“Der Weg gehüllt in Schnee ...” Eine Lange Nacht über das Reisen im Winter Autor: Stefan Zednik Regie: Beate Ziegs Redaktion: Dr. Monika Künzel Sprecher: Erzählerin: Ilka Teichmüller Zitatorin: Cristin König Zitator 1: Max Urlacher Zitator 2: Markus Hoffmann Zitator 3: Robert Frank Sendetermine: 6. Januar 2018 Deutschlandfunk Kultur 6./7. Januar 2018 Deutschlandfunk __________________________________________________________________________ Urheberrechtlicher Hinweis: Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Jede Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in den §§ 45 bis 63 Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. © Deutschlandradio - unkorrigiertes Exemplar - insofern zutreffend. 1. Stunde Musik 1, Franz Schubert, Die Winterreise, erstes Lied. Reine Klavierbegleitung ohne Gesang, darüber wie Melodram gesprochen, danach weiter Klavierbegleitung ohne Text Zitator 1 Gedicht von Wilhelm Müller, über Musik 1 Fremd bin ich eingezogen, fremd zieh’ ich wieder aus. Der Mai war mir gewogen mit manchem Blumenstrauß. Das Mädchen sprach von Liebe, die Mutter gar von Eh’,- Nun ist die Welt so trübe, der Weg gehüllt in Schnee. Erzählerin, über Musik 1 Ein Mann, offenbar im heiratsfähigen Alter, macht sich auf. Er verlässt das Haus, in dem er im Frühling noch wohl gelitten war, zur denkbar unfreundlichsten Jahreszeit, im Winter. Sein hier beginnendes Unternehmen gibt dem berühmtesten Liederzyklus Franz Schuberts seinen Titel. Die Winterreise. Musik 1 nochmal frei klingen lassen Erzählerin, evt. weiter über Musik Die Jahreszeit macht heute für das Reisen keinen großen Unterschied. In unseren Breiten sind extreme Wetterlagen eher selten, Schneeräumdienste stehen bereit, beheizte Verkehrsmittel sichern ein bequemes Fortkommen. Doch wie reisten Menschen in früheren Zeiten im Winter, in einer erfrorenen Umwelt voller Unberechenbarkeiten und Not? In der ersten Stunde der Langen Nacht werden wir vom winterlichen Reisen in Zeiten vor der Erfindung moderner Transportmittel erzählen, vom Reisen auf Pferden und in Kutschen, vom Wandern zu Fuß. Literatur und Musik berichten davon, warum und wie Menschen sich aufmachen, sich Gefahr und manchmal tödlicher Kälte aussetzen. Die zweite Stunde gilt dem Reisen im beginnenden Industriezeitalter. Wir erzählen wie romantisches Lebensgefühl, Nationalismus und winterliche Todessehnsucht im Vorfeld kriegerischer Katastrophen eine unselige Liaison eingehen. Und berichten, wie sich Schuberts Musik zum Volksgut, wie sich individuelles Gefühl zur kollektiven Gefühligkeit wandelt. Die dritte Stunde der Langen Nacht beginnen wir in einem fernen Land, wir erzählen vom Winter in Japan, wo der Schnee – oder besser die ungeheuren Schneemassen – jeder Fortbewegung eine ganz besonders dramatische Note verleihen. Und wo auch Franz Schubert eine besondere Rolle spielt. Zurück im Mitteleuropa der jüngeren Vergangenheit und Gegenwart setzen wir unsere Winterreise fort – mit Werner Herzog, Michael Haneke, Elfriede Jelinek und anderen. Musik 1, Winterreise wie oben, Klavier allein, Klavier unter Gedichtrezitation wegblenden, so dass nur noch der bittere Text stehen bleibt. Zitator 1 Gedicht von Wilhelm Müller, über Musik 1 Was soll ich länger weilen, daß man mich trieb hinaus ? Laß irre Hunde heulen vor ihres Herren Haus; Die Liebe liebt das Wandern - Gott hat sie so gemacht - Von einem zu dem andern. Fein Liebchen, gute Nacht ! Erzählerin Es sind weit weniger dramatische Umstände, die den Schriftsteller und Gelehrten Johann Georg Jacobi 1769 zu einer Reise veranlassen. Er will, startend nördlich des Harzes, seinen in Düsseldorf lebenden Bruder besuchen. Eine für heutige Verhältnisse eher kurze Strecke, die er zurückzulegen hat, knapp 450 Kilometer. Zitator 1 Johann Georg Jacobi, „Winterreise“ Damit die Scene für sie nicht ganz in der Luft sey, will ich also meinen Lesern nur mit zwey Worten sagen, das ich von Halberstadt den Weg über Braunschweig, Hannover, Osnabrück, Münster und Duisburg nach Düsseldorf, meiner Vaterstadt, nahm. Erzählerin Das Verkehrsmittel, die Postkutsche, scheint bequem. Die Jahreszeit ist es nicht: Jacobi reist im Winter. Zitator 1 Jacobi, „Winterreise“ Auf einer Reise von ohngefähr fünfzig Meilen, in der traurigsten Jahreszeit, durch einen großen Teil von Westphalen, kann man da etwas sehen und hören, das wiedergesagt zu werden verdiente? Welche unfruchtbaren Gegenstände! Erzählerin Der Autor zweifelt daran, dass sein Bericht ein allgemeines Interesse erregen könnte. Er versucht, einen sachlichen Reisebericht zu vermeiden und seiner Erzählung stattdessen einen lyrischen Charakter zu verleihen. Zitator 1 Jacobi, „Winterreise“ Gebirge, die der Winter drücket, Verlassne Wälder um sie her, Von freudiger Begeistrung leer; Und Dörfer, halb im Rauch ersticket; In engen Häuserchen von Leim Der groben Einfalt arme Söhne, Und ihrer Sprache rauhe Töne, Vor denen jeder sanfte Reim, Wie Echo, die mit Hirten klaget, Vor schnell erwachtem Donner zaget; Ein Thurm, der über Hügel raget, Und seiner Glocke dumpfer Klang, Des Hahnen nüchterner Gesang; Auf langen, unwirthbaren Heyden, Auf todtem Feld, auf öden Weyden Ein unabsehlich Einerley; Der Dohlen heiseres Geschrey, Und Winde, die sich müde schwärmen, Ein Bach, den keine Nymphe grüsst, Der an dem bangen Ufer fliesst, Wo grosse Mühlenräder lärmen; Und überall der Schwermuth Bild, In finstre Wolken eingehüllt. (..) Erzählerin Ein etwas bemühter, trauriger Ton, der insbesondere beim weiblichen Geschlecht offenbar gut ankommt, so spotten jedenfalls spätere Dichterkollegen. Georg Christoph Lichtenberg nennt den erfolgreichen Jacobi – er sollte später Rektor der Freiburger Universität werden – einen „zärtlich tändelnden Nachtgedankenfeind“. Immerhin animiert Jacobis Kunst Mozart zur Vertonung eines seiner Gedichte. Musik 2 Mozart-Lied, An Chloë, Text von Jacobi Wenn die Lieb' aus deinen blauen, Hellen, offnen Augen sieht, Und vor Lust hinein zu schauen Mir's im Herzen klopft und glüht; Und ich halte dich und küße Deine Rosenwangen warm, Liebes Mädchen, und ich schließe Zitternd dich in meinen Arm, Mädchen, Mädchen, und ich drücke Dich an meinen Busen fest, Der im letzten Augenblicke Sterbend nur dich von sich läßt; Den berauschten Blick umschattet Eine düstre Wolke mir, Und ich sitze dann ermattet, Aber selig neben dir. Erzählerin In Jacobis kleiner Winterreise geht es nicht um Liebeslyrik, auch nicht um eine Poesie der abgestorbenen Natur. Es geht nicht um tote Eislandschaften, sondern um die Gefahr winterlicher Kälte im Herzen eines passionierten, bald 30-jährigen Aufklärers. 1769 erscheint das Büchlein, es ist die Zeit der französischen Enzyklopädisten, es ist die Zeit von Voltaire und Diderot, deren Werke und Ideen überall in Europa diskutiert werden. Und es geht um Rousseau, dessen Gedankenwelt Jacobi durch einen anonymen Mitreisenden präsentieren lässt. Dieser, ein angeblich politisch verfolgter Geistlicher, überlässt dem Erzähler ein Manuskript. Das vertritt unverhohlen die Idee vom Sinn des menschlichen Daseins in harmonischer Bindung von Gott und Natur. Zitator 1 Jacobi, „Winterreise“, S. 53f. Gen Himmel sieht er nun mit aufgeklärten Blicken, und ehret seinen letzten Ruf, Und danket dem, der ihn zum Tode schuf. Ihm danket er für jeden heitren Tag, den ein geprüfter Freund an seiner Brust gezählet, für jedes Ungemach, das seinen Muth zu Tugenden gestählet, Für jede schöne Tat, Und, weil er gern verziehen hat, Für manchen unverdienten Feind, Und für die Nachbarschaft der Armen, und für die Tränen voll Erbarmen, die er der Menschlichkeit geweint. Erkenntlich gegen seine Flur, zufrieden mit der Welt, versöhnt mit der Natur, lässt er, in fröhlichen Gebüschen, sich seinen Staub mit andrem Staube mischen: Und wenn der May die Blumenknospe bricht, Dann kommen Veilchen aus dem Staube, Die einst ein Jüngling in die Laube der ihm getreuen Hirtin flicht. Gedanke, der den Tod versüsset! Es stirbt mit uns das Glück der Erde nicht, wir lassen eine Welt, in der man lacht und küsset, Und da verwesen wir, wo noch die Tugend spricht. Erzählerin So endet das Traktat des unbekannten Reisegefährten, und Jacobis literarisches Alter Ego setzt seine Tour alleine fort. Freilich ohne den Duktus des sentimentalischen Naturschwärmers aufzugeben. Als die Überquerung des Flüsschens Ruhr zum Problem wird, beginnt er allen Ernstes einen freundlichen Dialog – mit dem Fluss. Zitator 1 Jacobi, „Winterreise“, S.75 Kennest du der Liebe Kuss, hast du je geweinet, hat ein brüderlicher Fluss sich mit dir vereinet; Dauren kleine Vögel dich, Wenn, in deinen Buchen, sie mit süßem Kummer sich wechselweise suchen; Bist du, wie die Götter sind, gütiges Erbarmen; O so lass mich, o geschwind Lass mich ihn umarmen! Erzählerin Natürlich bleibt der Erfolg der Beschwörung aus, der Fluss zeigt sich von Jacobis Wunsch, den Bruder bald umarmen zu können, völlig unbeeindruckt. Zitator 1 Jacobi, „Winterreise“, S. 76 Doch meine Verwandlung ging nicht an, deswegen bequemt’ ich mich, die nächste Bauernhütte zum Nachtlager zu wählen. Musik Pohjonen/Kosminen, „Plasma“, gespielt von Kronos Quartet Erzählerin Auch wenn Menschen schon immer gereist sind: Das neuzeitliche Reisen ist eine Entdeckung des 18. Jahrhunderts. Reisen und dabei Forschen – im Wort „Er-Fahrung“ steckt auch heute noch die Idee, reflektiertes und lebendiges Wissen über die Welt könne nur im Fahren, in der Bewegung entstehen. Neues Er-fahren und davon berichten, davon schreiben – das wird zu einer Art Grundhaltung der Aufklärung. Es entsteht eine unübersehbare Menge von Reiseliteratur, und mit der „Sentimental Journey“ des Engländers Laurence Sterne entsteht ein neuer Prototyp, die „empfindsame“ Reise. Nicht nur von äußeren Sehenswürdigkeiten wird berichtet, sondern auch die innere Befindlichkeit des Reisenden, seine Seele, geht in die Betrachtung mit ein. Doch ein Lösen, ein Loslassen, ein Fortgehen ist meist mit der Aussicht auf eine bessere Zukunft verbunden. Die aber bietet der Frühling, das erwachende, nicht der Winter, das sterbende Leben. Verlässt jemand im Winter den wärmenden Herd, das sichere Haus, so tut er es aus Zwang, aus Not. Karl Philipp Moritz lässt in seinem autobiographisch grundierten Roman „Anton Reiser“ seinen Helden durch manches Unwetter wandern. Sein Reisen ist ein Getriebensein: Es ist die bedrückende soziale Lage, die den Heranwachsenden, später den jungen Mann, nirgendwo ankommen lässt. Und: seine Psyche. Träume von einer Laufbahn als Schauspieler, als schreibender Poet, lassen Anton immer wieder in Widerspruch zu einer als unerträglich empfundenen Realität geraten. So gerät er in schlimmste Bedrängnis, materiell und psychisch. O-Ton 0 a Hörbuch, Karl Philipp Moritz, „Anton Reiser“, Düsseldorf und Zürich 1996, S. 228, 48/6’50 Es war eine nasskalte Luft und regnete und schneiete durcheinander – seine ganze Kleidung war durchnetzt – plötzlich entstand in ihm das Gefühl, daß er sich selbst nicht entfliehen konnte. Und mit diesem Gedanken war es, als ob ein Berg auf ihm lag – er strebte sich mit Gewalt darunter emporzuarbeiten, aber es war, als ob die Last seines Daseins ihn darnieder drückte. Daß er einen Tag wie alle Tage mit sich aufstehen, mit sich schlafen gehen – bei jedem Schritte sein verhaßtes Selbst mit sich fortschleppen mußte. – Sein Selbstbewußtsein mit dem Gefühl von Verächtlichkeit und Weggeworfenheit wurde ihm ebenso lästig wie sein Körper mit dem Gefühl von Nässe und Kälte; und er hätte diesen in dem Augenblick ebenso willig und gerne wie seine durchnetzten Kleider abgelegt – hätte ihm damals ein gewünschter Tod aus irgendeinem Winkel entgegengelächelt. – Daß er nun unabänderlich er selbst sein mußte und kein anderer sein konnte; daß er in sich selbst eingeengt und eingebannt war – das brachte ihn nach und nach zu einem Grade der Verzweiflung, der ihn an das Ufer des Flusses führte, welcher durch einen Teil der Stadt ging, wo dasselbe mit keinem Geländer versehen war. Hier stand er zwischen dem schrecklichsten Lebensüberdruß und der instinktmäßigen unerklärlichen Begierde fortzuatmen, kämpfend, eine halbe Stunde lang, bis er endlich ermattet auf einem umgehauenen Baumstamm niedersank, der nicht weit vom Ufer lag. Hier ließ er sich noch eine Weile gleichsam der Natur zum Trotz vom Regen durchnetzen, bis das Gefühl einer fieberhaften Kälte und das Klappern seiner Zähne ihn wieder zu sich selbst brachte und ihm zufälligerweise einfiel, daß er den Abend bei seinem Wirt, dem Fleischer, frische Wurst zu essen bekommen würde – und daß die Stube sehr warm geheizt sein würde. – Diese ganz sinnlichen und tierischen Vorstellungen frischten die Lebenslust in ihm aufs neue wieder an – er vergaß sich (..) ganz als Mensch und kehrte in seinen Gesinnungen und Empfindungen als Tier wieder heim. Als Tier wünschte er fortzuleben; als Mensch war ihm jeder Augenblick der Fortdauer seines Daseins unerträglich gewesen. Erzählerin So wird die Unwirtlichkeit der Natur, die Nässe und Kälte des Winters, zur Folie für eine lebensverneinende Grundhaltung des jungen Mannes. Auch wenn bei Moritz noch eine Spur von Ironie, Selbstironie auch über die eigene Erfahrung, spürbar bleibt – um die psychische Lage des Helden ist es denkbar schlecht bestellt. Seit dem wenige Jahre zuvor erschienenen Bestseller von den „Leiden des jungen Werther“ des ebenso jungen Goethe und der auch in Deutschland erfolgreichen „Empfindsamen Reise“ Sternes scheint niemand mehr, wenn es um radikale psychische Irritationen geht, ein Blatt vor den Mund nehmen zu müssen. O-Ton neu Hörbuch, Karl Philipp Moritz, „Anton Reiser“, S.254, 53/5’35 Nichts aber fühlte Reiser lebhafter, als wenn Werther erzählt, daß sein kaltes freudenloses Dasein neben Lotten in grässlicher Kälte ihn anpackte. – Dies war gerade, was Reiser empfand, da er einmal auf der Straße sich selbst zu entfliehen wünschte und nicht konnte und auf einmal die ganze Last seines Daseins fühlte, mit der man einen und alle Tage aufstehen und sich niederlegen muss. – Der Gedanke wurde ihm damals ebenfalls unerträglich und führte ihn mit schnellen Schritten an den Fluß, wo er die unerträgliche Bürde dieses elenden Daseins abwerfen wollte – und wo seine Uhr auch noch nicht ausgelaufen war. Kurz, Reiser glaubte sich mit allen seinen Gedanken und Empfindungen bis auf den Punkt der Liebe im Werther wieder zu finden. ›Laß das Büchlein deinen Freund sein, wenn du aus Geschick oder eigner Schuld keinen nähern finden kannst.‹ An diese Worte dachte er, sooft er das Buch aus der Tasche zog – er glaubte sie auf sich vorzüglich passend. – Denn bei ihm war es, wie er glaubte, teils Geschick, teils eigne Schuld, daß er so verlassen in der Welt war; und so wie mit diesem Buche konnte er sich doch auch selbst mit seinem Freunde nicht unterhalten. Erzählerin Anton Reiser, verzweifelt wegen der Nichtbesetzung in einer Theaterproduktion: O-Ton 0 b Hörbuch, Karl Philipp Moritz, „Anton Reiser“, S. 310, 64/8’04 Als der Clavigo probiert wurde, hatte er sich in eine der Logen versteckt – und während daß Iffland als Beaumarchais auf dem Theater wütete, wütete Reiser, der in der Loge ausgestreckt am Boden lag, gegen sich selber, und seine Raserei ging so weit, daß er sich das Gesicht mit Glasscherben, die am Boden lagen, zerschnitt und sich die Haare raufte. – Denn die Erleuchtung, die Blicke unzähliger Zuschauer alle auf ihn allein hingeheftet und sich, vor allen diesen forschenden Blicken seine innersten Seelenkräfte äußernd, durch die Erschütterung seiner Nerven auf jede Nerve der Zuschauer wirkend – das alles wurde ihm in dem Augenblick gegenwärtig – und nun sollte er nichts wie unter der Menge verloren ein bloßer Zuschauer sein, wie er jetzt war, während daß ein Dummkopf, der den Clavigo spielte, alle die Aufmerksamkeit auf sich zog, die ihm, dem stärker Empfindenden, gebührt hätte. Erzählerin Es ist die Intensität der Empfindung, die als natürliches Anrecht auf Aufmerksamkeit gelten soll. Bleibt die Wirkung auf die Gesellschaft aus, so bleibt dem Empfindsamen nur die Flucht, der Wechsel des Wohnorts, die Reise. Wenn diese im Winter beginnt, bestätigt dies die Gefühle des Leidenden eher, als dass es ihn hindert. O-Ton 0 c Hörbuch, Karl Philipp Moritz, „Anton Reiser“, S.217, 46/2’29 Nicht leicht war Reiser wohl in seinem ganzen Leben trauriger und niedergeschlagener gewesen (..). Er achtete Wind und Schneegestöber nicht, sondern irrte wohl anderthalb Stunden auf dem Wall und in der Stadt umher und überließ sich seinem Gram und seinen lauten Klagen. Musik 3, Vivaldis Winter, Il Giardino Armonico Erzählerin Anton Reiser, der Roman des Karl Philipp Moritz, ist, wenn auch autobiographisch gefärbt, doch Literatur, Fiktion. Moritz landete weder im Armen- noch im Irrenhaus. Wenn er auch nur 37 Jahre alt wurde, so brachte er es immerhin zum Hofrat, Professor der Schönen Künste und Mitglied der preußischen Akademie der Wissenschaften. Anders ging es wenige Jahre später einem aus Schwaben stammenden Gelehrten, Friedrich Hölderlin. Nach einem Studium in Tübingen, wo er mit den späteren Philosophen Schelling und Hegel Freundschaft schließt, zwingt ihn die Not, für seinen Unterhalt zu sorgen, zu diversen Engagements als Hauslehrer, in adeligen Häusern auch Hofmeister genannt. Ein Berufsbild, das uns im Zusammenhang winterlicher Reisen häufiger begegnet. Hölderlins Engagements sind kurz. Ob er nicht gemocht wurde, selbst mit seinen Aufgaben unzufrieden war oder sich unsterblich in die Dame des Hauses verliebte und zum Abschied gezwungen wurde - das ist von Fall zu Fall verschieden. Zunehmend leidet er unter psychischen Störungen, die man damals mit dem Begriff „Hypochondrie“ zu fassen versuchte. Zudem ergreift ihn wie viele, die die revolutionären Umbrüche in Frankreich zunächst begeistert begrüßt haben, mehr und mehr das Gefühl tiefer Enttäuschung über die Entwicklung dort. Sein Seelenzustand ist bedenklich. Hölderlins erster Biograph Christoph Theodor Schwab: Zitator 2, Christoph Theodor Schwab, zit. nach Martens Anm. 328 Schon sein Äußeres zeugte von der Änderung, die sein Wesen in den vergangenen Jahren erlitten hatte. Man glaubte einen Schatten zu sehen, so sehr hatten die inneren Kämpfe und Leiden den einst blühenden Körper angegriffen. Noch auffallender war die Gereiztheit seines Seelenzustandes; ein zufälliges, unschuldiges Wort, das gar keine Beziehung auf ihn hatte, konnte ihn so sehr aufbringen, daß er die Gesellschaft, in der er sich eben befand, verließ und nie zu derselben wiederkehrte. Erzählerin Am 10. Dezember 1801, mitten im Winter, beginnt Hölderlin eine Fußwanderung nach Bordeaux, wo ihn eine Stelle als Hauslehrer beim dort lebenden Hamburgischen Konsul erwartet. Hölderlin schreibt an seine Mutter. Zitator 1, Hölderlin, Brief vom 28.1.1802 Auf den gefürchteten überschneiten Höhen der Auvergne, in Sturm und Wildnis, in eiskalter Nacht und die geladene Pistole neben mir im rauen Bette – da hab ich auch ein Gebet gebetet, das bis jetzt das beste war in meinem Leben und das ich nie vergessen werde. Erzählerin Dennoch endet die Reise, von der es leider keine weiteren Zeugnisse gibt, zunächst glücklich. Zitator 1, Hölderlin, Brief vom 28.1.1802 Ich bin erhalten – danken Sie mit mir! (..) Ich bin nun durch und durch gehärtet und geweiht, wie Ihr es wollt. Ich denke, ich will so bleiben, in der Hauptsache. Nichts fürchten und sich viel gefallen lassen. (..) Lebet wohl! Von Herzen und mit Treue, der eure Hölderlin Erzählerin „Nichts fürchten und sich viel gefallen lassen“ – es klingt nicht danach, als könne dem stolzen Mann, der sich einzig zur Dichtkunst berufen fühlt, dieser Vorsatz ernstlich gelingen. Wenige Monate später kehrt er nach Deutschland zurück. Was in Bordeaux genau vorgefallen ist, was ihn zur Abreise bewogen hat, liegt im Dunkeln. Zitator 2, Friedrich Matthisson, zit. nach Hölderlin, Chronik in Text und Bild, S.64 Er war leichenbleich, abgemagert, von hohlem wildem Auge, langem Haar und Bart, und gekleidet wie ein Bettler, (..) der mit hohlem Tone einsilbig sich als „Hölderlin“ ankündigte. Erzählerin So berichtet der Zeitzeuge Friedrich Matthison über den wiederaufgetauchten Dichter. Und Studienfreund Schelling erinnert: Zitator 2 Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, zit. nach Martens 121 Es war ein trauriges Widersehen, denn ich überzeugte mich bald daß dieses zart besaitete Instrument auf immer zerstört sey. Erzählerin Hölderlin ist bei seiner Rückkehr von der im Winter begonnenen Fußreise 32 Jahre alt, er ist in der Mitte seines Lebens angekommen. Seine große Liebe, die zu leben dem Paar unmöglich war, ist Geschichte, von ihm zu Literatur geformt. Als Diotima lebt sie in seinen Dichtungen weiter, doch physisch stirbt die Frankfurter Kaufmannsgattin Susette Gontard in den Tagen von Hölderlins Wiederauftauchen in der schwäbischen Heimat an einer Kinderkrankheit. Im Jahr seiner Rückkehr, 1802, ist Hölderlin kein Nobody, er genießt einen gewissen Ruf, ist in literarischen Kreisen bekannt. Aber Mitglied in einem etablierten künstlerisch-literarischen Zirkel, wie etwa Goethe und Schiller im Weimarer Kreis, ist er nicht. Ab jetzt macht er immer häufiger einen verwirrten und verwahrlosten Eindruck. In dieser Zeit entsteht sein wohl berühmtestes Gedicht, „Hälfte des Lebens“. Zitator 1 Hölderlin Mit gelben Birnen hänget Und voll mit wilden Rosen Das Land in den See, Ihr holden Schwäne, Und trunken von Küssen Tunkt ihr das Haupt Ins heilignüchterne Wasser. Weh mir, wo nehm’ ich, wenn Es Winter ist, die Blumen, und wo Den Sonnenschein, Und Schatten der Erde? Die Mauern stehn Sprachlos und kalt, im Winde Klirren die Fahnen. Erzählerin Sprachlos und kalt, in einem Winter ohne Blumen, ohne Sonne, ohne Schatten – der Regisseur Klaus Michael Grüber wird später Hölderlin-Texte im Berliner Olympiastadion inszenieren. Er gibt dem Abend den Titel „Winterreise“. Das Ensemble der Berliner Schaubühne am Halleschen Ufer bespielt die jedes normalmenschliche Maß sprengende Arena im Winter des Jahres 1977. O-Ton 1 aus Aufführung der Berliner Schaubühne Wohl dem Manne, dem ein blühend Vaterland das Herz erfreut und stärkt! Mir ist, als würd ich in den Sumpf geworfen, als schlüge man den Sargdeckel über mir zu, wenn einer an das meinige mich mahnt, und wenn mich einer einen Griechen nennt, so wird mir immer, als schnürt' er mit dem Halsband eines Hundes mir die Kehle zu. Erzählerin Grüber nutzt Texte Hölderlins, inszeniert Flüchtlinge des zwanzigsten Jahrhunderts, die auf der Aschenbahn sinnlose Runden drehen. Stadtstreicher vor der Ruinenkulisse des Anhalter Bahnhofs, moderne Sportler im Training, ein einsamer Wanderer auf dem schneebedeckten Fußballfeld. „Hyperion oder der Eremit in Griechenland“ heißt der Untertitel des Projekts, die Texte sind teilweise auf der Anzeigetafel zu lesen, teilweise werden sie von Willem Menne, dem Darsteller des Hyperion rezitiert. O-Ton 2 aus Aufführung der Berliner Schaubühne Ich habe nichts, wovon ich sagen könnte, es sei mein eigen. Fern und tot sind meine Geliebten, und ich vernehme durch keine Stimme von ihnen nichts mehr. Mein Geschäft auf Erden ist aus. Ich bin voll Willens an die Arbeit gegangen, und habe geblutet darüber, aber die Welt um keinen Pfenning reicher gemacht. Erzählerin Mit den Darstellern frieren wenige hundert Zuschauer auf den Tribünen. O-Ton neu aus Aufführung der Berliner Schaubühne Verloren ins weite Blau blicke ich oft hinauf an den Äther, und hinein ins heilige Meer, und mir ist, als öffnet ein verwandter Geist mir die Arme, als löste der Schmerz der Einsamkeit sich auf, ins Leben der Gottheit. Eines zu sein mit allem das ist Leben der Gottheit, das ist der Himmel des Menschen. Erzählerin Selten ist der Totalverlust menschlichen Lebensmutes vor der Übermacht gesellschaftlicher Zwänge mit theatralischen Mitteln sinnfälliger, glaubhafter dargestellt worden. O-Ton 3 aus aus Aufführung der Berliner Schaubühne Ruhmlos und einsam kehr ich zurück und wandre durch mein Vaterland, das, wie ein Totengarten, weit umher liegt. Musik Michael Rodach, „Silent Wish“ Erzählerin Hölderlin beschreibt in der Figur seine eigene Niederlage. Er versinkt in der zweiten Hälfte seines Lebens, das immerhin noch fast 40 Jahre dauern wird, in einen Zustand, der von den meisten als „Wahnsinn“ bezeichnet wird. Einige Literaturforscher deuten diesen „Wahnsinn“ jedoch als Verstellung, als halbbewusst inszeniertes Verbergen hinter der Maske der Unzurechnungsfähigkeit. Die Hoffnung auf ein privates Glück, die Anerkennung als Dichter oder Gelehrter, die Aussicht auf eine wirtschaftlich gesicherte Position, das politische Ziel der Durchsetzung allgemeiner Menschenrechte – alles geht für ihn nach und nach unwiederbringlich verloren. Fünf Jahre nach seiner Rückkehr aus Frankreich, ab 1807, lebt der Dichter Friedrich Hölderlin als Pflegefall bei einem Tübinger Tischlermeister. Seine „Winterreise“ ist zum Stillstand gekommen. Napoleon lässt sich derweil zum Kaiser krönen, 1805 beginnen die von ihm initiierten, zehn Jahre andauernden europäischen Kriege. Der Journalist Carl Bertuch unternimmt im Spätherbst des Jahres 1805 eine Reise, die ihn von Thüringen ausgehend ins winterliche Wien führen wird. Zitator 2 Carl Bertuch, Bemerkungen auf einer Reise aus Thüringen nach Wien im Winter 1805 bis 1806, Weimar 1808, S. 25 Ei, ei, lieber Freund, was ist das für ein Wetter. Bis gestern beständig geregnet, und heute deckt Schnee sogar die Straßen. – Der physische und politische Himmel ist jetzt gleich dicht umwölkt; das sind zwar keine frohen Aussichten zu meiner weiteren Reise, doch soll es mich nicht mutlos machen. Erzählerin So schreibt Bertuch einem Freund aus Nürnberg. Seine Skepsis hinsichtlich des bevorstehenden politischen Unwetters ist mehr als begründet: Napoleon marschiert gerade mit seinen Verbündeten gegen Österreich, und der Widerstand ist schwach. Trotz zahlreicher Schwierigkeiten gelangt der Chronist nach Wien und erlebt dort den Einzug der französischen Truppen. Musik 4 Marseillaise, alte Aufnahme, Sologesang, evt. auch (teilweise) später Zitator 2 Carl Bertuch, Bemerkungen, S. 77 Der Kaiser Napoleon war den 13. November abends spät in dem kaiserlichen Palaste zu Schönbrunn, eine Stunde vor Wien, angelangt. Einen Beweis seiner rastlosen Tätigkeit gab er gleich am anderen Morgen. Am 14. früh um zwei Uhr, ritt der Kaiser schon durch Wien, und visitierte selbst die ganze wichtige Vorpostenkette an der Donau. (..) Um acht Uhr ritt der Kaiser, von wenigen Offizieren und Mamelucken umgeben, unerkannt durch Wien zurück nach Schönbrunn. Ich stand in meinem Logis am Graben eben am Fenster, (..) ich nahm das Perspektiv und erkannte den Kaiser in seinem einfachen grauen Überrock. Musik 4 Marseillaise, alte Aufnahme, Sologesang Erzählerin Wilhelm Müller ist 1794 in Dessau geboren und acht Jahre alt als Hölderlin von seiner fatalen Winterreise verwirrt und heruntergekommen zurückkehrt. Die Literaturwissenschaftlerin Erika von Borries hat sich mit Leben und Werk des Dichters auseinandergesetzt. O-Ton 4 Wort Erika von Borries, Autorin, aus Gespräch mit Autor Gustav Schwab hat eine kurze Biographie nach Müllers Tod geschrieben und da hieß es, dass er in großer Freiheit erzogen worden wäre, die Eltern hätten ihm also ungefähr jeden Wunsch erlaubt und überhaupt nicht zu strafen gewagt, was jetzt sehr komisch ist, in dieser Zeit war eigentlich noch ein sehr rigides Erziehungssystem und wenn einer nicht funktionierte, dann knallte es aber so ist er jedenfalls aufgewachsen und ist dadurch sehr selbstbewusst auf der einen Seite geworden und hat eigentlich immer so seinen Kopf durchgesetzt. Wo es dann gar nicht ging, hat er dann eingesteckt, aber immerhin, er war mutig und offen und sehr freiheitsliebend. Erzählerin Mit 19 Jahren beginnt der sprachbegabte Müller 1813 ein Studium an der neugegründeten Berliner Universität. Es ist eine philosophisch wie politisch extrem turbulente – und kriegerische Epoche. Peter Tschaikowsky wird ein halbes Jahrhundert später versuchen, die Aufregung dieser Zeit in Töne zu fassen. Musik 5 von Tschaikowsky, Ouvertüre 1812, ab 4’45, hier wird mehrfach die Marseillaise zitiert. Erzählerin Preußen steht zunächst in einer Koalition mit Frankreich, ist auch mit eigenen Truppen an dem napoleonischen Feldzug beteiligt. Doch die Stimmung kippt, vor allem unter der Jugend kommt es zu einer immer stärkeren Opposition dem französischen Kaiser gegenüber. Der preußische König tut sich lange Zeit schwer, die Seiten zu wechseln. O-Ton 5 Wort, von Borries Der Aufruf zur Befreiung Deutschlands von Napoleon, mit dem Versprechen dann Freiheit und überhaupt einen Nationalstaat dann zu gründen, das wurde sehr begeistert aufgenommen. Erzählerin Wie viele seiner Kommilitonen meldet auch Müller sich freiwillig zum Militär. O-Ton 6 Wort, von Borries Er kam im Frühjahr 1814 nach Brüssel, er hat dort das Militär dann unehrenhaft verlassen, ganz notdürftig gibt es irgendwelche Andeutungen, dass er wohl ein Verhältnis mit einer Wallonin hatte. Zitator 1 Wilhelm Müller, TB, zit. nach von Borries 36 Die alte Liebe schien wieder wach zu werden, besonders konnte ich mich nicht enthalten, die Locke zu küssen, und nun war es mir recht eigen, als hätte ich Theresen selbst geküsst. Wunderbar! Erzählerin So notiert er in sein Tagebuch. O-Ton 7 Wort, von Borries Es ist ganz gewiss eine erste leidenschaftliche Liebe gewesen, die ihm aber ausgetrieben worden war. Er soll sich auch eigenmächtig vom Heer entfernt haben. Zitator 1 Müller, TB Eintrag vom 7.10.1815, über Musik Gottlob, dass alles überstanden ist! Das vergangene Jahr liegt so weit hinter mir oder vor mir, als wäre ich seitdem von einem Kinde zum Greise oder von einem Greise zum Kinde geworden. Zitator 1 Gedicht von Müller Der Reif hat einen weißen Schein Mir übers Haar gestreuet. Da glaubt ich schon ein Greis zu sein, Und hab mich sehr gefreuet. Doch bald ist er hinweggetaut, Hab wieder schwarze Haare, Daß mir’s vor meiner Jugend graut – Wie weit noch bis zur Bahre! Erzählerin So dichtet der offenbar sensible Wilhelm Müller. Er durchlebt sowohl die körperlich-sinnlichen wie die emotionalen Turbulenzen eines Zwanzigjährigen … Zitator 1 Müller, TB vom 28.12.1815 Heute morgen hatte ich wieder einen Kampf mit der bösen Erdenlust in mir, den ich nicht ohne Wunden bestand. Erzählerin Seine zweite große Verliebtheit in die Schwester eines Berliner Freundes verwandelt er in Lyrik, er flüchtet in das romantische Gefühl leidenschaftlicher, jedoch letztlich unerwiderter Liebe. Versehen mit der merkwürdigen Empfehlung ... Zitator 1 Müller Im Winter zu lesen. Erzählerin ... veröffentlicht Müller die „Siebenundsiebzig Gedichte aus den hinterlassenen Papieren eines reisenden Waldhornisten“. Der erste Zyklus darin ist mit „Die schöne Müllerin“ überschrieben. Das Gedicht „Ungeduld“. Zitator 1 Müller „Ungeduld“ aus der „Schönen Müllerin“, nur erste Strophe Ich schnitt es gern in alle Rinden ein, Ich grüb es gern in jeden Kieselstein, Ich möcht es sä'n auf jedes frische Beet Mit Kressensamen, der es schnell verrät, Auf jeden weißen Zettel möcht ich's schreiben: Dein ist mein Herz und soll es ewig bleiben. Erzählerin Als der Wiener Franz Schubert 1823 die Gedichte kennenlernt, inspirieren sie ihn sofort. Müller, der pietistische Preuße und Schubert, der katholische Wiener, der mit seinen Leidenschaften ringende, hochgebildete Literat und der sinnenfrohe Musiker – ein kongeniales, in der Geschichte des deutschen Liedes wohl einmalig erfolgreiches Paar. Persönlich kennengelernt haben sich die beiden nie. Musik 6 Schubert „Die schöne Müllerin“, „Ungeduld“, Fritz Wunderlich, evt. nicht alle Strophen Ich schnitt es gern in alle Rinden ein, Ich grüb es gern in jeden Kieselstein, Ich möcht es sä'n auf jedes frische Beet Mit Kressensamen, der es schnell verrät, Auf jeden weißen Zettel möcht ich's schreiben: Dein ist mein Herz und soll es ewig bleiben. Ich möcht mir ziehen einen jungen Star, Bis daß er spräch die Worte rein und klar, Bis er sie spräch mit meines Mundes Klang, Mit meines Herzens vollem, heißen Drang; Dann säng er hell durch ihre Fensterscheiben: Dein ist mein Herz und soll es ewig bleiben. Den Morgenwinden möcht ich's hauchen ein, Ich möcht es säuseln durch den regen Hain; Oh, leuchtet' es aus jedem Blumenstern! Trüg es der Duft zu ihr von nah und fern! Ihr Wogen, könnt ihr nichts als Räder treiben? Dein ist mein Herz und soll es ewig bleiben. Ich meint, es müßt in meinen Augen stehn, Auf meinen Wangen müßt man's brennen sehn, Zu lesen wär's auf meinem stummen Mund, Ein jeder Atemzug gäb's laut ihr kund, Und sie merkt nichts von all dem bangen Treiben: Dein ist mein Herz und soll es ewig bleiben. Erzählerin Hier ist die Stimmung des jungen Müllergesellen noch begeistert, er ist verliebt und hat allen Grund zu hoffen. Doch seine Lage wird sich bald ändern, ein Jägersmann schlägt ihn beim Kampf um die Gunst der Müllerstochter aus dem Feld, und am Ende bleibt nur die Sehnsucht nach dem Tod. Beide, Müller und Schubert, leben in einer Zeit der Gegenrevolutionen. Entgegen dem einstigen Versprechen geistiger Freiheit in den deutschen Staaten herrscht nun grenzüberschreitend Zensur. Staatliche Kontrolle in einem durchorganisierten Staatsmonstrum lässt kaum Luft zum Atmen. Zitator 2, Karlsbader Beschlüsse Der Zweck (..) ist gemeinschaftliche (..) Untersuchung und Feststellung des Tatbestandes, des Ursprungs und der mannigfachen Verzweigungen der gegen die bestehende Verfassung und innere Ruhe (..) gerichteten revolutionären Umtriebe. Erzählerin Nach Napoleons endgültiger Niederlage erfolgt außenpolitisch die Neuordnung Europas, im Innern herrscht der Geist der Restauration. Die „Karlsbader Beschlüsse“ werden den 1820er und 30er Jahren ihren kalten, frostig-eisernen Stempel aufdrücken. Zitator 2, Karlsbader Beschlüsse Alle in Deutschland erscheinenden Druckschriften (..) müssen mit dem Namen des Verlegers und (..) des Redakteurs versehen sein. Druckschriften, bei welchen diese Vorschrift nicht beobachtet ist, (..) müssen (..) gleich bei ihrer Erscheinung in Beschlag genommen, (..) die Verbreiter derselben (..) zu angemessener Geld- oder Gefängnisstrafe verurteilt werden. Erzählerin Freidenker-Logen, Diskussionszirkel, öffentliche Ansammlungen, studentische Verbindungen, sogar Turnvereine – alles was auch nur den Anschein hat, die alten Ordnungen gefährden zu können, wird verboten. Man will keinen „Freien Bürger“, man will den Untertan. „Ruhe ist die erste Bürgerpflicht“ – bei den Herrschenden haben die Erfahrungen der Revolution eine geradezu panische Paranoia verursacht. O-Ton 8 Wort, von Borries Diese Restaurationsbewegungen dann wo alle Freiheitswünsche unterdrückt wurden und dann ganz rigide überwacht und bespitzelt und denunziert wurde das war ganz unmöglich für ihn zu ertragen und da hat er sich gewehrt mit Händen und Füßen und hat gelitten auch ... Erzählerin Nicht nur für Müller beginnt eine bleierne Zeit. Musik 7 Vivaldi „Quattro stagioni“, Winter, Il Giardino Armonico, 3. Teil Erzählerin über Musik Das war der erste Teil der „Langen Nacht“ über das Reisen im Winter. In der zweiten Stunde gerät Franz Schubert mit seiner epochalen Vertonung des Zyklus ins Zentrum. Und der Romantik-Hype, den seine „Winterreise“ bis in die Zeit des Zweiten Weltkriegs hinein auslöst. Musik 7, Fortsetzung von oben, Musikverlängerung: Boris Tishchenko, Sonata No 1 for solo violin, Andante 2. Stunde Musik 8 „Winterreise“, 1. Lied „Gute Nacht“, Peter Schreier, evt. hier nur erste Strophe Fremd bin ich eingezogen, Fremd zieh' ich wieder aus. Der Mai war mir gewogen Mit manchem Blumenstrauß. Das Mädchen sprach von Liebe, Die Mutter gar von Eh', - Nun ist die Welt so trübe, Der Weg gehüllt in Schnee. Ich kann zu meiner Reisen Nicht wählen mit der Zeit, Muß selbst den Weg mir weisen In dieser Dunkelheit. Es zieht ein Mondenschatten Als mein Gefährte mit, Und auf den weißen Matten Such' ich des Wildes Tritt. Erzählerin „Ich werde euch einen Zyklus schauerlicher Lieder vorsingen“ – mit diesen Worten lädt Franz Schubert seine Freunde 1827 in Wien zu einem privaten Musikabend in seine Wohnung. 1827 - Schubert ist knapp 30 Jahre alt, und es geht ihm nicht gut. Er ist häufig depressiv, hat mit den Folgen einer langwierigen Erkrankung und mit den Nebenwirkungen einer - aus heutiger Sicht - desaströsen Therapie zu kämpfen. (Vorspiel folgende Musik unter Text) Die Sammlung von Gedichten Wilhelm Müllers, von denen er zunächst 12 kennen lernt und vertont, scheint zu seiner Stimmung zu passen. Musik 8 Fortsetzung, ab Zwischenspiel zur dritten Strophe Was soll ich länger weilen, Daß man mich trieb hinaus ? Laß irre Hunde heulen Vor ihres Herren Haus; Die Liebe liebt das Wandern - Gott hat sie so gemacht - Von einem zu dem andern. Fein Liebchen, gute Nacht ! Will dich im Traum nicht stören, Wär schad' um deine Ruh'. Sollst meinen Tritt nicht hören - Sacht, sacht die Türe zu ! Schreib im Vorübergehen Ans Tor dir: Gute Nacht, Damit du mögest sehen, An dich hab' ich gedacht. Erzählerin Die „schauerlichen Lieder“ kommen bei Schuberts Freunden zunächst gar nicht gut an, niemand kann mit dem merkwürdig vereinsamten Wanderer viel anfangen. Doch wer ist überhaupt dieser Mann, der fremd im Mai einzog und jetzt, im Winter, wieder geht, gehen muss? Was treibt ihn fort? Weg von dem Mädchen, dem er sein Herz geschenkt, die ihn wohl liebte, und deren verwehte Fußspuren er nun im Schnee verzweifelt sucht. Seine vor wenigen Monaten noch glückliche Lage hat sich verändert, die Verbindung ist offenbar beendet. Ist der soziale Unterschied die Ursache? „Ihr Kind ist eine reiche Braut“ heißt es im zweiten Lied. Warum, womit hat der in die Winternacht hinaus Irrende seine Chancen verspielt? Der englische Tenor Ian Bostridge hat ein kluges Buch über den Zyklus geschrieben. O-Ton 9 Wort, Ian Bostridge We know very little about him, I...in the first song, I did an experiment of seeing if I could think about who he might be, cause I'd never really seriously at all sat down and thought, why is this man leaving a house in the middle of the night (lacht) its a bit weird. What possible reason could this man have to be in a house, saying goodbye to a girl, be staying with her family - I realised that one possible answer, and it's not the only answer, but one experimental answer is that he is a private tutor in the house which was the experience of Schubert, it was the experience of a lot of the great German writers and philosophers in that period, and it's also a very important theme in romantic philosophy. Zitator 2 OV Übersetzung Wir wissen sehr wenig über ihn ... Im ersten Lied habe ich versucht herauszufinden, wer er sein könnte. Warum dieser Mann wohl mitten in der Nacht das Haus verlässt, das ist ja ein bisschen seltsam. Warum lebte der Mann bei der Familie, warum nimmt er Abschied von dem Mädchen? Eine mögliche Antwort ist, dass er Privatlehrer war. Das war eine Erfahrung, die auch Schubert und viele große deutsche Schriftsteller und Philosophen dieser Zeit gemacht hatten, es ist ein großes Thema in der Philosophie der Romantik. Erzählerin Private Hauslehrer, damals auch Hofmeister genannt, waren angestellt für die Erziehung adliger Kinder, überqualifiziert und unterfordert, abhängig vom Wohlwollen der finanzstarken Eltern. Im Gegensatz zu Schriftstellern wie Jakob Michael Reinhold Lenz und Friedrich Hölderlin oder Philosophen wie Immanuel Kant und Johann Gottlieb Fichte, hatte Müller diese Erfahrung nicht machen müssen. In Dessau bekleidete er die Stelle eines Hilfslehrers, konnte gar eine bürgerliche Ehe eingehen und sich, wenn auch unglücklich, mit den Verhältnissen arrangieren. Schubert dagegen ist immer wieder darauf angewiesen, mit Unterrichten seinen Unterhalt zu verdienen. Jobs in halböffentlichen Schulen nimmt er mehrfach an, meist durch den Vater getrieben. Auch als musikalischer Privaterzieher versucht er sich. Doch diese Arbeit macht ihn nicht froh, er leidet darunter. Schließlich verzichtet er auf ein geregeltes Einkommen und gibt die mögliche Laufbahn eines Pädagogen endgültig auf. Das aber bedeutet: Eine bürgerliche Ehe ist ihm unmöglich, denn für diese muss man ein geregeltes, für den Unterhalt einer Familie notwendiges Einkommen nachweisen. Zitator 2 aus „Ehe-Consens Gesetz“ von 1815, Vorschrift über die Bewilligungsgesuche zur Verehelichung, Hofkanzeley-Dekret vom 26. Jäner 1815; Alphabetisches Verzeichnis derjenigen Person, welche in Wien ohne polizeilichen Ehe-Consens nicht getrauet werden dürfen. 1) Accord-Graveurs in dem lithographischen Institute des k.k. Katasters. 2) Amtsdiener bei den landesfürstlichen, ständischen und städtischen Stellen und Ämtern. 3) Akademische Architekten, Bildhauer, Graveurs, Kupferstecher, Maler. 4) Aschensammler und Aschenhändler. 5) Ausländer, unadelige. 6) Bandmacher. 7) Beamte der Privat-Institute, als: der Nationalbank, Sparkasse, Brandversicherungsanstalt, Witwen-Societät. 8) Bediente. 9) Beinsammler und Beinsieder. 10) Bestandnehmer oder Pächter von Realitäten, Gerechtsamen, Gewerben, Privilegien etc. 11) Blasbalgmacher. 12) Briefträger bei Großfuhrleuten, Frachtfahrern … (…) Zitator 1 Schubert, zitiert nach Werner Bodendorff, Wer war Franz Schubert?, Augsburg 1997, über monotonem Aufzählungsteppich Sie war eine Schullehrerstochter, etwas jünger als ich, und sang in einer Messe, die ich komponierte, die Sopransoli wunderschön und mit tiefer Empfindung. Sie war nicht eben hübsch, hatte Blatternarben im Gesicht; aber sie war gut, herzensgut. Drei Jahre hoffte sie, dass ich sie ehelichen werde; ich konnte jedoch keine Anstellung finden, wodurch wir beide versorgt gewesen wären. Sie heiratete dann nach Wunsch ihrer Eltern einen anderen, was mich sehr schmerzte. Zitator 2 aus „Ehe-Consens Gesetz“, Forts. (..) 51) Laternanzünder. 52) Laternen- und Mausfallmacher. 53) Lehrjungen. 54) Lehrer an Privat- Lehranstalten auch an den die Hauptschule vertretenden Trivialschulen. 55) Lithographen. 56) Licenz-Tandler. 57) Maler (Portrait- und Zimmer.). 58) Mautpächter und ihre Mauteinnehmer, Schrankenzieher. 59) Mehlhändler. 60) Milchhändler. 61) Musikanten. Erzählerin Nicht unüblich für die überaus große Zahl unverheirateter junger Männer ist der Besuch bei Prostituierten. Und nicht selten dabei: Die Ansteckung durch das, was die Schotten die „englische“, die Russen die „polnische“, die Deutschen die „französische“ Krankheit nennen. Syphilis ist kaum behandelbar, das Eingeständnis einer Ansteckung erfolgt meist zu spät, die (Vorspiel Musik kann hier unter Text einsetzen) Therapie mit hochgiftigem Quecksilber führt zu Nebenwirkungen wie stark verminderter Abwehrkraft, Zahn- oder Haarausfall. Starke Schmerzen und Gliederlähmungen, extreme Gemütszustände und Depressionen werden in seinen letzten Lebensjahren alltägliche Begleiter Schuberts. Musik 9 „Rast“, Bostridge, Fi-Di, Schreier? Nun merk ich erst, wie müd ich bin Da ich zur Ruh mich lege; Das Wandern hielt mich munter hin Auf unwirtbarem Wege Die Füße frugen nicht nach Rast Es war zu kalt zum Stehen Der Rücken fühlte keine Last Der Sturm half fort mich wehen Erzählerin Auch Wilhelm Müller geht es nicht gut. Er überarbeitet sich, ist in zu viele verlegerische Projekte verstrickt, sein Körper leidet unter dem Übermaß an Anstrengung, und seine Seele unter dem geistigen Klima der Zeit. Die Literaturwissenschaftlerin Erika von Borries: O-Ton 10 Wort von Borries, über Zwischenspiel zur dritten Strophe Müller ist ausgetrocknet und ganz starr geworden auch durch dieses sich abhärten und seine Wünsche oder seine eigentlichen Ideale zu unterdrücken. Das hat ihm wahrscheinlich dann auch die Brustbeklemmungen gemacht und die Depressionen. Musik 9 „Rast“, Fortsetzung In eines Köhlers engem Haus Hab’ Obdach ich gefunden; Doch meine Glieder ruhn nicht aus: So brennen ihre Wunden Auch du, mein Herz, in Kampf und Sturm So wild und so verwegen Fühlst in der Still erst deinen Wurm Mit heißem Stich sich regen! Erzählerin evt. z.T. über Nachspiel 1827 stirbt Wilhelm Müller überraschend im Alter von 32, Franz Schubert 1828 im Alter von 31 Jahren. Die kongeniale Zusammenarbeit der beiden Männer, die niemals persönlichen Kontakt miteinander hatten, hat ein Ende. Dabei war sich Müller immer bewusst, dass seine Lieder … Zitator 1 Müller … nur ein halbes Leben führen, ein Papierleben, schwarz auf weiß … bis die Musik ihnen den Lebensodem einhaucht … Erzählerin Der Dichter Wilhelm Müller, in Gelehrtenkreisen als engagierter Lyriker geschätzt, wegen seiner Begeisterung für Lord Byron und die Kultur der Griechen gelegentlich mit dem Beinamen „Griechen-Müller“ ein wenig verspottet. Und Schubert, in Musikerkreisen beliebt, als Schöpfer hunderter Lieder berühmt, als Künstler mit leicht unbürgerlichem Lebenswandel von seinen Wiener Zeitgenossen mit freundlicher Sympathie betrachtet. Beide sind tot. Tot? Musik 10, Stelle aus Georg Kreisler, „Der Musikkritiker“, die entscheidende Stelle ist zum erstenmal bei 0’48 ... Erst nachdem er tot ist, ist er gut. ... Erzählerin Was aus dem Munde des Wiener Kabarettisten Georg Kreisler so böse klingt, hatte sich bewahrheitet. Schuberts Musik, Schuberts Lieder werden mit ihrer vermeintlich unpolitischen Innerlichkeit zum allgemeinen Kulturgut, zu einem Kernstück des musikalischen Biedermeier. Doch sind diese Lieder wirklich unpolitisch? Musik 11 „Im Dorfe“, Bostridge ? , vielleicht nach erster Strophe, ausblenden. Es bellen die Hunde, es rasseln die Ketten. Es schlafen die Menschen in ihren Betten, Träumen sich manches, was sie nicht haben, Tun sich im Guten und Argen erlaben: Und morgen früh ist Alles zerflossen. – O-Ton 11, Bostridge Winterreise was written in 1827, 1828 in a period where German speakers were spread across many different many countries, in a period of increasing nationalism, and they didn't feel at home in their own country because they felt they were liberal nationalists, and they felt that Metternich sitting in Vienna was sort of putting a lid on all sorts of expressions of liberal national opinion, so they felt “fremd” in that sense, and they felt fremd because they felt alienated from a society that was, as I say, changing very quickly. Zitator 2 OV Übersetzung „Winterreise“ wurde 1827/28 in einer Zeit geschrieben, als Deutschsprachige in vielen Ländern verstreut lebten, in einer Zeit eines wachsenden Nationalismus. Sie fühlten sich als liberale Nationalisten in ihrem eigenen Land nicht zuhause, Metternich saß in Wien und unterdrückte jede national-liberale Meinung. Sie fühlten sich in diesem Sinne fremd in einer Gesellschaft, die sich sehr schnell veränderte. Erzählerin Es sind Veränderungen vor allem in wirtschaftlicher und sozialer Hinsicht. Fabriken mit durch Dampfkraft angetriebenen Maschinen entstehen, die Eisenbahn revolutioniert den Reiseverkehr, die Städte wachsen rasant, es kommt zu Landflucht in großem Umfang. Nur langsam dagegen verändert sich gegen Mitte des Jahrhunderts das politische Klima – das Turnverbot bleibt teilweise bis 1842, die Karlsbader Beschlüsse gar bis 1848 in Kraft. Von den einstigen Idealen – geistige Freiheit und nationale Einheit – hat nur letzteres überlebt. Der Traum einer geeinten Nation wird nun zum Staatsziel. Ein solches Ziel braucht Helden, und ein solcher könnte Schubert sein. Schubert? Musik 12 „Der Lindenbaum“, Rost’sches Quartett, Aufnahme von 1908 (hier könnte man auch drüber sprechen), nur 1. Strophe, vielleicht in erster Strophe schon runterblenden und drüber sprechen Am Brunnen vor dem Tore da steht ein Lindenbaum Ich träumt in seinem Schatten so manchen süßen Traum. Ich schnitt in seine Rinde so manches liebe Wort; Es zog in Freud‘ und Leide Zu ihm mich immer fort. Erzählerin 1846 veröffentlicht der schwäbische Komponist Friedrich Silcher eine Bearbeitung des fünften Liedes der Winterreise, „Der Lindenbaum“, für 4-stimmigen Männerchor. Modulationen lässt er weg, die Strophen sind gleich gebaut, anderes würde einen wöchentlich probenden Freizeitchor überfordern. Musik 12 Forts. „Der Lindenbaum“, Rost’sches Quartett, vielleicht in zweite Strophe einblenden Ich musst‘ auch heute wandern Vorbei in tiefer Nacht, Da hab‘ ich noch im Dunkeln Die Augen zugemacht. Und seine Zweige rauschten, Als riefen sie mir zu: Komm‘ her zu mir Geselle, Hier findst du deine Ruh‘! Erzählerin, kann über Gesang Das Todestrunkene, das Todessehnsüchtige – „komm her zu mir Geselle, hier find‘st du deine Ruh‘“ – nun wird es zum gemeinsam empfundenen Erlebnis. Das Sterben, insbesondere in Gemeinschaft, kann auch schön sein, so die Botschaft. Reichskanzler Otto von Bismarck: Zitator 2 Otto von Bismarck, evt. über Musik Der Deutsche kann sich der Wirkung des Liedes nicht entziehen; er kommt in die richtige Stimmung, wenn er Musik hört (..) Die Wissenschaft appelliert an den Verstand, die Musik ans Gefühl, und das Gefühl ist, wenn es zur Entscheidung kommt, stärker und standhafter als der Verstand der Verständigen. Erzählerin In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts erscheint Singen in Deutschland kaum mehr staatsgefährdend, es bilden sich überall Singegemeinschaften, Chöre, Gesangsvereine. In Wien versucht die Bewegung Schubert als musikalischen Nationalhelden zu etablieren. Ein Denkmal soll her, ein Ehrengrab zudem. Franz Schubert wird 1862, 35 Jahre nach seinem Tod, ausgegraben, gereinigt und abermals bestattet. Zitator 2 Ausgrabungsprotokoll, Um Schubert’s Schädel fand sich noch eine ziemlich dichte Hülle seines bekanntlich sehr üppigen Haares, das aber nicht mehr mit der Hirnschale verbunden, sehr stark mit feuchter Erde, mit halb verfaulten Hobelspänen und mit vielen hunderten von Insektenlarven untermischt war. Die Reste der Haare wurden (..) von des (..) Meisters anwesendem Bruder (..) in Empfang genommen. Erzählerin Während Schuberts sterbliche Reste zu Reliquien werden, gründet sich – im selben Jahr 1862 – der „Deutsche Sängerbund“. Er wird mit zeitweise fast zwei Millionen Mitgliedern der größte Chorverband der Welt werden. Eine Kraft, die Fachleute der Macht zu schätzen wissen. Nochmals Otto von Bismarck, ab 1862 Ministerpräsident Preußens: Zitator 2 Otto von Bismarck, Forts. Und so möchte ich das deutsche Lied als Kriegsverbündeten für die Zukunft nicht unterschätzt wissen (..) Musik 13 „Lindenbaum“,Leo Slezak von 1923, evt. nur letzte Strophe (..) Die kalten Winde bliesen Mir grad' ins Angesicht; Der Hut flog mir vom Kopfe, Ich wendete mich nicht. Nun bin ich manche Stunde Entfernt von jenem Ort, Und immer hör' ich's rauschen: Du fändest Ruhe dort! Zitator 1 „Zauberberg“ von Thomas Mann, evt. über Musik Das Lied bedeutete ihm viel, eine ganze Welt, und zwar eine Welt, die er wohl lieben musste. (..) Wir wissen, was wir sagen, wenn wir (..) hinzufügen, daß sein Schicksal sich anders gestaltet hätte, wenn sein Gemüt den Reizen der Gefühlssphäre, der allgemeinen geistigen Haltung, die das Lied (..) zusammenfasste, nicht in höchstem Maße zugänglich gewesen wäre. Erzählerin So beschreibt der Erzähler in Thomas Manns „Zauberberg“ die Gedanken- und Gefühlswirrungen seines von Zweifeln zerfressenen Protagonisten Hans Castorp, eines im Strudel des beginnenden 20. Jahrhunderts orientierungslosen jungen Mannes. Zitator 1 „Zauberberg“ von Thomas Mann Worin bestanden (..) aber Hans Castorps Zweifel an der höheren Erlaubtheit seiner Liebe zu dem bezaubernden Liede und seiner Welt? Welches war die dahinter stehende Welt? Es war der Tod. Zitator 2 Jochen Hörisch Thomas Manns Bildungsroman lässt (..) keine Zweifel daran, dass der Tod ein Meister aus Deutschland ist. Romantisches Eingedenken des Todes und seine massenweise Fabrikation schließen einander nicht aus. Erzählerin So der Literaturwissenschaftler Jochen Hörisch. Und es ist nur konsequent, wenn der Erzähler sich von seinem Helden auf dem Schlachtfeld des Ersten Weltkrieges verabschiedet. Atmo Kriegslärm Schlachtfeld WK 1, keine Idylle (!) Zitator 1 „Zauberberg“ von Thomas Mann, S. 898 Da ist unser Bekannter, da ist Hans Castorp! (..) Er läuft mit ackerschweren Füßen, das Spießgewehr in hängender Faust. Seht, er tritt einem ausgefallenen Kameraden auf die Hand, - tritt diese Hand mit seinem Nagelstiefel tief in den schlammigen (..) Grund hinein. Er ist es trotzdem. Was denn, er singt! Wie man in stierer, gedankenloser Erregung vor sich hinsingt, ohne es zu wissen, so nutzt er seinen abgerissenen Atem, um halblaut zu singen: „Ich schnitt in seine Rinde so manches liebe Wort - “ Er stürzt. Nein, er hat sich platt hingeworfen. (..) Hinweg! Wir erzählen das nicht! Ist unser Bekannter getroffen? Er meinte einen Augenblick, es zu sein. (..) Er macht sich auf, er taumelt hinkend weiter mit erdschweren Füßen, bewusstlos singend: „Und sei-ne Zweige rau-uschten, Als rie-fen sie mir zu - “ Und so, im Getümmel, in dem Regen, der Dämmerung, kommt er uns aus den Augen. Erzählerin 1912, am Vorabend des Ersten Weltkrieges, beginnt Thomas Mann mit der Arbeit am „Zauberberg“. Im selben Jahr erscheint ein Roman, der bald zur Vorlage eines der populärsten Musiktheaterstücke des zwanzigsten Jahrhunderts avanciert: der Schubert-Operette „Das Dreimäderlhaus“. Musik 14 aus Film „Dreimäderlhaus“, „Am Brunnen vor dem Tore“, Rudolf Schock, einblenden, nur letzte Strophe, mit Chor, ab ca. 2’30 (..) Nun bin ich manche Stunde Entfernt von jenem Ort, Und immer hör' ich's rauschen: Du fändest Ruhe dort ! Erzählerin, kann über Schluss der vorigen Musik sprechen Das „Dreimäderlhaus“ wird in 22 Sprachen übersetzt, weltweit gespielt, verfilmt, und als unglücklich liebendes, dennoch lebensfrohes musikalisches Genie aus Wien wird Schubert im 20. Jahrhundert zur Ikone einer frühen Populärkultur. Das Biedermeier erscheint als idyllische Zeit, in der alles noch geordnet, in der alles besser war. Auf Seiten des „Deutschen Sängerbundes“ regt sich indes Widerstand gegen eine allzu gefühlige Vereinnahmung Schuberts. 1928, zehn Jahre nach dem ersten und elf Jahre vor dem zweiten großen Krieg, findet das „Deutsche Sängerfest“ statt. Anlass: das einhundertste Todesjahr Franz Schuberts. Ort: Wien. Aus den offiziellen Festblättern des Sängerbundes: Zitator 2 Festblätter, Juni 1927 Dem deutschen Lied und dem deutschen Vaterland sollen die beiden Hauptaufführungen des Wiener Festes gewidmet sein. Noch nie waren diese Hochziele so sinnfällig verkörpert als in der Ehrung des deutschen Liederfürsten Franz Schubert und in der Kundgebung für den Anschlussgedanken. Alles (..) liegt in diesen beiden Worten beschlossen, und wenn (..) zehntausende deutscher Sänger gleichzeitig ihre Stimme zum Preise des Liedes und des Vaterlandes erheben werden, so wird davon ein Strom der begeisterten Liebe zu Lied und Vaterland über ganz Deutschland und Österreich (..) ausgehen. Erzählerin „Zehntausende deutsche Sänger“ – in der Tat sollte das deutsche Sängerfest 1928 alle bislang bekannten Dimensionen sprengen. Über 130 000 Sänger werden bei dem 3-tägigen Treffen aus aller Welt zusammen kommen. Für die Hauptveranstaltungen wird im Prater ein hölzerner Konzertsaal gebaut, Zitator 2 Festblätter, 1928 110 Meter breit, 182 Meter lang, 25 Meter hoch. (..) Das (..) Podium im Ausmaße von ungefähr 7000 Quadratmetern (..) bietet Raum für 30.000 Sänger. In das Podium eingebaut ist der Orchesterraum für 400 Musiker. Der Dirigent wird von einem 4 Meter hohen Turm aus die Choraufführung leiten. (..) Die Wirkung muss eine unbeschreibliche sein, wenn z.B. Schuberts „Lindenbaum“, in dem sich die ganze deutsche Seele spiegelt, aus dem Munde zehntausender deutscher Sänger erklingt. Musik 15 „Lindenbaum“, Chor Berliner Lehrerverein, 1928, vielleicht nur Anfang frei, dann weiter unter Text oder ausblenden Am Brunnen vor dem Tore da steht ein Lindenbaum Ich träumt in seinem Schatten so manchen süßen Traum. Ich schnitt in seine Rinde so manches liebe Wort; Es zog in Freud‘ und Leide Zu ihm mich immer fort. Erzählerin, über Musik Und so resümiert der Vorsitzende des Sängerbundes: Zitator 2 Friedrich List In dieser festlichen Stunde, ihr deutschen Sänger, huldigen wir Franz Schubert mit dem Rufe, in dem wir alle unsere Liebe und Begeisterung für unsere Ideale zusammenfassen: „Das deutsche Lied und sein Vorkämpfer, der Deutsche Sängerbund: Heil! – Heil! – Heil!“ Atmo, kollektive „Heil“-Rufe aus späterer Zeit Erzählerin Fünf Jahre später, im Januar 1933, übergibt man Adolf Hitler die Macht, im März wird mit dem Erlass des Ermächtigungsgesetzes das Schicksal der Demokratie endgültig besiegelt. Es beginnt die Zeit der Diktatur. Menschen jüdischer Abstammung wird das öffentliche Auftreten zunehmend verboten, die Beschäftigung von Juden etwa im öffentlichen Rundfunk ist ab sofort unerwünscht. Dennoch erlebt am 9. Mai ein Musik-Film im Ufa-Palast am Berliner Zoologischen Garten seine Premiere, mit einem berühmten jüdischen Protagonisten als Hauptdarsteller. Ein Kunde betritt einen Plattenladen und verlangt eine neue Schallplatte zu hören. O-Ton 12 a Film „Ein Lied geht um die Welt“ Kunde: Bitte Fräulein, ich möchte die neuesten Ricardo-Platten hören. Bedienung: Ricardo-Platten, ja, bitte. Wollen Sie sich da herein bemühen bitte. Bitteschön. Was wünschen Sie zu hören: Rigoletto, Tosca oder ein deutsches Volkslied: Am Brunnen vor dem Tore. Erzählerin „Am Brunnen vor dem Tore“, das fünfte Lied der Winterreise, längst eine fester Bestandteil des deutschen Volksliedgutes. Der potentielle Schallplattenkäufer scheint interessiert. O-Ton 12 b Film „Ein Lied geht um die Welt“, Fortsetzung Kunde: Bitteschön. (Es erklingt die erste Strophe von „Am Brunnen vor dem Tore“) Erzählerin Der Kunde ist der berühmte Tenor Ricardo, der Interpret der gewünschten, der eigenen Aufnahme. Ricardo wird dargestellt von dem in der Wirklichkeit ebenso berühmten Rundfunktenor Joseph Schmidt. In dem auf Schmidt zugeschnittenen Drehbuch spielt dieser sich quasi selbst. Während Ricardo im Plattenladen dem eigenen Gesang lauscht, betrachtet er die schöne, hochgewachsene, blonde Verkäuferin, die - ebenfalls der Aufnahme zuhörend - unter Seufzern und mit verklärtem Blick geradezu dahinschmilzt. Der Sänger verliebt sich in die Angestellte, doch die Sehnsucht des kleinen, nur ca. 1 Meter 50 großen Mannes – das quasi negative Markenzeichen des herausragenden jüdischen Tenors Joseph Schmidt – findet im Film keine Erfüllung. Zitator 1 Ernst Neubach, Textautor von „Ein Lied geht um die Welt“ Joseph Goebbels liebte Joseph Schmidt – er liebte ihn und hat ihm ein enormes Angebot gemacht. Wenn ich nicht irre, hat er ihm 80 000 Reichsmark monatlich angeboten, wenn er beim Rundfunk bliebe. Und er versprach, ihn zum Ehrenarier zu ernennen. Erzählerin So erinnert sich der in der Berliner Premiere anwesende Textautor des Films Ernst Neubach an den ebenfalls anwesenden Propagandaminister. Die Begeisterung des Publikums für Film und Sänger ist groß, doch die Großwetterlage ist schlecht. Der „Völkische Beobachter“ kommentiert: Zitator 2 Völkischer Beobachter Es wird peinlich wenn eine Firma die in Deutschland produziert sich einbildet heute aus Deutschland ein Lied um die Welt gehen zu lassen wie dieses von Joseph Schmidt gesungene. Das Lied, das heute durch Deutschland geht hat einen anderen Rhythmus, hat schärferen Marschtritt. Möge dieses Lied um die Welt gehen, es wird übertönt werden, vom Lied der nationalen Revolution. Atmo marschierende Stiefel auf Pflaster, die in Atmo Tritte im Schnee übergeht Erzählerin Das Lied aus Schuberts Winterreise, ein Lied der Sehnsucht nach einer verloren gegangenen Idylle, es markiert den Anfang einer langen Reise des jüdischen Tenors Joseph Schmidt. Wie bei tausenden vergleichbaren Schicksalen ist diese Reise in keiner Weise freiwillig, es ist eine Flucht, für viele eine Flucht in den Tod. Bei Schmidt führt sie 1933 zunächst fort aus Deutschland, nach Österreich. Den Weg in umgekehrter Richtung, nach Deutschland hinein, geht dagegen ein junger Engländer. Es sind sehr persönliche Motive, die den sich in einer Krise befindenden Studenten Patrick Leigh Fermor im Herbst des Jahres 1933 plötzlich bedrängen. O-Ton 12 c Hörbuch, Patrick Leigh Fermor, „Zeit der Gaben“, S. 27. Am Ende eines finsteren Novembernachmittages, als die Laternenanzünder ihre Runde machten, blickte ich düster die eselsohrigen Blätter auf meinem Schreibtisch an, dann betrachtete ich durchs Fenster die Lichter des Shepherd Market im Regen (..) und ganz plötzlich (..) kam mir eine Eingebung. (..) Ich brauchte Tapetenwechsel, ich musste fort aus London, fort aus England; wie ein Landstreicher ( ..) würde ich über den europäischen Kontinent ziehen! Erzählerin Sein Plan ist eine Wanderung von London nach Konstantinopel, wenn und wo es möglich wäre, zu Fuß. Über Holland, am Rhein entlang nach Süden, über Ulm, Augsburg und München zunächst nach Wien. Im Dezember 1934 beginnt die Winterwanderung, und sie erbringt eine Sicht auf Deutschland, die nur partiell dem heute geläufigen Geschichtsbild jener Zeit entspricht. O-Ton 12 d Hörbuch, Patrick Leigh Fermor, „Zeit der Gaben“, S.64f. Die Gastfreundschaft gegenüber Wanderburschen hat in Deutschland Tradition, und gerade die bescheidenen Umstände, unter denen ich reiste, öffneten mir Tür und Tor. Zu meiner Überraschung kam es mir sogar gelegen, daß ich Engländer war, denn damit war ich ein seltener Vogel, der überall Neugier weckte. Aber selbst weniger freundlichen Menschen wäre ich wohlgesonnen gewesen: Endlich hatte die Reise begonnen, ich war weit fort von meiner gewohnten Umgebung, das Meer lag zwischen mir und allen Verwicklungen der Vergangenheit, und das, zusammen mit meiner von Tag zu Tag beschwingteren Stimmung, tauchte alles in ein goldenes Licht. Erzählerin Es ist die Mischung aus Flucht und Neugier, die Fermor bewegt. Dabei wird sogar seine fehlende Sprachkenntnis, als Signum der Hilfsbedürftigkeit, zum Bonus. O-Ton 12 e Hörbuch, Patrick Leigh Fermor, „Zeit der Gaben“, S.91 “Wer reitet so spät durch Nacht und Wind?” Nach fünfzehn Tagen reichte mein Deutsch, um das gerade eben zu verstehen, obwohl ich mich wunderte, wieso sie von Reiten sprach. Woher hätte ich auch wissen sollen, daß es die erste Zeile von Goethes berühmtem, durch Schuberts Lied noch berühmter gewordenem „Erlkönig“ war? „Und der Herr ist Ausländer?“ Inzwischen sagte ich auf dieses Stichwort mein Verslein ganz automatisch. „Englischer Student ... zu Fuß nach Konstantinopel ...“. Das brachte mich nicht mehr in Verlegenheit. „Konstantinopel?“ fragte sie. „O weh! So weit! Und mitten im Winter“. Sie fragte, wo ich am kommenden Tag sein werde, dem letzten des Jahres. Irgendwo unterwegs, antwortete ich. „Sie können doch nicht am Silvesterabend durch den Schnee ziehen!“ protestierte sie. „Und wo wollen Sie heute Nacht schlafen?“ Ich hatte es mir noch nicht überlegt. Ihr Mann war inzwischen hinzugekommen und hatte den Wortwechsel mit angehört. „Dann bleiben Sie doch hier“, sagte er. „Als unser Gast.“ Erzählerin Fermor hält seine Erlebnisse fest, zunächst als Reisetagebuch. Sehr viel später, 1977, wird er seine äußerst lesenswerten Erinnerungen veröffentlichen. Sie sind ein wertvolles Dokument einer heute durch die markanten, durchweg negativen Ereignisse dieser Zeit verdeckten Alltagskultur. O-Ton 12 f Hörbuch, Patrick Leigh Fermor, „Zeit der Gaben“, S.118 Der Regen hatte den Schnee in Matsch verwandelt, und daraus wiederum hatte der kalte Bergwind pockennarbige Eisschollen geformt. Jetzt, nach einem kleinen Schneegestöber als Präludium, fielen die Flocken zu Millionen. Nichts war von der Landschaft mehr zu sehen, die eine Seite des Wanderers verwandelte der Wind in eine Schneewehe, deckte sein Haupt mit einem weißen Dach, ließ eine dicke Reifschicht an seinen Wimpern wachsen. Die Straße verlief auf einem Hügelkamm und bot keinerlei Deckung, und bald schien es, als gebiete der Wind mir Einhalt mit der eiskalten Hand, die er mir auf die Brust legte, bald, wenn er ganz unvermittelt die Richtung änderte, versetzte er mir Tritte in den Rücken, daß ich schlingernd voran taumelte. Schon bevor das Unwetter losbrach, war weit und breit kein Dorf zu sehen gewesen. Kaum ein Auto kam vorbei. Ich ließ mich nicht gern mitnehmen und hatte meine klaren Regeln: Ich lehnte alle Angebote ab, bis ich buchstäblich nicht mehr gehen konnte; und dann fuhr ich nie länger, als ich zu Fuß an einem Tag bewältigt hätte. Daran hielt ich mich. Doch jetzt kam kein einziges Fahrzeug; nichts als Schneeflocken und Wind; bis schließlich ein schwarzes Ungetüm auftauchte und klappernd und klirrend neben mir hielt. Es war ein schwerer Diesellastwagen mit Schneeketten an den Rädern und einer Ladung Eisenträger. Der Fahrer öffnete die Tür und reichte mir mit den Worten „Spring hinein“ die Hand. Als ich neben ihm in dem beschlagenen Fahrerhaus saß, rief er: „Du bist ein Schneemann!" Das stimmte. Klappernd ging es weiter. Er wies auf die Flocken, die sich genauso schnell auf der Scheibe festsetzten, wie der Scheibenwischer sie beiseite schob, und sagte: „Schlimm, niet?“ Er holte eine Flasche Schnaps hervor, und ich nahm einen großen Schluck. Genau das richtige! Erzählerin Im Kapitel „Winterreise“ gelangt Fermor schließlich nach München. Und hier zeigt sich, in der „Hauptstadt der Bewegung“, das andere Gesicht jener Tage. O-Ton 12 g Hörbuch, Patrick Leigh Fermor, „Zeit der Gaben“, S. 136 Ich hatte eine ganz andere Stadt erwartet, eher etwas wie Nürnberg oder wie Rothenburg. Die neoklassische Architektur in diesem stürmischen Winterwetter, die breiten Boulevards, die allgegenwärtige kalte Pracht - all das war Eis für meine Seele. Ungewöhnlich viele SA- und SS-Männer waren auf den Straßen, es wurden anscheinend immer mehr, und 
überall sah man den Nazigruß wie einen tic douloureux. Vor der Feldherrnhalle, wo ein Denkmal an die sechzehn Nazis
erinnerte, die 1923 bei einer Straßenschlacht in der Nähe getötet worden waren, standen zwei SS-Männer mit schwarzen Stahlhelmen und aufgepflanzten Bajonetten Wache wie Gußeisenfiguren, und der rechte Arm jedes Passanten schoß in die Höhe, als hätte er einen Stromstoß erhalten. Diese Ehrenbezeugung zu verweigern war nicht ungefährlich. Man
hörte Geschichten von ahnungslosen Ausländern, auf die Fanatiker mit Fäusten losgegangen waren. Dann wurden die Straßen enger. In einer Gasse sah ich gotische Spitzbögen und Strebepfeiler, und weiter in der Ferne schwebten kupferne Kuppeln über üppigem Barock. Eine Jungfrau auf einer Säule herrschte über einen abschüssigen Platz, dessen eine Seite ein hohes neogotisches Bauwerk bildete, durch dessen große Arkaden man in ein Gewirr kleinerer Straßen gelangte. Und im Herzen dieses Viertels stand ein massiger Bau, mein Ziel: das Hofbräuhaus. Aus der schweren Tür mit dem Rundbogen darüber spie es eben einen Trupp Braunhemden auf den zertretenen Schnee. (..) Ein stöhnender Nazi hatte es nur noch halb die Treppe hinuntergeschafft,
stützte den Arm mit der Hakenkreuzbinde an der Wand ab und spuckte alles, was er im Laufe von Stunden zu sich genommen hatte, in einem schier unendlichen Schwall über die Stufen wieder aus. Verlorene Liebesmüh. Auf jeder Etage gingen in alle Richtungen große Säle ab, die ganz dem Verzehr gewidmet waren. In einem davon grölte ein Trupp SA-Männer „Lore, Lore, Lore“; sie schlugen den täppischen Rhythmus mit dem Boden ihrer Bierkrüge, dann verdoppelten sie das Tempo, und es klang wie die Waggons eines Expreßzuges: „UND - KOMMT - DER - FRÜHLingindastal! 
GRÜSS - MIR - DIE - LORenocheinmal.“ Musik 16 Volkslied, Im Wald im grünen Walde, die zitierte Stelle frei stehen lassen O-Ton 12 h Hörbuch, Patrick Leigh Fermor, „Zeit der Gaben“, S. 138f Doch nicht die Uniformierten, sondern die anderen Gäste des Lokals fesselten meine Aufmerksamkeit. Vom Oberlauf des Rheins muß man einhundertundachtzig Meilen ostwärts reisen und von den Gipfeln der Alpen siebzig nordwärts, um zu begreifen, in welchem Maße Bier zusammen mit beinahe ununterbrochenem Essen - Mahlzeit um Mahlzeit in so rascher Folge über den ganzen Tag, daß kaum eine Zeit bleibt, in der man nichts zu sich nimmt, den Körper eines Menschen verändern kann. Magengrimmen und der unerbittliche Nachschub an Nahrung schlagen manch einem Deutschen aufs Gemüt, zeigen sich in finsterer Miene und machen sich in heftigen Worten und Taten Luft. Die Leiber dieser tafelnden Bürger waren breit wie ein Fass. Ihre Gesäße, auf die Wirtshausbänke gedrückt, nahmen gut und gern einen Meter ein. Sie teilten sich zu Oberschenkeln dick wie der Körper eines Zehnjährigen, und Arme vergleichbarer Stärke drohten das Tuch ihrer Janker zu sprengen. Hals und Brust verschmolzen zu einer massigen Säule, und jeder Stiernacken war in Falten gelegt wie ein trügerisches Lächeln. Jedes Härchen war von diesen massigen Köpfen geschabt, auch auf dem Schädel. (..) Der jüngste dieser Gesellschaft, der aussah wie ein jugendlicher Liebhaber, den ein böser Zauberer mit einem grausamen Bann belegt hat, war der dickste. Unter üppigen blonden Locken blickten porzellanblaue Augen zwischen Backen, die wie mit der Fahrradpumpe aufgeblasen schienen, und zwischen kirschroten Lippen blitzte ein Gebiss von der Art, vor dem Kinder schreiend davonlaufen. Nichts Verschwommenes, nichts Benommenes war an diesen Augen. Durch ihre Umgebung mögen sie kleiner gewirkt haben, als sie waren, aber sie blickten nur um so wacher im Vergleich. Erzählerin Patrick Leigh Fermors Reise nach Konstantinopel, die als Winterwanderung beginnt, wird noch einige Jahre dauern. In seiner englischen Heimat gilt er heute als großer Reiseschriftsteller, eine Gattung, der man in Deutschland eher abschätzig begegnet: Sachliteratur. Noch bekannter, ja berühmt wurde der feinsinnige Autor durch eine militärische Tat. Als geheim operierender Agent der britischen Armee gelang ihm zusammen mit griechischen Partisanen 1944 die Entführung des deutschen Befehlshabers von Kreta, des Generalmajors Heinrich Kneipe. Zwei Jahre vor dieser heroischen Partisanenaktion, die zum Mythos englischen Kampfgeistes wurde, im Spätherbst des Jahres 1942, findet die Flucht des Tenors Joseph Schmidt ihr Ende. Österreich hat er nach dem Einmarsch der Deutschen verlassen müssen, nun flieht er über Belgien und Frankreich schließlich zu Fuß und illegal in die winterliche Schweiz. Dort ist man wenig erfreut über „noch mehr“ Flüchtlinge, zumal wenn sie ohne Visum das Land betreten haben. Wenige Tage nach seiner Ankunft bricht er in Zürich, wo er als Star-Tenor einst große Erfolge gefeiert hat, erschöpft auf der Straße zusammen. Er stirbt, medizinisch unzureichend behandelt, kurze Zeit später an Herzversagen. Musik 17 Schostakowitsch Leningrader Sinfonie Erzählerin 1942 ist das Jahr, in dem die Erfolge der deutschen Wehrmacht ihren Zenit erreichen und – am Ende des Jahres – überschreiten. Das Blatt wendet sich, und der Verlust riesiger Armeen im russischen Winter kündigt an, daß Hitlers Deutschland den Krieg nicht gewinnen kann. Zitator 1 Slavoj Žižek, aus „Lenin als Schubertianer“, in „Die Revolution steht bevor“, Frankfurt 2002, über Atmo War nicht der ganze Stalingradfeldzug eine gewaltige Winterreise, bei der jeder deutsche Soldat die ersten Zeilen des Zyklus auf sich beziehen konnte: „Fremd bin ich eingezogen, / Fremd zieh ich wieder aus“? Erzählerin … überlegt der slowenische Kulturphilosoph Slavoj Žižek, und er denkt dabei an den Winter 1942/43, er denkt an den Untergang von Hitlers 6. Armee im Kessel von Stalingrad, bei Minustemperaturen von bis zu 35 Grad. Zitator 1 Slavoj Žižek, Forts. Geben die folgenden Zeilen nicht ihre Grunderfahrung wieder: „Nun ist die Welt so trübe, / Der Weg gehüllt in Schnee. / Ich kann mit meiner Reisen / Nicht wählen mit der Zeit: / Muß selbst den Weg mir weisen / In dieser Dunkelheit“? Wir haben es hier mit einem endlosen sinnlosen Marschieren zu tun… Erzählerin Ein „endloses, sinnloses Marschieren“, unfreiwillig, getrieben, durch Befehl und Gewalt veranlasst – wer denkt da nicht an die einige Zeit später beginnenden sogenannten Todesmärsche, bei denen die überlebenden Insassen der deutschen Konzentrationslager hunderte Kilometer nach Westen zu wandern hatten, entkräftet und ohne Verpflegung, völlig unzureichend bekleidet. Mitten im Winter. Ein Überlebender stellt einen historischen Bezug her. Zitator 2 Erlebnisbericht Todesmarsch 1 Dann begann der Marsch, und wenn man den zu irgendetwas in Vergleich setzen will, also wer den Film über den russisch-französischen Krieg gesehen hat und die Bilder vom Rückzug der napoleonischen Armee aus Moskau, die schneebedeckten eingeschneiten Soldaten, die Soldaten, auf deren Lippen, auf deren Schnauzbärten Eisbrocken klebten, und die Soldaten, die ohne Kopfbedeckung waren, mit einer Schicht Schnee auf dem Kopf, die Soldaten, die sich mit zerrissenen Stiefeln zurückzogen, deren Zehen aus dem aufgerissenen Leder herausschauten, die Soldaten, die vor Schwäche und Hunger umfielen – das alles ist nichts gegen die Hölle des Rückzugs, des Todesmarsches. Erzählerin Berichte von Überlebenden dieser Märsche in den ersten Wochen des Jahres 1945. Zitator 2, Erlebnisbericht Todesmarsch 2 Den ganzen gestrigen Tag habe ich nichts zu mir genommen. Andere haben unterwegs alles ‚genascht’, was sie konnten – Gräser, Schnecken, Kartoffeln, die die Bauern auf den Feldern zurückgelassen hatten -, doch ich, meine Kehle war wie verstopft, obgleich mein Magen mir wegen des Hungers zu schaffen machte. Da nichts anderes da war, habe ich an einer Schneescholle genagt. Mein ganzer Körper hat vor Kälte gezittert ... Dieser Marsch dauerte Tage und Nächte, ohne dass irgend jemand gewusst hätte, wohin sie uns führen. Wenn sie uns mit dem Maschinengewehr ummähen wollen, (Vorspiel von folgendem Musikstück kann unter Text) warum tun sie es nicht gleich? Oder vielleicht führt man uns wieder zu irgendeiner neuen Vergasungseinrichtung? Dabei scheint es, als sei all dies überhaupt nicht notwendig: Wenigstens zwei Drittel der Kameraden liegen bereits tot am Wegesrand. Noch ein paar Tage, und dies wird unser aller Schicksal sein. Musik 18 „Das Wirtshaus“, Peter Anders, Aufnahme von März 1945 Auf einen Totenacker hat mich mein Weg gebracht. Allhier will ich einkehren: hab ich bei mir gedacht. Ihr grünen Totenkränze könnt wohl die Zeichen sein, Die müde Wandrer laden In’s kühle Wirtshaus ein Erzählerin, über Zwischenspiel Zur selben Zeit, zu Beginn des Jahres 1945, findet in der Berliner Masurenallee ein wie aus der Zeit gefallenes Unternehmen statt: Die Aufnahme von Schuberts „Winterreise“ mit dem Tenor Peter Anders. Musik 18 „Das Wirtshaus“, Fortsetzung Sind denn in diesem Hause Die Kammern all‘ besetzt? Bin matt zum Niedersinken, Bin tödlich schwer verletzt. O unbarmherz’ge Schenke Doch weisest Du mich ab? Nur weiter denn nur weiter, Mein treuer Wanderstab! Erzählerin Berlin ist ein Trümmerfeld, die russische Armee steht in Hörweite, Adolf Hitler hockt mit seinen Vertrauten im Führerbunker an der Wilhelmstraße, in wenigen Wochen wird er sein Leben beenden. Im Haus der Reichsrundfunkgesellschaft im Westen Berlins beendet man ein in Anbetracht der Umstände wahnwitziges, ja apokalyptisches Projekt: die komplette akustische Konservierung des als „deutsch“ verstandenen Liedgutes. Knapp 2000 Titel sind in den letzten zwei Jahren eingespielt worden, der Textdichter Heinrich Heine und der Komponist Felix Mendelssohn-Bartholdy sind natürlich nicht darunter. Geistiger Vater ist Michael Raucheisen, erster Pianist im Staate, als Leiter der Abteilung Kammermusik beim Deutschlandsender erprobt er die seit kurzem verfügbare Technik der Aufzeichnung mit Magnetophonbändern. In insgesamt drei Sitzungen spielt er mit dem Tenor Peter Anders und deutlich verstimmtem Klavier Schuberts „Winterreise“ ein, den letzten fehlenden Baustein des Unternehmens. Am 13. März beenden die Beiden die Aufnahme. Zitatorin Lemke-Matwey, in Zeit vom 3.12.1998 Wer, bildhaft gesprochen, einmal über Leichen stieg, der träumt andere Frühlingsträume; und wer hungern, frieren und darben musste, dem ist der Leiermann, dieser gespenstige Bruder in der Kunst, wohl ein gar lieber, zutraulicher Geselle. Erzählerin Die Kulturjournalistin Christine Lemke-Matwey über die wiederveröffentlichte Aufnahme. Zitatorin Lemke-Matwey, Forts. Der harsche, bittere Gestus der meisten Lieder, ihre fiebrigen Tempi, die wachsende Sprach- und Tonlosigkeit der Interpreten vor Schuberts Notentext, diesem grandiosen Manifest der Einsamkeit des Menschen vor dem Menschen - es schwingt viel Wut, viel Verzweiflung mit. Musik 19 „Einsamkeit“,Peter Anders, ab 2’43, besonders eindrucksvoll sind die letzten gesungenen Worte (..) Ach, daß die Luft so ruhig ! Ach, daß die Welt so licht ! Als noch die Stürme tobten, War ich so elend nicht. Erzählerin Diese im März 1945 vollendete Einspielung der Winterreise ist eine der letzten Kulturerzeugnisse des sogenannten „Dritten Reiches“. Die Städte liegen in Schutt, viele fühlen sich besiegt, nur wenige befreit. (Musik 20 a unter Text einspielen) Und mit der Musik, die der alte Richard Strauss, wichtigster Komponist dieses untergegangenen Reiches, in Anbetracht der Ruinen Dresdens schrieb, endet die zweite Stunde unserer Langen Nacht über das Reisen im Winter. Musik 20 Musik, Richard Strauss Metamorphosen Erzählerin über Musik Im dritten Teil werden wir – nach einem Ausflug ins japanische „Schneeland“ – über das Winterreisen und Winterwandern von Künstlern nach 1945 erzählen. Und davon, wie vor allem Schuberts epochales Werk weiterhin Schriftsteller, Musiker und Filmemacher inspiriert. Musik 20 hoch bis zum Ende der zweiten Stunde 3. Stunde O-Ton 13 a japanische Musik, aus Hörspiel „Unter Schnee“ O-Ton 13 b, aus „Unter Schnee“ (Sturmwind) Fürst Kioruku, der zum ersten mal das Schneeland bereiste hatte noch nie in seinem Leben so viel Schnee gesehen. Er fiel unablässig in dicken Fetzen und hatte bereits nach wenigen Stunden eine beachtliche Höhe erreicht, unter der die Wege kaum noch zu erkennen waren. Das Vorankommen im tiefen Schnee wurde für die Sänftenträger immer mühsamer und der Sturm trieb ihnen die Schneewirbel entgegen so dass sie kaum noch sehen konnten. O-Ton 14 Wort Ulrike Ottinger, aus Gespräch mit Autor Wir waren im sogenannten Schneeland, das ist die Hauptinsel und da die Westküste, also die Sibirien gegenüber liegende. Erzählerin Ulrike Ottinger, Filmemacherin, Regisseurin, Autorin. In „Unter Schnee“ realisierte sie den Stoff als Film und als Hörspiel. O-Ton 15 Wort Ulrike Ottinger Da kommen diese eiskalten Winde aus Sibirien, ziehen über das Meer an die japanischen Küste und da sind Berge die nicht einmal besonders hoch sind, zwischen 500 und vielleicht max. 500 Metern und da bleiben die Wolken hängen und schneien ab. Und deshalb ist das das Schneeland und die haben manchmal in drei Tagen sechs Meter Schnee. O-Ton 16 Hörspiel „Unter Schnee“ von Ulrike Ottinger Der Fürst, eingehüllt in seinem schweren mit Pelz gefütterten Seidenbrokatmantel blickte besorgt hinaus. Eine Schneestaublawine wirbelte direkt auf sie zu, mit einem erschreckten Ausruf hieß er die Sänfte anhalten. O-Ton 17 Wort Ulrike Ottinger Dort sind die Reisen sehr gefährlich im Winter, man weiß ja nie ob nun ein plötzlicher Sturm ausbricht, es gibt ja auch sehr sehr viele Geschichten die beschreiben wie Menschen verloren sind und wie sie bestimmte Wanderungen einfach nicht überstehen, auch im Bokushi Suzuki hat man einige dieser Erzählungen. Erzählerin Bokushi Suzuki, Kaufmann, Stoffhändler, hatte die Provinz Echigo, das sogenannte Schneeland an der Westküste Zentraljapans, oft bereist. Seine Beschreibungen von den Eigenarten dieser Gegend, den Gebräuchen und Praktiken der Menschen, aber auch ihre Geschichten und Legenden versammelte er in einem Buch. In der Mitte des 19. Jahrhunderts erschien es mit großem Erfolg in Japan, wurde ins Englische und vor einigen Jahren auch ins Deutsche übersetzt. O-Ton 18 Hörspiel „Unter Schnee“, zunächst nur Schritte im Schnee mit Flötenmusik, darüber Erzählerin über O-Ton Der Fürst verlässt seine Sänfte und setzt die Reise zu Fuß fort. O-Ton 18 Hörspiel „Unter Schnee“, Forts. Auch notierte er die 22 Wörter für Schnee, die sein Gewährsmann ihm nannte: Päonien Schnee, auch Blütenschneegestöber genannt, Reispuderschnee, der schnell und dicht fällt, Trommelschnee für Hagel, Schaumschnee, erster Schnee oder Nr. 1 Schnee, und Schneeknödel für sehr großen Hagel. Als er eine Gänsefederschneeflocke mit seinem Vergrößerungsglas genauer betrachtete, entdeckte er dass sie aus vielen einzelnen Kristallen bestand und jedes eine andere, aber immer sechseckige Gestalt hatte. Erzählerin Ulrike Ottinger verlässt die Geschichte des reisenden Fürsten, kaum dass sie begonnen, um eine scheinbar heutige Geschichte zu erzählen. O-Ton 19 Hörspiel „Unter Schnee“ Takeo und Mako, zwei Studenten aus der Hauptstadt, erzählen sich während ihrer Zugreise Geschichten aus dem Schneeland. Sie wollen ihre Neujahrsferien in dieser geheimnisumwobenen, von Feen, Dämonen und Fuchsgeistern, aber auch von tüchtigen Reisbauern und mutigen Jägern bewohnten Bergregion verbringen. So wie Fürst Kioruko den Fußstapfen seines Wegbereiters folgte, so wollen sie den Spuren Bokushi Suzukis folgen, dessen Sammlung wunderbarer Ereignisse und Beschreibungen des Schneelandes sie gelesen hatten. O-Ton 20 Wort Ulrike Ottinger Also meine erste Vorstellung für den Film war dass ich die Gegenwart mit der Vergangenheit zusammen bringe und dass ich den Alltag im Schneeland auch verbinde mit den ganzen japanischen Geistergeschichten, ganz Asien ist ja zutiefst animistisch geprägt und das ist eine Dimension die wir, wenn wir das moderne Japan sehen, viel zu wenig beachten oder nicht wahrnehmen weil es uns vertraut vorkommt aber gleichzeitig ist die Interpretation von vielen Dingen eine ganz andere, in vielen asiatischen Ländern und natürlich auch in Japan und da fällt es besonders ins Auge weil es ein modernes Land ist. O-Ton 21 Hörspiel „Unter Schnee“, zunächst nur Trommel und Windatmo Erzählerin über voriger Atmo Auch die beiden Studenten setzen, genau wie der Fürst in ihrer literarischen Vorlage, ihren Weg zu Fuß fort. O-Ton 21 Hörspiel „Unter Schnee“, Forts. In ihrer Vorfreude auf all diese Ereignisse bemerken sie nicht, wie der Himmel sich verdunkelt. Es beginnt zu schneien, erst leicht, dann immer dichter, das Gehen im tiefen Schnee fällt ihnen schwer und sie fürchten sich zu verirren. Auch bemerken sie nicht, dass eine Füchsin ihnen folgt. Dieser gefällt der Junge Takeo so gut, dass sie beschließt eine Spur im Schnee zu legen der die Beiden im Schneegestöber folgen können. O-Ton 22 Wort Ulrike Ottinger Die Fuchsgeister haben in Japan ja eine ganz besondere Bedeutung und die Fuchsgeister, manchmal auch die Marder oder die Dachse, die verwandeln sich sehr gerne in Menschen und führen dann die Reisenden in die Irre und das ist ein Topos im Japanischen, das haben Sie in den Opern, also in den Kabuki Opern, das haben Sie auch in den früheren No-Spielen und in unzähligen Geschichten, das ist also ein Topos, also diese Geschichte habe ich einfach erfunden. O-Ton 23 Hörspiel „Unter Schnee“, nur Sound, betont die folgende plötzliche Verwandlung O-Ton 24 Wort Ulrike Ottinger Die beiden Studenten erleben etwas, also eine Transformation und gehen in die Vergangenheit und ich glaube es gibt sogar einen Satz der sagt, dass sie in die Vergangenheit wandern aber ihnen die Gegenwart immer wieder begegnet, und das ist eigentlich auch ein bisschen das Motto des Films. Ich habe also was eine Realität ist in Japan, dass die Phantasien seien sie religiöser Art, die Vorstellungsgeschichten der Geister die wir auch im modernen japanischen Film haben und natürlich in den klassischen Theaterformen dass die auch in der Gegenwart präsent sind, und so etwas habe ich eigentlich gezeigt im Film. Erzählerin Ulrike Ottinger lässt ihre Protagonisten, einst heutige Studenten aus Tokio, jetzt verwandelt in einen Mann und seine Frau aus der Edo-Zeit, im Schneesturm umkommen. Musik 21„Winterreise“ von Schubert, „Das Wirtshaus“ auf Japanisch O-Ton 26 Wort Tokiko Okamoto, Übersetzerin, Gespräch mit Autor Wir Japaner sind Leute von Unsicherheit. Wenn jemand sagt: Du bist dumm, dann denken wir: ja so denke ich nicht eigentlich, aber weil der so sagt - vielleicht kann es sein so, das ist unsere japanische Denkweise. Erzählerin Tokiko Okamoto ist Linguistin und Sprachlehrerin an der staatlichen Universität von Tsukuba. Sie hat sich mit Schuberts Winterreise in besonderer Weise befasst. O-Ton 27 Wort Tokiko Okamoto Aber wir Japaner denken uns eher schon als Outsider wir gehören nicht so richtig zu Asien, Chinesen und Koreaner sind ganz ganz anders als wir Japaner (..) In Japan mindestens unter den intelligenten Leuten ist immer so Europa sehr bewusst (..) wir sind mitten in Asien und irgendwie etwas zu finden wozu man gehören kann ist für uns Japaner schon sehr schwierig. Irgendwie man fühlt sich verloren in dieser großen Welt. Erzählerin Die jahrhundertelange Isolation Japans fand erst, durch westliche militärische Übermacht bedingt, in der Mitte des 19. Jahrhunderts ihr Ende. O-Ton 28 Wort Tokiko Okamoto Zu dieser Zeit (..) wollten die Japaner so gern nach Europa und was nachholen was wir in dieser Zeit versäumt haben dass wir so abgetrennt von der Welt geblieben sind und (..) sehr viele Musik waren ins Japanische übersetzt und so haben wir sehr viele deutsche Lieder nicht nur Schubert oder Beethoven sondern auch sehr viele deutsche Volkslieder übernommen. (..) Z.B. „Der Lindenbaum“ (..) wurde übersetzt und zwar in sehr schöne Japanisch. Musik 22 „Winterreise“ von Schubert, „Der Lindenbaum“ auf Japanisch, vielleicht nur erste Strophe O-Ton 29 Wort Tokiko Okamoto Sie haben das auf Japanisch in Musikstunde gehört und dann mussten sie nachsingen und das haben meine Kinder ganz blöd gefunden weil sie nur daran gewöhnt sind immerzu auf Deutsch zu hören. Und irgendwie so auf Japanisch so plötzlich (..) kam das ganz komisch vor. Erzählerin Als der englische Tenor Ian Bostridge nach einer Aufführung von Schuberts „Winterreise“ in Japan mit Tokiko Okamoto zusammentraf, machte er ihr ein besonderes Angebot: Die Übersetzung seines Buchs über die „Winterreise“ ins Japanische. Musik 23 aus Winterreise, „Erstarrung“, Ian Bostridge Ich such' im Schnee vergebens Nach ihrer Tritte Spur, Wo sie an meinem Arme Durchstrich die grüne Flur. Ich will den Boden küssen, Durchdringen Eis und Schnee Mit meinen heißen Tränen, Bis ich die Erde seh'. O-Ton 30 Wort, Bostridge My first Winterreise was in January 1985 at university. Uh, and I - partly I wanted to impress a girlfriend who'd just split up with me and I thought what better way to impress a young woman than by singing, learning how to sing Winterreise - I think I was quite wrong. (lacht) (..) I impressed her mother, but not her. Sprecher 2 OV Übersetzung Meine erste Winterreise war im Januar 1985 an der Universität – ich wollte eine Freundin, die sich von mir getrennt hatte, beeindrucken und dachte das sei ein guter Weg. Ein Irrtum – ich beeindruckte ihre Mutter, nicht sie. Erzählerin Ian Bostridge kennt die „Winterreise“ genau, sehr genau. Er hat die Sammlung von 24 Liedern, den letzten Liederzyklus von Schubert, mehr als hundertmal gesungen, ist damit auf der ganzen Welt aufgetreten. Sein 2015 auch in Deutschland publiziertes Buch erfuhr eine überaus positive Resonanz. O-Ton 31, Bostridge, Interview mit Autor The success of the book in England and in Germany, and also other places as well, but particularly in Germany it's important to me, it came as a complete shock, I didn't think it would sell - it sold more in Germany than in any other individual country, which was a real shock to me. I don't know, maybe it's... I really have no idea and I don't, obviously, the whole idea of somebody English writing about this, this work (was) central to the German tradition, but then I don't know how central it is to people now, and how, how, what people's idea of “Winterreise” is in the culture at large, how aware they are of it. Zitator 2 Übersetzung Der Erfolg des Buches besonders in Deutschland war in gewisser Weise ein Schock. Ich dachte nicht, dass es sich verkaufen würde – in Deutschland wurde es häufiger verkauft als in jedem anderen Land, das war sehr überraschend für mich. (..) Vielleicht weil ein Engländer darüber schreibt, über dieses zentrale Werk der deutschen Tradition … aber wie zentral ist es für die Menschen heute, wie bewusst ist ihnen die Winterreise? Erzählerin Vieleicht ist den Deutschen das „Bewußt-Sein“ für die Texte und Lieder der Winterreise vorübergehend verloren gegangen. In ihrem „Un-Bewußt-Sein“ jedoch lebten zumindest einzelne Stücke immer fort. Vor allem das Lied vom „Lindenbaum“, eigentlich eine romantische Todesvision, bekam in der Gefühlswelt der Nachkriegszeit sofort einen neuen, gut gepolsterten Platz. O-Ton 32, Filmwerbetrailer, Am Brunnen vor dem Tore (Trommeln, Militärmusik. Werbestimme über Musik) Am Brunnen vor dem Tore – ein Film mit den schönsten Volksmelodien, gespielt von bekannten Heimatkapellen, ein Film mit Herz und Gemüt, sonnigem Humor und einer starken Liebeshandlung, ein Rausch in Musik und Farben, ein Film von dem jeder begeistert sein wird. Erzählerin Als wenige Jahre nach 1945 die Theater, auch die Filmtheater, wieder spielen, sind sie voll von Sehnsüchtigen, denen man militärisches Trommeln wieder als romantische Stimmung vermitteln kann. O-Ton 33, Filmwerbung, Forts. Gesangsnummer, eine Strophe: Am Brunnen vor dem Tore … (mit Akkordeonbegleitung, erst solistisch, dann Duett, dann mit Mundharmonika- und Mandolinenorchester, schließlich großer Chor. Werbestimme über Musik: „Am Brunnen vor dem Tore“, ein Film den jeder gesehen haben muss. Demnächst in diesem Theater. Erzählerin Schubert ist kein Protagonist großdeutscher Phantasien mehr, auch vom winterlichen Tod in Einsamkeit und Verzweiflung will man nichts mehr wissen. Doch das Gefühl verlorener Heimat vermag seine Musik – oder was man daraus macht – nun umso wirksamer auszudrücken. „Das Dreimäderlhaus“ wird mit dem aus der Sissi-Trilogie bekannten Karl-Heinz Böhm als Schubert neu verfilmt, und (ab hier kann folgende Musik unter Text) die Legende der Musik-Familie Trapp wird zur beliebtesten Familiensaga der fünfziger Jahre. In der fast bedrohlichen Atmosphäre der New Yorker Einwanderungsbehörde vertreibt die Familie Trapp durch spontanen Musikvortrag alle Sorgen. Im Hintergrund durch ein großes Fenster sichtbar: die Freiheitsstatue. O-Ton 34 Musik „Lindenbaum“ aus Film „Die Trapp-Familie“, a cappella, (..) Nun bin ich manche Stunde Entfernt von jenem Ort, Und immer hör' ich's rauschen: Du fändest Ruhe dort! Erzählerin In den folgenden, den 60er Jahren lebt Schuberts Winterreise als Klassiker im Konzertsaal fort, doch als Inspirationsquelle für auf kreativem Neuland Grabende scheint weder das Werk noch das Thema des winterlichen Reisens interessant zu sein. Dies ändert sich als eine neue Generation von Künstlern beginnt, die Felder neu zu beackern, die – etwa im Bereich Film – seit dem Ende des Krieges zu Brachland verkommen waren. Unter ihnen: der aus Oberbayern stammende Werner Herzog. O-Ton 35 Wort Werner Herzog, er liest aus „Vom Gehen im Eis“, München 1978, S.7 Ende November 1974 rief mich ein Freund aus Paris an und sagte mir, Lotte Eisner sei schwer krank und werde wahrscheinlich sterben. Ich sagte, das darf nicht sein, nicht zu diesem Zeitpunkt, der deutsche Film könne sie gerade jetzt noch nicht entbehren, wir dürften ihren Tod nicht zulassen. Ich nahm eine Jacke, einen Kompass und einen Matchsack mit dem Nötigsten. Meine Stiefel waren so fest und neu, dass ich Vertrauen in sie hatte. Ich ging auf dem geradesten Weg nach Paris, in dem sicheren Glauben, sie werde am Leben bleiben, wenn ich zu Fuß käme. Außerdem wollte ich allein mit mir sein. Erzählerin Lotte Eisner war eine in den zwanziger Jahren in Deutschland bekannte Filmkritikerin. Sie weiß viel über das Filmgeschehen jener Jahre und kann einer jungen Generation von Filmemachern über Filme und Menschen berichten, die diese nur vom Hörensagen kennt. „Vom Gehen im Eis“ nennt Herzog das Tagebuch seiner Reise nach Paris. O-Ton 36 Wort Werner Herzog, „Vom Gehen im Eis“, S.9f. Ein einziger, alles beherrschender Gedanke: weg von hier. Die Menschen machen mir Angst. Die Eisnerin darf nicht sterben, sie wird nicht sterben, ich erlaube das nicht. Sie wird nicht sterben, sie wird nicht. Nicht jetzt, das darf sie nicht. Nein, jetzt stirbt sie nicht, weil sie nicht stirbt. Meine Schritte gehen fest. Und jetzt zittert die Erde. Wenn ich gehe, geht ein Bison. Wenn ich raste, ruht ein Berg. Wehe! Sie darf nicht. Sie wird nicht. Wenn ich in Paris bin, lebt sie. Es wird nicht anders sein, weil es nicht darf. Sie darf nicht sterben. Später vielleicht, wenn wir es erlauben. Erzählerin Herzog befindet sich nach vielen experimentellen Filmarbeiten mit seinem Urwaldepos „Aguirre, der Zorn Gottes“ auf einem ersten Zenit seiner Karriere. Ein Höhepunkt, der zugleich eine Krise verursacht. Seine Reise wird auch eine Suche nach sich selbst, nach dem eigenen Mittelpunkt. Es ist keine Wanderung in den Tod, wie bei Müller und Schubert, es ist eine Wanderung gegen den Tod. Die radikale Konfrontation mit der lebensfeindlichen Natur und der eigenen Isolation wird, so Herzog, der Filmhistorikerin Lotte Eisner das Leben retten. O-Ton 37 Wort Werner Herzog, „Vom Gehen im Eis“, S.12f. Dieser starke Geruch von den Feldern! Raben fliegen nach Osten, hinter ihnen steht die Sonne ganz tief. Äcker schwer und feucht, Wälder, viele Menschen zu Fuß. Einem Schäferhund steht der Dampf vor dem Mund. Alling fünf Kilometer. Zum ersten mal Furcht vor den Autos. Auf dem Acker hat man Illustrierte verbrannt. Geräusche, es tut so, als schlügen die Glocken von den Türmen. Nebel sinkt tiefer, ein Dunst. Ich stocke zwischen den Äckern. Mopeds mit jungen Bauern knattern vorbei. Weit nach rechts den Horizont zu viele Autos, weil das Fußballsiel noch im Gang ist. Ich höre Raben, aber eine Verweigerung stemmt sich in mir. Ja nicht den Blick nach oben gerichtet! Sollen sie doch! Keinen Blick hergeschenkt, den Blick nur ja nicht vom Blatt hochgehoben! Nein, nicht! Die Raben, sollen sie doch! Ich schaue jetzt nicht hin! Ein vollgeregneter Handschuh im Acker, und in den Traktorenspuren steht kaltes Wasser. Die Halbwüchsigen auf ihren Mopeds fahren synchron in den Tod. Musik 24 „Die Krähe“, Ian Bostridge oder jemand anderes Eine Krähe war mit mir Aus der Stadt gezogen, Ist bis heute für und für Um mein Haupt geflogen. Krähe, wunderliches Tier, Willst mich nicht verlassen ? Meinst wohl, bald als Beute hier Meinen Leib zu fassen? Nun, es wird nicht weit mehr geh'n An dem Wanderstabe. Krähe, laß mich endlich seh'n Treue bis zum Grabe ! O-Ton 39 Wort Werner Herzog, „Vom Gehen im Eis“, S. 60 Immer höher hinauf, die Schneegrenze ist bald erreicht, sie fängt bei ca. 800 m Höhe an, dann, weiter oben, die Grenze der Wolken. Nebelnässen setzt ein, es wird düster und der Weg hört auf. Bei einem Bauernhof frage ich, ja sagt der Bauer, ich müsste durch den Schnee und einen Buchenwald hoch. (..) Steile Hänge und schneidiger Wind; leere Skilifts. Ich sehe kaum die Hand vor dem Gesicht, das ist kein Sprichwort, ich sehe sie kaum. Ihr Otterngezichte, wie könnt ihr guttes reden, die weil ihr böse seid? Ich wollte ein Feuer anzünden; was wollte ich lieber, denn es brennete schon. Wie ist mir so bange, wenn ihr kein Salz bei euch habt. Es ist inzwischen stürmisch, die Nebelfetzen noch dichter, sie jagen über den Weg. In einem gläsernen Ausflugslokal sitzen drei Menschen zwischen Wolken und Wolken, rings um sie schützt sie das Glas. Weil ich keine Bedienung sehe, schießt mir die Einsicht durch den Kopf, dass da Tote sitzen, gewiss schon seit Wochen, reglos. Erzählerin Langsam nähert sich Herzog seinem Ziel, immer noch weitgehend zu Fuß. O-Ton 40 Wort Werner Herzog, „Vom Gehen im Eis“, S. 92 Auf einmal Schneetreiben, Blitz, Donner und Sturm, alles auf einmal, direkt über mich weg, so schnell, dass ich keine Zuflucht mehr fand und versuchte, so halb im Windschatten an eine Hausmauer gelehnt das Zeug über mich weggehen zu lassen. Gleich rechts neben mir am Eck des Hauses steckte ein fanatischer Wolfshund seinen Kopf durchs Gartengitter und fletschte mich an. In Minuten lag eine handhohe Schicht Wasser und Schnee auf der Straße und ein Lkw spritzte mich mit allem voll, was da lag. Kurz darauf für Sekunden kam die Sonne heraus, dann stürmischer Regen. Erzählerin Nach 22 Tagen erreicht Werner Herzog sein Ziel – und trifft Lotte Eisner lebend an. O-Ton 41 Wort Werner Herzog, „Vom Gehen im Eis“, S.103 Sie war noch müde und von der Krankheit gezeichnet. Irgendwer musste ihr wohl am Telefon gesagt haben, dass ich zu Fuß gekommen war, ich wollte es nicht sagen. Ich war verlegen und legte meine wehen Beine auf einem zweiten Sessel hoch, den sie mir hinschob. In der Verlegenheit ging mir ein Wort durch den Kopf, und da die Situation ohnedies seltsam war, sagte ich es ihr. Zusammen, sagte ich, werden wir Feuer kochen und Fische anhalten. Da sah sie mich an und lächelte ganz fein, und weil sie wusste, dass ich einer zu Fuß war und daher ungeschützt, verstand sie mich. Erzählerin „Zu Fuß und ungeschützt“ und, so möchte man ergänzen, im Winter – Werner Herzog bringt das Besondere, das Einzigartige dieser einsamen Kältewanderung auf den Punkt. Und: die Nähe zum Verrückt-Werden, zum Wahnsinn: „Feuer kochen und Fische anhalten“. Lotte Eisner übrigens ist erst neun Jahre nach Herzogs Wanderung im Alter von 87 Jahren in Paris gestorben. Musik 25 Hans Zender „Schubert’s Winterreise“, für kleines Orchester und Tenor, Lied „Gute Nacht“, dauert insgesamt ca. 10 Minuten, Anfang ist leise, könnte man auch rein instrumental einsetzen, dh. vor dem Gesangseinsatz (Min 3’55) ausblenden Erzählerin Langsam kommt auch Schuberts „Winterreise“ wieder in das Bewusstsein der Moderne. Der Komponist Hans Zender schafft 1993 eine Orchesterfassung des Zyklus, doch es dauert noch einige Jahre, bis der hochromantische Gestus des sich in Verzweiflung zermürbenden Wanderers moderne Kreative zu Näherungen lockt. Da betritt in der Verfilmung eines Romans von Elfriede Jelinek durch Michael Haneke die Klavierlehrerin Erika Kohut die Bühne. O-Ton 42 Filmausschnitt, „Die Klavierspielerin“ von Michael Haneke, Unterrichtsszene, Frauenstimme spricht über Klavierspiel (Erika spricht über Klavierspiel): „Es bellllen die Hunde, es rasssseln die Ketten, es schlaaafen die Menschen in ihren Betten.“ Sagen Sie haben Sie kein Ohr für die Kälte? (Klavierspiel bricht ab) Oder sind Sie einfach nur schlampig? (Klavierspiel beginnt wieder, Erika spielt jetzt selbst und kommentiert ihr eigenes Spiel) Und weg. Und weg. Das ist keine simple Lautmalerei. Und das drückt sich vor allem nicht in Sentimentalität und Schlamperei aus. Und weg. Siehst du. „Es belllen die Hunde, es rasseln die Ketten, es schlaaafen die Menschen in ihren Betten.“ Erzählerin Erika ist eine auf dem höchsten Level gescheiterte Pianistin. In einer schmerzhaft symbiotischen Beziehung lebt die fast 40-Jährige immer noch mit ihrer Mutter zusammen, sie schlafen gar gemeinsam im Doppelbett. Erika hat die Chance einer rechtzeitigen Loslösung verpasst, ihre sexuellen Phantasien, einen ausgeprägten Voyeurismus oder Wünsche nach Selbstverletzung etwa, lebt sie im Geheimen aus. Während sie in einer Kabine einen Pornofilm sieht, hört man bereits die Musik der nächsten Szene, einer Unterrichtsstunde mit zwei Studenten: Es ist das Ende des bereits angeklungenen Liedes „Im Dorfe“, in dem Schuberts Winterreisender sich wohl am radikalsten von jeglicher Gemeinschaft absondert. O-Ton 43, Filmausschnitt, „Die Klavierspielerin“ von Michael Haneke, am Anfang mit Gestöhne aus Pornofilm, dann Unterrichtsszene mit Sänger, Gesang des Studenten. (..) Ich bin zu Ende mit allen Träumen – Was will ich unter den Schläfern säumen? Erzählerin Schubert, der Wanderer, die Winterreise – Sie werden bei Jelinek und Haneke zur Kunst-Kulisse einer erkalteten, rationalistischen Welt, in der Warmherzigkeit ein Fremdwort geworden ist. Es ist eine Welt in der, wie ihr Landsmann Thomas Bernhard sagen würde, die „Kunstausübung“ das scheinbar letzte Refugium ist, degeneriert zu einer Art leitkulturellem Hochleistungssport. Elfriede Jelinek: Zitatorin Elfriede Jelinek Es ist Kunst, die ja in diesem Land eigentlich die nationale Identität bildet, die aber zugleich in jeder Weise, wenn sie neu und unerprobt ist, entweder verachtet oder auf dem Rücken von Tausenden von Klavierlehrerinnen ausgetragen wird. Diese Klavierspielerinnen drehen sozusagen mit ihren eigenen Händen die Turbine, die Kunstturbine, immer weiter und weiter. O-Ton 44 aus Film „Winterreise“ von Steinbichler, „Der Leiermann“, Vorspiel ca. 22 Sek Erzählerin, über Musik Ein Heer gescheiterter Klavierspielerinnen, die die Kunstturbine sinnlos weiterdrehen – das Bild vom Leiermann, dem einzigen Menschen, dem der Wanderer der „Winterreise“ begegnet, drängt sich auf. Es ist das letzte Lied des Zyklus, an ihn richtet der Verzweifelte das allerletzte Wort. Fortsetzung O-Ton 44 aus Film, Bierbichler singt Drüben hinterm Dorfe Steht ein Leiermann Und mit starren Fingern Dreht er was er kann. Barfuß auf dem Eise Wankt er hin und her Und sein kleiner Teller Bleibt ihm immer leer. Und sein kleiner Teller Bleibt ihm immer leer. O-Ton 45 Wort Steinbichler, aus Interview mit Autor, über Zwischenspiel Bevor dieser ganze Film gemacht wurde bin ich mit Bierbichler ins Studio und wir haben diese Lieder aufgenommen, und mit diesen Liedern habe ich den Film gemacht und als ich diese Lieder mit ihm gemacht hatte, wusste ich: Der Film ist da. O-Ton 46 aus Film, Bierbichler singt Keiner mag ihn hören, Keiner sieht ihn an, Und die Hunde knurren Um den alten Mann. Und er läßt es gehen, Alles wie es will, Dreht, und seine Leier Steht ihm nimmer still. Dreht, und seine Leier Steht ihm nimmer still. Zwischenspiel 11 Sek, hier vielleicht ausblenden Erzählerin Franz Brenninger, der von Josef Bierbichler dargestellte Protagonist in Hans Steinbichlers Film „Winterreise“, ist auf der ganzen Linie seines Lebens gescheitert. Der bayerische Kleinunternehmer ist bankrott, mit seiner Familie völlig zerstritten. Er leidet unter manisch depressiven Stimmungswechseln. Um sein letztes Vermögen betrogen, reist er nach Kenia, doch was er dort sucht, ist nur äußerlich das geraubte Geld. Da, wo alles angefangen hat, an der Wiege der Menschheit, sucht er das Ende, SEIN Ende. Nachdem Brenninger, scheinbar völlig unmotiviert, am Klavier einer Hotelbar den Leiermann gespielt und gesungen hat, erklärt er seiner Begleiterin lapidar: O-Ton 47 aus Steinbichler-Film, Bierbichler Und ich habe drei Jahre auf dem Konservatorium studiert, aber es hat nicht gelangt. Es hat einfach nicht gelangt. Erzählerin Wie die Pianistin im Roman von Elfriede Jelinek und in der Verfilmung von Michael Haneke scheitert auch Brenninger am eigenen Kunstanspruch, an der Unfähigkeit ein privates Glück zu leben, an der ökonomischen Härte der Gesellschaft und an den Frostschäden der eigenen Seele. Zitator 1 Müller Gedicht „Mut“ (..) Wenn mein Herz im Busen spricht, Sing ich hell und munter. Höre nicht was es mir sagt, Habe keine Ohren. Fühle nicht, was es mir klagt, Klagen ist für Toren. Erzählerin … heißt es in dem vorletzten Gedicht der „Winterreise“ bei Wilhelm Müller, „Mut“ betitelt. Die eigene Empfindung radikal zu ignorieren, starren Blickes den unvermeidbaren Weg zu gehen – damit scheinen Jelinek, Haneke und Steinbichler den vor 150 Jahren verloren gegangenen Geist Müllers und Schuberts wiederfinden zu wollen. O-Ton 48 Wort, Steinbichler Also für mich ist der Zyklus Winterreise absolut unpolitisch, aber so wie ich ihn gesetzt habe in meinem Film, wird er natürlich mit der Figur Brenninger hochpolitisch, weil Brenninger ist natürlich ganz klar in seinem Wesen ein ungebildeter Altachtundsechziger, der sich sozusagen genährt hat und fett geworden ist in diesen Jahren der geistigen Wende der sogenannten geistigen Wende, diesen Kohljahren, und jetzt wirklich feststellt, dass er die Hand die ihn genährt hat, auch trefflich sich von der füttern ließ und jetzt merkt er aber, dass die Revolution, nämlich nicht die 68er Revolution sondern dieser Neoliberalismus der da entfesselt wurde, ihn auffrisst. O-Ton 49 Wort Willi Winkler, Gespräch mit Autor zu seinem Buch „Deutschland eine Winterreise“ Als guter Demokrat kann man die FDP nur hassen. Erzählerin Der Journalist und Buchautor Willi Winkler. O-Ton 50 Wort Willi Winkler Sie fing an als Auffangbecken unverbesserlicher Nazis, hat sich sehr schnell weiterentwickelt zur Mehrheitsbeschafferin, sammelte dann alle Lobbyisten dieser Erde ein, es ist eine Großmacht der Korruption und hat halt jedem durchreisenden Herren gedient, sei es eben die CDU oder die SPD, sie ist prinzipienlos, sie will nichts außer ihrer Vorteile für ihre Klientel, sie ist überflüssig. Es wäre doch schön und die Welt ein schönerer Ort ohne die FDP. Erzählerin Willi Winkler hat sich ebenso wie Werner Herzog zu Fuß aufgemacht, zu einer Wanderung mitten im Winter. O-Ton 51 Wort Willi Winkler Es muss Anfang der 90er gewesen sein in meinem unglaubliche Überdruss über diese schreckliche Partei tatsächlich das Gelübde abgelegt: Wenn sie je aus dem Bundestag rausfliegen, dann mach ich eine Wallfahrt, und zwar ein Fußwallfahrt nach Altötting, das ist in Bayern nicht ungewöhnlich. Zitator 3 Willi Winkler, aus „Deutschland, eine Winterreise“, Berlin 2014, S.9 Altötting, sagt der Routenplaner, liegt sechshundertachtundachtzig Kilometer von Hamburg entfernt. Der Routenplaner hat immer recht, aber er denkt natürlich nicht an unbewaffnete Wallfahrer, sondern führt einen mit Vorliebe an Bundesstraßen entlang, wo die Pendler-Autos sich von dem einsamen Fußgänger bedrängt fühlen. Der Wanderer hat auf der Straße nichts verloren. Der Wanderer soll sich auf den Jakobsweg verdrücken oder vielleicht auf irgendwelchen Saumpfaden in den Bergen versuchen, ein besserer Mensch zu werden. In Deutschland ist er seltsam oder noch schlimmer: ein Verkehrshindernis. Knapp siebenhundert Kilometer, das sind bei dreißig Kilometern am Tag dreieinhalb Wochen, Ruhetage, Schneestürme und Malaria nicht gerechnet. Vier Wochen also, das sollte möglich sein. O-Ton 52 Wort Willi Winkler Es gibt schon Leute die zwei Tagesreisen von Altötting entfernt aufbrechen, frühmorgens, gleich eine Frühmesse besuchen und dann geleitet von der Polizei, übrigens abgeschirmt, die sperren die Kreuzungen, nach Altötting pilgern zum Gnadenbild der heiligen Maria. Zitator 3 Willi Winkler, S.17 So reisemäßig das Wetter: Das Winterwetter kann oder müsste sogar eine existenzielle Bedrohung sein, es hat bloß keine Lust dazu. Es ist nicht warm, wozu ist es schließlich Winter, aber auch nicht kalt, jedenfalls nicht kälter, als der Körper verkraftet, solange er in Bewegung ist. Der Rucksack wiegt keine zehn Kilo, er wärmt den Rücken, und die Stöcke geben den Takt vor. Der Wind weht manchmal heftiger, gut, aber das ist der Norden: flach, menschenfeindlich, dann wieder flach. Erzählerin Doch es wird, wie nicht anders zu erwarten keine Reise in das Reich spiritueller Versenkung und göttlicher Gnade. Es wird eine Reise nach Deutschland, in den deutschen Winter. Zitator 3 Willi Winkler, S.15 Die Innenstadt von Lüneburg ist die Ankunft in der Vorweihnachtshölle. Nach der grauen Elbniederung und den grauen Lastern plötzlich der rauschgoldengelbblonde Lärm des norddeutschen Christkindlmarkts. Es war nur ein halber Tag allein draußen, aber schon machen mir die Mitmenschen Mühe durch ihr bloßes Da- und In-zu-großer-Nähe-Sein. (..) In den Rathausarkaden gospelt ein braver Chor, Nikoläuse bimmeln, Kinder quäken, Mütter schniefen; gebrannte Mandeln und nachgemachte russische Pelzmützen vervollkommnen die Disney-Schneekugel. O-Ton 53 Wort Willi Winkler Ich bin als Kind, als Vorträger bei verschiedenen Prozessionen mitgezogen nach Andechs, das ist ein weiterer Wallfahrtsort, das ist der heilige Berg Bayerns, der liegt zwischen dem Ammersee und dem Starnberger See. Erzählerin Doch der Körper des nun 57-jährigen Geistesarbeiters gehorcht dem spirituellen Gebot nur bedingt. Nach weniger als einem Viertel der Strecke rebelliert das Fleisch. Zitator 3 Willi Winkler, S.37 Nach Wolfenbüttel hört das Gehen auf. Sie können keinen Schritt mehr tun, sagen die Füße. Wenig nützt es, sie als feige, defätistische Gesellen zu beschimpfen. Die Schmerzen, jetzt muss ich es zugeben, haben bereits am ersten Tag begonnen. In der Kniekehle fing es an, am rechten Fuß ging es weiter, dann auch am linken. Das ist normal beziehungsweise Geschäftsgrundlage. Der Fuß muss gehen, er möchte auch gehen, das ist eine anthropologische Konstante seit der Steinzeit, aber dann kam die Asphaltstraße zwischen Sohle und Boden. Fuß und Asphalt vertragen sich nicht. Kein halbwegs vernünftiger Mensch geht auf der Asphaltstraße. Erzählerin Auf der Karte erscheint Winklers Route beinahe als senkrechte Linie, von Hamburg über Braunschweig, Halberstadt, Jena, Hof, Regensburg und Landshut bis nach Altötting. Also von Nord nach Süd, dabei von West nach Ost nach West, um schließlich im heimatlichen Bayern zu enden. O-Ton 54 Wort Willi Winkler Es ist am Ende eine Winterreise geworden weil ich mit dem Aufbruch gezögert habe. Die Bundestagswahl 2013 ist wie alle Wahlen Ende September gewesen und ich hatte keine Zeit, ich hatte keine Schuhe, irgendwas und dann wurde es November, es wurde Ende November und ohne dass ich es wollte wurde daraus eine Winterreise, natürlich wäre es wesentlich angenehmer gewesen im Sommer, aber das fand ich ab einem gewissen Punkt dann auch wieder interessant, das hat das Opfer etwas erschwert und deshalb um so wertvoller gemacht. Zitator 3 Willi Winkler, S.170 Es ist vorbei, Zeit also für ein Memento, notfalls auch mori. In der Stiftspfarrkirche mäht hoch über dem Eingang der «Dod vo Eding» (Tod von Altötting) mit seiner Sense im strengen Takt unter den Sterblichen. O-Ton 55 Wort Willi Winkler Mein Körper hat zwei Dinge gelernt: Ich hab festgestellt dass ich das kann und ich möchte noch mehr (lacht) ja ich würde gern wieder losgehen, ich brauch einen vergleichbaren Anlass, das ist vielleicht eine Alterserscheinung aber ich glaube Gehen ist menschengemäß. Zitator 3 Willi Winkler, S.171 Vor der Kapelle wird noch mal alles zusammengerechnet: Hamburg-Altötting fünfunddreißig Tage, etliche Umwege, achthundertfünfundfünfzig Kilometer, zwei Handschuhe verloren, immer den rechten, unterwegs diverse Malaisen und jetzt der Fuß, der seit Tagen so weh tut. Aber was zählt das schon in der Bilanz, wenn ich die FDP durch einen beispiellosen Körpereinsatz besiegen konnte. Dreimal muss der fromme Pilger am Ende seiner Wallfahrt um die Gnadenkapelle herumgehen, aber das wird mir jetzt wirklich zu viel. Musik Marjan Mozetich, “Procession” O-Ton 56 Wort Ian Bostridge I've made the comparison between the period it comes out of in the 1820s and the period we live in now, and I mean ... I suppose there are always historical periods like that uh and ever since the early 19th century things change so quickly that people don't recognise the world they live in. (..) Capitalism destroys things very quickly and changes the - and of course, that's, you know, that's the theme of the, of the nativist right wing at the moment, is that we don't recognise our country, we want our country back, and that's very scary.... it's what's led to Brexit, partly. Sprecher 2 OV Bostridge Übersetzung Ich habe die Zeit um 1820 mit der heutigen verglichen … seit dem frühen 19. Jahrhundert verändern sich die Dinge so schnell, dass Menschen oft das Gefühl haben, ihre Welt nicht mehr zu kennen. (..) Kapitalismus verändert und zerstört Dinge sehr schnell. Das sind im Moment die Themen der Rechtsnationalen: „Wir kennen unser Land nicht mehr, wir wollen es zurück!“ Das ist sehr beängstigend und führte teilweise zum BREXIT. Erzählerin Was Ian Bostridge anspricht, ist die irrationale Angst einer bislang vermeintlich zu wenig gehörten Masse. Deren Gefühl, ausgegrenzt zu sein, artikuliert Elfriede Jelinek in ihrem Theatermonolog „Winterreise“. Im Text der Literatur-Nobelpreisträgerin hat der stille Durchschnittsbürger eine Sprache, seine Sprache gefunden. Er wird wortgewaltig, laut, ungerecht. Sein Gegenüber, Ziel des wütenden Protestes, ist eine literarische Verschmelzung des Schubert’schen Wandersmann mit der als Kind entführten, jahrelang in einem Keller festgehaltenen Natascha Kampusch. Zitatorin liest aus „Winterreise“ von Elfriede Jelinek, zit. nach EJ, Winterreise, Reineck 2011, S. 39f. Wir sind die Mehrheit. Wir können alles bewirken, was wir wollen. Wir gelten was. Wieso hört uns dann keiner? Wieso hört man eine aus dem Keller lauter als uns? Sie kann nicht lauter sein, unmöglich, das ist kein Zeichen von Lauterkeit, wenn man nach der Zeitschaltuhr lebt, wenn man nicht im Einklang mit der Natur lebt, die einem sagt, wann Tag und wann Nacht ist. Man sollte unbedingt, wenn möglich, im Einklang mit der Natur leben, warum hat die Kleine das nicht gemacht? Warum hat sie ihr Leben nach der Zeitschaltuhr eingerichtet, die man ihr eingerichtet hat? Die der Entführer ihr eingerichtet hat? Den kann man ja nicht mehr fragen. Der hat sein irdisches Leben beendet, dafür hat der keine Uhr gebraucht, und die Uhr war trotzdem für ihn abgelaufen. Erzählerin Die monologische Rolle, die Jelinek schreibt, changiert: Der bislang nicht wahrgenommene Wutbürger legt seinen plärrenden Ton ab, still geworden erlaubt er sich die Identifikation mit dem Wanderer. Ausgegrenzt sein, sich in der vermeintlichen Nicht-Akzeptanz wohl fühlen dürfen – ein Durchschnittsschicksal. Zitatorin liest aus „Winterreise“ von Elfriede Jelinek, S. 73 Was soll ich länger weilen, daß man mich trieb hinaus? Gut. Von mir aus. Wenn man es will, so treib ich also hinaus, die grünen Wiesen leuchten hell, da wars geschehn um mich Gesell. Sie haben mich abgeschoben. Mein Verstand ist mir schon längst vorausmarschiert, einholen kann ich ihn nicht mehr. Keine Ahnung, ob für mich im Mai noch was blühen wird, vielleicht sogar früher, keine Ahnung. Ich hatte einmal jemand, da war doch was, meine Frau, meine Tochter, aber die sind jetzt fort. Nein, ich bin fort, sie sind da, oder? Hab sie verloren unterwegs, nein, schon am Anfang meiner Reise. Plötzlich waren sie nicht mehr da, ich will nicht undankbar sein, aber ein wenig hätte ich sie schon noch gern behalten, obwohl sie mich nun wirklich nicht mochten, das war ihnen ein Anliegen, mich nicht zu mögen. (..) Sie haben mich hinausgetrieben, ich lieg jetzt kalt und unbeweglich. Erzählerin Im Finale wird die Ich-Erzählerin gar zu jenem Leiermann, der als eine Art negativer Utopie von Kunstmusik bei Müller und Schubert das Schlussbild beherrscht. Zitatorin liest aus „Winterreise“ von Elfriede Jelinek, S. 117 So, da steh ich also mit meiner alten Leier, immer der gleichen. Wer will dergleichen hören? Niemand. Immer dieselbe Leier, aber das Lied ist doch nicht immer dasselbe! Ich schwöre, es ist immer ein anderes, auch wenn es sich nicht so anhört, wenn es sich manchmal mit anderen Liedern überschneidet, man kann meins immer noch heraushören, auch wenn die Pistenlautsprecher toben, kann man mein Lied noch hören, oder? Voraussetzung allerdings: Die Abfahrer sind weg, die Anleger sind gegangen, der letzte Lift ist gekommen und stehengeblieben, und nur noch wir Tote sind übrig. (..) Es ist immer die gleiche alte Leier. Wir würden so gern noch leben! Keiner hört mir mehr zu, das ist mir natürlich bewußt. Aber ich komm immer wieder mit der gleichen alten Leier an. Ich möchte so gern noch leben! Alle übertönen mich, nicht nur die Pistenlautsprecher, inzwischen übertönen sogar leise Gespräche an Wirtshaustischen, an denen ich keinen Stammplatz habe, mein Leiern, mein endloses Geseire, mein Geleiere. Das weiß ich eh. (..) Ich schwanke in mir selber hin und her, soll ich, soll ich nicht? Ich sollte besser nicht. Mein Teller ist immer voll, weil kein andrer ihn leeren mag. Der bleibt voll. Fein! Verhungern kann ich schon mal nicht. Aber keiner mag mich hören, und das wäre mir doch wichtig! Am vollen Teller könnte ich verhungern, weil ich immer noch mit meiner alten Leier kommen muß und keine Zeit zum Essen habe. Die Kunst ist mir wichtiger. Hab keine Zeit, meinen Teller zu leeren, muß meine Leier drehen, obwohl wirklich schon jeder kennt, was ich da leiere. Keinen interessierts, was ich gut verstehen kann. Ich kanns ja selber nicht mehr hören, vielen Dank. Erzählerin Am Ende wechselt die Erzählerin wieder, ein letztes mal, in die Haltung des Gemeinmenschen, des Kritikers, des Kunsthassers. Eine Skitouristin vielleicht, die dem musikalisch monotonen Geleiere nur noch genervt gegenübertritt. Bei Jelinek ist dies eine „SIE“, kein Leierkastenmann wie bei Müller und Schubert, sondern eine LeierkastenFRAU. Eine dem sicheren Kältetod geweihte Avantgardistin einer „musica povera“, einer Kunst ohne Geld, ohne Pensionsanspruch, ohne gewerkschaftliche Vertretung, ohne subventioniertes Publikum. Am Ende der Winterreise steht, in bitterster Armut und in größtmöglicher Freiheit, die sprachlos gewordene Kunst. Zitatorin liest aus „Winterreise“ von Elfriede Jelinek, S. 118 Immer dasselbe, das muß Ihnen doch selber schon zum Hals heraushängen! Wie halten Sie das nur aus? Sie müssen sich das doch selber auch anhören! Sie sind sich doch so nah! Sie sind Ihr einziger Angehöriger. Bitte, die Lautsprecher sind schon sehr laut, was ja schließlich von ihnen verlangt wird, aber Sie selbst müssen doch wenigstens etwas, ein paar Fetzen von dem hören, was Sie uns da schon wieder vorleiern wollen, immer dasselbe, wie halten Sie das nur aus? Keiner mag Sie hören, keiner sieht Sie an, jeder postet an jeder Ecke, in jedem Forum gegen Sie an, jeder ist wichtiger als Sie, und haben Sie immer noch nichts daraus gelernt? Immer dasselbe, fällt Ihnen denn nichts anderes ein? Was ist das für eine Sprache, die Sie da sprechen? Wer soll denn das verstehen? Was ist Ihre Sprache überhaupt? Musik 26 „Der Leiermann“ Ende, Bostridge (..) Wunderlicher Alter, Soll ich mit dir gehen? Willst zu meinen Liedern Deine Leier drehn? Absage Musik 27, Esbjörn Svenson Trio, „Behind the Yashmak“ Musikliste 1. Stunde Titel: Gute Nacht Länge: 02:35 Interpret: Stefan Zednik Komponist: Franz Schubert Label und Best.-Nr: keine Titel: An Chloë KV 524 Länge: 02:16 Solist: Jochen Kowalski (Countertenor) Solist: Shelley Katz (Klavier) Komponist: Wolfgang Amadeus Mozart Label: CAPRICCIO Best.-Nr: 10359 Titel: Plasma Länge: 01:54 Interpret: Kronos Quartett Komponist: Kimmo Pohjonen, Samuli Kosminen Label: ONDINE Best.-Nr: ODE11852 Plattentitel: Uniko Titel: Le quattro stagione: L'Inverno (Die vier Jahreszeiten: Der Winter) aus: Concerto für Violine, Streicher und Basso continuo Nr. 4 f-Moll, RV 297 (op. 8, Nr. 4), 1. Satz: Allegro non molto Länge: 03:30 Solist: Enrico Onofri (Violine) Orchester: Il Giardino Armonico Dirigent: Giovanni Antonini Komponist: Antonio Vivaldi Label: TELDEC CLASSICS Best.-Nr: 4509-97127-2 Titel: Silent wish Länge: 01:00 Interpret: Rodach Komponist: Michael Rodach Label: TRAUMTON Best.-Nr: 4514 Plattentitel: Seltsam erscheint unsere Lage Titel: La Marseillaise. Französische Nationalhymne Länge: 01:19 Solisten: Andréa Guiot (1928-)(Sopran); Claude Calès (Bariton) Chor: Les Petits Chanteurs à la Croix de Bois Orchester: Orchestre de Paris Dirigent: Jean-Pierre Jacquillat Komponist: Claude Joseph Rouget de L'Isle Label: Emi Best.-Nr: 7476472 Titel: Ouvertüre solennelle "1812", op. 49 Länge: 02:20 Orchester: Philharmonia Orchestra Dirigent: Herbert von Karajan Komponist: Peter Tschaikowsky Label: EMI CLASSICS Best.-Nr: 5120832 (CD 45) Titel: aus: Die schöne Müllerin. Liederzyklus für Singstimme und Klavier nach Gedichten von Wilhelm Müller, op.25 (D 795), (07) Ungeduld. Etwas geschwind Länge: 03:06 Solisten: Fritz Wunderlich (Tenor); Hubert Giesen (Klavier) Komponist: Franz Schubert Label: Deutsche Grammophon Best.-Nr: 435145-2 Titel: Le quattro stagione: L'Inverno (Die vier Jahreszeiten: Der Winter) 3. Satz: Allegro Länge: 03:30 Solist: Enrico Onofri (Violine) Orchester: Il Giardino Armonico Dirigent: Giovanni Antonini Komponist: Antonio Vivaldi Label: TELDEC CLASSICS Best.-Nr: 4509-97127-2 Titel: Sonata No 1 for solo violin op. 5, Andante Länge: 04:55 Interpret: Gabriel Tchalik Komponist: Boris Tishchenko Label: EVIDENCE Plattentitel: CD: Boris Tishchenko - Violin Works 2. Stunde Titel: aus: Winterreise. Liederzyklus, op 89; D 911, Gute Nacht. Mäßig Länge: 03´18 Solisten: Peter Schreier (Tenor); Swjatoslaw Richter (Klavier) Komponist: Franz Schubert Label: Philips Best.-Nr: 442360-2 Titel: Nr. 10: Rast aus: Winterreise Liederzyklus für Singstimme und Klavier, D 911 (op. 89) Länge: 03:25 Solisten: Ian Bostridge (Tenor), Leif Ove Andsnes (Klavier) Komponist: Franz Schubert Label: EMI CLASSICS Best.-Nr: 557790-2 Titel: Der Musikkritiker Länge: 00:46 Interpret und Komponist: Georg Kreisler Label: Kip RECORDS Best.-Nr: KIP6008 Plattentitel: Die alten, bösen Lieder Titel: aus: Winterreise Liederzyklus für Singstimme und Klavier, D 911 (op. 89), Nr. 17: Im Dorfe Länge: 01:09 Solisten: Ian Bostridge (Tenor), Leif Ove Andsnes (Klavier) Komponist: Franz Schubert Label: EMI CLASSICS Best.-Nr: 557790-2 Titel: Der Lindenbaum (5) (bearbeitet für Männerchor) Länge: 01:20 Chor: Rost'sches Soloquartett Komponist: Franz Schubert Label: unbekannt Best.-Nr: keine Titel: Der Lindenbaum (5) Länge: 01:57 Solisten: Leo Slezak (Tenor); Bruno Seidler-Winkler (Klavier) Komponist: Franz Schubert Label: unbekannt Best.-Nr: 65774 Titel: Der Lindenbaum, [5]) Länge: 01:35 Interpret: Rudolf Schock Komponist: Franz Schubert Label: Munich Records Best.-Nr: MR30006 Plattentitel: Rudolf Schock singt deutsche Volkslieder Titel: Der Lindenbaum, D 911,5 (bearbeitet für Männerchor a cappella) Länge: 00:38 Chor: Berliner Lehrergesangverein Dirigent: Hugo Rüdel Komponist: Franz Schubert Label: unbekannt Best.-Nr: 1931205 Titel: Lore. Lore. Lore Länge: 00:28 Interpret und Komponist: keine Angaben Label: Fono Team, Hamburg Plattentitel: Aus dem Liederbuch des Bayerischen Soldatenbundes Titel: aus: Sinfonie Nr. 7 C-Dur, op. 60 (Leningrader Symphonie) 1. Satz: Allegretto Länge: 00:45 Orchester: City of Birmingham Symphony Orchestra Dirigent: Andris Nelsons Komponist: Dmitrij Schostakowitsch Label: ORFEO Best.-Nr: C852121A Titel: aus: Winterreise D 911, 21. Das Wirtshaus Länge: 04:09 Solisten: Peter Anders (Tenor); Michael Raucheisen (Klavier) Komponist: Franz Schubert Label: Deutsche Grammophon Best.-Nr: 459009-2 Titel: aus: Winterreise D 911, 12. Einsamkeit Länge: 04:09 Solisten: Peter Anders (Tenor); Michael Raucheisen (Klavier) Komponist: Franz Schubert Label: Deutsche Grammophon Best.-Nr: 459009-2 Titel: Metamorphosen. Studie für 23 Solostreicher, AV 142 Länge: 02:56 Orchester: Berliner Philharmoniker Dirigent: Wilhelm Furtwängler Komponist: Richard Strauss Label: Deutsche Grammophon Best.-Nr: 477006-2 (Set) 3. Stunde Titel: Unter Schnee Länge: 00:35 Interpret und Komponist: Yumiko Tanaka Label: Real Fiction, Indigo Best.-Nr: DV 967188 Titel: aus: Winterreise D 911 (op.89), Das Wirtshaus Länge: 06:01 Solisten: Jun Suzuki Tenor; Junji Mitsuishi Klavier Komponist: Schubert Franz Label: Gakken Publishing Best.-Nr: GP 41200 Titel: aus: Winterreise D 911 (op.89), Der Lindenbaum Länge: 06:01 Solisten: Jun Suzuki Tenor; Junji Mitsuishi Klavier Komponist: Schubert Franz Label: Gakken Publishing Best.-Nr: GP 41200 Titel: aus: Winterreise Liederzyklus für Singstimme und Klavier, D 911 (op. 89), Nr. 4: Erstarrung Länge: 02:52 Solisten: Ian Bostridge (Tenor), Leif Ove Andsnes (Klavier) Komponist: Franz Schubert Label: EMI CLASSICS Best.-Nr: 557790-2 Titel: aus: Winterreise Liederzyklus für Singstimme und Klavier, D 911 (op. 89), Nr. 15: Die Krähe Länge: 01:57 Solisten: Ian Bostridge (Tenor), Leif Ove Andsnes (Klavier) Komponist: Franz Schubert Label: EMI CLASSICS Best.-Nr: 557790-2 Titel: aus: Schuberts "Winterreise" Eine komponierte Interpretation für Tenor und kleines Orchester, Nr. 1: Gute Nacht Länge: 01:10 Solist: Hans Peter Blochwitz (Tenor) Ensemble: Ensemble Modern Dirigent: Hans Zender Komponist: Hans Zender Label: RCA Records Label Best.-Nr: 09026-68067-2 Titel: Der Leiermann (24) Länge: 02:30 Interpret: Josef Bierbichler Komponist: Franz Schubert Label: Colosseum Best.-Nr: CST8111.2 Plattentitel: Winterreise (Original motion picture soundtrack) Titel: Procession Länge: 00:35 Interpret: Amadeus Ensemble Komponist: Marjan Mozettich Label: musica viva Best.-Nr: MVCD 1038 Titel: aus: Winterreise Liederzyklus für Singstimme und Klavier, D 911 (op. 89), Nr. 24: Der Leiermann Länge: 03:28 Solisten: Ian Bostridge (Tenor), Leif Ove Andsnes (Klavier) Komponist: Franz Schubert Label: EMI CLASSICS Best.-Nr: 557790-2 Titel: Behind the Yashmak Länge: 02:53 Interpret: Esbjörn Svensson Trio Komponist: Esbjörn Svensson, Dan Berglund, Magnus Öström Label: ACT Best.-Nr: 9021-2 Plattentitel: Retrospective - The very best of E.S.T