KULTUR UND GESELLSCHAFT Organisationseinheit : 46 Reihe : Literatur Kostenträger : P 62 Titel : Fertig mit Gott. Jüdische Schriftsteller befreien sich von ultra-orthodoxen Glaubensvorschriften AutorIn : Sigrid Brinkmann Redakteurin : Barbara Wahlster Sendetermin : 11.12. 2012 Regie : Clarisse Cossais Besetzung : Autorin, Zitatorin, Sprecherin, Zitator (bitte vorab aufnehmen) Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Jede Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in den §§ 45 bis 63 Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig (c) Deutschlandradio Deutschlandradio Kultur Funkhaus Berlin Hans-Rosenthal-Platz 10825 Berlin Telefon (030) 8503-0 DLR Kultur: Literatur 11.12.2012, 19.30 - 20.00 "Fertig mit Gott. Jüdische Schriftsteller befreien sich von ultra-orthodoxen Glaubensvorschriften". Von Sigrid Brinkmann Redaktion: Barbara Wahlster Atmo: Gesang Autorin 1: Wer als Jude oder Jüdin weltliche Literatur liest und schreibt, ist in den Augen ultraorthodoxer Juden ein abtrünniger Mensch - eine verlorene Seele, die von keinem Engel mehr beschützt wird. Gesang aufblenden Take 1 (Reich): Ich habe zwei Schwestern, die haben mit mir Kontakt gehalten, die haben mir erzählt, bei Mutter bist du tot. Autorin 2: Asher Reich kommt aus Jerusalem. Er verließ das ultraorthodoxe Viertel Mea Shearim, nachdem ein Rabbiner ihn wegen seiner Glaubenszweifel weggeschickt hatte. Take 2 (Reich): Das war sehr schwer für einen Jungen mit achtzehn Jahren, rauszutreten. Wo soll ich gehen? Ich kenn keinen nicht. Mea Shearim war so wie ein Stern für sich selbst. Also, ich habe gesagt, ich gehe weg mit was ich habe und ich bin gegangen in ein Geschäft in der Mitte der Stadt, im Zentrum, und ich habe gesehen ein Geschäft von Bausachen. Und ich habe gesagt, ich will arbeiten ein paar Tage. Ich habe geschlafen in Bussen und gewusst, dass die einzige Sache, wo ich kann existieren, ist zum Militär gehen. Autorin 3: Asher Reich begann als Soldat Gedichte zu schreiben. Er studierte Philosophie und wurde zu einem angesehenen Lyriker und Erzähler. In das fromme Viertel seiner Kindheit ist er nach seinem Weggang 1955 nur zweimal zurückgekehrt; einmal mit einem Kamerateam, das andere Mal im Beisein des Schriftstellers Chaim Be'er, der in seinem Roman "Stricke" die Atmosphäre in der geschlossenen Welt von Mea Shearim beschrieben hat. Musik Mira Magén wusste bereits sehr früh, dass sie der Enge in der Kleinstadt Kfar Saba entfliehen und sich der starren Ausübung von Glaubensgesetzen niemals beugen würde. Take 3 (Magén): Yes, I was rebellious since I remember myself ... darauf Sprecherin 1: So weit ich zurückdenken kann, war ich ein rebellisches Wesen. Ich wusste mit zehn, dass ich anders leben wollte. Aber wenn man in einer ultra-orthodoxen Familie und Gemeinde groß geworden ist - wo sich jeder penibel an die Einhaltung von Vorschriften hält -, hat man es sehr schwer, die Regeln aufzugeben. Man schleppt das einfach mit sich herum. Die Gebote sind tief in deinem Inneren verankert. Ich bewege mich innerhalb und außerhalb der orthodoxen Welt. Ich lege mich nicht fest. Nie. Ich bin wie die Taube in der Arche Noah. Sie hat keinen Platz gefunden, wo sie sich hätte niederlassen und ausruhen können. ... never found a place to out its legs on and to rest. Unrested. Autorin 4: Mira Magén studierte Psychologie und machte eine Ausbildung zur Krankenschwester. Seit 1993 publiziert sie Romane, in denen obsessive Gottesleugner auf Charaktere stoßen, die im Alltag lauter Zeichen göttlichen Wirkens aufspüren. Zu ihren frommen Geschwistern hat sie eine enge Bindung. Nur über Politik und Religion reden sie bewusst nie miteinander. Und ebenso wenig über ihre Literatur. Nathan Englander wuchs in einer ultra-orthodoxen Gemeinde auf Long Island in den USA auf. Zum Studium jüdischer Geschichte zog er nach Jerusalem, und ausgerechnet dort traf er die Entscheidung, weltlich zu leben. 1999 debütierte Englander mit dem Erzählband "Zur Linderung unerträglichen Verlangens". Seine Familie verstieß den abtrünnigen Sohn - wie sonst üblich - nicht. Im Gegenteil: Die Schwester versorgt den Bruder zuverlässig mit Klatsch und Tratsch für Eingeweihte: Take 4: Oh, I have to tell you this story, I shouldn't but it is so good! Darauf Sprecher 1: "Oh, diese Geschichte sollte ich dir nicht erzählen, aber sie ist einfach zu gut! Hör dir das an, aber versprich mir, dass du nicht darüber schreibst, ja?" Es gibt ein Menge Insider-Details, die sie mir steckt. Am Ende sagt sie immer: Ich möchte nicht, dass du darüber schreibst, und dann: Ach was, du bist mein Bruder. Und meinen Bruder Joe in Jerusalem, den kann ich trotz der sieben Stunden Zeitverschiebung jederzeit anrufen und ausfragen. Mitten in der Nacht bleibt er dran, um sämtliche Information zu finden, die ich brauche. ... It is night but he is on the ball like finding me... Autorin 5: Nathan Englander lebt heute wieder in New York. Er wurde 1970 geboren, im selben Jahr wie Shalom Auslander. Auslander kommt aus Monsey, einer 30 Meilen nördlich von New York gelegenen Kleinstadt. Wie Englander hat auch er als junger Mann in Jerusalem definitiv mit dem ultra-orthodoxen Glauben gebrochen. Ihn hatte die Familie nach kleinen Diebstählen zu "Besserungszwecken" ins Heilige Land geschickt. Take 5: Six months I was there. The era was coming ... Darauf Sprecher 2: Ich musste mich entscheiden, ob ich zu meiner irrsinnigen Familie zurückkehren wollte oder weiter bei denen blieb, die schon dankbar auf die Knie fielen, wenn ich nur die Kippa trug. Ich hab' mir gesagt: Das ist doch ein guter Deal! Nach all den Kämpfen habe ich aufgegeben und begonnen, koscher zu essen, am Schabbat aufs Auto zu verzichten, keine Pornos mehr zu lesen - alles, damit Gott mich am Leben ließ. Das ging fast zwei Jahre lang gut. Plötzlich aber sah ich mich mit schwarzem Hut und Gebetsschal in Mea Shearim herumlaufen. Ich dachte: Was zum Teufel machst du hier? Nachts saß ich schon im Flugzeug nach New York. Und dann? Eine Hure und einen Cheeseburger - keine 24 Stunden später. ... and afterwards (Lachen) a hooker and a cheeseburger, 24 hours later. Atmo Come on sugar-daddy (Hure spricht Kunden an) Autorin 6: Shalom Auslanders Buch "Eine Vorhaut klagt an" ist ein gotteslästerlicher, manisch geschriebener Lebensbericht und zugleich ein Zeugnis bestürzender Ratlosigkeit. Für Auslander kulminiert die desaströse Vorstellung einer seelisch-geistigen Unterwerfung in den zwei Wörtern Mea Shearim. Seit Jahrzehnten befindet sich das gleichnamige ultra-orthodoxe Viertel in Jerusalem in den Händen der Haredim - der Gottesfürchtigen. In den Augen der säkularen Juden gebärden sich die Haredim wie eine "messianische Junta": Die Gottesfürchtigen sprechen dem Staat Israel jede Legitimation ab und dennoch beanspruchen und erhalten sie staatlich geförderte Privilegien. Asher Reich, Mira Magén, Nathan Englander und Shalom Auslander erzählen in ihren Romane und Geschichten von Gewissensnöten und blasphemischen Befreiungsschlägen ultra-orthodox erzogener Juden. Auch als Weggelaufener fühlt sich Shalom Auslander lebenslänglich "quälend und lähmend" an den jüdischen Glauben gebunden. Mit dem Erzählband "Ein Mann mit einer Tür" kehrt Asher Reich zurück in das Mea Shearim der neunzehnhundertvierziger und neunzehnhundertfünfziger Jahre. Er war damals ein heranwachsendes Kind. Seine Geschichten begreift er als poetische Dokumente. Take 6 (Reich): Kinder, gläubige und ultra-orthodoxe Kinder müssen viel Fantasie haben. Sie haben kein Spielzeug, machen keine Reise, gehen nicht in die Natur, sehen kein Tier, Hund und Katze, und dann fehlt etwas. Autorin 7: Und weil es Asher Reich nicht anders ging als den Kindern, über die er spricht, erinnert er sich - als wäre es gestern - an lauter sonderbare Dinge, die in seinem Viertel passierten. Sounds von Elliot Sharp Sprecher 3: In den Gassen barsten die Pflastersteine, und hier und da traten Löcher auf, die geradewegs ins Dunkel der Unterwelt führten. Die Hühner auf dem Hof legten Eier mit schwarzer Schale. (...) Sobald ich ins Bett ging, liefen gespenstische Schatten über die Wände, und irrsinniges weibliches Kichern drang aus dem großen Spiegel des Kleiderschranks. Esel, die vor ihren arabischen Herrn flüchteten, kamen um Mitternacht ins Viertel und schrien wie wild, als würden sie abgestochen. (aus: Asher Reich, Ein Mann mit einer Tür, Erzählungen, Aus dem Hebräischen von Ruth Achlama, S. Fischer Verlag, Frankfurt/Main 2012) Autorin 8: Seite um Seite zieht Asher Reich den Leser tiefer hinein in eine abergläubische Welt, in der böse Verwünschungen ausgestoßen und diffamierende Vermutungen gestreut werden. Selbst Jugendliche praktizieren archaische Rituale. Sprecher 4: Schlag zwölf, im hellen Vollmondschein, schnitt Leibale der Taube, die in seiner Hand flatterte, mit dem Rasiermesser die Kehle durch, riss ihr das Herz aus dem zarten Leib und wickelte es noch warm und flimmernd in ein Stück Pergament. Mir zitterten die Hände, als ich das eingewickelte Herz in das Glas legte und mit Erde auffüllte. Dann hob ich das Glas dem Vollmond entgegen und murmelte aufgeregt die Gebetsworte, die ich mir rechtzeitig eingeprägt hatte: "Ich beschwöre euch Engel der Anmut und euch Engel der Wissenschaft, das Herz des Mädchens Schoschana (...) dahin zu wenden, dass sie nichts ohne mich tut, nicht isst und trinkt, weder schläft noch ruht, dass sie Mutter und Vater vergisst und ihr Herz mit meinem Herzen in vollkommener Liebe vereint sein wird, möge dies Gottes Wille sein!" (aus: Asher Reich, Ein Mann mit einer Tür, Erzählungen, Aus dem Hebräischen von Ruth Achlama, S. Fischer Verlag, Frankfurt/Main 2012) Autorin 9: Das Mädchen Shoshana hat Asher Reich nie vergessen. Sechzig Jahre nach seiner Abkehr von den ultra-orthodoxen Glaubensriten erschreckt ihn die abergläubische Welt der Haredim. Die brachiale Gewalt, mit der Sittenwächter Wohnungen in Mea Shearim durchkämmten, wertet er klar als kriminelle Akte. Asher Reich rechnet entschieden mit der Gefühlshärte der jüdischen "Soldaten Gottes" ab. Take 7 (Reich): Diese Prosa ist herausgekommen von mir so wie ein Vulkan von Material, ich habe das geschrieben und nicht viel stilisiert. Nachher habe ich gesehen, was ich geschrieben habe, ein bissel korrigiert, natürlich. Das war so wie heißes Material, das hat gelegen in meinem Herzen oder meiner Seele, meinem Kopf auch, sehr lang und hat gebraucht herauszukommen, zu brechen ....und ich habe gewusst, das muss kommen. Musik Take 8 (Englander): Literature is enlightening, I feel it feeds the world ... Darauf Sprecher 5: Literatur bringt Licht und Klarheit. Sie ist wie Nahrung, und ich glaube an ihre Kraft. Nur wer schwach im Glauben ist, kann sich von Geschichten bedroht fühlen. Meine Mutter kommt aus dem Reformjudentum und ist erst durch die Heirat orthodox geworden. Sie war es, die uns Liebe und Respekt vor der Kunst in all ihren Formen mitgegeben hat. Das hatte etwas Subversives und auf jeden Fall etwas Lebensrettendes. ...definitely life-saving. Autorin 10: Nathan Englander ist versöhnt mit seiner Herkunft. In der Kindheit und Jugend gab es für ihn nichts außer Thorastudium, Vorabendserien und Actionfilme mit Schwarzenegger und Sylvester Stallone. Längst ist Englanders Talent, Gewissensfragen mit Witz und argumentativer Schärfe zu verhandeln, international anerkannt. 2012 erhielt er für sein Buch "Worüber wir reden, wenn wir über Anne Frank reden" den renommierten Frank O-Connor-Preis für Kurzgeschichten. In der Titelgeschichte bekommt ein in Miami wohnendes, säkulares jüdisches Ehepaar Besuch von Freunden, die 20 Jahre zuvor nach Israel gezogen waren und gemäß ultraorthodoxen Glaubensprinzipien leben. Die Besucherin trägt eine Marilyn-Monroe-blonde Perücke. Englander ist fasziniert von der Weise, wie die Gläubigen Vorschriften unterlaufen. Seine Gottesfürchtigen verletzen außerhalb des Heiligen Landes schon mal die vorgeschriebenen Verhaltenscodices. Trocken formuliert Englander den Geisteszustand einer frommen Mutter: Sprecher 6: Shoshana nimmt den Joint, steckt ihn mit einem Streichholz an und inhaliert tief. "Zur Zeit ist es ein Wunder, wenn ich mich überhaupt an was erinnere", sagt sie. "Ich sage euch, das sind die Kinder. Nach der Geburt des ersten habe ich die Hälfte von allem vergessen, was ich wusste. Und dann bei jedem weiteren wieder die Hälfte. Zehn Kinder später ist es verwunderlich, wenn ich dran denke, ein Streichholz auszublasen, nachdem ich's angesteckt habe." (aus: Nathan Englander, Worüber wir reden, wenn wir über Anne Frank reden, Stories, Aus dem Amerikanischen von Werner Löcher-Lawrence, Luchterhand Verlag, München 2012) Autorin 11: Der unkoschere Whiskey schmeckt allen und befeuert Lachsalven - bis der Gastgeber das Geheimnis seiner Frau verrät. Neben der üppig mit Konservendosen bestückten Vorratskammer hat sie ein geräumiges Versteck angelegt - für den Fall, dass ein zweiter Holocaust bevorstehe. Dem verdutzten Gast aus Israel schlägt sie vor, sich in die Position eines Nichtjuden einzufühlen. Die anderen entschieden dann, ob sie ihm glauben, dass er Juden bei Gefahr verstecken würde. Es sei kein Spiel, sagt der Gastgeber ermunternd: "Es ist nur das, worüber wir reden, wenn wir über Anne Frank reden". Take 9 (Englander) : It is a game that my sister invented. It is the way ... Darauf Sprecher 7: Meine Schwester hat dieses Spiel erfunden, weil wir in der Vorstellung erzogen wurden, dass wir jetzt zwar in Sicherheit leben, aber man ja schließlich nie wissen könne. Normalität, das gab es nicht. Das ist so dermaßen pathologisch, so bestürzend und paranoid, aber wie bei allem, was man erforscht und hin- und herwendet, entdeckt man die Gegenseite. Juden sind in Amerika natürlich gut angesehen und bilden eine große Gemeinde, aber wenn man die allgemeine Geschichte betrachtet, dann endete es für die Juden wirklich zu keiner Zeit gut. ... never ever been a time in history where it did not end badly for the Jews. Autorin 12: Die moralisch so gefestigt auftretenden Gäste halten dem "todernsten Gedankenexperiment" nicht stand. Die fromme Shoshana starrt ihren Mann nur an. Sprecher 8: Aber würde ich dich denn nicht verstecken? Selbst wenn es um Leben und Tod ginge - wenn es dich retten würde und sie mich dafür umbrächten? Würde ich es denn nicht tun? Shoshana zieht ihre Hand zurück. Sie sagt es nicht. Und er sagt es auch nicht. Keiner von uns vieren wird sagen, was nicht gesagt werden kann - dass diese Frau glaubt, ihr Mann würde sie nicht verstecken. Was sollen wir tun? Was käme dabei heraus? Und so stehen wir da, wir vier, gefangen in der Speisekammer. Voller Angst, die Tür zu öffnen und herauszulassen, was wir drinnen eingeschlossen haben. (aus: Nathan Englander, Worüber wir reden, wenn wir über Anne Frank reden, Stories, Aus dem Amerikanischen von Werner Löcher-Lawrence, Luchterhand Verlag, München 2012) Musik Autorin 13: In Nathan Englanders Stories werden souverän behauptete Lebens- und Glaubensgewissheiten häufig im Nu entwertet. Dass seine Geschichten meist im jüdischen Milieu spielen, sagt er, sei für die Grundkonflikte, die er aufspürt, nicht entscheidend. Take 10 (Englander): As someone who is not sure of anything I witness ... Darauf Sprecher 9: Ich bin jemand, der sich wirklich keiner Sache sicher ist. Ich will verstehen, wie Leute Gesetze auslegen, wie sie sich moralisch verhalten, wie sie Heuchelei vermeiden wollen. Auch Scheinheiligkeit gehört zum Menschsein. Was stellen sie mit sozialen Verträgen an, die das Leben von Leuten direkt berühren; wie verhält sich der Rabbi dazu oder ein Minister - oder irgendeine Autorität, die weitreichende Befugnisse hat. Für Grundbesitz sind Leute bereit zu sterben. Es gibt viele Ungereimtheiten in der Weise, wie wir uns selber betrachten und wie wir andere sehen. ... how we see ourselves and how we choose to see others. Autorin 14: Englanders Figuren befinden sich mental und seelisch im Krieg mit der Natur, mit Nachbarn, mit politischen Gegnern und den eigenen Kindern. Richtig sarkastisch wird er in der Geschichte "Ewige Nachbarn", in der eine alte Siedlerin mit schneidender Kälte ein mündliches Versprechen einklagt und sich dabei zutiefst ins Unrecht setzt. Seit vierzig Jahren triumphiert die alt gewordene Frau über ein Stück Erde, das im Sechs-Tage-Krieg annektiert worden ist. Nacheinander verliert die Siedlerin den Mann und drei Söhne. Verbittert vom Leben, erzwingt sie vor einem rabbinischen Gericht die Dienste einer jungen Nachbarstochter. Hier zeigt sich, dass Nathan Englander atemberaubend scharf Argumentationsketten entwickeln kann. Gesetzliche Bestimmungen zu legitimieren oder zu bestreiten, das hat er an der Jeschiva, der Talmudschule, gelernt. Seine Geschichte über die Abgründe ewiger Nachbarschaft beendet er, indem er einen Immobilienhändler auftreten lässt. Der ist von Berufs wegen fixiert auf den schönen Schein. Sprecher 10: "Die alte Frau, die da unten wohnt", sagt er, und Lisa und Dimitri folgen seinem Finger, "sie brauchte das Geld, das sie mit dem Verkauf des Landes verdient hat, wollte sich aber für nichts auf der Welt aus ihrem Häuschen herauskaufen lassen. Diese Art von Standhaftigkeit gibt es hier. Wo sonst finden Sie das noch? Das ist das Salz dieser Erde." Wie um das Gesagte zu unterstreichen, fährt ein Rollstuhl mit einer alten Frau die Rampe vor der Hütte herunter, geschoben von einer abgehärmten, mittelalten Frau. "Sehen Sie?", sagt der Immobilienmakler. "Genau solche Leute haben diese Stadt aufgebaut. Das sind Nachbarn vom alten Schlag. Eine kranke, ältliche Mutter und eine Tochter, die ihr Leben dafür gibt, für sie zu sorgen. Jedes Mal, wenn ich hier bin, sehe ich die beiden herumfahren. Die stören keinen. Sie beide werden sich hier wohlfühlen", sagt er. "Das verspreche ich Ihnen. Das hier ist ein Berg, auf dem sich ein Leben aufbauen lässt." (aus: Nathan Englander, Worüber wir reden, wenn wir über Anne Frank reden, Stories, Aus dem Amerikanischen von Werner Löcher-Lawrence, Luchterhand Verlag, München 2012) Take 11(Englander): That story - when I finished it - I could not sleep ... Darauf Sprecher 11: Als ich diese Geschichte zu Ende geschrieben hatte, war an Schlaf nicht zu denken. Ich war noch nie so aufgewühlt und so verunsichert. Die Story hat die Leser in Amerika und Israel wirklich polarisiert. Manche sahen darin eine rechtsnationale Erzählung, die den Siedlungsbau rechtfertigt. Andere fanden, dass sie nur einen Schluss nahelegt: Israel muss sich aus den besetzten Gebieten zurückziehen, die Siedlungen müssen verschwinden. Am liebsten sind mir die, die das Gegenteil ihrer eigenen Gesinnung aus meiner Erzählung herauslesen. ... and see the story as the opposite of whatever their position is. Autorin 15: Und so fährt Nathan Englander fort, anmaßendes Verhalten zu beobachten, Lebenslügen mit sarkastischen Bemerkungen zu quittieren und uns zu rühren mit Geschichten von Menschen, die sich die eigene Lebensgeschichte bruchstückhaft aneignen. Musik / Soundakzent Take 12 (Auslander): I don't pretend to speak for judaism ... Darauf Sprecher 12: Ich kann nicht fürs Judentum sprechen. Sondern nur über das, was ich selbst durchgemacht habe. ... speak form your own experience. Autorin 16: Shalom Auslander hat sich vor vielen Jahren aus New York ins legendäre Woodstock zurückgezogen. Dort lebt er mit Frau und Kindern und schreibt von seinem Leben unter der Fuchtel eines streitsüchtigen Gottes und kämpft wortgewaltig gegen Bilder, die sich seinem Gedächtnis eingebrannt haben. Take 13: The great heroes were ... Darauf Sprecher 13: Die größten Helden waren immer diejenigen, die im Elend umkamen. Wenn ein gewisser Rabbi an den Hoden aufgehängt wurde, dann war das ein toller Mann. Aber eben nicht ganz so großartig wie der Typ, der vor den Augen seiner Familie gehäutet wurde. Diese Art der Leidenspornographie ist nichts für mich, und ich weiß nicht, warum man nicht aufhört, solche Gräuel zu erzählen. Ich gucke mir das an, als säße ich in einem Film. ... as a movie. Autorin 17: Shalom Auslanders Erzählfluß hat etwas Manisches. Der Autor erscheint wie ein Getriebener, den es quält, dass er keine größeren existenziellen Botschaften zu bieten hat. 2013 wird Shalom Auslanders jüngster Roman "Hope. A tragedy" auf Deutsch erscheinen. Wie Nathan Englander nutzt auch Auslander die Person der Anne Frank als ein Symbol für das Leiden und die Gefährdung, der Juden ausgesetzt waren. Auslander stellt sich vor, was aus Anne Frank geworden wäre, wenn sie die Lager Auschwitz und Bergen-Belsen überlebt hätte. Er sieht sie als alte Frau, die den Mitbewohnern im Haus das Leben schwer macht. In einem Interview mit dem britischen Guardian sagte Shalom Auslander: Sprecher 14: Vom sechsten Lebensjahr an musste ich mir an jedem Holocaust- Gedenktag Wochenschauen aus Dachau ansehen und immer tauchte dabei auch das lächelnde Gesicht der Anne Frank auf. Es stand für die Unmenschlichkeit der Gattung und ebenso für mein künftiges Schicksal. Als kleiner Junge fand ich das nur furchtbar. Mit achtzehn sah ich ihr Gesicht und dachte bloß noch: Ich weiß, es ist schrecklich, aber lass mich in Ruhe. In meinem Roman grabe ich mich durch zu ihrem fiktionalen älteren Selbst. Sie war ein Störenfried, kein kleines, trauriges Opfer. Sie hat das Tagebuch geschrieben, weil sie wollte, dass es veröffentlicht wird. Wenn Anne Frank überlebt hätte, wäre sie eine echte Nervensäge geworden. Und ich, ich bin auch nichts anderes als eine Nervensäge. Soundakzent Autorin 18: Bei Mira Magén erscheint Gott als "König, tötender und belebender und Rettung erschaffender." In jedem ihrer Romane erleben die Figuren harte Schicksalsschläge. Die einen suchen Trost bei Gott, die anderen schlingern haltlos durchs Leben. Und dann gibt es noch die, die sich schleichend verändern und sich den Zufälligkeiten des Lebens öffnen. Sie sind auf eine verborgene, intime Weise fromm, haben aber vorwiegend weltlich lebende Freunde. Manche sind Agnostiker. In ihrem Roman "Wodka und Brot" stellt Mira Magén die Liebesfähigkeit ihrer Protagonistin auf die Probe. Erst spät begreift diese, dass ihr Mann an einer unheilbaren zerebralen Krankheit leidet, die ihn allem und jedem langsam entfremdet. Take 14 (Magén): When I started ... darauf Sprecherin 2: Als ich den Roman zu schreiben begann, wollte ich nur von einer Familie erzählen, die vorübergehend eine neue Lebensweise erproben möchte und sich sozial und ökonomisch neu orientieren muss. In der Phase erhielt ich eine schreckliche Nachricht. Ein junger, sehr enger Freund hatte auf dem Weg nach Hause plötzlich vergessen, wo er wohnte. Er ging zum Arzt, und einen Tag später teilte man ihm mit, dass er an einem nicht-operablen Gehirntumor litt und noch ein Jahr zu leben habe. Bis zu seinem Tod war er bei klarem Verstand. Die Pistole, die zuhause lag, gab er einem Freund, denn er hatte Angst, sich umzubringen. Nach zehn Monaten hat Gott ihn abberufen. Mich hat das alles furchtbar mitgenommen. Das Schicksal dieses Freundes hat die Romanhandlung zwangsläufig verändert. Verfügen wir wirklich noch über einen freien Willen, wenn das Schicksal derart zuschlägt und alles zerbricht? Diese Frage stellte sich plötzlich ganz brutal. Uns bleibt doch nur unsere ganz persönliche Weise, uns der Situation zu stellen und sie zu begreifen. ... the way to perceive the situation, the interpretation you give. Autorin 19: Mira Magén ergänzt, dass sie immer auf der Suche nach dem "allerkleinsten Kern unserer Seele" sei, der von allem unberührt ist, "nur uns gehört und uns ausmacht". Die "kleinste Bezeugung des freien Willens" drückt sich im Wunsch des unheilbar kranken Mannes aus, weit wegzugehen und in der Ferne zu sterben - allein oder unter fremden Menschen. In einer anderen Szene läßt Mira Magén ein junges Mädchen auftreten, das von ihren strenggläubigen Eltern verstoßen wurde, weil sie am Schabbat eine Zigarette geraucht hatte. Ihre Freiheit besteht darin, nicht zum Begräbnis des Vaters zu gehen; zu sagen, dass es ihr am "Arsch vorbeigehe", ob er lebt oder gestorben ist, denn dieser Mann habe nicht wie ein Vater gehandelt, als er seine minderjährige Tochter aus dem Haus jagte. "Gott", sagt Mira Magén, "geht einem in die Knochen wie Kalzium". Wenn man ihn einmal verinnerlicht habe, dann wird man ihn nie im Leben fernhalten können. Deshalb schließt sie für das Verschwinden ihrer Romanfigur Gideon ein tröstliches Ende nicht aus. Sprecher: "Ich werde nie erfahren, ob er in einem in Felsen gehauenen Kloster aufgenommen wurde, wo ihn tibetanische Mönche mit Reis fütterten, sich über seine Eigenheiten wunderten und ihn für einen Heiligen hielten. Oder ob er auf einem verschneiten Gipfel seinen letzen Atem aushauchte und Adler seine Leiche fraßen, oder ob er im Schnee erfror. Und es gab noch andere Arten zu sterben, die nicht weniger logisch waren, zum Beispiel, dass Gott ihn liebte und ihn als Engel zu sich nahm." (Aus: Mira Magén, Wodka und Brot, Aus dem Hebräischen von Mirjam Pressler, DTV, München 2012) Take 15 (Magén): In our holy scripts there is a Midrash ... darauf Sprecherin 3: In unseren Heiligen Schriften (Tanach und Talmud) gibt es einen Midrasch - eine Auslegung, die davon spricht, dass am Ende der sechs Tage währenden Schöpfungsphase weitere zehn Dinge geschaffen wurden; so als ob Gott plötzlich bei Einbruch der Dämmerung noch schnell etwas dazu schaffen musste. Warum zehn Schöpfungen und nicht elf? Für mich ist die Dämmerung, das Zwielicht, die Grauzone, die elfte Schöpfung. Gott hat dem Zweifel Raum gegeben. Neuschöpfungen brauchen den Zweifel und die Frage. Zwielicht ist etwas Schönes. In meinem Leben gibt es lauter Ungewissheiten. Ich zweifele an der Welt, aus der ich komme und an der Welt, die ich suche. ... about the world I came from and the one I look for (Lachen) Autorin 20: Unumwunden gibt Mira Magén zu, dass sie ihrer Intuition und ihrer sinnlichen Wahrnehmung mehr traue als ihrem Verstand. Wie Asher Reich, Nathan Englander und Shalom Auslander hat sie aufgehört, sich den autoritären Forderungen der Ultra-Orthodoxie zu beugen; anders als die drei männlichen Kollegen führt sie eine kontinuierliche Zwiesprache mit dem Allerhöchsten. "Auf dieser Welt" - erkennt ihr romaneskes alter ego - "braucht man Glück und Erbarmen. Wer keins von beidem hat, ist erledigt". Eine solch nüchterne Bestandsaufnahme verträgt sich bei Mira Magén durchaus mit der stillen Anrufung des "Allerhöchsten". Sie schafft es, dass wir am Ende fühlen, wie ihre allein gelassene Heldin im Dunkeln sitzt, in den Himmel schaut und in den Sternen nicht nur Materie sieht, sondern auch "Lichter Gottes". Nathan Englander und Asher Reich würden sich derlei Trostangebote verbieten. Und Shalom Auslander fiele angesichts einer solchen Szene sicher ein böser Witz ein. Fertig mit Gott? Ja, doch. Zumindest befreien sich die vier mit jedem Buch aus Neue von den 613 Glaubensvorschriften, die sie als Kinder auswendig kannten. 1