KULTUR UND GESELLSCHAFT Organisationseinheit : 46 Reihe : Literatur Ko Kostenträger : P 62 300 Titel der Sendung : "Afrika beginnt im Schwarzwald" Der Völkermord in Ruanda in der deutschsprachigen Literatur Autorin : Sabine Voss Redakteurin : Dorothea Westphal Sendetermin : 13.04.2014 Besetzung : Sprecherin (Autorinnentext), Zitatorin, Zitator Regie : Beate Ziegs Produktion : O-Töne, Musik Urheberrechtlicher Hinweis: Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Jede Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in den §§ 45 bis 63 Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig (c) Deutschlandradio Deutschlandradio Kultur Funkhaus Berlin Hans-Rosenthal-Platz 10825 Berlin Telefon (030) 8503- Sabine Voss Afrika beginnt im Schwarzwald Der Völkermord in Ruanda in der deutschsprachigen Literatur ----------------------------------------------------------------------------------------------------------------- Zitatorin So schön, die Blumen mit ihren herrlichen Blüten, vor allem die Bougainvilleen. Heute habe ich fast wieder Frieden geschlossen mit den Bougainvilleen. Ich war lange Zeit wütend auf sie, denn nach dem Genozid im April blühten sie überall, als sei nichts gewesen, das nahm ich ihnen übel. Wie frech, einfach weiterzublühen! O-Ton 1 Lukas Bärfuss Ruanda ist ein gesegnetes Land, ein wunderschönes Land. Ich habe selten landschaftlich schönere Orte gesehen als den Kivusee, wirklich unvergleichlich. Zitatorin Nach einem Genozid glaubst du, Blumen werden nie wieder blühen, der See wird nie wieder so still daliegen. Du glaubst, Schönheit dürfe es nicht mehr geben. Also ließ ich meine Wut an den Bougainvilleen und an allen andern Blumen aus, von denen ich nicht einmal weiß, wie sie heißen. Bei uns blühen Blumen einfach. Sie haben keinen Namen. Essen kann man sie nicht, warum sollte man sie also benennen? O-Ton 2 Lukas Bärfuss Dann ist es unwahrscheinlich eng besiedelt, weil der Boden ist so fruchtbar, und das Klima ist so anziehend, dass dort alle leben wollen. Man muss sich vorstellen, auf einer Fläche, ein Drittel der Schweiz, zwischen sieben und acht Millionen Einwohnern, aber ohne Hochhäuser. Die Berge sind bis in die Kammlagen bebaut, es gibt keinen Flecken unbebauten Landes. O-Ton 3 Rainer Wochele Ruanda wird ja auch genannt das Land der Milles Collines, also der tausend Hügel. Bewegt man sich im Markgräflerland, dann ist auf der einen Seite der Schwarzwald natürlich und auf der anderen Seite haben wir die Vogesen, und dazwischen haben wir die Weinberge, die kultivierten Felder. Und wenn man dort die Landschaft sieht und in Ruanda war, was ich gewesen bin, dann fallen einem Vergleiche ein. Und insoweit ist dann in meinem Seelenhaushalt eine Verwandtschaft zwischen den Landschaften entstanden. Sprecherin Afrika beginnt im Schwarzwald Der Völkermord in Ruanda in der deutschsprachigen Literatur Eine Sendung von Sabine Voss O-Ton 4 Rainer Wochele Solche Details wie dieser Geruch, der in Ruanda herrscht und der mich immer so an Weihnachtsgebäck erinnert hat, der ist eingeflossen in die Schilderung im Roman, die Farbe der Pisten, dieses Rot, Rötliche. O-Ton 5 Lukas Bärfuss Und rechts und links der Straße ein ewiger Strom von Menschen, und man ist erstaunt über die Ordnung, über die Pünktlichkeit, über die Sauberkeit. Ruanda ist wirklich einzigartig vom Organisationsgrad her. Auch die Menschen sind ganz ruhig und zurückhaltend, zivilisiert würde man sagen. Und dann muss man das immer gegenschneiden mit dem historischen Wissen, das man über dieses Land hat. Dass dort an manchen Stellen an einem Nachmittag zehntausende Menschen umgebracht wurden. Also 800.000 Menschen in hundert Tagen. Zitatorin Du hast uns zu früh verlassen, Innocent. Verlassen, diesen Euphemismus gebrauchen wir, um nicht sagen zu müssen, dass jemand gestorben ist. Aber du bist wirklich gestorben, am Samstag, dem 30. April 1994. Es fällt mir schwer, mir vorzustellen, dass dieser Tag für Menschen in anderen Ländern ein ganz normaler Tag war. Sprecherin Esther Mujawyo, die den Genozid an den Tutsi in Ruanda im Jahr 1994 überlebt hat, legt in ihrem Buch "Ein Leben mehr" Zeugnis ab - vor der Geschichte, der Welt, aber auch, um ihren drei Töchtern, die mit ihr überlebten, die Erinnerung an deren Vater und deren Vorfahren zu bewahren, da ihnen fast keine Verwandten geblieben sind. Seit ihrer Flucht lebt die kleine Familie in Deutschland. O-Ton 6 Esther Mujawayo Ich erzähle meinen Kindern, wie ihr Vater war. Er war schön und sportiv und so ein netter Vater, netter Mann, so, es gibt ein Leben von meinem Mann. Er ist nicht die Leiche auf der Straße. Weil die letzte Moment von mein Mann ist eine Leiche auf der Straße. Viele sind von Hunden gefressen. Weil sie waren auf so grausame Art ermordet, sie waren keine Menschen mehr, so du bist da für sie. In deine Souvenire sie müssen leben, aber schön, aber gut, wie früher, so wie sie waren. All das muss noch lebendig sein für die nächste Generation und für uns auch. Und das ist auch unsere Rache. Zitatorin Wir mussten uns in einem Raum versammeln, uns auf den Boden setzen, Mütter und Kinder auf die eine Seite, Männer und Jungen auf die andere. Sogar Mao, der erst zwölf war, musste sich zu ihnen setzen. Wir wussten, absolut, ohne Zweifel, ohne jede Hoffnung, dass man sie umbringen würde. Das war das Ende - sie erhoben sich, wir konnten nicht einmal Abschied nehmen voneinander. Innocent hat sich nur in allerletzter Sekunde zu mir umgedreht, hat mich eindringlich angeschaut und gesagt: "Bring meine Töchter weit weg." Sprecherin "Ein Leben mehr" erschien zehn Jahre nach dem Völkermord zuerst auf Französisch, kurze Zeit später auf Deutsch und beruht auf Esther Mujawyos Erzählungen, die die algerischstämmige, französische Journalistin Souad Belhaddad aufgezeichnet, bearbeitet, aber nicht geglättet, sondern in ihrem Gesprächston belassen hat. Die Erschütterung der Berichtenden, ihr Zögern, manchmal Verstummen, auch unvermitteltes Lachen, die Gedankensprünge sind in ihrer Erzählung erhalten geblieben. Zitatorin Innocents Leichnam habe ich nie gesehen. Sie haben ihn in ein Massengrab geworfen. Ich habe nicht gleich erfahren, wie er umgebracht wurde. Anfangs wollte ich wohl auch nicht genau wissen, wie er gestorben ist. Aber im Grunde schon. Ich wollte es wissen. Er wurde nicht auf der Stelle getötet. Erst haben sie ihm die Sehnen am Fuß durchgeschnitten. Weil einer entkommen war, haben die Mörder allen die Sehnen durchtrennt, damit die ihnen nicht auch noch entwischen konnten. Und so ließ man sie sitzen, die ganze Nacht hindurch haben sie gelitten. Und selbst wenn der Leichnam irgendwo aufgebahrt gewesen wäre, ich weiß nicht, ob ich ihn mir angesehen hätte. O-Ton 7 Milo Rau Ich verstehe nicht, wie Leute aus der gleichen Familie sich umbringen, dass ich meinen Neffen umbringe, vielleicht sogar meine Tochter, das ist mir komplett unverständlich. Und das wollte ich, ehrlich gesagt, herausfinden. Und ich denke, jeder, der sich mit so was beschäftigt, will das herausfinden, das hat etwas mit Verstehen-Wollen zu tun. Sprecherin Milo Rau ist Schweizer Bühnenautor und Regisseur. In seinen dokumentarischen Bühnenprojekten erforscht er politisch motivierte Gewalt, wie etwa das Gewaltregime des rumänischen Diktators Ceausescu. Sein Theaterstück "Hate Radio", das im Jahr 2011 in der Hauptstadt Ruandas, Kigali, uraufgeführt wurde, spielt in einer Radiostation. Der populäre Sender ,Radio Télévision Libre des Mille Collines', kurz RTLM, agierte während des Völkermords als eine Propagandazentrale. Von hier aus wurde das Morden vorbereitet, legitimiert und befeuert. Wie in der Wirklichkeit geht im dokumentarischen Stück das "Hate Radio" live auf Sendung, quasi als ein Kondensat aus tausenden von gesendeten RTLM-Stunden. Die Schauspieler kommen, bis auf einen Weißen, alle aus Ruanda. Zitator Courage! Und auch wenn uns das Bier langsam ausgeht, sollen die Leute in Gisenyi uns Neues brauen. Braut uns Bier, damit wir Spaß haben! Denn wir stehen kurz davor, diesen Krieg, den die Tutsi-Kakerlaken und wer auch immer uns aufgezwungen haben, auf spektakuläre Weise zu gewinnen. Unsere Freunde an den Straßensperren, die Leute im ganzen Land und die Soldaten der Ruandischen Armee an der Front - alle stehen kurz vor dem Sieg! Ja, Radio RTLM spricht zu Euch! Radio RTLM ist Euer Radio, wir plaudern, wir senden gute Musik und interessante Nachrichten! RTLM gehört allen Ruandern! O-Ton 8 Milo Rau Ich glaube, einer der Gründe, warum ich ein Stück über eine Radiostation gemacht habe und nicht über Mörder auf den Hügeln, ist, weil ich die Mörder überhaupt nicht verstehe, aber die Radiomoderatorin verstehe ich grundsätzlich schon mal. Das hat mir auch einer der Schauspieler gesagt, interessanterweise. Er ist ein Überlebender, aber er hat immer gesagt, ich gehöre zur Generation der Täter. Er war zufällig Tutsi, deshalb war er Opfer. Er konnte fliehen, aber wenn er Hutu gewesen wäre, wäre er Täter gewesen, seine Freunde sind alle Täter geworden, ihr ganzes Alkoholgehabe war Tätergehabe, aber dann war er im entscheidenden Moment das Opfer. Und er hat zu mir gesagt, ich könnte nur mit einem Mikrofon töten, aber niemals mit einer Machete. Ich wüsste gar nicht, wie ich das mache. O-TON RTLM Sprecherin Alle Moderatoren des RTLM standen nach dem Genozid vor Gericht. Die Prozessakten des Internationalen Ruanda-Tribunals, darunter auch viele Audiofiles und einige Videoaufnahmen, die im Radiostudio gedreht worden waren, hat Milo Rau für sein dokumentarisches Stück als Material benutzt. Vor allem war der Autor oft in Ruanda und hat ausführliche Gespräche mit Tätern im Gefängnis geführt. O-Ton 9 Milo Rau Also man hat ja so ein bisschen einen rasierten Nazi vor Augen, der stark ist und zynisch und womöglich betrunken. Und das sind extrem kontrollierte Leute, die extrem leise von ihren Taten sprechen, auch relativ genau, wie beispielsweise Valéry Bemeriki, die Moderatorin aus dem Radio, die sehr genau beschreibt, was sie gemacht hat, aber auch ihre politischen Hintergründe beschreibt. Und sie hat nie jemand von Hand umgebracht, sie hat indirekt im Radio dazu aufgerufen. Also ein Satz, den sie mir gesagt hat, war, im Grunde wollte ich gehört werden. Das ist eine hinkende kleine Person, sehr intelligent, aber nicht jemand, der prädestiniert war, irgendeine bedeutende Rolle zu spielen - und sie war ein Star während des Genozids. O-Ton 10 Esther Mujawayo Ich erinnere eine so schöne Musik, schöne Rhythmus, es war wie ein Ohrwurm, (singt). Was es sagt, ist, lass uns sie vernichten, lass uns sie vernichten. Textuelle! Wir vernichten sie, wir vernichten sie. So, die content, was ist drin, ist Vernichten, aber die Musik, die Rhythmus ist so schön, und alle fünf Minuten hast du das! Das ist eine Beispiel. Während die Genozid die Journalisten, sie haben immer telefoniert: 'Sag uns, wie ist die Arbeit da, In euer Viertel?' Und jemand sagt, 'hier gibt's noch viel viel zu tun, die Leute hier sind lazy, sind zu faul, sie arbeiten nicht genug.' So, es war die ganze Zeit interaktiv, auch für das Töten. Sprecherin RTLM war konzipiert im Stil westlicher Privatradios, interaktiv, frech, cool, humorvoll und völlig neu gegenüber dem langweilen Ruandischen Regierungsradio, in dem lange autoritäre Erklärungen verlesen wurden, so wie man das aus Osteuropa oder der Sowjetunion kannte. RTLM mischte gute Laune mit Sportnachrichten, angesagter Popmusik, politischen Pamphleten, Mordaufrufen. Über RTLM sprach der genozidäre Staat zu allen, egal ob jung oder alt, Bauer oder Intellektueller. RTLM war das Radio, das von allen gehört wurde - und eine Autorität. Jeder in den Mordkommandos an den Straßensperren hielt sich ein kleines Radio ans Ohr. O-Ton 11 Esther Mujawayo Es gibt keinen Ort in Ruanda, wo man hat widerstanden. Man hatte die Radio in die linke Hand und die Machete in die rechte Hand. Das ist echt typisch in '94. Ein klein Radio links in der Hand, und die Machete in rechter Hand. So, du hast den Befehl an dein Ohr, an dein links Ohr hast du die Befehl, und dann machst du mit deine recht... Deswegen, alle, die haben etwas zu tun mit diese Radio, sind echt verantwortlich. O-Ton 12 Milo Rau Das einzige, was wirklich bleibt und wirklich ein Beweis ist, sind die Worte. Es gibt die Worte der Überlebenden, und es gibt die Worte der Täter, und es gibt einen Ort, wo die Worte der Täter komplett aufgezeichnet wurden während dem ganzen Genozid, und das ist dieses Radiostudio. Es ist eine fast groteske Einmaligkeit, dass so etwas stattgefunden hat, dass Leute monatelang diese Dinge in einem Studio gesagt haben und alle Diskursmöglichkeiten dieses Diskurses wirklich ausgereizt wurden. Es ist wie ein Experimentalstudio des Rassismus im Grunde, und das ist so eine einmalige Chance. Die Leute haben mir gesagt, vor allem Leute vom Radio haben mir gesagt, es gibt nichts Langweiligeres als ein Radiostudio, als da rein zu gucken. In gewisser Weise stimmt das, aber das ist immer noch die interessanteste Möglichkeit, einen Diskurs zu zeigen. Sprecherin Milo Rau hat das originale Studio rekonstruiert und auf die Bühne gestellt: Einen Moderatorenraum, in dem die Schauspieler in ihren Rollen als Radiomoderatoren mit Kopfhörern auf den Ohren vor ihren Mikrophonen sitzen. Die Zuschauer sind beidseits des Studios platziert und schauen durch zwei Glasscheiben hinein. Gesprochen wird Französisch und Kinyarwanda. Die Übersetzung wird mit Beamern an die Wand projiziert. Seine deutsche Premiere hatte das Stück 2012 in Berlin, in fünfzehn Ländern wurde es aufgeführt. Was fängt man hier in Europa mit diesem fernen Völkermord an? In Ruanda, sagt Milo Rau, stellte man sich in Bezug auf den deutschen Genozid an den Juden lange Zeit die gleiche Frage. O-Ton 13 Milo Rau Meine ruandische Mitarbeiterin hat gesagt, für sie war der ganz große Schock, als sie gemerkt hat, dass die Ruander so schlimm sind wie die Deutschen. Das war für sie der Horror, weil es immer hieß, der Genozid an den Juden, das ist das Böseste, Hitler, Hitler, das sind die ganz, ganz Bösen. Und für sie war der Schock, dass die Deutschen nicht ein exotisches brutales Volk sind, sondern dass sie, die Ruander, diese hohe Nation, diese edle Nation genauso schlimm ist. Und ich habe im Grunde ein bisschen das Umgekehrte versucht, zu zeigen, dass es keine Distanz gibt und dass alle positiven Werte eigentlich Europa exportiert hat, dort kristallisiert verwendet werden, um einen Genozid zu legitimieren. Sprecherin Tatsächlich war die Schweizer Entwicklungshilfe an der Installierung des Senders RTLM wenigstens indirekt beteiligt. Als der Ruandische Minister für Information und Medien um "Entwicklungshilfe" bat, sagte man sie ihm zu - im Glauben, Demokratie brauche demokratische Medien. Also coachten Schweizer Experten den Journalistennachwuchs in Kigali mit Seminaren und Workshops darin, wie man modernes Radio macht - ohne abzuschätzen, wozu. O-Ton 14 Lukas Bärfuss Man hat sich eigentlich geprügelt, um ein Entwicklungsprojekt in Ruanda machen zu dürfen, es gab über zweihundert entwicklungspolitische Organisationen in einem Land, das nur ein Drittel der Oberfläche der Schweiz hat, also man ist sich wirklich auf den Füßen herumgestanden. Sprecherin Entwicklungshelfer sind die Protagonisten in Lukas Bärfuss' Roman "Hundert Tage", der im Jahr 2008 erschien. Seit der Unabhängigkeit, Anfang der 1960er Jahre, hatte die Schweizerische Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit Ruanda als Entwicklungsland entdeckt - um die demokratischen Institutionen zu stärken, um moderne Methoden der Landwirtschaft einzuführen. Ruandischer Ansprechpartner war Staatspräsident Habyarimana. O-Ton 14a Lukas Bärfuss Also dieser Habyarimana war in den Augen der westlichen Welt ein sehr progressiver und konstruktiver Herrscher, weil er die Vorgaben der internationalen Gemeinschaft sehr geflissentlich umgesetzt hat. Er hatte ein sehr großes Talent den Menschen, den westlichen Menschen nach dem Mund zu reden, ganz im Sinne der internationalen Geldgeber. Sprecherin Unter seinem Regime wurde die Volksgruppe der Hutu, der er selbst angehörte, begünstigt. Die Tutsi-Minderheit, fünfzehn Prozent der Bevölkerung, lebte, systematisch benachteiligt, am Rande der ruandischen Gesellschaft. Als Vorboten des späteren Völkermords fanden in den 70er Jahren Vertreibungen der Tutsi durch Hutu und sogar die ersten Massaker statt. Gleichwohl hat es immer gemäßigte Hutu gegeben, sogar solche, die Tutsi-Nachbarn, Freunden, Verwandten halfen und deshalb selbst zu Opfern wurden. Vor diesem Hintergrund mussten die Entwicklungshelfer vor Ort zwangsläufig in einen Widerspruch geraten: O-Ton 15 Lukas Bärfuss Die Menschen, die da gearbeitet haben, die waren beseelt von ihrem Glauben an Gerechtigkeit und an Solidarität und Ausgleich, und gleichzeitig wussten sie aber, dass sie dort nur arbeiten konnten, weil es jemanden gab, der diese Ideale mit Füßen getreten hat. Ich meine, das war ein totalitäres Regime, ein Apartheitsregime, das dafür gesorgt hat, dass das Land sicher war. Und Sicherheit ist ja Grundvoraussetzung für Entwicklungsarbeit. Also wenn man damit rechnen muss, erschossen zu werden, wenn man einen Brunnen baut, dann kann man nicht arbeiten. Und dass diese Sicherheit von einer bleiernen Ordnung kam, von einem totalitären Regime, das hat man einfach ausgeblendet oder hat es in Kauf genommen. Und dieser Spalt im Bewusstsein der Menschen, der hat mich interessiert. Sprecherin Mit den besten Absichten kommt der junge David Hohl als Frischling in die Gemeinde der Internationalen Entwicklungshelfer nach Kigali. Seine Geschichte erzählt er im Rückblick, nach dem Völkermord, wieder zurück in der sicheren Schweiz. Zitator Wir sind nicht gemacht für diese Nächte, ich und alle anderen von der Direktion, wir entstammen der Zone der Dämmerung. Wir bedürfen der Übergänge, des Zwielichts, wir sind auf die Rhythmen des Lichts angewiesen, die unser Leben begleiten. In unseren Breitengraden kann man nie mit letzter Sicherheit sagen, ob zu einer bestimmten Stunde noch Morgen oder vielleicht schon Mittag ist. Wann beginnt die Nacht, und wann endet sie? Wir bewegen uns im Ungefähren, aber dort, zwei Breitengrade südlich des Äquators gewährt die Sonne keinen Spielraum. Die Nacht fällt wie ein Fallbeil, ohne Dämmerung, bloß ein kaum merkliches Torkeln der Sonne kündigt das Ende des Tages an. Die Natur dreht den Schalter um, kein Moment wird gestundet, und kein Zwielicht gestattet, dass du auch nur eine Minute schindest. Vom ersten Augenblick an herrscht eine vollkommene, diskussionslose Dunkelheit, und das ist es, was Europäer zermürbt. Sprecherin Schwere Gardinen dämpfen die tropische Sonne im Koordinationsbüro in Kigali. David Hohl muss sich erst noch bewähren, tütet vorerst Einladungen für den Empfang zum jährlichen Entwicklungstag ein. Nach Dienstschluss treibt er sich mit Missland herum, dem Aussteiger und Ex-Entwicklungshelfer, dessen liederlicher Lebenswandel ein schlechtes Licht auf alle "Internationalen", insbesondere die Schweizer wirft. Missland säuft und hurt und hält sich einen Harem und scheint doch der einzige zu sein, der wirklich "hier" ist und sich nicht imprägniert hat gegen das afrikanische Leben. Zitator Wir hätten sieben Tage in der Woche ackern können, die Arbeit wäre uns nicht ausgegangen, und trotzdem langweilten wir uns. Wir saßen im Herzen des schwarzen Kontinents, aber es war einfach nicht heiß genug, um den metaphysischen Schreck zu fühlen. Wir hätten uns gerne ein wenig in das Vorzeitliche verstrickt. Aber keiner von uns hatte eine Ahnung, wo und wie er suchen musste. Der wichtigste Grund für unsere Liebe zu diesem Land war nach Misslands Ansicht die Tatsache, dass es hier keine Neger gab. Die Menschen sahen zwar aus wie Neger, aber in Wirklichkeit waren es afrikanische Preußen. Sie schwitzten nicht. Sie tanzten nicht. Sie kochten keine Kräuter aus, tranken keine psychedelischen Säfte. Nein, es waren liebe und brave Kerle, pünktlich folgsam, ungebildet, einfach, misstrauisch, kleinkariert, sie mochten keine lauten Feste, wenn sie tranken, dann schlossen sie sich dazu in ihre Häuser ein. Nur Missland behauptete, die Leute besäßen ein verstecktes Gesicht, ein hässliches, ein gewalttätiges, eines, das sie keinem zeigten. O-Ton 16 Lukas Bärfuss Ich glaube, das Hauptproblem, so lapidar, das klingt, war, dass diese Menschen einfach die Sprache nicht kannten. Sie haben kein Kinyarwanda gelernt, und zwar einfach deshalb nicht, weil es eine sehr sehr schwierige Sprache ist, also für Europäer, eine Sprache, die mit Tonhöhen arbeitet, mit Silben, und ein ganz anderes System behauptet als unsere. Und das schafft natürlich eine Distanz, die nicht zu überwinden ist. Es gab auch zwei Leben, es gab zwei Diskurse in diesem Land, einen in Französisch und einen in Kinyarwanda. Und der französische war der moderate Diskurs für die Internationale Gemeinschaft, und der extremistische fand in Kinyarwanda statt, und keiner hat ihn verstanden. Sprecherin Als das Morden beginnt, werden die internationalen Helfer ausgeflogen. Nur David Hohl bleibt in Kigali, verschanzt sich in seinem Haus. Drumherum tobt der Mob. Die Völkermörder kommen manchmal vorbei, lassen sich in seinem Garten nieder, um Pause zu machen. O-Ton 17 Lukas Bärfuss Eine Pornografie der Gewalt, eine Beschreibung dieser Massaker um der Beschreibung willen, das wollte ich nicht. Deshalb war es für mich notwendig, innerhalb dieses Völkermordes einen Ort zu schaffen, wo er nicht stattfindet oder wo er nur sehr vermittelt stattfindet. Und es ist auch eine Metapher oder eine Chiffre für die Seelenlage des Protagonisten, dass er es nie geschafft hat, dorthin zu kommen, wo das Leben tatsächlich stattfindet. Das heißt, er bleibt immer außen vor und sieht alles nur in der Vermittlung. Zitator Kurz darauf erschienen sechs Milizionäre in meinem Garten. Es waren junge Burschen, beinahe noch Kinder in grotesker Kostümierung. Um den Kopf hatten sie T-Shirts gebunden, im Gürtel steckte Grünzeug, mit dem sie ihre Herkunft bezeugten, Bananenblätter für jene aus Kigali und dem Süden, Tee für die aus Gisovu, Kaffeezweige für die Burschen aus dem Osten. Ich hätte sie für Karnevalisten gehalten, hätten sie keine Waffen getragen, Macheten, mit Nägel bewehrte Knüppel, und einer hatte irgendwo eine Handgranate ergattert, die er wie ein Schmuckstück an einer Schnur um den Hals trug. In einem von ihnen erkannte ich den Jungen, der damals im La Palmier die Gäste bedient hatte. Vince hieß er, und ich kannte ihn als scheuen, beinahe mädchenhaften Jungen, der kaum je ein Wort sprach. Ich rief ihn bei seinem Namen. Er ließ den Knüppel sinken und nahm die Pilotenbrille ab, und ich sah in ein von Tod und Alkohol vernebeltes, trübes Augenpaar, in ein Gesicht, das etwas von einem Neugeborenen hatte, mit den Zügen eines Greises, als hätten sie in der Dunkelheit, aus der sie kommen, einem Geheimnis beigewohnt. O-Ton 18 Lukas Bärfuss Das Perverse an diesem Völkermord ist, dass es in einer äußerst homogenen Gesellschaft passierte. In Ruanda gab es eine Sprache, es gab eine Kultur, es gab eine Geschichte. Das heißt, es waren nicht verschiedene Ethnien oder verschiedene Völker, nicht verschiedene Stämme, es war eine Nation, es war ein Land. Man hört ja oft, es seien ethnische Konflikte gewesen, und das stimmt in keiner Weise, das war ein politisches Programm zur Machterhaltung, und eine Elite sah sich in Gefahr und hat diese Unterschiede gezüchtet über Jahre und propagiert und herausgearbeitet und bis in die kleinsten Details gepflegt. O-Ton 19 Rainer Wochele Das darf man bitte nicht vergessen: Die westliche Welt und die Vereinten Nationen haben jenen Roméo Dallaire im Stich gelassen. Dallaire hat von Kigali aus verzweifelte Faxe nach New York geschickt, und hat gebeten, man möge ihm erlauben, militärisch einzugreifen. Mit 5000 Mann und mit ein bisschen militärischem Equipment könnte er den Völkermord stoppen. Nein, Frau Albrigth hat sich gewunden im Sicherheitsrat, nein, das sei kein Völkermord, das sei ein Gemetzel unter ethnischen Gruppierungen. Sprecherin Rainer Wochele hat den Helden seines Romans "Der General und der Clown" Roméo Dallaire nachgebildet. Dallaire war Kommandeur der UN-Blauhelmtruppe UNAMIR und aufgrund eines weichen Mandats dazu verurteilt, dem Grauen zuzusehen, ohne eingreifen zu dürfen. In einer Rede, die Dallaire 2002 im Holocaust Memorial Museum in Washington gehalten hat, beschrieb er, in welcher Lage er sich damals befand. O-Ton Roméo Dallaire You can't imagine the smell ... at the end of the phone. Zitator Sie können sich das nicht vorstellen: den Gestank, das Geräusch von Hunden, die Menschenfleisch fressen, ihr Geheul Nacht für Nacht. Es waren Hunderte! Und dann all die Leute, die mich anriefen und flehten, Soldaten zu schicken und sie da rauszuholen. Aber noch während ich mit ihnen telefonierte, habe ich gehört, wie ihre Tür eingetreten wird und die Menschen am anderen Ende der Leitung erschossen werden. O-Ton 20 Rainer Wochele Ich hab einen Zeitungsartikel gelesen, in dem es um posttraumatische Belastungssyndrome bei Afghanistan-Soldaten der deutschen Bundeswehr ging, und der Bundeswehrpsychologe, der dort zu Wort kam, hat verwiesen auf Roméo Dallaire, der nach Jahren und mehreren Selbstmordversuchen in seinem kleinen kanadischen Städtchen in einem Park gefunden wurde, voll mit Psychopharmaka, Alkohol und unter einer Bank liegend, zusammengerollt wie ein Kind im Mutterleib - und das Bild dieses Mannes, das hat mich fasziniert. Und dann habe ich begonnen, über Dallaire zu recherchieren, bin auf sein beeindruckendes Erinnerungsbuch gestoßen, "Handschlag mit dem Teufel". Sprecherin Roméo Dallaires Erinnerungsbuch erschien im Jahre 2003. Sein Titel "Handschlag mit dem Teufel" spielt auf seine Verhandlungen mit Hutu-Milizen an, wobei es darum ging, einer Gruppe von Tutsi, die in das Hotel Des Milles Collines geflüchtet waren, freies Geleit geben zu dürfen. Unter den Flüchtlingen waren auch Esther Mujawayo und ihre drei kleinen Töchter. O-Ton 21 Esther Mujawayo Ich habe ihn einmal in eine Sitzung irgendwo in England getroffen, und er war so sauer über sich, er hat gesagt, ich habe nichts geschafft. Er hatte dieses Schuldgefühl, und er war sehr, sehr deprimiert, fast suizidal. Und ich war so froh, wenn ich habe ihn getroffen, habe ich gesagt, mindestens bin ich da, weil Sie waren da. Ich bin mit meine Mädchen, ich habe es geschafft, nach der Ermordung von mein Mann, ich habe geschafft, die Blauhelme zu erreichen, und sie haben uns in eine Konvoi in eine safe place, in eine sichere Ort gebracht. So, er hat versucht. So ich denke er ist sehr modest, er ist sehr bescheiden. Er hat gesagt, es reicht nicht. Ich könnte mehr machen. Ich könnte mehr retten. Er hat recht, er hätte ... meinen Mann auch, meine Eltern auch, meine Schwester auch. Ja, und er hat recht. O-Ton 22 Rainer Wochele Aber dann war mir klar, ich muss meinen eigenen Mann auf die Beine stellen, und ich muss das Thema von Ruanda wegziehen nach Deutschland, in die Nähe von uns. Und mir ist eingefallen, wir haben mal eine Tandemtour im Breisgau gemacht, im Markgräflerland, und wenn man dort die Landschaft sieht und Ruanda war, dann fallen einem Vergleiche ein, und plötzlich wusste ich, hier muss das Ding spielen. Und als ich den Ort hatte, einen Kur-und Badeort, einen relativ exklusiven, den es dort gibt, dann begann dieser Umschmelzungsprozess, und dieser Versuch, hier eine Kunstfigur zu schaffen. Die Originalfigur ist sozusagen der Bruder im Geiste meines John F. Geisreiters. Also die fiktionalisierte Figur, die Kunstfigur ist im Schwarzwald. Sprecherin Rainer Wochele hat den Kanadier im Schwarzwald verwurzelt: Seine ausgewanderte Großmutter stammte aus Schramberg und hat ihn als Kind immer wechselweise "my boy" oder "mei Büble" genannt. Außerdem war Geisreiter einige Jahre im nahegelegenen Lahr stationiert. Er spricht also geläufig Deutsch und quartiert sich nun als Kurgast im Hotel Stella ein. Zitator In einem Kur- und Badeort, wie Bad Niedermatten einer war, durfte man doch, bitte schön, auf Linderung hoffen. Und dies konnte vielleicht hier gelingen. In all der Zeit seit damals daheim nicht gelungen. Also jetzt hier. Nahe Lahr. Nahe Schramberg. In Deutschland. Innerhalb einer Frist, seines selbst gesetzten Ultimatums von zweieinhalb, von drei Wochen vielleicht. Sonst Schluss, aus. Das musste weg und heraus aus ihm. Endlich. Endlich. Und war doch da. Natürlich. War immer da. Und war jetzt in diesem Moment wieder da, jetzt, im Bad Niedermattener Kurpark. War hell. War grell. Wie es immer hell und grell gewesen. Verströmt Geruch, Gerüche, wie es immer Gerüche verströmt hatte, war etwas, das plötzlich losraste in einem. Wegen nichts. Wegen nichts. Wegen allem. Jetzt losraste. O-Ton 23 Rainer Wochele Er hat sich entschlossen, dorthin zu gehen, um in der Landschaft seiner Vorfahren jetzt endlich zur Ruhe zu kommen und sein Erinnerungsbuch schreiben zu können. Denn er weiß mittlerweile, er muss diese Erlebnisse irgendwie aus sich herausbringen. Er hat eine Pistole bei sich und spielt mit dem Gedanken, wenn ihm dies nicht gelänge, nämlich seine Erfahrungen niederzuschreiben, sich umzubringen. Esther 24 Mujawayo Sprechen oder schreiben. Wichtig ist: Ausdrücken. Ausdrücken. Es soll raus! Das Beste ist, es soll raus. Sprecherin Esther Mujawayo arbeitet als Therapeutin in einem psychosozialen Zentrum mit Flüchtlingen in Düsseldorf und engagiert sich in der ruandischen Witwenorganisation "Avega", die sie nach dem Genozid mitbegründet hat. Esther 25 Mujawayo Ich sehe das mit meine Klienten hier. Heute ich habe noch jemand, wir haben drei Gespräche gehabt, und er hat mir so etwas gesagt, ich werde es nie vergessen. Er hat gesagt, danke schön, Esther, ich musste es nicht, dass Sprechen kann so hilfreich sein. Ich habe gelacht, ja, ja, ja, ich weiß das, deswegen mache ich diesen Job. Es hilft echt. Weil, du hast alles in dir, aber alles, alles, es ist zu viel. Zitatorin Unsere Witwengeschichten, eine war schrecklicher als die andere; trotzdem wollte jede ihre Geschichte erzählen, und jede wollte wissen, wie es anderen ergangen war. Ein Grund, aus dem wir mit anderen selten über den Genozid gesprochen haben und auch heute noch selten darüber sprechen, war der, dass die Geschichten für den, der sie hört, sich immer gleich anhören. Für uns aber, die wir sie erlebt haben, sind sie eben nicht gleich. Es kommen nicht dieselben Personen vor, die Vornamen sind anders, auch die Verwandtschaftsgrade, die Tatorte, die Hügel, die Details sind nicht dieselben, jedes Opfer hat ein anderes Ende gefunden. Aber derjenige, der sich unsere Geschichten anhört, gewinnt trotz allem den Eindruck, immer wieder denselben Film zu sehen, nur mit anderen Schauspielern. Also wird er dir sagen, den Film kennt er schon und wird ihn sich kein zweites Mal anschauen. Dasselbe steckt hinter der Redewendung: "Wir haben schon gespendet." Und zu uns sagen die Leute: "Wir haben schon zugehört." Sprecherin Geisreiters Ehe ist gescheitert - an seinem posttraumatischen Syndrom, weil er nicht loskommt von Ruanda, weil er für die Gewalt, die in ihm ist, noch keine Sprache gefunden hat. Sein therapeutischer Aufenthalt in Bad Niedermatten bekommt mit dem Auftritt Lissy Brändles eine entscheidende Wende. O-Ton 26 Rainer Wochele Mir war klar, dieser Geisreiter braucht ein Gegenüber. Und eine Frau deswegen, und das behaupte ich mit aller Strenge: Der Geisreiter ist voller Tod, und die Frau steht für das Leben, steht für die Lebendigkeit, steht für die Vitalität. Wenn ich eine Geschichte über jemanden erzähle, der so viele Schrecklichkeiten, so viel Tod, so viel tote Kinder, so viel tote Frauen gesehen hat und nicht helfen konnte, und nun liegt das auf seiner Seele, dann ist es ein Akt des Vertrauens in das Gleichgewicht der Welt, sag ich jetzt etwas pathetisch, dass es auf der anderen Seite auch das Leben gibt und geben muss. Das Leben geht ja weiter, sie sagt an einer Stelle, John, du musst leben, wir alle müssen leben, und drum die Frauenfigur, die dieses verkörpert. Sprecherin Der Kurort Bad Niedermatten bietet die angenehme Seite des Lebens. Und Geisreiter lässt sich ein auf diese Lebensart des "la vie badoise", die geprägt ist von Genüsslichkeit, von Leichtigkeit, von Ayurveda-Anwendungen und Massagen, vom Drink auf der Hotelterrasse. In dieser Welt ist die Hotelmanagerin Lissy Brändle zu Hause. Mit achtundzwanzig Jahren ist sie Geisreiters noch sehr junger Gegenpart, ein heller lichter, mit Heiterkeit begabter Charakter. Lissy Brändle verströmt ihre Lebenszuversicht, ist jederzeit bereit, anderen davon abzugeben und erweist sich als dem traurigen suizidalen Ex-UN-General gewachsen. Zitator "Hier", sagt er und hält ihr mit der rechten Hand noch immer die Pistole hin, mit der linken klopft er sich geistesabwesend auf der Brust auf seine Jacke. Das sei eine Canadienne, "wir nennen bei uns solche Jacken Canadienne. Sind sehr warm. Sehr warm sind die sogar." "Ja", sagt sie ruhig und ist nun dicht vor ihm, "ihr nennt solche ärmellosen Westen Canadienne." Auf einmal weiß sie genau, wie sie sich verhalten muss. Und sie denkt, er muss es selber tun. Während sie den Regen noch immer kalt über ihr Gesicht wischen spürt, flüstert sie ihm zu, was er jetzt, sofort, machen wird. Er blickt sie an. Das Lächeln auf seinem Gesicht ist erloschen. Noch immer weist die Pistole in ihre Richtung. Da schreit sie ihn an: "Los, John, los". Und leise wiederholt sie, was sie gesagt hat. "Du bist Soldat. Und machen nicht Soldaten, was man ihnen sagt?" Abermals flüstert sie ihm zu, was er tun soll. Er steht wie gelähmt. Starrt sie an. Da macht sie einen Schritt zur Seite, um aus der Zielrichtung der Pistole zu gelangen, tritt zu ihm, beugt sich zu seinem Gesicht und küsst ihn behutsam auf die Wange, vielmehr, dicht unter sein Auge küsst sie ihn, und spürt Nässe auf ihren Lippen, salzige Nässe und klare Nässe. "Bitte", flüstert sie, "bitte, John..." O-Ton 27 Rainer Wochele Er geht in sein ursprüngliches Leben zurück, das er gelebt hat vor seinem Einsatz in Ruanda, und er ist nun ein Anderer geworden, und diese Veränderung wurde herbeigeführt auch durch die Begegnung mit Lissy Brändle, und nun kann er wieder leben! Er ist einer geworden, der in die Hölle geblickt hat, und wo die Hölle ist, ist auch ein Teufel, und wo ein Teufel ist, ist auch ein Herrgott. Insoweit geht er als ein Anderer zurück nach Hause, als einer, dem es möglich geworden ist, mit dem Grauen - von dem er weiß, er negiert es ja nicht - zu leben und dieses in sein Bewusstsein einfließen zu lassen in seine zukünftige Wirklichkeit. Der Weg muss letztlich immer über die Brücke zum Leben gehen. O-Ton 28 Esther Muyawajo Ein Leben mehr: Natürlich für die Überlebenden, weil wir waren fast tot. Jetzt, in unsere Organisation Avega wir haben entschieden, nein, wir sind nicht tot, und wir möchten nicht nur Überlebende sein. Wir möchten lebendig lebendig sein. So, ein Leben mehr für uns. Zitatorin Alles haben sie zerstört oder geplündert. Und viele von uns haben sogar ihre Gesundheit eingebüßt. Wir haben so viele Hiebe mit der Machete abbekommen, dass bei vielen Frauen das Genick sozusagen nur noch am seidenen Faden hängt. Klaffende Schnitte am Kinn, im Gesicht, im Nacken. Uns sind grauenhafte Narben geblieben. Wir verstecken uns; scheuen die Öffentlichkeit. Wir verrotten zu Hause. Sprecherin Esther Mujawayo beleuchtet in "Ein Leben mehr" immer wieder auch das Weiterleben nach dem Völkermord. Ihr Buch fügt den Berichten anderer Überlebender von Genoziden die ruandische Perspektive hinzu. Als angefragte Referentin auf Kongressen zum Thema Genozid, wird Esther Mujawyo gern auch konkret, wenn es darum geht, den Opfern zu helfen. Ihre Aktion, für die sie Spenden sammelt, heißt: "Jeder Witwe des Genozids in Ruanda eine Kuh!" O-Ton 29 Esther Mujawayo Eine Kuh ist ein Wert, ein Sparkassenbuch. Hast du eine Kuh, kannst du in schwerer Zeit die Kühe verkaufen. Du besitzt etwas. Wir sind Agrarleute. Die Leute leben auf dem Hügel und pflanzen alles, was wir essen. So, wenn du hast eine Kuh, du hast Dünger. Wenn du hast Dünger, du hast bessere Ernte. Und das ist auch ein Reichtum, du hast Milch auch. Aber für die Witwen in Avega, ich finde das so wichtig. Warum es war mein Traum, eine Kuh zu schenken, es war auch, weil viele sind so traumatisiert, sie haben alle Familie verloren, alles war geplündert, das Haus war kaputt gemacht, die Kühe waren geschlachtet, und du hast nichts. Du bist Witwe, du bist arm, du bist krank, du bist so unter unten unten in die Gesellschaft. Ich habe alles verloren, ich bin gar nichts. Aber wenn du bekommst eine Kuh, die beste Geschenk, das jemand kann geben, ja, dann bist du jemand. Dann gehst du ein bisschen hoch (lacht) in die Gesellschaft. Zitatorin Achtzig Prozent der Frauen, die überlebt haben, wurden vergewaltigt und über die Hälfte ist HIV-infiziert. Diese Opfer leben in einem unerträglichen Widerspruch. Sie verdanken ihr Leben einer Vergewaltigung. In den meisten Fällen brachten die Täter zuerst die Familien um, vor den Augen des Opfers, das anschließend missbraucht, aber nicht ermordet wurde. Die Mörder haben diese Opfer tatsächlich am Leben gelassen, weil sie eine Hölle durchleben sollten, die schlimmer sein würde als der Tod. Soll heißen, die Täter ersparten ihnen den Tod, weil sie bis ans Ende ihrer Tage bereuen sollten, dass man sie am Leben gelassen hat. O-Ton 30 Hanna Jansen Dort wieder anzuknüpfen, wo das Leben noch in Ordnung war, eine Welt, in der eine ganz normale Familie auch sehr eng miteinander verbunden war, dahin zurück zu gehen bedeutet, diesen Wahnsinnsschmerz und Verlust zuzulassen. Und deswegen glaube ich, dass viele versuchen, das von sich abzuspalten. Sprecherin Hanna Jansen hat inzwischen ihr zweites Jugendbuch über Ruanda geschrieben, von ihren Kindern dazu animiert. Denn die Autorin und ihr Mann, der Kinderarzt ist, hatten nach dem Völkermord ruandische Kinder in ihre Familie aufgenommen. Deren Eltern waren umgekommen, sie selbst hatten überlebt. Aber auch ruandische Kinder verurteilter Täter, die im Gefängnis saßen, fanden in der deutschen Familie ein neues Zuhause. O-Ton 31 Hanna Jansen Also es war erstmal dies: Tür aufmachen für junge Menschen, die ein Zuhause brauchten. Und was wir auch völlig unterschätzt haben und uns gar nicht klar war, dass eben beide Gruppen bei uns waren und die natürlich auch untereinander unausgesprochen immer dieses Misstrauen hatten, und das ist auch erst viel später thematisiert worden in unserer Familie durch das Schreiben meiner Bücher eben, wo ich die Kinder sehr stark einbezogen habe, weil ich allen immer so die fertigen Manuskriptteile vorgelesen habe und wir dann miteinander darüber gesprochen haben. Sprecherin Der Protagonist von "Herzsteine", Hanna Jansens jüngstem Buch, ist Sam, sechszehn Jahre alt, Sohn eines deutschen Arztes und einer Mutter aus Ruanda, die den Völkermord überlebte, der die Flucht gelang, die darüber aber nicht spricht. Sie hat das Grauen in sich eingekapselt, die Verbindung nach Ruanda gekappt, auch Sams Vater rührt nicht an der Vergangenheit. Die kleine Familie lebt in einer unausgesprochenen Spannung, bis Sams Mutter von ihrem Trauma eingeholt zu werden scheint und droht, ernsthaft krank zu werden. In der Hoffnung auf Erholung, zieht die kleine Familie probeweise nach Sylt. Zitatorin Sam lockert seinen Anschnallgurt, um ein Stück nach vorn zu rutschen. Er beugt sich vor und platziert seine Hände auf die Lehnen zwischen seinen Eltern. Mum wendet kurz den Kopf, um ihn flüchtig anzulächeln. Sie trägt eine große Sonnenbrille, obwohl überhaupt kein Wetter dafür ist. Dads Hals glänzt rosarot von einem alten Sonnenbrand. Ein Rot, das sich mit dem seiner Haare beißt. Mit dem rostroten Lockenkranz um seinen sonst kahlen Schädel. Auch Mum wirkt fast, als wäre sie völlig kahl. Ihr dichtes schwarzes Kraushaar ist so kurz geschoren, dass man ihre Kopfhaut sehen kann. Tief dunkelbraun, fast genauso dunkel wie ihr Haar ist ihre Haut. Eine Korallenkette schmiegt sich eng um ihren langen, schlanken Hals. Felicitas - seine Mutter, die ihm oft ein Rätsel ist. Dad nennt sie Fe oder in besonderen Momenten seine Fee. Wie so oft wünscht sich Sam, dass er Gedanken lesen könnte, um herauszufinden, was gerade in ihr vorgeht, was sie fühlt oder denkt. Ob sie selbst daran glaubt, dass ihr dieser Probeumzug helfen wird. Sam verengt die Augen, bis vor seinem Blick alles wie in einem Aquarell verschwimmt. Auch der helle Bronzeton seiner Hände, die noch immer zwischen seinen Eltern liegen. Die Farbe seiner Haut ist die perfekte Mischung. Sprecherin Auf Sylt beschließt Felicitas, dass sie zurück nach Ruanda muss. Und als Sam sie ein halbes Jahr später besucht, beginnt die Reise eines Heranwachsenden zu seinen afrikanischen Wurzeln. In Ruanda wird er erfahren, wer seine Mutter wirklich ist, was sie erlebt und verloren hat. O-Ton 32 Hanna Jansen Die Stadt Kigali habe ich erlebt als eine Stadt in einem verordneten Aufbruch. Es wachsen die Hochhäuser nur so aus dem Boden und es wird unglaublich viel getan, um eine Vorzeigehauptstadt nach westlichem Vorbild dort entstehen zu lassen. Es ist eine ungeheure saubere Stadt, da könnte jede Stadt hier blass werden vor Neid, aber es dürfen zum Beispiel diese Parks auch nicht betreten werden. Es ist sehr sehr gespalten. Sprecherin Als Hanna Jansen zusammen mit ihrem Adoptivsohn Jeanneau im Jahr 2011 das Land bereiste, erlebte sie einen post-genozidären Staat, in dem die Zugehörigkeit zu einer Volksgruppe per Gesetz abgeschafft wurde und es verpönt ist, darüber auch nur zu sprechen, wer Hutu und wer Tutsi ist. Auf den Hügeln leben Opfer Tür an Tür mit den aus der Haft entlassenen Tätern. Was sie eint, ist Pragmatismus - man ist aufeinander angewiesen -, aber auch eine staatlich verordnete gemeinsame Identität: "Wir sind jetzt alle Ruander". O-Ton 34 Hanna Jansen Und da kann man wohl von oben sagen, wir wollen neu anfangen, es sollen jetzt alle Ruander sein, und das ist vielleicht auch kein schlechter Ansatz, aber es wird nicht innendrin und tief innen wird das so nicht funktionieren. Das ist ja auch der Titel meines Buches: Herzsteine. Da trägt jemand auf seinem Herzen Steine mit sich rum, und wenn der Stein mal vom Herzen fallen soll, dann muss, denke ich, auch eine Chance da sein, sich mit dem auseinander gesetzt zu haben, was so schmerzlich ist. Sprecherin Sam wohnt in Kigali mit seinem Vater in einem schicken Hotel. Das Wiedersehen mit Fe ist für beide eine Enttäuschung, so distanziert und entrückt, wie sie ist. Sichtbar wird nun - vielleicht endlich -, dass die Beziehung der Eltern längst schon gescheitert ist. Sam vertraut seine Erlebnisse und Eindrücke von diesem eigenartigen Land seinem Reisetagebuch an. Zitator Stell dir vor Enna, Mum wohnt mit einer alten Frau und deren Enkel in einem kleinen Haus aus Lehm. Ohne Küche. Ohne Bad. Ohne Strom. Täglich schleppen sie eigenhändig Wasser in Kanistern an, das sie zum Kochen oder Waschen brauchen. Gekocht wird auf einer Feuerstelle im Hof. Und Mum hat nur ein kleines dunkles Zimmer mit nichts als einem Bett darin. Ich habe wirklich nicht die leiseste Idee, warum sie sich das antut. Übrigens soll ich zu der alten Frau ,Oma' sagen, Nyogoku, was mir komisch vorkommt, weil ich nie eine Oma hatte. Diese Oma hat mich angefasst, regelrecht abgetastet. Kann ja sein, dass sie nicht mehr viel sieht und dass sie einfach fühlen wollte, wer ich bin. Jedenfalls fand ich es extrem eigenartig, als ihre langen, dünnen Finger mich berührten. Gleich nachdem wir angekommen waren, überraschte uns ein heftiges Gewitter, wir mussten schnell ins Haus. Drinnen war es viel zu eng, und es gab nicht genügend Stühle. Nur Dad und ich, die Oma und eine ältere Nachbarin kriegten einen Sitzplatz. Der Rest musste stehen. Dad war stumm wie ein Fisch. Total erschöpft wahrscheinlich, weil er sich vor lauter Bemühen, nett zu sein, die ganze Zeit so abgestrampelt hatte. Obwohl er sich bestimmt nicht wohlgefühlt hat. Wie auch? Mum hat sich ihm gegenüber so verhalten, als ob er bloß irgendein Bekannter wär. O-Ton 35 Hanna Jansen Also ich denke, einmal hat er gelernt, sich selbst zu öffnen, auch seiner Mutter gegenüber. Er hat es dann doch geschafft, auch ihr zu zeigen, wie enttäuscht er auch von ihr ist. Das ist das eine. Aber er will auch nicht zurück in dieses Leben, in dem er seinen Vater leiden sieht, aber der Vater auch mit diesem Kummer nicht offen umgehen kann. Und er hat ja auch zwischen den Fronten ein Stück weit gesteckt, und er versucht jetzt, seinen eigenen Weg zu gehen. Und ich glaube, das ist das, was ich ihm auch ermöglichen wollte, weil ich das sehr wichtig finde, dass junge Menschen eine Chance kriegen, sich aus solchen Spannungsfeldern ein Stück weit raus zu bewegen und ihren Weg zu gehen. Sprecherin Hanna Jansens ruandische Adoptivkinder sind in Deutschland zur Schule gegangen, haben hier studiert, sind junge Erwachsene geworden, die versuchen, ein normales Leben zu führen. Dazu gehören bis heute Albträume, Episoden der Trauer und Depression. Wie sieht das Leben der Nachgeborenen des Völkermords in Ruanda aus? Welche Auswirkungen hat es auf junge Ruander, was ihren Müttern und Vätern widerfuhr? Oder was diese anderen angetan haben? O-Ton 36 Esther Mujawayo Ich denke, die Spuren sind da: Ein Mädchen, Überlebende, die ganze Familie ist ermordet. Sie ist infiziert mit Aids. So, die Spuren sind da. Dieser Effekt von Genozid, sie lebt damit, sie leiden. Dann kommt ein anderes Mädchen - das ist komisch, sie haben die gleichen Vornamen, Jeanne, Jeanne -, aber die andere Jeanne war Tochter von Täter, von Täter! Der hat die Familie von die andere Tutsi-Jugendliche ermordet. Und vielleicht auch vergewaltigt. Und diese Mädchen hat auch erzählt, wie schwer es ist, immer zu leben und du bist die Tochter von...., die Tochter von... Wie schwer. Niemand kann mich sehen als Jeanne, ich bin immer Jeanne, Tochter von diese Täter. So, ich denke, beide Kinder, sie tragen etwas von die Geschichte. Und ich hoffe, dass in die kommende Generation wir können eine friedlich Land und fröhlich Land sehen. So, dieses sind meine Träume. Zitatorin "Warum hast du's mir nicht gesagt?" Was Anna die Lektüre dieser Zeilen so schwer gemacht hat, war die Unmöglichkeit, einem Tod ins Auge zu sehen, den sie sich so barbarisch nicht vorgestellt hatte. Menschen werden umgebracht, erschossen, erdolcht oder was weiß ich, jedenfalls hackt man sie nicht in Stücke, man verstümmelt sie nicht. Das kann sich ein kleines Mädchen nicht vorstellen - nicht für seinen Vater. So ist nie ein Wort über Innocents Tod über meine Lippen gekommen, bis zu jenem Zeitpunkt zehn Jahre später. Sonst hätten die Mörder doch endgültig gewonnen, also! 1