Deutschlandfunk GESICHTER EUROPAS Samstag, 3. September 2016 – 11.05 – 12.00 Uhr KW 35 Blockiertes Land – Frankreichs schwieriges Verhältnis zu Reformen Mit Reportagen von Bettina Kaps Am Mikrofon: Andreas Noll Musikauswahl und Regie: Simonetta Dibbern Urheberrechtlicher Hinweis Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Die Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in §§ 44a bis 63a Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. © - unkorrigiertes Exemplar – O-Ton: “Die politische Kultur unseres Landes steht vor einer Zerreißprobe. Der Zentralstaat misstraut den örtlichen Instanzen, der Steuerzahler misstraut der Verwaltung, die Franzosen misstrauen sich untereinander.“ O-Ton: “Wir haben hier in Frankreich exzellente Bedingungen, um Start-Up-Firmen zu gründen. Der französische Markt ist so groß, dass wir uns auf nationaler Ebene entwickeln können, zugleich sind wir international sichtbar. Außerdem ist es extrem einfach, eine Firma zu gründen. Das ist in ein paar Stunden erledigt.“ O-Ton: „Vor 20 Jahren hieß es: Ohne Diplom gibt es keine Arbeit. Heute haben die jungen Menschen tolle Diplome, aber sie finden trotzdem keinen Job. Für mich ist klar: Mit unserem Bildungssystem stimmt was nicht.“ „Blockiertes Land – Frankreichs schwieriges Verhältnis zu Reformen.“ Gesichter Europas mit Reportagen von Bettina Kaps. Am Mikrofon ist Andreas Noll Reportage 1 Erfolgversprechend, aber unbeliebt - die Lehrlingsausbildung in Frankreich Ist es die lang ersehnte Trendwende oder doch nur ein kleines Strohfeuer? Ein Dreivierteljahr vor den Präsidentenwahlen in Frankreich vermelden die Statistiker Lichtblicke vom Arbeitsmarkt. Die Arbeitslosigkeit ist nach quälend langen Jahren wieder etwas gesunken – aber noch immer in der Nähe des historischen Rekords. Der kranke Mann Europas rappelt sich auf - aber hat er auch die Kraft zum Neustart? Vor allem die Entwicklung der Jugendarbeitslosigkeit mit deutlich über 20 Prozent bereitet den Experten Sorgen. Starre Strukturen, die schlechte Konjunktur, aber auch die Einstellung vieler Franzosen machen Fachleute für die Misere verantwortlich. Beispiel Lehrlingsausbildung: eine deutliche Steigerung der Lehrverträge hatte Staatspräsident François Hollande zu Beginn seiner Präsidentschaft versprochen – erreicht hat er dieses Ziel nicht. Im Gegenteil. Die Lehre hat immer noch einen schlechten Ruf in Frankreich. Und so atmet die aktuelle Werbekampagne des französischen Handwerks schon fast den Mut der Verzweiflung: „Unter französischen Jugendlichen gibt es mehr Arbeitslose als Lehrlinge, unter deutschen Jugendlichen gibt es mehr Lehrlinge als Arbeitslose“, heißt es auf Plakaten des Verbandes. * Atmo Baulärm Ein großes Krankenhaus in Montreuil bei Paris: Neben der Parkschranke bauen Arbeiter ein Holzhaus für die Wachmannschaft. Es ist acht Uhr früh. Lucie, geflochtener Zopf, signal-gelbes T-Shirt, Trainingshose, steigt aus dem Kleinlaster der Firma „Paris Charpentes“. Die 15-Jährige setzt ihren Schutzhelm auf und schnallt sich eine Gürteltasche mit Hammer, Nägeln, Schrauben um. Der Vorarbeiter weist sie freundlich an: Atmo Lucie sperrt einen Metallkasten auf und holt eine lange Leiter heraus. Ihre Klassenkameraden büffeln für die Prüfungen vor den Sommerferien, sie aber hat sich auf eigene Faust ein Praktikum organisiert. Obwohl sie erst seit einer Woche für die Zimmerei arbeitet, hat sie schon kleinere Projekte übernommen: O-Ton Lucie „Am ersten Tag habe ich vor allem zugeschaut, am zweiten durfte ich schrauben und nageln. Dann habe ich die Verbindungsbrücke gebaut, die man von außen sieht.“ Die Neuntklässlerin weiß genau, was sie will: Ein Handwerk lernen, bei dem sie ihre Begeisterung für Mathematik einbringen und an der frischen Luft sein kann. Mit ihrer Entscheidung für einen Lehrberuf ist Lucie in ihrem Collège die absolute Ausnahme. O-Ton Lucie „In meiner Klasse haben sie das nicht verstanden. Meine Freunde dachten alle, ich würde ein naturwissenschaftliches Abitur machen, weil ich in den entsprechenden Fächern ziemlich gut bin. Bei uns ist es halt so, dass fast nur schlechte Schüler eine Lehre machen. Dabei ist doch der Beruf entscheidend, den man später einmal ausüben will.“ Lucie hat die Aufnahmeprüfung bei den Compagnons du devoir bestanden. Die Vereinigung der Wandergesellen hat in Frankreich einen besonders guten Ruf. Trotzdem war es für sie schwierig, einen Ausbildungsbetrieb zu finden. O-Ton Lucie „Ich habe viele Firmen gefragt, ob sie mich als Lehrling einstellen wollen. Alle haben abgelehnt. Nur „Paris Charpentes“ war bereit, mich zunächst einmal für ein Praktikum zu nehmen, um zu sehen, wie ich mich anstelle und ob mir der Beruf gefällt. Die anderen haben nein gesagt, weil sie grundsätzlich keine Lehrlinge nehmen oder kurz vor der Pleite stehen. Hier in Frankreich ist halt Krise.“ Ohne Daniel Flachat, den Chef der Zimmerei, hätte sie den Traum von der Lehre wohl an den Nagel hängen müssen, sagt Lucie, nimmt einen Besen, klettert die Leiter hoch und fegt schwungvoll das Flachdach ab. Atmo Der Betriebsleiter steht in seiner Werkstatt, misst einen Metallträger nach, an dem ein 18-Jähriger arbeitet. O-Ton Flachat „Wir haben stets vier Lehrlinge, können also jedes Jahr zwei neue Kandidaten aufnehmen. Dieses Jahr hatten wir acht Bewerbungen für zwei Plätze.“ Flachat ist ein großer Verfechter der dualen Ausbildung. Kein Wunder: Der End-Vierziger erzählt, dass er sich als Junge in der Mittelstufe unsäglich gelangweilt hat, und froh war, als er sich in der Lehre verwirklichen konnte. Heute ist er Eigentümer einer Firma mit 49 Angestellten - auch wenn er mit seinem jungenhaften Gesicht gar nicht wie ein Chef aussieht. Es macht ihn wütend, dass die Lehre in Frankreich immer noch ein schlechtes Image hat. O-Ton Flachat „Alle wissen, dass die Lehrlingsausbildung eine gute Anstellung verspricht. Aber niemand sorgt dafür, dass das duale System auch greift. Das ist deprimierend. Der Staat signalisiert seit 40 Jahren, dass es nicht Aufgabe der Betriebe, sondern des Bildungsministeriums und der Schulen ist, Jugendliche auszubilden. Die Berufsgymnasien haben auch die praktische Ausbildung übernommen. Deshalb sind die Jugendlichen aus den Firmen weitgehend verschwunden.“ In Frankreich soll die Schule vor allem kultivierte und frei denkende Staatsbürger hervorbringen. Das elitär ausgerichtete Bildungssystem hat daher ein gespanntes Verhältnis zur Arbeitswelt. Das hat sich auch nicht geändert, als 1985 ein Berufsabitur geschaffen wurde, um den beruflichen Zweig aufzuwerten. Das „Lycée professionnel“ wird oft als Auffangbecken für Schulversager betrachtet. Die Berufsschüler machen nur gelegentliche Praktika in den Firmen. Und die Firmen, vor allem in der Industrie, sind es nicht mehr gewohnt, junge Menschen auszubilden. Trotzdem beschwören die Regierungen seit Jahrzehnten die Lehre als vorzüglichen Ausbildungsweg. So hat Staatspräsident François Hollande bei seinem Amtsantritt 500.000 Lehrverträge als Ziel ausgegeben – derzeit gibt es aber nur etwa 400.000 Lehrlinge und die Tendenz ist rückläufig. Schuld daran sei vor allem - Francois Hollande, sagt Daniel Flachat. O-Ton Flachat „Früher gab es viele Hilfen, zuletzt bekamen wir immerhin noch 2.000 Euro pro Lehrling vom Staat. Diese Subvention wurde unter Präsident Hollande halbiert, aus Spargründen. Trotz aller Ankündigungen gibt es heute praktisch keinen finanziellen Anreiz mehr, Jugendliche auszubilden.“ Der Zimmermann geht in sein Büro. Über dem Schreibtisch hängt ein Foto vom Pantheon in Paris, mit einem Metallgerüst, das den monumentalen Säulentempel wie eine Halskrause umgibt - eine ehemalige Baustelle von „Paris Charpente“. Derzeit arbeiten seine Angestellten und auch die Lehrlinge im Schloss von Versailles. Flachat schüttelt den Kopf: O-Ton Flachat „Vor 20 Jahren hieß es: Ohne Diplom gibt es keine Arbeit. Heute haben die jungen Menschen tolle Diplome, aber sie finden trotzdem keinen Job. Weil den Firmen Berufserfahrungen viel wichtiger sind als Diplome ohne Erfahrungen. Für mich ist klar: Mit unserem Bildungssystem stimmt was nicht - weil die Lehre fehlt. Wenn unsere Jugendlichen die Lehrlingsausbildung durchlaufen würden, könnten sie Erfahrungen im Betrieb sammeln und dann wüssten die Firmen auch, mit wem sie es zu tun haben. Durch die Lehre läuft es ganz von allein.“ Er selbst hat jeden ehemaligen Lehrling eingestellt, der sich bei ihm beworben hat, sagt Daniel Flachat, sogar in Krisenzeiten. Weil er die jungen Leute so geformt hat, wie er sie braucht, und weil es an fähigen Handwerkern in Frankreich mangelt. Musik Literatur Es gehört zu den Widersprüchen der französischen Politik, dass die Reformvorschläge für das Aufbrechen verkrusteter Strukturen seit Jahren in den Schubladen der Ministerien liegen. Unzählige Expertengremien haben viel Zeit investiert, um die Schwachstellen des Landes offenzulegen. Geändert hat sich allerdings wenig. Auch, weil die Reformprojekte Bürger und Interessenverbände zu Massenprotesten auf die Straße treiben. „Ist Frankreich unreformierbar“, fragte die renommierte Tageszeitung Le Monde – und lies zugleich den Teil der Bevölkerung zu Wort kommen, der unter diesem Stillstand besonders leidet: die Jugend. „Die Studenten haben das Wort“ heißt der Wettbewerb unter Studierenden französischer Hochschulen, an dem auch die Studentin Esther Chevrot-Bianco teilgenommen hat. Ihr Aufsatz „Geliebtes Land meiner Kindheit“ wurde von der Jury prämiert und in Le Monde veröffentlicht: Text von Esther Chevrot-Bianco Freiheit Mein geliebtes Frankreich, Du hast viele Werte, vor allem bist Du sehr idealistisch - andere Länder amüsieren sich daher schon mal über Dich. Mir gefällt, dass Du Deine Werte nicht vergisst, in letzter Zeit aber klingen sie hohl für mich. Du sagst Freiheit. Dir zufolge besteht Freiheit darin, „alles zu tun, was anderen nicht schadet“. Du garantierst die individuellen Freiheiten, die Gedankenfreiheit und Vereinigungsfreiheit. Das reicht aber nicht. Ich möchte eine kühnere Definition hinzufügen: die Freiheit, zu unternehmen, auszuprobieren, innovative Wege zu gehen, zu scheitern und neu zu beginnen. Jene Freiheit, die Mut und Hoffnung erfordert. Wie die Flugzeuge, die du herstellst und weltweit exportierst, bist Du eine große Maschine mit wenigen Piloten. Die Passagiere können nicht über Strecke, Geschwindigkeit und Höhe abstimmen. Verborgen hinter einer schweren Tür, die sich erst nach der Landung öffnet, entscheiden die Piloten allein über den Fortgang der Reise. Die Fluggäste werden nicht gefragt, ihnen wird auch nichts erklärt. Stattdessen werden alle Informationen gefiltert und geglättet, erst dann leitet die Besatzung sie an die Mitreisenden weiter. Wenn Du international ein inspirierendes Land bleiben willst, dann sollten Deine Entscheidungsträger den Ideen der Jugend gegenüber offener sein. Reportage 2 Zwischen Tradition und Aufbruch - die französische Landwirtschaft erfindet sich neu Ihre wirtschaftliche Bedeutung sinkt kontinuierlich, aber gegen die Landwirte in Frankreich zu regieren, wäre immer noch ein schlechter Rat für Politiker in Paris. Vor einem Jahr stellten dies Bauern aus dem ganzen Land eindrucksvoll unter Beweis: mit mehr als 1.500 Traktoren legten sie einen Tag lang weite Teile der Hauptstadt lahm. Doch gegen die Gesetze des Marktes helfen am Ende weder Proteste noch Klagen: Ob Schweinemast, Rinderzucht oder Milchproduktion – in vielen Bereich ist der einstige Agrar-Export-Champion zurückgefallen. Mittlerweile haben die deutschen Landwirte ihren französischen Konkurrenten den Rang abgelaufen. Zu lange haben die Franzosen an alten, für den internationalen Wettbewerb viel zu kleinen, Strukturen festgehalten – Massentierhaltung hat in Frankreich keine Tradition. Die Folge: Immer mehr Landwirte rutschen in die Pleite. Das weiß auch Gregoire Leleu. Mit seinem Bruder hat der junge Milchwirt den Hof der Eltern übernommen. Im Dorf Saint Fuscien unweit der nordfranzösischen Stadt Amiens wollen die Brüder beweisen, dass Landwirte mit guten Ideen auch heute noch erfolgreich wirtschaften können: * Atmo Die letzte Kuh ist widerspenstig. Grégoire Leleu greift zum Stock, treibt sie zu den anderen Rindern an die Melkmaschine. Dort steht seine Mutter und stülpt Melkbecher über die Zitzen der prallen Euter. Der Stall ist mit Stroh ausgelegt. „Damit ist es bald vorbei“, sagt der Jungbauer. O-Ton Gregoire Leleu „Unsere Eltern haben 35 bis maximal 40 Milchkühe gehalten. Dafür war ihr Stall genau richtig. Aber mein Bruder und ich wollen die Herde auf 90 Milchkühe vergrößern. Deshalb bauen wir ein modernes Gebäude auf die Weide.“ Atmo Gregoire, blonde Igelfrisur, leuchtend blaue Augen, geht hinaus ins Freie, wo sich Wiesen und Felder bis zum Horizont erstrecken. Mitten im Grün ragt ein Dachstuhl in den Himmel, darunter ist ein großes Rechteck betoniert. Ein paar schnelle Schritte, dann steht der 26-Jährige auf dem Estrich. Der künftige Laufgang für die Kühe hat Spalten, damit der Flüssigmist in eine Grube ablaufen kann. Die Liegeboxen sind mit Gummimatratzen bedeckt. Stroh, in dem sich Keime entwickeln, braucht der Landwirt hier nicht mehr. Mit stolzem Lächeln deutet Grégoire auf die Stirnseite des Stalls: Dort entsteht ein Milchlabor. O-Ton Leleu: „Bevor mein Bruder und ich hier im Hof unserer Eltern eingestiegen sind, haben wir beschlossen, neue Produkte zu entwickeln. Wir wollen einen Teil unserer Milch aufwerten, indem wir sie selbst zu Joghurt, Quark, Crème fraiche, Butter und Frischkäse verarbeiten.“ Genau ein Jahr ist es her, dass Grégoire und der 24-jährige Thomas den Familienbetrieb übernommen haben. Die Brüder bewirtschaften den Hof in vierter Generation. Atmo Fast alle kleinen Milchbauernhöfe in der Picardie seien verschwunden, sagt er. Auch der Hof Leleu war nicht mehr rentabel, in den Monaten vor der Übergabe erwirtschafteten die Eltern keinen Gewinn mehr. Vergrößern und diversifizieren – oder aber die Kühe verkaufen. Eine andere Wahl hatten die Söhne nicht. Zum Glück habe die Molkerei mitgespielt. O-Ton Leleu: „Wir dürfen jetzt doppelt so viel Milch wie unsere Eltern produzieren, wir haben Verträge über 780.000 Liter pro Jahr erhalten.“ Atmo Ein Mann in Jeans und Polohemd steigt aus dem Auto, begutachtet den neuen Stall. Olivier Thibaut ist Vorsitzender des Verbands der Milchbauern in der nordfranzösischen Picardie, außerdem Vertreter der großen Bauerngewerkschaft FNSEA. Mit den Vorgaben für die Milchproduktion kennt er sich aus. Obwohl die EU die Milchquote im vergangenen Jahr abgeschafft hat, kontrollierten Frankreichs Molkereien die Produktion der Bauern auch weiterhin, sagt Olivier. Anders als in Deutschland, den Niederlanden, Belgien oder Irland. O-Ton Thibaut: „Alle Molkereien in Frankreich schließen Verträge, die das Volumen festlegen. So kommt es, dass Frankreich heute – verglichen mit unserer ehemaligen Quote - keinen Überschuss produziert. Unser Milchvolumen liegt sogar leicht darunter. Aber unsere europäischen Nachbarn produzieren immer mehr, sie tragen also dazu bei, dass die Preise noch tiefer fallen. Wir sind doppelt gestraft: Wir leiden unter dem Preisverfall und können die Produktion nicht hochfahren.“ Doch auch in Frankreich haben Landwirte auf diese Entwicklung reagiert. Eine knappe Autostunde vom Hof Leleu entfernt steht die „ferme des 1000 vaches“. Diese „Farm der tausend Kühe“ wurde nach deutschem Vorbild konzipiert. Aber was in Deutschland akzeptiert wird, löst in Frankreich massiven Widerstand aus. Umweltschützer und eine alternative Bauerngewerkschaft sind gegen den Mega-Bauernhof Sturm gelaufen. Olivier Thibaut hat kein Verständnis für die Proteste. Die moderne Landwirtschaft werde in Frankreich zu kritisch gesehen, so der Verbandsvertreter: O-Ton Thibaut: „Die französische Gesellschaft verlangt, dass wir am Familienmodell festhalten. Trotzdem wollen die Konsumenten genauso wenig für die Milch bezahlen wie ihre europäischen Nachbarn. Wir haben hohe Umweltauflagen, höhere Sozialabgaben als unsere Nachbarn und kleinere Herden – die Rechnung geht nicht auf. Um international wettbewerbsfähig zu sein, sind auch wir gezwungen, unser Volumen zu erhöhen. Frankreich folgt dem Modell seiner Nachbarn, aber widerstrebend und mit zeitlicher Verzögerung. Deshalb schrumpft die französische Landwirtschaft.“ Die beiden Männer gehen zum Wohnhaus, wo sie Grégoires Mutter erwartet. Das weiß getünchte Backsteingebäude, an dem rote Rosen ranken, ist fast 200 Jahre alt. Atmo Francoise Leleu öffnet die Tür zu einem kleinen Büro: Dort stapeln sich rote, grüne, blaue Akten. Es hat lange gedauert, bis der der junge Bauer seinen Traum verwirklichen konnte. Nachdem er seine feste Stelle als Techniker und Berater für Milchqualität in einer Molkerei aufgegeben hatte, bereitete Grégoire eineinhalb Jahre den Neustart des Hofes vor: Subventionen beantragen, Genehmigungen einholen, Fortbildungen besuchen und eine Marktstudie erstellen. Alles war genau geplant: O-Ton Leleu: „Wir wollten auf Nummer sicher gehen. Und der Bank beweisen, dass unser Vorhaben tragfähig ist. Wir haben immerhin 900.000 Euro Kredit aufgenommen.“ Doch schon jetzt drücken ihn große Sorgen. Der Abnahmepreis für Milch ist tiefer gefallen als er es für möglich gehalten hat. Die Rücklagen aus den guten Jahren hat der Hof inzwischen komplett aufgebraucht. Manchmal packe ihn die Angst. O-Ton Leleu: „Wir wissen, so kann es nicht weiter gehen. Wir dürfen uns nichts vormachen. Sonst stehen schwerwiegende Entscheidungen an. Welche? Darüber will ich nicht nachdenken. Aber die Rechnungen häufen sich... Wir stellen uns viele Fragen...“. Musik Literatur Gleichheit Mein geliebtes Frankreich, Du sagst Gleichheit. Bei diesem Wort verstehe ich Dich am allerwenigsten. Deine große ethnische und kulturelle Vielfalt ist eine Bereicherung. In Deinen Metros trifft man auf Menschen aller Hautfarben. In Deinen Regionen hört man die baskische Sprache und bretonische Musik, man kostet Boeuf bourguignon und Fondue aus Savoyen. Diese Vielfalt fasziniert viele Touristen. Aber bei ihrer Abreise sind sie oft über die Härte in den sozialen Beziehungen schockiert, sowie über das Elend auf unseren Straßen und über die offen gezeigte Missachtung angesichts dieser Misere. Ist die republikanische Gleichheit nicht zu einer leeren Hülle verkommen, die weder im Schulsystem noch im Geist Deiner Staatsbürger Widerhall findet? Von überall her höre ich, dass der soziale Dialog zusammengebrochen ist und verschiedene Berufsstände aufeinander prallen, anstatt Kompromisse zu finden. Wir haben über die Schule gesprochen. Wenn ich Deine Lehrerin wäre, würde ich Dir folgende Aufgabe erteilen: Damit Du das Wort „Gleichheit“ weiter in Deinem Motto tragen darfst, müsstest Du den künftigen Generationen beibringen, dass in einem Gemeinwesen jeder Einzelne nützlich und wichtig ist. Reportage 3 Jean-Paul Delevoye – ein „Frankreichversteher“ rechnet mit der Politik ab Im Vorwahlkampf für die Präsidentenwahlen im kommenden Frühjahr geht es derzeit vor allem um die Innere Sicherheit. Die Debatte über Strukturreformen im Land, die die Wirtschaft wieder in Schwung bringen, ist etwas in den Hintergrund getreten. Dabei sind die Pläne vieler Kandidaten bekannt. Je nach politischer Couleur werben die einen für harte Einschnitte ins soziale Sicherungsnetz, andere für Protektionismus und Abschottung. Neu sind diese Konzepte nicht – genauso wenig wie der Großteil der Bewerber, der schon seit Jahrzehnten im politischen Betrieb Verantwortung trägt. Wird es nach der Wahl im Mai mit den Reformen klappen? Jean-Paul Delevoye ist skeptisch. Mehr als 30 Jahre lang hat der Konservative auf nationaler und lokaler Ebene Verantwortung getragen. Heute ist er im Ruhestand – und überzeugt: von innen wird sich das verkrustete System kaum reformieren lassen: * Atmo Roter Backstein, graues Schieferdach, hoher Glockenturm. Mit sichtlichem Vergnügen betritt Jean-Paul Delevoye das Rathaus von Bapaume, begrüßt die Angestellten mit Vornamen und Wangenkuss. In diesen Räumen hat seine politische Karriere begonnen, hier amtierte er 30 Jahre lang als Bürgermeister. Bei der letzten Wahl ist der Konservative nicht mehr angetreten. Eine Sekretärin trauert ihm immer noch nach. Atmo Man müsse rechtzeitig abtreten, dürfe niemals ein Mandat zu viel übernehmen, sagt der 69-Jährige. Er hat dichtes graumeliertes Haar, ein gepolstertes Gesicht mit energischem Kinn und fällt durch seine imposante Körpergröße auf. Delevoye hat Frankreich auf fast allen politischen Ebenen kennengelernt: Er war Abgeordneter der Nationalversammlung, Senator, Staatsminister, außerdem Vorsitzender der Vereinigung aller 36.000 Bürgermeister des Landes, nationaler Ombudsmann und, bis vergangenen Dezember, Vorsitzender des Rats für Wirtschaft, Soziales und Umwelt, ein hohes staatliches Berater-Gremium. O-Ton Delevoye: „Ich wollte das Gremium reformieren, deshalb musste ich meinen Hut nehmen. Ich wollte den Rat für Vertreter der Zivilgesellschaft öffnen und auch kritischen Bürgern ein Mitspracherecht geben. Aber das Establishment hat gesagt: Bloß nicht! Wir sind doch selbst die Bürger. Die politische Klasse hat vor den Bürgern Angst. Schade.“ Mit seinen bisweilen unkonventionellen Ansichten hat Delevoye nicht überzeugt. Heute beobachtet er den politischen Betrieb von der Seitenlinie, offensichtlich gefällt ihm das. Der Politiker a.D. verlässt das Rathaus, flaniert durch die Straßen seiner Geburtsstadt. Bapaume hat 4.000 Einwohner, die meisten Häuser sind bescheiden, ärmlich sehen sie aber nicht aus. Apotheke, Metzger, Bäcker, Kneipe, Florist - durch die vielen kleinen Läden wirkt das Zentrum einigermaßen belebt. Delevoye grüßt, bleibt stehen, schüttelt Hände. Zwischen zwei Plauschen zeichnet er das Bild eines überforderten Staats. O-Ton Delevoye: „Die politische Kultur unseres Landes steht vor einer Zerreißprobe. Unser politisches System wurde nach monarchischem Modell geschaffen, die Zentralmacht will alles kontrollieren. Die Politiker haben auch die kulturelle und ethnische Vielfalt des Landes noch immer nicht akzeptiert. Überall herrscht Misstrauen: Der Zentralstaat misstraut den örtlichen Instanzen, der Steuerzahler misstraut der Verwaltung, die Franzosen misstrauen sich untereinander. Die Amtsinhaber erwarten von den Bürgern, dass sie gehorchen, so wie der Gläubige dem Pfarrer und das Parteimitglied dem Parteichef gehorcht. Wer Minister wird, fühlt sich überlegen. Das ist eine französische Krankheit: Der Genuss an der Macht überwiegt vor dem Pflichtbewusstsein, den Job anständig zu machen.“ Delevoye spricht aus Erfahrung. Der Anhänger von Ex-Staatspräsident Jacques Chirac war 2002 selbst Minister für den öffentlichen Dienst und die Staatsreform. Trotzdem sei er anders gestrickt als die meisten seiner Kollegen. Ein Grund: Delevoye ist kein Absolvent der staatlichen Kaderschmiede ENA – im Gegenteil: Mit 21 brach er das Studium ab, stieg in den väterlichen Futtermittel-Betrieb ein. Als Autodidakt gerate er kaum in Gefahr, sich überlegen zu fühlen, sagt er. Seine Kooperationsbereitschaft mit dem politischen Gegner hat ihm genutzt, als mit „Metaleurop Nord“ der letzte groß-industrielle Arbeitgeber in der Region Nord-Pas-de-Calais die Tore schloss. Das war im Jahr 2003, eine halbe Autostunde von Bapaume entfernt: Auf einen Schlag verloren 830 Menschen ihren Job. O-Ton Delevoye: „Damals konnte ich enge Bindungen mit den Gewerkschaften knüpfen. Hätte ich nicht Hand in Hand mit der linken CGT gearbeitet – es hätte sogar Tote geben können, so verzweifelt waren die Arbeiter. Inhaltlich waren wir uns oft nicht einig, trotzdem haben mir die Gewerkschaften vertraut.“ Auch später habe er regelmäßigen Kontakt zu Gewerkschaftsführern gepflegt, um zu erfahren, wie sie die Dinge sehen. Das ist in Frankreich eher ungewöhnlich. O-Ton Delevoye: „Wir haben keine Gesprächskultur wie in Deutschland. Die Arbeitgeber betrachten die Gewerkschaften seit jeher als Kontrahenten, als Gegner, die nur Sand ins Getriebe streuen. Und für die Gewerkschaften sind die Arbeitgeber Ausbeuter. Sie pflegen ihre Protestkultur, statt konstruktiv zu sein. So kommt es, dass Reformgewerkschaften heute oft angefeindet werden und jene, die protestieren, eine Art Prämie erhalten.“ Aber trotz seiner vielen Ämter auf lokaler und nationaler Ebene hat auch Jean-Pierre Delevoye zwei Jahrzehnte lang nicht begriffen, wie schlecht es vielen Franzosen geht. Das gibt er offen zu: O-Ton Delevoye: „Ich dachte wirklich, ich kenne die französische Gesellschaft. Dabei habe ich die Realität erst als nationaler Ombudsman entdeckt, also als Vermittler für Bürger, die sich vom Staat nicht verstanden oder schlecht behandelt fühlen. Mir wurde plötzlich klar, dass Millionen Franzosen finanziell mit dem Rücken zur Wand stehen und große Teile der Gesellschaft psychisch am Ende sind.“ Sein alarmierender Bericht hat 2010 für Schlagzeilen gesorgt – viel mehr auch nicht. Atmo Wieder einmal vibriert, das Telefon. Der Ex-Politiker ist ein gefragter Mann: In seinem Terminkalender stehen eine Podiumsdiskussion über gesamtheitliche Entwicklungskonzepte in Lille, ein Vortrag in Grenoble, eine Besprechung mit jungen Leuten in Paris, die eine digitale Plattform für offene Demokratie und Bürgerbeteiligung schaffen wollen. Alles Initiativen, die von außen auf das politische System einwirken, sagt Delevoye, und die er nach Kräften unterstützt. O-Ton Delevoye; „Frankreich verändert sich wohl, aber man sieht nur die Krämpfe, Revolten, Widerstände – nicht den Wechsel. Sogar die linke Gewerkschaft CGT unterschreibt auf lokaler Ebene 80 Prozent aller Firmenabschlüsse. Das landesweite Bild spiegelt die Wirklichkeit vor Ort nicht wider, aber ganz und gar nicht.“ Atmo Er zitiert ein tibetanisches Sprichwort: Ein Baum, der fällt, macht mehr Krach als ein Wald, der wächst. Dann steigt er ins Auto, um einen Bonsai aus Butan zum Fachmann zu bringen, er soll ihm beim Beschneiden helfen. Kontrolliertes Wachstum ist ihm lieber als Wildwuchs. Literatur Brüderlichkeit Mein geliebtes Frankreich, Du sagst Brüderlichkeit. Die Franzosen sind bekannt dafür, dass sie Regeln gerne missachten und sich dabei über ihre Autoritäten lustig machen, indem sie ihnen elegant eine lange Nase drehen. Wir sind geradezu stolz auf diesen Charakterzug: so als ob man sich alles leisten könnte, wenn es nur Stil hat. Steuern hinterziehen – warum nicht, so lange man so vornehm ist, sich dabei nicht erwischen zu lassen. Vielleicht findet sich der Schlüssel zur Veränderung auch hier in der Erziehung. Wir sind das Land der Revolution, aber nach der Revolution kommt die Verfassung. Vielleicht sollten wir auch in den Schulbüchern auf den Respekt für die Strukturen hinweisen, die unsere Politiker entworfen haben. Erklären, dass in einer Demokratie wie Frankreich die meisten Regeln zum Wohl der Gemeinschaft erlassen wurden. Wir wären brüderlicher, wenn wir die Regeln beachten würden, anstatt die Revolution zu organisieren. Reportage 4 Start-up-Szene in Nantes – frischer Wind aus der Provinz Weniger als zwei Prozent der Wirtschaftsleistung in Frankreich stammt heute noch von der Landwirtschaft – Tendenz fallend. Genau wie der Anteil der Industrie, die im Gegensatz zu Deutschland stetig an Einfluss verliert und bereits unter der 20-Prozent-Marke liegt. Damit wächst die Bedeutung des Dienstleistungssektors. Auf diesem Gebiet entscheidet sich die Zukunft des Landes. Und hier präsentiert sich Frankreich auf manchen Feldern in überraschend guter Verfassung. Nicht nur in Paris hat sich ein moderner, weltoffener und exportorientierter Mittelstand entwickelt. Zum Beispiel im IT-Sektor, der in der Provinzmetropole Nantes Tausenden Menschen Arbeit verschafft. Die typisch französischen Rituale des Klassenkampfes sind in diesen Betrieben nicht mehr zu finden. * Atmo Eine Veranstaltung der Start-up-Szene in Nantes. Die Maschinenhalle eines ehemaligen Werftgeländes dient als Konferenzzentrum. Auf der in lila Licht getauchten Bühne begrüßt Julien Hervouet die Gäste. Sein Thema beim Web2day-Treffen: Fundraising. Diesmal gehe es nicht um technische Analysen, erklärt der junge Mann dem Publikum, sondern um Emotionen. Er wolle wissen, was bei Investoren und Firmengründern in der rechten Hälfte des Gehirns passiert. Atmo Hervouet kann aus eigener Erfahrung berichten: Vor sechs Jahren hat der damals 28-Jährige die Firma „IAdvize“ gegründet. Vergangenes Jahr hat er Fremdkapital gesammelt, um auch Märkte im Ausland zu erschließen: immerhin 14 Millionen Euro. O-Ton Hervouet: „Iadvize hat sich die Aufgabe gestellt, den Online-Kauf menschlich angenehmer zu machen. Wir haben eine Plattform entwickelt, mit der E-Commerce Firmen ihre Kunden besser ansprechen und ihnen per Chat, Messaging und mithilfe des bestmöglichen Experten helfen können.“ Dichtes braunes Haar, melancholische blaue Augen, breites Lachen, drei -Tage-Bart – der Firmengründer schwingt sich auf seine Vespa und braust los Richtung Arbeit. Die Büros von IAdvize liegen nur 15 Fußminuten entfernt, direkt am Ufer der Loire. Vor dem Hauseingang trifft Julien auf einen Mitarbeiter, der einen sicheren Job gegen das Abenteuer Startup eingetauscht hat: Atmo O-Ton Hervouet: „Das ist Mickael, er war vorher bei Facebook, in Dublin. Vor einem Jahr haben wir uns beim Web2Day kennen gelernt. Jetzt arbeitet er bei uns!“ O-Ton Mickael: „Genau, Julien hat damals gesagt: Wir brauchen Leute. Sechs Monate später habe ich hier angefangen, so schnell kann das gehen.“ Julien nimmt den Aufzug in den fünften Stock, durchquert ein Großraumbüro. Ein paar Dutzend junge Leute sitzen hochkonzentriert vor Computerbildschirmen, viele tragen Headsets, telefonieren, trotzdem ist es erstaunlich leise im Raum. Frische Farben - weiß, hellgrün, hellblau, lila - , kleine Tischlampen, Puffs zum Sitzen, im Eck steht ein Gitarre - eine Atmosphäre wie auf Fotos im Ikea-Katalog. Die junge Firma expandiert schnell, sagt Julien Hervouet. O-Ton Hervouet: „Wir haben zu zweit angefangen, heute sind wir 185. Aber jeden Monat kommen 10 bis 15 neue Mitarbeiter hinzu, deshalb sind solche Angaben rasch überholt.“ Er setzt sich mit dem Marketing Direktor in ein Büro, bespricht den Start der Firma in Deutschland: Wenige Tage zuvor wurden Geschäftsräume in Düsseldorf angemietet, das deutsche Team ist im Aufbau. IAdvize hat bereits Niederlassungen in London und Madrid, außerdem Geschäftsbeziehungen mit Firmen in rund 40 Ländern. O-Ton Hervouet: “Wir haben hier in Frankreich exzellente Bedingungen, um Start-Up-Firmen zu gründen. Der französische Markt ist so groß, dass wir uns auf nationaler Ebene entwickeln können, zugleich sind wir international sichtbar. Außerdem ist es extrem einfach, eine Firma zu gründen. Das ist in ein paar Stunden erledigt, es gibt keine Hindernisse.“ Frankreich hegt seine Start-Up-Szene mit Subventionen, Krediten und Steuergutschriften. Die Standortbedingungen in seiner Heimat findet Julien Hervoeut gut. Er kann nicht verstehen, dass viele traditionelle Unternehmer in Frankreich über eine hohe Abgabenlast, das rigide Arbeitsrecht und häufige Störmanöver der Gewerkschaften lamentieren. Das seien doch Klischees, die endlich mal beseitigt werden müssten. O-Ton Hervouet: „Die Lohnzusatzkosten sind in Frankreich nicht höher als in Kalifornien. Ja, wir zahlen erhebliche Abgaben, aber sie hindern unsere Firma nicht am Wachstum. Außerdem finanzieren sie ein Gesellschaftsmodell, das ich ganz toll finde.“ Er selbst hat seine gesamte Ausbildung an öffentlichen Schulen und Universitäten absolviert, erzählt Hervouet. Als er arbeitslos wurde, konnte er sich selbständig machen. Weil ihn die staatliche Arbeitslosenversicherung absicherte. O-Ton Hervouet: „Arbeitslos zu sein, ist heute in Frankreich die beste Gelegenheit, um eine Firma zu gründen. Der Anfang ist immer schwer, ich selbst konnte mir anderthalb Jahre lang kein Geld auszahlen. Da bietet uns das französische System wirklich eine unglaubliche Chance. Auch unser Gesundheitssystem ist toll. Das alles kostet Geld. Ohne unsere Sozialversicherung würden wir vielleicht weniger Lohnnebenkosten zahlen, aber wir müssten die Mitarbeiter sehr viel höher entlohnen, damit sie ihren Kindern Vorschule, Ausbildung und vieles mehr bezahlen könnten.“ Trotzdem kann Hervouet nachvollziehen, dass die Gewerkschaften regelmäßig auf die Barrikaden gehen. In Zeiten der allgemeinen Verunsicherung, wo lebenslange Arbeitsverhältnisse immer seltener werden, fühlten sich die Arbeitnehmervertreter besonders gefordert, sagt der 33-Jährige. Das weit verbreitete Stöhnen über die französische Reformunwilligkeit, den aufgeblähten Staatsapparat und das großzügige Sozialsystem müsse man indes nicht so ernst nehmen – Klagen sei nun mal typisch französisch. O-Ton Hervouet: „Die Franzosen schlagen gerne aufeinander los, kritisieren alles, machen sich selbst und ihr System schlecht. Und die Welt glaubt uns. Dabei sollten wir stolz sein. Natürlich muss unser System fortentwickelt und reformiert werden, weil sich die Welt nun mal verändert. Aber wir sind schon jetzt eine Start-Up-Nation. Jedes Jahr werden in Frankreich 500.000 neue Firmen gegründet, darunter sind viele tolle Erfolgsgeschichten. Ich finde, dass wir wahnsinniges Glück haben.“ Reportage 5 Den Status verteidigen – Samuel Churin kämpft für die Rechte der Künstler in Frankreich Zu den französischen Besonderheiten, die Reformer stets in den Blick nehmen, zählt die Kulturszene. Ob Festivals, Kino oder Schauspiel – Frankreich lässt sich seine reiche Kultur einiges kosten. Zu viel, sagen die Kritiker und schauen dabei vor allem auf eine Viertelmillion freiberuflicher Künstler und Techniker bei Theater, Oper, Film, im Jazz-Club oder Konzerthaus. Anders als in Deutschland haben die meisten französischen Bühnen keine festen Ensembles. Stattdessen werden die Spielzeiten von Gast-Truppen bestritten, die sich jeweils für eine Produktion zusammenfinden. Die Schauspieler hangeln sich von Engagement zu Engagement. Um sie und alle anderen Kulturschaffenden abzusichern, schuf die Politik eine spezielle Form der Arbeitslosenversicherung. Die Künstler arbeiten als „intermittents du spectacle“ - man könnte sie als Kultur-Zeitarbeiter mit Anspruch auf Arbeitslosengeld bezeichnen. Doch diese Absicherung ist für den Staat teuer und wird damit immer mehr in Frage gestellt. Alle zwei Jahre treffen sich die Sozialpartner, um die Bedingungen für die derzeit 110.000 Intermittents mit Anspruch auf Arbeitslosenversicherung neu zu verhandeln. Für die Künstler ist das stets eine Periode des Bangens – und der Mobilisierung. * Atmo Wieder einmal trifft sich der Verband der Künstler und Kulturschaffenden zur Generalversammlung. Etwa hundert Frauen und Männer sitzen auf den Holzbänken eines alten Gewerkschaftshauses in Paris. Die Gesichter sind besorgt. Viele fürchten, dass sie bald nicht mehr genug Geld zum Leben haben werden. Der Grund: Die Arbeitslosenversicherung der Kulturschaffenden soll auf Druck der Arbeitgeberverbände jährlich 185 Millionen Euro einsparen. Atmo Ein Schauspieler mit zerzaustem Haar und struppigem Vollbart greift zum Mikrofon. Langer schwarzer Regenmantel, markante Stimme, ausholende Gesten – Samuel Churin scheint auf einer Theaterbühne zu stehen. Dabei erklärt er seinen Kollegen nur die komplizierten Details der Verhandlungen zwischen den Sozialpartnern. Er hat auch Ideen für Aktionen, mit denen die Künstler ihren Forderungen Nachdruck verleihen können. Seit mehr als einem Jahrzehnt kämpft Churin schon für die soziale Absicherung der „Intermittents du spectacle“, berichtet der 51-Jährige später in seiner kleinen Pariser Wohnung. O-Ton Churin: „Wir arbeiten von Natur aus unregelmäßig. Wir können nicht ein Jahr Arbeit nonstop aneinander reihen. In den 1960er Jahren, als in Frankreich mehr oder weniger Vollbeschäftigung herrschte, hat man deshalb nach Regeln gesucht, die unserer Arbeit entsprechen. Es ging nicht speziell um Kulturschaffende, sondern um Leute, die zwischen einzelnen Verträgen Lücken haben. In solchen Zeiten bezahlt uns die Arbeitslosenversicherung.“ Atmo Der Schauspieler streichelt seine graue Angorakatze. Neben ihm auf dem alten Ledersofa liegt ein Skript. Er muss die Rolle des „Nathan“ lernen. Im Januar wird er in Lessings Drama die Hauptrolle spielen. Im September ist er vier Tage lang für einen Kinofilm engagiert. Sonst ist sein Terminkalender leer. Sein hageres Gesicht ist von Falten zerfurcht. Versammlungen, Streikbeschlüsse, Besetzungen, offene Briefe, Appelle... - das gewerkschaftliche Engagement kostet Churin viel Zeit. Und die Widerstände werden größer. Die Kritik an den Versicherungsregeln für die Intermittents wächst. O-Ton Churin: „Wir haben keine Privilegien. Wir müssen schlicht andere Voraussetzungen erfüllen als bei der allgemeinen Arbeitslosenversicherung, aber im Gegensatz zu dem, was alle glauben, ist es für Kulturschaffende sogar schwieriger, überhaupt Ansprüche geltend zu machen.“ Ein festangestellter Arbeitnehmer muss 610 Arbeitsstunden innerhalb von zwei Jahren nachweisen, um Arbeitslosengeld zu erhalten, erklärt Churin. Ein Künstler muss zwar nur 507 Stunden, also dreieinhalb Monate Arbeit nachweisen, diese allerdings innerhalb von zehn Monaten erbringen, also in viel kürzerer Zeit. Außerdem rechnet man ihm nur die bezahlten Stunden an. Für das Lernen der Texte etwa wird Churin nicht bezahlt. Atmo Ein Künstler zahlt auch doppelt so viel in die Arbeitslosenversicherung ein wie ein Festangestellter, nämlich 4,8 Prozent seines Gehalts. Sobald er die Voraussetzungen erfüllt, wird er allerdings ein Jahr lang entschädigt, das ist deutlich mehr als bei anderen Arbeitslosen. Darum spricht der Arbeitgeberverband von Sonderrechten und will die teuren Ausgleichszahlungen, die die Unternehmen mit ihren Beiträgen auch mitfinanzieren, lieber heute als morgen abschaffen. In den Verhandlungen säßen die Vertreter der Künstler stets am kürzeren Hebel, bedauert Samuel Churin. Also müssten sie sich Gehör verschaffen. Atmo Zum Beispiel vor dem berühmten Odeon-Theater in Paris: 50 Demonstranten besetzen die Dachterrasse, entfalten große Spruchbänder. "Kein Recht auf Arbeit ohne Recht auf Arbeitslosengeld", steht jetzt in roter Schrift über dem neoklassischen Säuleneingang. Auf dem Vorplatz drängen sich Künstler und Kulturschaffende, schwer bewaffnete Bereitschaftspolizisten versperren ihnen den Weg. Auch Samuel Churin skandiert: "Das Theater gehört uns, macht das Odeon auf". Atmo Die Verhandlungen der Sozialpartner gehen in die letzte Runde. Die "Intermittents" haben auch die ehrwürdige Comedie Francaise besetzt, die Theaterbesucher können nach Hause gehen. Vor 13 Jahren, erinnert sich Churin, haben sie sogar das berühmte Theaterfestival in Avignon lahm gelegt. Er ist überzeugt: O-Ton Churin: „Wäre Avignon im Jahr 2003 nicht annulliert worden, gäbe es unsere Versicherung nicht mehr. Wenn es bei den alle zwei Jahre anstehenden Neuverhandlungen Probleme gibt und die Zeit der Sommerfestivals naht, dann machen wir Druck – und das funktioniert. Die Gegenseite weiß: Wir können es wiederholen.“ Atmo Zwei Monate sind verstrichen, die Verhandlungen abgeschlossen. Für die Künstler fällt das Abkommen besser aus als erwartet – die geforderten Einsparungen werden allerdings nicht erreicht. Deshalb erkennt es der Arbeitgeberverband nicht an. Aber der Staat mischt sich mal wieder ein, er erklärt es für gültig, greift auch finanziell in die Tasche. Samuel Churin steht mit seinen Freunden und Kollegen in einem Pariser Kulturzentrum, dem die Pleite droht. Er ist ausnahmsweise zufrieden. O-Ton Churin: „Wir haben einen Etappensieg erreicht. Er kann sechs, acht, zwölf Monate lang halten, es wird nicht ewig sein. Aber es ist uns gelungen, unsere Ideen durchzusetzen. Zum ersten Mal haben wir neue Rechte erhalten!“ Die Bedingungen für Geringverdiener wurden gelockert, die Solidarität gestärkt. Die Kulturschaffenden müssen ihre 507 Arbeitsstunden nun nicht mehr in 10, sondern in 12 Monaten nachweisen. Dadurch können ein paar tausend Künstler mehr als bisher Ansprüche geltend machen. Ein Glas Punsch in der einen, die Zigarette in der anderen Hand, gönnt sich der Schauspieler, wie er sagt, eine kurze Pause im Klassenkampf. Denn für ihn steht fest: In der heutigen Welt werden auch andere Jobs immer prekärer. Die Künstler sind nur die Speerspitze aller Zeitarbeiter. O-Ton Churin: „Jetzt müssen wir, die „Intermittents du spectacle“, durchsetzen, dass alle Arbeitslosen ein gerechtes Versicherungssystem erhalten. Es darf kein System mit zwei Geschwindigkeiten geben. Denn genau da werden die Arbeitgeber ansetzen. Sie werden einen Chauffeur, der für ein Filmprojekt arbeitet, mit einem anderen Chauffeur vergleichen. Deshalb müssen wir Künstler jetzt mit geballter Energie dafür kämpfen, dass alle Arbeiter, die nur kurze Tätigkeiten haben, die gleichen Rechte erhalten wie wir.“ * „Blockiertes Land – Frankreichs schwieriges Verhältnis zu Reformen.“ Das waren „Gesichter Europas“ mit Reportagen von Bettina Kaps. Die Literaturauszüge stammten von Esther Chevrot-Bianco. Erschienen in der Serie „Die Studenten haben das Wort“, organisiert von der Denkfabrik „Le Cercle des Économistes“, gelesen von Janina Sachau. Musikauswahl und Regie: Simonetta Dibbern Ton und Technik: Daniel Dietmann und Roman Weingardt Am Mikrofon war Andreas Noll Musik 1