen. Das heißt, ich war fünf Minuten vorher raus gegangen, um meine Installation zu holen - und als ich zurück kam sagte jemand, der Feueralarm sei losgegangen, ich käme nicht mehr rein. Die Leute kamen nach und nach aus dem Gebäude - aber es dauerte sicher noch eine halbe Stunde bis wir das Ausmaß des Feuers erkannten! Und da dachte niemand an seine Skulpturen, es ging eher darum: Sind alle draußen? Wo ist Rachel, hast du sie gesehen? Dann kamen die ersten Bilder im Fernsehen - und ich war fassungslos: Ich dachte, ok, das passiert wirklich. Es war so surreal... ATMO Tee eingießen, rascheln AUTORIN Die anderen sind ins Nebenzimmer gegangen: ein kleiner Raum mit Sofa, Kühlschrank - und einem großen Tisch. Rae-Yen und Tim sitzen immer noch an den Ausstellungspostern für das Schwarze Loch, es gibt Tee und Kekse. ATMO I made banana bread yesterday. AUTORIN "Ich habe Bananenbrot gebacken!" - Rae-Yen kramt einen mit Alufolie umwickelten Laib aus ihrem Rucksack, jeder bekommt eine Scheibe auf ein Küchentuch gelegt. 500 Pfund zahlt die Künstlergruppe für die Fabriketage, sie sind zu siebt, macht für jeden 70 Pfund. Das ist das Gute an Glasgow: Studioräume sind billig, man braucht nicht viel Geld um als Künstler zu überleben. Es gibt ein starkes Graswurzelgefühl in Glasgow. Du brauchst keine etablierte Galerie, um deine Kunst zu zeigen - du stellst deine Objekte einfach bei dir im Wohnzimmer aus. Das kommt häufiger vor: ein paar Künstler kommen zusammen, sie haben eine Idee, mieten einen Raum, laden Freunde ein - und das entwickelt sich dann zu etwas Größerem. Das ist wirklich aufregend! In Glasgow denkt man nicht ständig über Kunst nach - man macht sie einfach. ATMO AUTORIN Die sieben Yaka-Künstler haben alle den Studiengang für "Sculpture and Environmental Art", also Bildhauerei und Landschaftskunst besucht - ein angesehener Kurs, der in den letzten Jahren einige Turner-Preisträger hervor gebracht hat. ATMO Tess kratzt Gips AUTORIN Tess kratzt den trockenen Gips aus ihrem Eimer: Ihr Rock und die dicke grüne Strumpfhose sind mit weißen Fingerabdrücken übersät - das Pflanzenauge liegt vor ihr auf dem Boden: Auf die Bemerkung, es sähe ein wenig aus wie die berühmte Rose von Charles Rennie Mackintosh - dem Vater des Glasgower Jugendstils - reagiert sie entsetzt: Wenn du die Kunsthochschule besucht hast, versuchst du weit wegzubleiben von jeglichem Vergleich mit Mackintosh. Als ich an die Hochschule kam, war ich schon beeindruckt von ihm und seinem Design. Ich meine, es ist sehr schwer, nicht beeindruckt zu sein: Die Kunsthochschule, die er entworfen hat, ist so ein überwältigendes Gebäude: Unten ist es dunkel, aber wenn du in die oberen Etagen kommst, ist da dieses Licht - diese riesigen Fenster und diese hohen Decken: Sein Design war so anders als das, was vorher gebaut wurde: Mackintosh gehörte zur Avantgarde... ATMO rumpel, rumpel AUTORIN Tess schaut ihre fertigen Pflanzenaugen an: ATMO They might look ok when painted... "Wenn sie bemalt sind, sehen sie gut aus, denke ich..." ATMO Almost naturally looking from a distance... AUTORIN Ihre Abschlussarbeit an der Kunsthochschule war auch so eine Installation aus seltsam geformten Figuren, ohne Kopf... Sie verbrannte mit all den anderen Abschlussarbeiten. Tess hat nicht einmal ein Foto davon... Ich fühle ich mich jedes Mal ganz schlecht, wenn Leute mich fragen, wie ich damit umgehe: Ich empfinde es gar nicht so schrecklich, mein Kunstwerk verloren zu haben. Klar habe ich viel Zeit damit verbracht, es zu erschaffen, aber ich glaube, das Wichtigste ist, dass ich es gemacht habe. Wenn du ein Objekt fertig hast, dann lässt du los... ATMO Tess räumt zusammen Musik Zwischen Boomtown und Armenhaus - Die schottische Industriestadt Glasgow. Das waren die Gesichter Europas an diesem Samstag. Eine Sendung mit Reportagen von Kirsten Zesewitz. Die Literaturauszüge entnahmen wir dem Buch von James Kelman, "Busschaffner Hines", erschienen im Verlag Liebeskind, München 2003, gelesen von Hendrik Stickan. Musik und Regie: Simonetta Dibbern; Ton und Technik: Oliver Dannert und Gunter Rose. Redakteur am Mikrofon war Norbert Weber Musik 1