DEUTSCHLANDFUNK Sendung: Hörspiel/Hintergrund Kultur Dienstag, 03.03.2015 Redaktion: Hermann Theißen 19.15 - 20.00 Uhr Das Plenum von Tuzla Ein "Bosnischer Frühling" Ein Feature von Zoran Solomun URHEBERRECHTLICHER HINWEIS Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Jede Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in §§ 45 bis 63 Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. (c) Deutschlandradio - Unkorrigiertes Manuskript - Musik O-Ton EMINA BUSULADŽIC: 1. Übersetzerin Als wir mit dem Plenum angefangen haben, war ich außer mir vor Freude. Nachdem wir an einem toten Punkt angekommen waren, ist das Bewusstsein der Bürger erwacht. Ich war überglücklich. Ich bin damals nicht gegangen, ich bin geflogen! Endlich sind wir aufgewacht! Viele haben nicht verstanden, was ein Plenum ist. Sie fragten, wie das ohne einen Anführer gehen soll. Natürlich geht das ohne Anführer. Wenn wir uns zusammensetzen, wenn wir dieselben Interessen und ein gemeinsames Ziel haben, dann brauchen wir keinen Anführer. Ansage Das Plenum von Tuzla Ein "Bosnischer Frühling" Ein Feature von Zoran Solomun AUTOR: Egal, aus welcher Richtung man sich Tuzla mit dem Auto oder mit dem Zug nähert, fährt man zunächst eine gute Viertelstunde durch ein Industriegebiet. Entlang der Straße oder Bahnstrecke reiht sich eine Fabrik an die andere. Dem Industriegebiet folgen graue Wohnblöcke aus Beton. Tuzla ist eine Arbeiterstadt. Sie hat etwa 200.000 Einwohner und liegt im Osten Bosniens. Im sozialistischen Jugoslawien war Tuzla ein Symbol des Wachstums und Fortschritts. Während der sechziger und siebziger Jahre entstanden in kurzer Zeit große Chemie-, Lebensmittel- und Maschinenbaukombinate sowie ein Kraftwerk. In Firmen wie "Polichem", "Dita", "Resod-Guming", dem Salzbergwerk "Tuzla" oder der Kohlegrube "Kreka" waren tausende von Arbeiterinnen und Arbeitern beschäftigt. Die Menschen führten ein äußerst bescheidenes Leben, doch lebten sie besser als jemals zuvor und waren überzeugt, dass sie für eine bessere Zukunft arbeiten, für sich und für ihre Kinder. 1976 wurde in Tuzla eine Universität eröffnet. O-Ton EMINA BUSULADŽIC: 1. Übersetzerin Mein Name ist Emina Busuladžic. Ich bin Arbeiterin in der Waschmittelfabrik "Dita", und das schon seit ihrer Gründung. "Dita" war die einzige Waschmittelfabrik in Bosnien und Herzegowina. Vor dem Krieg gab es dort immer zwischen 770 und 800 Beschäftigte. 55.000 Tonnen Waschmittel haben wir jedes Jahr exportiert. Wir machten Geschäfte mit der ganzen Welt. Als ich 1977 angefangen habe zu arbeiten, wurde "Dita" noch gebaut. Man sagte uns: Der Staat hat sich für eure Fabrik verschuldet, ihr müsst diese Kredite zurückzahlen, und deshalb werdet ihr in der ersten Zeit niedrige Löhne haben. Klar, das habe ich verstanden. Wenn ich dort arbeiten will, um meinen Kindern später eine Ausbildung zu ermöglichen, muss ich mich zunächst einschränken. Und so hatten wir lange Zeit Lohnabzüge, um die Kredite abzubezahlen. AUTOR: 1984/85, während des großen Bergarbeiterstreiks in Großbritannien gegen die Wirtschaftspolitik Margaret Thatchers schickten die Kumpel aus Tuzla ihren britischen Kollegen zur Unterstützung jeden Monat einen Tageslohn. Damals ahnten sie noch nicht, dass ihnen nur wenige Jahre später ein weitaus schlimmeres Schicksal bevorstehen würde. Ende der achtziger Jahre wurde deutlich, dass das sozialistische Projekt gescheitert war. In Jugoslawien begann der Privatisierungsprozess, maßgeblich vorangetrieben von IWF und Weltbank. O-Ton EMINA BUSULADŽIC: 1. Übersetzerin Dann kam die letzte Regierung im ehemaligen Jugoslawien, unter Ministerpräsident Markovic. Er schlug vor, dass die Arbeiter Anteile ihrer Fabriken kaufen sollten. Ich überlegte: Wie soll ich etwas kaufen, was mir schon gehört? Gut, schließlich waren wir damit einverstanden, und das hat man uns dann wieder vom Lohn abgezogen. AUTOR: Bei den ersten freien Wahlen im Jahr 1990 war Tuzla die einzige Stadt in Bosnien und Herzegowina, in der die Sozialdemokraten siegten und keine der nationalistischen Parteien. Alle Versuche, die Einwohner der Stadt entlang ethnischer Trennungslinien zu spalten, blieben erfolglos. Anders war es im Rest des Landes. 1992 begann in Bosnien Herzegowina der Krieg. O-Ton EMINA BUSULADŽIC: 1. Übersetzerin Während des Kriegs haben wir weitergearbeitet. Wir haben die Bosnische Armee und die Bevölkerung unterstützt. Als der Krieg vorbei war, waren wir wieder voller Elan. Aber das hat nichts genützt. Es hieß, wir würden hohe Verluste machen, man müsste nach einem strategischen Partner Ausschau halten, aber zuerst müssten wir Arbeiter den Teil der Fabrik, der dem Staat gehört, kaufen und Mehrheitseigner werden. Also haben wir zum dritten Mal Kredite aufgenommen, um etwas zu kaufen, was uns bereits gehörte. AUTOR: 1994, mitten im Krieg, verabschiedete das Parlament im belagerten Sarajevo das Privatisierungsgesetz. Während die Bevölkerung mit der Verteidigung der Stadt und dem eigenen Überleben beschäftigt war, bereiteten sich die politischen Eliten bereits auf die Zeit nach dem Krieg vor. Den Krieg beendete das am 14. Dezember 1995 unterzeichnete Friedensabkommen von Dayton. Mit dem Friedensvertrag kam man einem Großteil der Forderungen der damaligen nationalen Führer nach. Bosnien und Herzegowina wurde nach konfessionellen und ethnischen Prinzipien aufgeteilt. Zwar beendete diese Friedensordnung den Krieg, gleichzeitig aber zementierte sie die Ursachen, die zum Krieg geführt hatten. Der Staatsapparat nahm kafkaeske Züge an. So gibt es auf den unterschiedlichen Ebenen des Landes dreizehn Kulturminister. Der bürokratische Apparat verschlingt mehr als 50 Prozent des Staatshaushalts. Anhang 4 des Dayton Abkommens enthält die Verfassung Bosnien und Herzegowinas. In ihrer Präambel wird die Regierung verpflichtet, das allgemeine Wohlergehen und das wirtschaftliche Wachstum durch Schutz von Privateigentum und Entwicklung der marktwirtschaftlichen Ordnung zu fördern. In der bosnischen Realität erwies sich dieses Programm als skrupellose Plünderung des verbliebenen Eigentums des Staates Jugoslawien. Daran waren Reste der alten Elite ebenso beteiligt, wie die neue Elite, die sich im Krieg durch zweifelhafte Geschäfte bereichert hatte. Ansprüche erhoben viele, und die Beute war nicht groß. Zu dieser Zeit entstand der Spruch: "Kleine Pfütze, viele Krokodile!" Die meisten der neuen Eigentümer wollten keine Zeit mit langfristigen Planungen, komplexen Strategien und unsicheren Investitionen verschwenden. Am einfachsten war es, die Betriebe zu schließen und die Maschinen, Gebäude und Grundstücke zu verkaufen. O-Ton MIRALEM IBRAŠIMOVIC: 1. Übersetzer Ich bin Miralem Ibrašimovic, ehemaliger Arbeiter bei "Polichem", einer Firma des Chemiekombinats "Sodaso", das einst ein Wirtschaftsgigant war, ein Träger der Wirtschaftsentwicklung in der Region Tuzla. In der Zeit nach dem Krieg ging es unserem Betrieb wirtschaftlich immer schlechter. Ich weiß nicht, ob das durch Druck von außen geschehen ist oder ob es dafür wirklich eine Notwendigkeit gab, jedenfalls begann eine vollkommen planlose Privatisierung. Gleich nach dem Krieg haben wir die Produktion aufgenommen. Die Menschen wollten unbedingt wieder arbeiten. Den Politikern aber fehlte dieser Wille. Sie hatten kein Interesse daran, dass unsere Fabrik bestehen bleibt, und auch nicht daran, dass die gesamte Industrie in der Region erhalten bleibt. Es wurden viele profitable Fabriken geschlossen. Warum? Das muss man die fragen. O-Ton EMINA BUSULADŽIC: 1. Übersetzerin Ich gebe mir und meiner Generation die Schuld daran, dass wir es zugelassen haben, dass uns diese Neureichen, die für mich nur Kriminelle sind, übers Ohr hauen. Wir haben viel zu lange geschwiegen, haben nicht rechtzeitig reagiert. Aus Titos Zeiten waren wir gewöhnt, dass sich jemand um uns kümmert. AUTOR: In Tuzla sagt man: Von drei Leuten, die versuchen zu verstehen, was in der Fabrik "Dita" geschehen ist, enden vier im Irrenhaus. Von ehemals 800 Arbeitern, die ganz Jugoslawien mit Haushalts- und Industriereinigern versorgt und ihre Erzeugnisse zudem exportiert haben, sind heute 132 Beschäftigte übrig geblieben. Nach dem Krieg verkaufte der Staat seine Aktien an die Arbeiter. 2002 waren 59 Prozent der "Dita"-Aktien in Besitz der Fabrikarbeiter. Der Rest gehörte dem Management. Die Regierung der Föderation wertete die Privatisierung als Erfolg. Da die Firma verschuldet war, schlug das Management den Verkauf an einen strategischen Partner vor, den man in der Privatfirma "Lora" aus Sarajevo fand. Die Arbeiter verkauften der Firma "Lora" ihre Aktien, zum einen, weil sie dringend Geld benötigten, zum anderen, weil das Management, aber auch einige Gewerkschaftsführer, sie zum Verkauf ihrer Anteile drängten. Die Arbeiter der Fabrik "Dita" sagen, der neue Eigentümer habe die Firma letztlich zu einem Preis bekommen, der niedriger war als der Wert der Waschmittel, die sich zu diesem Zeitpunkt verpackt und transportbereit in den Lagerhallen des Werks befanden. Der neue Eigentümer habe dann, so die Arbeiter, Investitionsdarlehen aufgenommen, diese aber in die eigene Tasche gesteckt und schließlich Insolvenz angemeldet. O-Ton EMINA BUSULADŽIC: 1. Übersetzerin Dieses kriminelle Vorgehen hat unter der Regie des Staates stattgefunden, und alle staatlichen Institutionen waren daran beteiligt. Das heißt, die Privatisierungsagentur, die Steuerverwaltung, die verschiedenen Inspektionsbehörden, die Justiz und alle Ministerien. O-Ton MIRALEM IBRAŠIMOVIC: 1. Übersetzer Wir sind vor Gericht gezogen, um zu unserem Recht zu kommen. Der Klage wurde stattgegeben, aber das Urteil wurde nicht vollstreckt. Deshalb haben wir angefangen, jeden Mittwoch Protestversammlungen vor dem Gericht abzuhalten. O-Ton EMINA BUSULADŽIC: 1. Übersetzerin Als es mit unserer Waschmittelfabrik "Dita" bergab ging, haben wir uns den Mittwochsprotesten angeschlossen. AUTOR: Emina Busuladžic und Miralem Ibrašimovic sind beide sechzig Jahre alt. Beide haben Industrialisierung und Deindustrialisierung in ihrem Land erlebt und überlebt. In den vergangenen fünfzehn Jahren haben sie Arbeitskämpfe, Fabrikbesetzungen, Hungerstreiks, Demonstrationen und Verkehrsblockaden organisiert, bei Regen, Schnee, Kälte und Hitze und ohne gewerkschaftliche Unterstützung. Sie sind zu Symbolfiguren für die Arbeiterproteste in Tuzla geworden und treten häufig als Verhandlungsführer bei Gesprächen mit staatlichen Vertretern und Managern auf. Als bei einer dieser Aktionen Fabrikarbeiter mehrere Monate lang die Werkstore blockierten und die Eingänge zu ihren Fabriken Tag und Nacht bewachten, tauchten eines Tages junge Leute auf, die die Arbeiter unterstützen wollten und sie später regelmäßig mit Essen versorgten. Fast alle waren Studenten, Dozenten oder Professoren der Universität. So entwickelte sich allmählich ein Bündnis zwischen Arbeitern und intellektueller Elite. Die Arbeiterproteste fanden zwar regelmäßig statt, doch an ihnen beteiligten sich meist nur ältere Arbeiter. Manchmal kamen hundert Menschen zusammen, in den Wintermonaten versammelten sich oft aber nur ein knappes Dutzend Demonstranten im Stadtzentrum. O-Ton EMINA BUSULADŽIC: 1. Übersetzerin Das war Ende 2013. Eines Mittwochmorgens machte ich mich auf den Weg zu unserer Protestversammlung. Es war sehr kalt. Aber an jenem Tag bin ich nicht dort angekommen. Auf halbem Weg hatte ich einen Herzinfarkt. Ich kam in die Klinik, war fünf Tage lang an Apparate angeschlossen und bekam strenge Bettruhe verordnet. Ich musste dem Arzt versprechen, dass ich zu Hause bleibe. AUTOR: Zu Jahresbeginn 2014 herrschte bei den Arbeitern in Tuzla eine düstere Stimmung. Sie fühlten sich betrogen und gedemütigt und hatten nur wenig Hoffnung, dass sich ihre Lage bessern würde. Doch dann kam der 5. Feburar. ATMO: Proteste, Rufe: "Diebe", Polizeisirene. O-Ton EMIN EMINAGIC: 2. Übersetzer Ich heiße Emin Eminagic. Ich bin freiberuflicher Journalist und Übersetzer und beschäftige mich mit politischer Theorie und politischer Philosophie. An jenem Mittwoch, dem 5. Februar 2014, waren dreieinhalbtausend Menschen zum Kantonsgericht gekommen. ATMO: Proteste O-Ton EMIN EMINAGIC: 2. Übersetzer Sie sind dann vom Gericht zum Regierungssitz gezogen, also quer durch die ganze Stadt. Alle dreieinhalbtausend. Dort wurden sie bereits von der Polizei erwartet, in voller Ausrüstung, mit Schutzschilden. ATMO: Proteste AUTOR: Die Menge stand vor dem Gebäude der Kantonsregierung, selbst überrascht von der eigenen Größe und Stärke. Unter den Demonstranten waren ältere Arbeiter, junge Intellektuelle, Rentner, arbeitslose Jugendliche und auch Schüler. Jemand kam auf die Idee, den Ministerpräsidenten aufzufordern, sich mit Vertretern der Bürger zu Gesprächen zu treffen. Dieser lehnte jedoch ohne Angabe von Gründen ab. Daraufhin versuchten die Demonstranten, gewaltsam in das Gebäude einzudringen. Die Polizei hinderte sie daran und schlug mit Schlagstöcken auf jeden ein, der sich dem Polizeikordon näherte. Steine und Eier flogen in Richtung Regierungsgebäude, Fenster gingen zu Bruch, die Menschenmasse setzte Autoreifen und Müllcontainer in Brand. Schließlich wurde die Versammlung von der Polizei aufgelöst. Am nächsten Tag, am 6. Februar 2014, versammelten sich am selben Ort 6.000 Menschen. Auf der Fassade des Regierungsgebäudes stand gesprüht: "Tod dem Nationalismus". Die Demonstranten trugen Transparente mit Aufschriften wie "Meine Nation ist die Freiheit", "Ich habe in allen Sprachen Hunger" oder "Gemeinsam sind wir stark!". Wie am Tag zuvor marschierten die Demonstranten zum Regierungssitz und warfen Steine, Eier und Leuchtkörper. Die Polizei antwortete mit Tränengas. O-Ton EMINA BUSULADŽIC: 1. Übersetzerin Zu Hause hatte es Ärger gegeben, weil mein Mann und meine Tochter mich nicht gehen lassen wollten. Ich sagte: Mit meiner Gesundheit steht es sowieso nicht gut, und das wird auch nicht besser. Also bin ich nach draußen gegangen und habe bei den Protesten mitgemacht. Ein paarmal sind mir Tränengasgranaten vor die Füße gefallen, und jemand hat mir irgendein Zeug in die Augen gesprüht. Als es dunkel geworden ist, haben mein Mann und meine Tochter mich doch noch nach Hause geschleppt. AUTOR: Inzwischen verbreitete sich die Nachricht, dass sich die Unruhen auf ganz Bosnien Herzegowina ausgeweitet hatten. In Sarajevo bewarf eine Gruppe von 150 Menschen den Regierungssitz des Kantons Sarajevo mit Eiern und Steinen und forderte die Freilassung der in Tuzla inhaftierten Demonstranten. In Mostar blockierten Demonstranten den Verkehr und riefen: "Diebe", "Wir wollen Veränderungen" und "Die Revolution der Jugend kommt". Ähnlich sah es in den Städten Zenica, Kakanj und Bihac aus. O-Ton EMINA BUSULADŽIC: 1. Übersetzerin Ich hatte früher oft bei Verhandlungen mit dem damaligen Ministerpräsidenten des Kantons, Cauševic, gesprochen. Er rief mich gegen Mitternacht an und sagte: "Emina, such dir ein paar Leute aus und komm zu mir. Wir können doch über alles reden!" Ich antwortete ihm: "Nein und nochmals nein. Es geht nicht mehr um Emina und auch nicht um "Dita". Jetzt geht es um tausende von jungen Leuten, die protestieren. Stell dich doch vor sie hin und sag ihnen, was du tun willst, den jungen Leuten und auch den Arbeitern und Rentnern. Ich werde nicht mit dir verhandeln. Geh raus zu ihnen!" "Das traue ich mich aber nicht", sagte er. AUTOR: Am Freitag, dem 7. Februar, gingen in Tuzla 13.000 Menschen auf die Straße. O-Ton EMIN EMINAGIC: 2. Übersetzer Man kann wirklich sagen, dass in den drei Tagen vom 5. bis zum 7. Februar regelrechte Straßenschlachten mit der Polizei ausgetragen wurden. Ich hatte Angst. Die Anspannung war mit Händen zu greifen, fast schon erdrückend. ATMO: Proteste, splitterndes Glas AUTOR: Am 7. Februar drangen die Demonstranten gegen 13.30 Uhr in den Regierungssitz des Kantons Tuzla ein und zündeten das Gebäude an. Die Polizei zog sich unter einem Hagel von Steinen und Feuerwerkskörpern zurück. Wenig später brannte auch das Rathaus. Ähnliche Nachrichten kamen aus ganz Bosnien Herzegowina: Demonstranten bewarfen zunächst die Regierungsgebäude mit Steinen, drangen in sie ein und setzten sie schließlich in Brand. In der Stadt Brcko hielten Demonstranten den Bürgermeister fest und zwangen ihn zu Gesprächen. In Zenica schleppte eine Menschenmasse die vor dem Regierungssitz geparkten Autos der Politiker weg und warf sie in den Fluss. Die erste Reaktion der Politiker und der von ihnen kontrollierten Medien war der Versuch, die Proteste zu kriminalisieren. Sie bezeichneten die Demonstranten als Hooligans und Terroristen. Wahrheitswidrig wurde behauptet, dass während der Proteste zwölf Kilogramm Drogen beschlagnahmt, Geschäfte und Einkaufszentren geplündert worden seien. O-Ton MIRALEM IBRAŠIMOVIC: 1. Übersetzer Es wäre mir lieber, das alles wäre auf legalem Weg geschehen, ohne Demonstrationen und Gewalt, aber jede Geduld ist einmal zu Ende. Da steht man jahrelang vor verschlossenen Türen und findet entweder kein Gehör oder wird ausgelacht. Ich weiß nicht, was diese Leute geglaubt haben, wie lange das noch so weitergehen kann. Die dachten wohl, sie wären unantastbar. ATMO: Proteste AUTOR: Gegen 16 Uhr zog sich die Polizei zurück. Kurz danach kam die Nachricht vom Rücktritt der Regierung und des Ministerpräsidenten des Kantons Tuzla. Eine Spezialeinheit der Polizei legte ihre Schutzschilde beiseite und nahm die Helme ab, um zu zeigen, dass sie nicht länger bereit war, gegen die Bürger zu intervenieren. Ihrem Beispiel folgten bald auch die Polizeikräfte, die zum Schutz der Gerichte und der Staatsanwaltschaft eingesetzt waren. Die Geste stieß auf laute Zustimmung der Demonstranten. Große Erleichterung war zu spüren. ATMO: Proteste AUTOR: Am nächsten Tag, am 8. Februar, waren in Tuzla und in fast allen größeren bosnischen Städten immer noch Demonstranten auf der Straße, doch es blieb friedlich. Es war klar, dass es mit den Ausschreitungen vorbei war. Die Bilanz der drei Tage war der Rücktritt der Regierung in vier von elf Kantonen der bosniakisch-kroatischen Föderation. Die Gebäude mehrerer Kantonsregierungen, der Sitz des Staatspräsidiums in Sarajevo sowie die Hauptquartiere mehrerer nationaler Parteien waren in Brand gesteckt worden. Tote gab es nicht. Verletzt wurden 219 Demonstranten und mehr als 200 Polizeibeamte. Es waren die schwersten gewaltsamen Auseinandersetzungen seit dem Ende des Krieges im Jahr 1995. O-Ton EMIN EMINAGIC: 2. Übersetzer Wir haben uns noch am selben Abend getroffen, als die Menschen auseinandergegangen waren und die Polizei ihre Schutzschilde heruntergenommen und sich den Demonstranten angeschlossen hatte. Wir waren ein paar politische Aktivisten und Arbeiter der Waschmittelfabrik "Dita". Unsere erste organisierte Aktion fand am 8. Februar statt: das Aufräumen vor dem Regierungsgebäude. Wir sind mit Besen dorthin gekommen, um sauber zu machen, um zu zeigen, dass unser Ziel nicht die Zerstörung ist. O-Ton EMINA BUSULADŽIC: 1. Übersetzerin Ich bin gegen fünf oder sechs von den Demonstrationen nach Hause gegangen, um mich ein wenig auszuruhen und meine Medikamente zu nehmen. Spät am Abend riefen mich die jungen Aktivisten an: "Können Sie in das Haus des Friedens kommen? Wir sind zusammengekommen, um zu sehen, wie es weitergehen soll. Die Regierung ist zurückgetreten. Wir haben gehört, dass auch in Mostar und Sarajevo Chaos herrscht. Überall Anarchie." Ich sagte, klar, lasst uns sehen, wie es weitergehen soll. Also habe ich mich zu Fuß auf den Weg zum Haus des Friedens gemacht. Die Stadt sah gespenstisch aus. Als ich am Gebäude der Staatsanwaltschaft vorbeigekommen bin, habe ich dort die Arbeiter aus meiner Fabrik gesehen, wie sie gemeinsam mit der Polizei das Gebäude bewachen. Ich fragte, was los ist, und sie sagten: "Wir passen auf, dass die Staatsanwaltschaft nicht in Brand gesteckt wird. Das dürfen wir nicht zulassen, weil dort doch unsere Strafanzeigen sind!" O-Ton EMIN EMINAGIC: 2. Übersetzer Die Frage war, wie können wir diese Gewalt in etwas Konstruktives umwandeln, damit das gewaltsame Vorgehen des Staates ein Ende findet. Wir sagten: O.K., lasst uns jetzt unsere erste Erklärung formulieren. Lasst uns überlegen. Mir ging es vor allem darum - wie wir die Menschen vor weiterer Gewalt beschützen können. Dann haben wir Ideen gesammelt und gesagt, lasst uns doch ein Plenum ins Leben rufen. ATMO: Plenum O-Ton PLENUM: 4. Übersetzer MODERATOR: Das sind die Grundregeln des Plenums: Das Plenum ist ein offener Raum für Diskussionen und Entscheidungen. Jeder Bürger, der zum Plenum kommt, hat eine Stimme. Bei den Entscheidungen versuchen wir, einen Konsens zu erreichen, und falls das nicht klappt, dann wird dafür oder dagegen abgestimmt. Enthaltungen sind nicht möglich. Jeder Diskussionsteilnehmer hat zwei Minuten Zeit, und für jeden Punkt der Tagesordnung haben wir eine halbe Stunde. O-Ton EMIN EMINAGIC: 2. Übersetzer Zum ersten Plenum kamen etwa siebzig Leute, die gleich anfingen, miteinander zu diskutieren. Als wir beschlossen, dass jeder eine Stimme hat und nur dafür oder dagegen stimmen kann, ohne Enthaltung, fand das bei allen Zustimmung. Zwei Tage später hatte sich die Zahl der Teilnehmer verdoppelt. Die Gemeinde erlaubte uns die Versammlung im Nationaltheater Tuzla, und es kamen 350 Menschen. Weitere zwei Tage später waren es etwa tausend, und man stellte uns den großen Saal des Bosnischen Kulturzentrums in Tuzla zur Verfügung, wo anschließend das Plenum zwölfmal abgehalten wurde. O-Ton PLENUM: 3. Übersetzer TEILNEHMER (Zlatan Begic): Bei euren Wortmeldungen sagt ihr zum Beispiel: Ich bin arbeitslos, ich interessiere mich für das Thema Arbeit. Oder: Ich bin Ingenieur, ich interessiere mich für das Energiewesen. Oder: Ich bin Bergarbeiter, ich interessiere mich für Bergbau. Anhand der Meldungen werden dann Gruppen gebildet. Dann entscheidet ihr untereinander, wer der Koordinator eurer Gruppe sein soll. Seid ihr damit einverstanden? O-Ton ZLATAN BEGIC: 3. Übersetzer Mein Name ist Zlatan Begic. Ich bin Dozent an der Juristischen Fakultät in Tuzla und unterrichte Verfassungsrecht. Die Bürgerversammlungen hatten in den ersten Monaten auch eine wichtige Schutzfunktion. Wir hatten die Information bekommen, dass Massenverhaftungen bevorstehen und dass davon vor allem junge Menschen betroffen sein würden, die keine herausragende gesellschaftliche Stellung einnehmen und deshalb schutzlos sind. Die zweite Sache war natürlich die Idee, sich an den grünen Tisch zu setzen, in erster Linie mit Vertretern der Politik, und unsere Forderungen zu Papier zu bringen. Unsere Forderungen waren nicht unrealistisch. Vor allen Dingen haben wir verlangt, dass in diesem Land das Gesetz befolgt wird. AUTOR: Ebenso wie die Demonstrationen verbreitete sich auch die Idee des Plenums bald in ganz Bosnien Herzegowina. In vielen Städten entstanden Bürgerforen. Das Plenum in Tuzla war das erste und blieb in den folgenden Monaten das größte und aktivste. Monatelang konnte der Saal, in dem die Versammlung stattfand, nicht alle Interessierten aufnehmen. Die Stimmung war aufgeheizt und euphorisch. Menschen, die jedes Vertrauen in die repräsentative Demokratie verloren hatten, entdeckten die direkte Demokratie. O-Ton JASMINA HUSANOVIC: 2. Übersetzerin Ich bin Jasmina Husanovic, Gastprofessorin für Kulturwissenschaft an der Universität in Tuzla. Die wichtigste Sache war, dass bei den Bürgerforen die wahren Probleme der Bürger zur Sprache kamen. Und das sind weder nationale Probleme noch Identitätsprobleme, mit denen hierzulande ständig manipuliert wird. Stattdessen haben wir endlich über Armut und Arbeitslosigkeit geredet. Davon ist ganz Bosnien und Herzegowina betroffen und besonders der Kanton Tuzla. Hier liegt die Arbeitslosigkeit bei 54 Prozent und bei den unter 35-Jährigen zwischen 70 und 80 Prozent! Das sind erschreckende Zahlen. Es ist bekannt, dass Arbeitslosigkeit zu allen möglichen Arten der Radikalisierung führen kann. Allein seit Anfang des Jahres sind in Tuzla mehrere tausend Arbeitsplätze verlorengegangen. O-Ton PLENUM: 4. Übersetzer TEILNEHMER: Das hier ist zum ersten Mal seit 22 Jahren - ein einheitliches Bosnien Herzegowina. In Tuzla haben wir etwas erreicht, wovon uns seit 22 Jahren erzählt wird, dass es nicht möglich ist, und zwar ein Land, das mit einer Stimme für das Wohl aller spricht. Für mich ist es etwas ganz Besonderes, dass wir Gäste aus Banja Luka haben, aus der Republika Srpska. Sie unterstützen uns und wollen, dass wir alle zusammenarbeiten. 3. Übersetzer TEILNEHMER AUS BANJA LUKA: Ich komme aus Banja Luka, und es ist mir eine Ehre und Freude, hier bei euch zu sein. Das, was in Tuzla und in ganz Bosnien Herzegowina passiert, ist einfach wunderbar. Ich hoffe, dass diese Versammlungen das durch Dayton geschaffene Denkmuster verändern werden und dass wir es schaffen, in diesem Land ein normales Leben zu führen. O-Ton JASMINA HUSANOVIC: 2. Übersetzerin Das Plenum ist einfach eine Methode der politischen Arbeit und gehört zur direkten Demokratie. Es findet eine Bürgerversammlung mit einer Tagesordnung statt. Die Bürger diskutieren, stimmen ab und formulieren Forderungen, die an die Organe der repräsentativen Demokratie weitergeleitet werden. Die Erklärungen unseres Plenums lassen erkennen, was die Hauptforderungen der Menschen waren: Vor allem Sicherheit, Offenheit, Transparenz und an erster Stelle wirtschaftliche Entwicklung, beziehungsweise die Schaffung von Arbeitsplätzen. Durch das Plenum ist im zerrissenen gesellschaftlichen Gefüge Bosnien und Herzegowinas eine Solidarität entstanden, die nationale Barrieren, Generationsbarrieren und Klassenunterschiede überwunden hat. Ein neues Gemeinschaftsgefühl. Bei der direkten Demokratie kommt es zu starken Emotionen. Es ist sehr schwierig, einen solchen Prozess zu steuern, unter Kontrolle zu halten. Man spürt die ganze Zeit, dass alle mit den Nerven am Ende sind. O-Ton MIRALEM IBRAŠIMOVIC: 1. Übersetzer Einmal habe ich ein Plenum moderiert, vor vollem Saal. Das Thema an diesem Tag waren die Rechte der Arbeiter. Die Menschen sind vorgetreten, um zu reden, um ihr Herz vor hunderten von Leuten zu öffnen, und einige von ihnen haben sogar geweint. Man hat gemerkt, dass die Menschen die Demokratie herbeisehnen. Denn hier gibt es keine Demokratie, das ist bloß leeres Geschwätz. Ich hatte den Eindruck, dass viele dem alten System nachtrauern, in dem es Sicherheit gab. Heute sind diese Menschen am Boden. Sie waren gekommen, um ihr Herz auszuschütten, damit ihnen wenigstens die paar hundert Leute zuhören. Auch ich habe etwas gesagt: dass ich arbeitslos bin, kein Einkommen und nichts zum Leben habe und dass mich in meinem Alter niemand einstellen will, aber dass ich noch nicht in Rente gehen kann und zusehen muss, wie ich über die Runden komme. Unter den Zuhörern gab es noch schlimmere Fälle, Menschen, die absolut nichts haben, die sich nichts zu essen kaufen können. Auch sie haben sich zu Wort gemeldet, um sich wenigstens psychische Erleichterung zu verschaffen, von fünfhundert Menschen gehört zu werden. In dieser Zeit haben die Versammlungen drei Stunden gedauert! O-Ton JASMINA HUSANOVIC: 2. Übersetzerin Das Plenum war eine große Befreiung für die Menschen, weil sie über Dinge gesprochen haben, die sie bis dahin für sich behalten oder nur ihren engsten Freunden erzählt haben. Zwar hatte das Plenum einerseits eine heilende Wirkung, andererseits aber hat es viele Menschen ein weiteres Mal traumatisiert, weil sie unrealistische Erwartungen aufgebaut haben und sich später, als diese Erwartungen nicht in Erfüllung gegangen sind, hintergangen gefühlt haben. Auch das ist eine Form des Traumas. Auf der anderen Seite ist das aber auch ein politischer Bildungsprozess, nämlich der konstruktive Umgang mit den eigenen Erwartungen. O-Ton PLENUM: 4. Übersetzer TEILNEHMER: Guten Abend, Volksparlament von Tuzla! Wir haben diesem System, das uns schon seit zwanzig Jahren das Leben schwer macht, einen kräftigen Schlag versetzt. Und wisst ihr, woran man das merkt? Daran, dass sie uns einschüchtern wollen. Daran sieht man, dass sich das System von uns bedroht fühlt. Die Presse in Sarajevo bezeichnet uns als rote Al Kaida, Vandalen, Brandstifter. Dieses System beruht auf Angst, Erpressung und Manipulation. Wir haben ihm jetzt den ersten Schlag versetzt. AUTOR: Im Mai 2014 führte das Sturmtief "Yvette" zu nie dagewesenen Überschwemmungen in Südosteuropa. Fünfzig Menschen kamen ums Leben, die meisten von ihnen in Bosnien Herzegowina und in Serbien. Viele Orte waren von der Außenwelt abgeschnitten und ohne Strom. Einige Dörfer waren nur mit dem Boot oder dem Hubschrauber zu erreichen. Das Minenaktionszentrum in Sarajevo warnte vor weggespülten Landminen. In Bosnien und Herzegowina herrschten mehrere Tage lang chaotische Zustände. Die staatlichen Behörden und Institutionen waren unzulänglich auf eine solche Ausnahmesituation vorbereitet. Die Hochwasserkatastrophe zeigte die Unfähigkeit der Politiker und ihre Gleichgültigkeit gegenüber den Problemen der Bevölkerung. Bei einem Plenum in Tuzla wurde ein Team von Freiwilligen zusammengestellt, das Hilfe organisierte. Die Helfer sammelten Geld, Lebensmittel und Medikamente. Gruppen aus Tuzla fuhren mit Bussen in die am schlimmsten betroffenen Orte und halfen bei der Befestigung der Deiche. Die Grenzen zwischen Kantonen und territorialen Einheiten, sog. Entitäten spielten dabei keine Rolle - Muslime kamen ihren serbischen Nachbarn zu Hilfe und umgekehrt. O-Ton EMINA BUSULADŽIC: 1. Übersetzerin Ein älterer Mann aus Bijeljina erzählte mir später, dass er sein Vieh und seinen gesamten Besitz verloren hat. Dann sei ein Bus mit jungen Leuten gekommen. Die fragten: "Was ist hier zu tun?" Sie haben weder nach seinem Namen gefragt noch wer oder was er ist. Der Mann fragte: "Kinder, woher kommt ihr?" Sie sagten: "Wir sind aus Tuzla. Wir wollen dir helfen." Da fing er an zu weinen und sagte zu seiner Frau: "Siehst du, als Erste kommen unsere Nachbarn." AUTOR: Ein bosnisches Sprichwort sagt: "Ein guter Nachbar ist besser als ein ferner Verwandter." Das wiederhergestellte elementare Vertrauen unter den Menschen in einer schwer traumatisierten Gesellschaft ist wohl das wichtigste Ergebnis der Proteste und Bürgerforen in Bosnien und Herzegowina. Der "bosnische Frühling" führte Menschen zusammen, die sich vorher nie begegnet waren, und half ihnen zu verstehen, dass sie gemeinsame Probleme haben. Die konkreten Forderungen des Plenums wurden jedoch von den Politikern nicht erfüllt. Sehr schnell erwies sich auch die sogenannte Expertenregierung, die auf Wunsch der Bürger in Tuzla gebildet worden war, nur als ein politischer Winkelzug, denn die Mitglieder dieser neuen Kantonsregierung handelten nach wie vor im Interesse ihrer Parteien. Im Sommer ging dem Plenum in Tuzla allmählich der Atem aus. Immer weniger Menschen kamen zu den Versammlungen. Der anfängliche Enthusiasmus hatte nachgelassen, die Diskussionen drehten sich oft im Kreis. Das Plenum war die meiste Zeit mit sich selbst und mit der Klärung von Missverständnissen innerhalb der Versammlung beschäftigt. Am längsten hielten sich Bürgerforen in mehreren kleineren Städten nahe Tuzla. Im Herbst war schließlich klar, dass das große Plenum in Tuzla aufgehört hatte zu existieren. O-Ton JASMINA HUSANOVIC: 2. Übersetzerin Dieser Befreiungsprozess ist unter anderem auch durch unseren eigenen Opportunismus und Zynismus zum Stillstand gekommen. Auch das ist etwas, was einer breiteren gesellschaftlichen, politischen Bewegung in Bosnien Herzegowina im Weg steht. Vielen fehlt es an Entschlossenheit und Prinzipien. Allgemein verbreitet ist Zynismus, also die Überzeugung, dass jeder Versuch, etwas zu verändern, von vornherein zum Scheitern verurteilt ist. Dass man es es gar nicht erst versuchen sollte, dass man sich entweder den gegenwärtigen Verhaltensmustern anpassen oder auswandern kann. Viele Menschen sind davon enttäuscht, wie wenig in den sieben, acht Monaten der Arbeit des Plenums erreicht wurde. Enttäuscht auch von der fehlenden Unterstützung durch die einheimische politische Elite und die internationale Gemeinschaft für die Kräfte der Zivilgesellschaft und unsere formalen und informellen Initiativen. Autor Jasmina Husanovic war während der aktiven Zeit des Plenums in Tuzla Mitglied der Gruppe für Bildung. Nach der Auflösung des Plenums wandte sie sich wie viele andere Aktivisten ganz ihrer Arbeit an der Universität zu und gab ihr politisches Engagement auf. Der Verfassungsrechtler Zlatan Begovic suchte nach einer Möglichkeit, sich auch nach der Auflösung der Plenums politisch zu betätigen. Bei den Wahlen im November 2014 trat er als unabhängiger Kandidat der Kommunistischen Partei an. Wie sich herausstellte, war seine Einschätzung der politischen Stimmung im Land jedoch völlig falsch: Die Kommunisten erhielten nur eine unbedeutende Zahl der Stimmen. Nicht einmal Arbeiter der älteren Generation brachten die neue Partei mit der Ära Tito in Verbindung, für die sie Nostalgie empfinden. O-Ton ZLATAN BEGIC: 3. Übersetzer Diese Art von Volksversammlung kann nicht lange bestehen. Das alles erfordert sehr viel Energie. Wir haben gesagt, das Plenum hat keine Anführer, keine streng definierte Struktur, und es braucht keine finanziellen Mittel, um zu funktionieren. Aber das ist sehr anstrengend. Es ist schwierig, auf diese Art und Weise zu funktionieren. Meiner Meinung nach hatte das Plenum den Zweck, dass Menschen zusammenkommen, ihre Forderungen formulieren und zu Papier bringen und dass eine Expertenregierung aufgestellt wird, der man diese Forderungen übergibt. Damit hätte das Plenum seinen Sinn erfüllt. Wir haben damit gerechnet, dass die Vertreter der Politik sich ernsthaft damit befassen würden, aber das war nicht der Fall. Den Politikern ging es lediglich darum, Zeit zu gewinnen, um die Schlüsselpositionen wieder mit denselben Leuten zu besetzen. Offengesagt - ihr Ziel ist es, Klagen und Prozesse gegen viele von denen, die in diesem Kanton an der Macht sind, zu verhindern. O-Ton EMIN EMINAGIC: 2. Übersetzer Für unsere relativ kleine Gruppe, die das Plenum vorbereitet und organisiert hat, war die ganze Situation zu anstrengend geworden. Natürlich hat die Sache irgendwann an Kraft verloren, vor allem, weil wir nicht genügend Leute hatten und alle vollkommen erschöpft waren. Doch dann ist etwas sehr Wichtiges passiert. Auf Initiative einer Gruppe von Arbeitern, die an den Versammlungen teilgenommen hatten, wurde eine neue Gewerkschaft gegründet. Wir haben sie "Gewerkschaft der Solidarität" genannt. Sie steht jedem offen. Man muss kein Arbeiter sein, um Mitglied zu werden. Autor Emin Eminagic ist heute einer von den vielen tausend jungen und arbeitslosen Intellektuellen in Bosnien und Herzegowina, deren Situation sich auch nach den Protesten und der Arbeit des Plenums nicht verbessert hat. Emin ist in der neuen Gewerkschaft aktiv, sowie in der Partei "Die Linken". O-Ton JASMINA HUSANOVIC: 2. Übersetzerin Die repräsentative Demokratie in unserem Land befindet sich in einer sehr problematischen Situation. Kann es angesichts einer so großen Armut überhaupt eine echte Demokratie geben? Wenn man für zehn Euro eine Wählerstimme kaufen kann, von Menschen, die nichts zu essen haben, die sich Monat für Monat sorgen müssen, wie sie überleben? In wirtschaftlicher Hinsicht stehen uns aber noch härtere Zeiten bevor. Betrachtet man allein die Haushalte der kommenden Jahre, sieht man, dass auch die Gehälter der Beschäftigten im öffentlichen Dienst auf dem Spiel stehen. Ich glaube, dass es zu einer stärkeren Radikalisierung in unserer Gesellschaft kommen könnte und dass uns unruhige Zeiten bevorstehen. Ich weiß nicht, ob das Plenum in Zukunft bestehen wird, aber ich rechne in jedem Fall mit einer Kombination aus direkter und repräsentativer Demokratie. AUTOR: Ende 2014 beschloss die Kantonsregierung in Tuzla, die Fabrik "Dita" zum symbolischen Preis von einer Konvertiblen Mark zu kaufen, alle Schulden des Betriebs zu übernehmen und Sorge für die verbliebene Belegschaft zu tragen. Endlich schien eine Lösung in Sicht zu sein. Die Staatsanwaltschaft Bosnien Herzegowinas und das Gesetzgebungsamt warnten diese Entscheidung jedoch für rechtswidrig, da staatlichen Institutionen nur der Erwerb von Aktien erlaubt sei, die von den Ratingagenturen mit der Kategorie A versehen sind. Die Regierung versprach den enttäuschten Arbeitern nun eine einmalige Hilfe in Höhe von 400 Konvertiblen Mark, umgerechnet 200 Euro, und zwar 220 Mark in bar und 180 Mark in Form von Lebensmitteln. Wieder schalteten sich Staatsanwaltschaft und Gesetzgebungsamt ein, mit der Begründung, dass für diese Art der Hilfe kein gesetzlicher Rahmen bestehe. Einige Zeit später machte sich eine Gruppe von siebzig Arbeitern des Betriebs "Dita" und anderer Fabriken zu Fuß auf den Weg zur etwa achtzig Kilometer entfernten kroatischen Grenze. Sie sagten: Wenn es in diesem Land keinen Platz für uns gibt, dann gehen wir eben weg. Nach drei Tagen erreichten sie ihr Ziel, einen kleinen Ort an der Grenze. Dort standen sie hilflos auf der Straße, viele von ihnen hatten nicht einmal Pässe. Busse aus Tuzla brachten die Arbeiter wieder nach Hause. Dieselbe Grenze haben in den letzten Jahren tausende hochqualifizierter junger Leute überquert, die jede Hoffnung verloren hatten, in ihrem Land Arbeit zu finden. Abspann Das Plenum von Tuzla Ein "Bosnischer Frühling" Ein Feature von Zoran Solomun Übersetzung aus dem Bosnischen: Ana Prokic Es sprachen: Reinhard Firchow, Hildegard Meier, Wolfgang Rüter, Volker Risch, Axel Gottschick, Thomas Balou Martin und Marietta Bürger Ton und Technik: Henrik Manook und Hanna Steger Regie: Axel Scheibchen Redaktion: Hermann Theißen Sie hörten eine Produktion des Deutschlandfunks 2015. 21 21