MUSIK_Hendrix O-Ton 1_KITTLER (aus Sirenen-Hörspiel) Deu rag i / ôn pol u / aîn o du / seu me ga / kû do sa akh / aî ôn nê a ka/ tes tê / són hi na / nô i te / rên op a / koû sêis: Das kann man lesen und aussprechen, ohne Griechisch zu können und das ist ein totales Wunder, denn man kann nicht Keilschrift lesen oder nicht ägyptische Hieroglyphen lesen oder nicht hebräisch lesen, wenn man die entsprechenden Sprachen nicht kann. ... Und die Griechen, und nur die Griechen, haben zum ersten und einzigen Mal auf der Welt ein Alphabet erfunden, das man einfach lesen kann, wenn man die Buchstaben kennt und die Aussprache. Und dazu braucht man kein Wort Griechisch zu können. ATMO_Meer Wind- und Meeresrauschen. Sirenen? (Evtl. Privatmaterial von der Exkursion) SPRECHERIN Als Friedrich Kittler begann, sich für griechische Dichtung zu interessieren, konnte er selbst kaum Griechisch. Wie so vieles, hat er es sich im Laufe seines Lebens beigebracht. Durchaus zum Ärger der eigentlich zuständigen Altphilologen machte er sich sogar selbst ans Übersetzen. In Odysseus? Irrfahrten geht es in Kittlers Interpretation lüstern zu. O-Ton 2_ KITTLER (aus Sirenen-Hörspiel) ?Los komm hierher- Odysseus vieler rätsel- großer ruhm Achaias- angelegt das Schiff damit du unser beider stimme hörst- Nie noch fuhr hier wer im schwarzen Schiff vorüber... ZITATOR (macht weiter, weil Kittler auf CD leider nuschelt) ... nie noch fuhr hier wer im schwarzen schiff vorüber eh er honigsummend stimm? aus unsern mündern hörte- hat lieber volle lust genossen und kehrt mehr wissend heim. Denn wir wissen alles dir was in der weiten Troia Troer und Argeier vom begehr der götter duldend litten. Wir wissen was da wird auf vieles weidendem erdgrund.? SPRECHERIN Womit locken die Musen unseren kühnen Seefahrer? O-Ton 3_KITTLER (aus Sirenen-Hörspiel) Weil sie alle Lust versprechen, die möglich ist, deshalb soll er das Schiff anlegen an dieser Insel. SPRECHERIN Der Medienphilosoph Friedrich Kittler war auf seine alten Tage ein Mythologe geworden. Nichts interessierte ihn brennender als das Alphabet der Griechen. Es war für ihn Ausdruck und Ursprung einer uneingeholten Vollkommenheit. Drei Sprachen vereinten die alten Griechen nämlich in einem einzigen ?Aufschreibesystem?. Zahlen, Buchstaben und Noten konnten alle auf die gleiche Weise dargestellt werden. Für Friedrich Kittler war es der Beweis, dass Mathematik, Musik und damit die Lyrik den gleichen Ursprung haben. Der antike Mensch muss in Kittlers Vorstellung in einem sprachlichen Meer gebadet haben, so vollkommen, dass es nur mit dem Gefühl der Liebe zu vergleichen ist. ATMO_Meer Meerenrauschen, Sirenen nochmal hochfahren O-Ton 4_HRON Friedrich Kittler war immer romantisch. SPRECHERIN Im Jahr 2004 unternahm Professor Kittler mit einer handvoll Eingeweihter, darunter seine damalige Mitarbeiterin Tania Hron, eine Forschungsreise zu den historischen Sireneninseln vor der Küste Amalfis. Kittler hatte eine Theorie, die er mit akustischen Messungen untermauern wollte. Er war der festen Überzeugung, dass Odysseus an einer entscheidenden Stelle seiner Erzählung lügt ? Odysseus, von dem erzählt wird, er habe sich an den Schiffsmast binden lassen und sei so dem lockenden Gesang der Sirenen entkommen. O-Ton 5_HRON Friedrich Kittler hat immer gesagt, das kann eigentlich nicht sein. Odysseus ist der größte Lügner der Antike. Er erzählt das seiner Frau im Bett und vermutlich ist er angelandet. Sirenen sind nichts als Nymphen. Nymphen sind junge Frauen. Der wird dagewesen sein und sich verlustiert haben. Das klingt jetzt irgendwie einfach nur nach ?ner Boulevardgeschichte, aber er hat damit durchaus sehr komplexe Ideen und Theorien verbunden und so war es ein Anliegen dieser Expedition, akustisch nachweisen zu können, wie die realen Gegebenheiten der Insel und Stimme und Gesang und Klang interferieren. SPRECHERIN Wie Kittler die Anlandung des mythischen Seefahrers auf den heutigen Li Galli Inseln bewiesen haben will? Er begab sich selbst in die Rolle des Odysseus, kreuzte vor der Küste Amalfis, ließ eine junge Frau auf einer der Inseln für ihn singen und bemerkte, wie Tania Hron sich erinnert: O-Ton 6_HRON Man versteht Vokale, man versteht aber keine Konsonanten, das heißt, man hört, da wird gesungen, da kommt Klang, aber man versteht nicht, was die sagen. Und Friedrich Kittler fand, damit sei eigentlich erwiesen, dass Odysseus, um zu verstehen, was die Sirenen gesagt haben ? nämlich ?los, hierher komm, größter der Achaier, wir werden dir verkünden, was war, was ist und was sein wird??, das kann er nur verstanden haben, wenn er dort angelandet ist, so wie wir. ATMO_Meer Meeresrauschen, Sirenen, Kittler brüllt über das Meer: ?Sprache! Ich will Sprache! Deutsch singen, Vokale!? O-Ton 7_ KITTLER (aus Sirenen-Hörspiel) Wir haben nach 2800 Jahren endlich mal die Philologie auf eine experimentelle Basis gestellt, statt immer auf eine Textwichserei. ATMO_Meer und MUSIK_Hendrix Aus dem Meerenrauschen ausfaden und zu Jimi Hendrix überblenden: ?... and the gods made love? SPRECHERIN Einige von Kittlers Mitstreitern wollten die griechische Wende ihres Meisters nicht mitmachen ? hatte der doch an der Humboldt Universität zu Berlin einen Lehrstuhl für die ?Ästhetik und Geschichte der Medien? bekleidet und dort über Heeresgerät, Computer und Rockmusik geforscht. Wichtige Bücher entstanden in den achtziger Jahren: ?Aufschreibesysteme 1800 - 1900? handelte davon, wie die Medien einer Epoche ihre Literatur beeinflussen. ?Grammophon, Film, Typewriter? hieß 1986 sein nächstes Buch. Kittler erforschte darin den Zusammenhang zwischen Krieg und Massenmedien. Doch wer von heute aus schaut, dürfte in diesen frühen medienhistorischen Werken Kittlers keinen direkten Widerspruch zu seiner späteren Leidenschaft für die Antike erkennen. Kittler war in der Lage, Homer, den Krieg und die Musik der Sixties zusammenzudenken. ?... And the gods made love? heißt der Eröffnungssong eines Albums von Jimi Hendrix aus dem Jahr 1968 ? und die Götter machten Liebe. MUSIK_Hendrix Jimi Hendrix nochmal hochkommen lassen. SPRECHERIN Friedrich Kittler sah gerade in diesen entlegenen kulturellen Verbindungen eine Gesetzmäßigkeit. Ohne griechisches Alphabet keine Noten, ohne Noten keine Lyra, ohne Lyra keine elektrische Gitarre und ohne elektrische Gitarre kein Jimi Hendrix, der sich mit seinem sphärischen Lovesong bei den Göttern bedankt. MUSIK_Hendrix Mit ?...and the gods made love? schließen. SPRECHERIN Auch wenn Kittlers späte Griechenliebe von vielen seiner Weggefährten oder Anhänger nicht nachvollzogen wurde ? sie wurde doch zu seinem Vermächtnis. Inzwischen, nach Kittlers Tod im Jahr 2011, beginnt die Arbeit am geistigen Nachleben. Der große Medienphilosoph war als Germanist in Freiburg zum Geheimtipp geworden, erlebte in Bochum und Berlin ruhmreiche Jahre als Medienhistoriker und entwickelte sich später zum versierten Computerphilologen ? er untersuchte also die Programmiersprachen der Computer wie ein Sprachwissenschaftler einen Text. Was wird von diesem großen Gelehrten in Erinnerung bleiben? Mit welchen Texten hat er sich, wie die Götter, die er beschrieb, unsterblich gemacht? Und wer übernimmt die Ordnung seiner Hinterlassenschaft? O-Ton 8_MARBACH 00:10 (Rollkastengeräusche, Reportagecharakter) Wir haben insgesamt tausendzweihundert Bestände und Kittler ist eben ein relativ neuer Bestand. (Geräusche) Und hier sammeln wir alles, was dazu an Schriftverkehr vorhanden ist. Das ist jetzt ?ne Gesamtakte, der ganze Schriftverkehr, den wir mit Herrn Kittler geführt haben. (Geräusche) Dann sind hier auch, sehen sie hier, wer schon mit dem Nachlass gearbeitet hat. Die müssen ja dann Publikationsanträge bei uns einreichen.? SPRECHERIN Bereits zu Lebzeiten wurde eine Vereinbarung über den Verbleib von Friedrich Kittlers Nachlass getroffen. Das Deutsche Literaturarchiv in Marbach hatte früh Interesse gezeigt und den Nachlass mit Unterstützung des Kittler-Mäzens Hubert Burda erworben. Doch die Marbacher haben es mit einer Besonderheit zu tun. Ulrich von Bülow, Archivar am Literaturarchiv Marbach. O-Ton 9_ MARBACH (Blättergeräusche, Atmo) Wir hatten bisher schon Nachlässe, die auch elektronische Anteile hatten, also wir hatten schon Nachlässe mit Laptops und Computern übernommen, aber wir haben noch nie einen Nachlass übernommen, der von so einem Computerspezialisten hergestellt wurde und wo eben jemand nicht nur elektronische Datenverarbeitung benutzt hat, sondern selber programmiert hat. So, dass praktisch auch das Programm wie ein Gesamtkunstwerk ist, was wir auch als solches aufbewahren wollen. Aber wir müssen?s eben auch erschließen und das ist für uns natürlich ne Herausforderung.? SPRECHERIN Friedrich Kittler war promovierter Philologe gewesen. Doch im Laufe der Zeit entfernte er sich von seinem textkritischen Kerngeschäft. Man kann es aber auch anders sehen: Kittler hat sich neue Forschungsgegenstände gesucht. Schreibmaschinen oder später Computer beispielsweise. Berühmt gemacht hat ihn seine Arbeit als Medientheoretiker. Er vertrat die Ansicht, dass es nicht die Menschen sind, die ihre Medien hervorbringen; eher verläuft die Beziehung umgekehrt: Erst die Benutzung einer Schreibmaschine produziert bestimmte Ordnungen des Denkens. Und Kittler ging noch weiter. Er zeigte, dass der Krieg der Vater aller Medien ist. ZITATOR (Friedrich Kittler aus ?Rockmusik ? ein Missbrauch von Heeresgerät?) Der Blitzkrieg tobte von 1939 bis 1941. Ohne seine medientechnischen Innovationen wäre Sound weiterhin jener Brei aus dem AM- und Dampfmaschinenradio, den das Hab Mitleid der ersten deutschen Rundfunksendung auch beim Eigennamen rief. Es gilt in schöner Symmetrie: Wie der Missbrauch von Heeresgerät, das für die Stellungskriege von 1917 konstruiert war, zur Mittelwellenmonophonie führte, so (führte) der Missbrauch von Heeresgerät, das für Blitzkriege aus Panzerdivisionen, Bombergeschwadern und U-Boot-Rudeln konstruiert war, zur Rockmusik. SPRECHERIN In Friedenszeiten wandern die Technologien des Krieges also in den Alltag ab. Ohne Weltkrieg hätte es keinen Rundfunk gegeben und damit auch keine Rockmusik als Massenphänomen. Und schon ist man wieder bei einem der Heroen aus Friedrich Kittlers Jugend: bei Jimi Hendrix. MUSIK_Hendrix Jimi Hendrix ?...and the Gods made love? ZITATOR (Friedrich Kittler aus ?Rockmusik ? ein Missbrauch von Heeresgerät?) And the Gods Made Love heißt denn auch das erste Stück auf Electric Ladyland von Jimi Hendrix. Aber die Herren der Welt haben keine Stimme und keine Ohren mehr wie noch bei Nietzsche. Man hört nur Tonbandrauschen, Jet-Lärmpegel und Pistolenschüsse. Auch Kurzwelle, zwischen den Sendern, und das heißt im militärisch-industriellen Komplex, abgehört, klingt ähnlich. Vielleicht muss die Liebe unter Weltkriegsbedingungen aus weißem Rauschen kommen.? SPRECHERIN Es ging Friedrich Kittler darum, die Kultur einer Epoche nicht ohne den Blick auf ihre Medien zu untersuchen. ?Die Austreibung des Geistes aus den Geisteswissenschaften? war dieses kühne Projekt damals überschrieben. Um diesen Exorzismus auf die Spitze zu treiben, empfing der Professor seine Doktoranden in seiner Privatwohnung ? zwischen selbst gebastelten Synthesizern und manipulierten Festplatten. Man kann jenseits aller Anekdoten behaupten, dass Kittler die kulturverändernde Bedeutung des Computers als einer der ersten Philosophen gesehen hat. Weil er mehr über die Beschaffenheit dieser neuartigen Kästen wissen wollte, begann er sie aufzuschrauben und die Sprache der Hacker zu lernen. O-Ton 10_HRON Er hat gerne so eine Anekdote erzählt, von sich und Luhmann. Ich kann sie nur sinngemäß widergeben. Friedrich Kittler und Luhmann sprechen darüber, was so das spezifische ihres Denkens ausmacht, und Luhmann sagt dann: Naja, wenn es um den Persischen Reiter geht, der von A nach B eine Botschaft bringt auf den Persischen Straßen, dann frage ich nach dem Inhalt der Botschaft und Du Friedrich, Du fragst nach dem Pferd, auf dem der Reiter sitzt. O-Ton 11_RAULFF Kittler ist ein wunderbarer Fall, weil er sozusagen rittlings auf dem Medienbruch sitzt. SPRECHERIN Sagt auch Ulrich Raulff, der Direktor des Literaturarchivs Marbach. Will heißen: O-Ton 12_RAULFF Im Nachlass von Friedrich Kittler finden sich sowohl noch frühe selbstgebaute Zettelkästen, als auch schließlich gegen Ende eben eine gewaltige Festplatte. Und dazwischen finden sich also selbstgeschriebene Programme für Computer. Es findet sich ein selbstgebauter Synthesizer, es finden sich Musikinstrumente, es findet sich also jede Menge interessanter, früher Hardware. Kittler war ja ein Hardwareromantiker. Und insofern ist das also ein ganz außergewöhnlicher Nachlass. O-Ton 13_HRON Der Synthesizer ist genuin Teil seines Werkes und darauf hat Friedrich Kittler auch schon zu Lebzeiten gepocht. Er hat immer gesagt, ich möchte, dass mein Werk als Ganzes herausgegeben und auch als Ganzes betrachtet wird. O-Ton 14_MARBACH 32:50 (Vorspann mit Geräuschen) Ein altes Tonband sieht man hier. Eine Braunsche Röhre, ein Röhrenradio der Firma Braun. Das ist hier ein äh sehr qualifizierter Verstärker ne. Und hier unten, das ist ja ne Schreibmaschine, sehr flach, merkwürdiges Modell. Das ist schon der Übergang zum Computer diese Schreibmaschine. Aber dieses hier, das ist eine Stenotype, ein ganz merkwürdiges Gerät. Das sieht alt aus. Also ich glaube, dass wir keinen Bestand haben, in dem es so viele technische Geräte gibt, wie bei Kittler. Das entspricht eben seiner Eigenart. SPRECHERIN Und es gibt wohl auch keinen Bestand eines einzelnen Autors, der die Archivare derzeit stärker fordert. Experten werden nämlich in den kommenden Jahren Kittlers Festplatten, seine selbst geschriebenen Programme und selbst gelöteten Schaltkreise auswerten müssen. Doch nicht nur das. Kittlers digitaler Nachlass soll dauerhaft zugänglich gemacht werden. Das Problem: Schon heute können wir eine Diskette von 1997 nicht mehr ohne Umstände lesen: Es gibt schlicht keine Abspielgeräte mehr dafür. Wie soll es angesichts der schnell voranschreitenden Technikentwicklung möglich sein, in dreißig oder gar in hundert Jahren, Kittlers Medien problemlos zu entschlüsseln? Im Alltag werden wir schon bald wieder neue Speichermedien benutzen. Die Marbacher Archivare müssen deshalb einen, wie ihr Direktor Ulrich Raulff das nennt, ?Zoo der elektronischen Kuscheltiere? vorhalten. Mehr als 3,5 Millionen Textdateien, Emails, Bilder und Programmierversuche Kittlers befinden sich zurzeit in Marbach. Wer einmal dort gewesen ist, weiß den elektronischen Nachlass Friedrich Kittler in guten Händen. Doch wozu die ganze Mühe? Wieso muss man selbst die Programmierversuche eines Computerautodidakten über die Zeiten retten? O-Ton 15_ RAULFF Was uns wichtig war, ist dass wir uns gesagt haben, wir müssen diese Leute, diese Pioniere und Philosophen des Medienzeitalters und Praktiker des Medienzeitalters, die müssen wir sammeln. Das sind wichtige Leute, die kommen selbst aus der alten Welt und begleiten den Transfer, bedenken den Transfer in die neue Welt. Die brauchen wir, das sind die Klassiker der Zukunft. SPRECHERIN Das Archiv in Marbach leistet aber nur einen Teil der Erinnerungsarbeit. Für den Nachruhm Friedrich Kittlers steht auch die im Fink Verlag geplante Werkausgabe. Außerdem ist gerade bei Suhrkamp ein Kittler-Lesebuch mit einigen seiner wichtigsten Texte erschienen. Auch bei den Wissenschaftsverlagen beginnt der Medienphilosoph also ein Nachleben zu haben. Der Literaturwissenschaftler Martin Stingelin wurde noch von Kittler selbst zum Herausgeber seiner gesammelten Werke bestimmt. Auch hier haben es seine Erben mit einer speziellen Situation zu tun. O-Ton 16_STINGELIN Die Schriften sind zu Lebzeiten Friedrichs an so entlegenen Stellen publiziert worden, dass sie erst einmal ? als er noch lebte ? viel verschwundener waren als sie da zutage getreten sind. Und man muss die jetzt nicht retten, aber indem man sie natürlich förderlichst und sehr attraktiv publiziert, bringt man sie dem Leser, also man macht?s dem Leser einfach. SPRECHERIN Kittler selbst hatte sein weit verstreutes, aber keineswegs vergriffenes Werk bereits mit Blick auf die Gesamtausgabe unterteilt: in Bücher, Aufsätze, Sendungen, Übersetzungen, Frühwerke, Briefe und ? Codes. O-Ton 17_STINGELIN Das ist, woran wir uns orientiert haben, indem wir nun drei Abteilungen planen: Gesammelte Schriften, Stimmen, Hard- und Software. Was die drei Abteilungen dokumentieren sollen, ist der ungewöhnliche Umstand, dass Friedrich Kittler der vielleicht früheste Geisteswissenschaftler war, der die Medientechnik-historische-Umbruchsituation verkörpert. Kittler hat zeitlebens programmiert. Und diese Programme sind erhalten geblieben, diese Programme werden als Programme im Internet allen denjenigen zugänglich gemacht, die damit weiterarbeiten wollen. SPRECHERIN Studenten sollen also künftig nicht mehr mit einem fragmentarischen Friedrich Kittler Vorlieb nehmen müssen. Die Werkausgabe, die auch Unvollendetes aus Kittlers Spätwerk ?Musik & Mathematik? über die Griechen enthält, soll seine Entwicklung nachvollziehbar machen: die vom Philologen zum Philosophen. O-Ton 18_STINGELIN Kittlers Revolution unseres Denkens besteht darin, dieses Denken auf die Bedingungen seiner Möglichkeit hin zu befragten und die Bedingungen der Möglichkeit unseres Denkens sind die Umstände, wie wir Daten verarbeiten. Erst einmal um 1800 ist es die Alphabetisierung, die vornehmlich die Kinder durch ihre Mütter erfahren haben. Und was immer die Literatur uns schenkt, ist erst einmal ein Gebildetes. Bilder und Töne, die die Literatur uns vermittelt, konnten als solche nicht aufgezeichnet werden, sondern sind uns durch die Literatur als Einbildungen erst einmal geschenkt. 1900 ist es nun plötzlich möglich geworden, Töne und Bilder aufzuzeichnen. Und Töne, Bilder, Buchstaben, alles das, fällt dann im Rechner zusammen. Und dieses Geheimnis, das wollte Kittler buchstäblich ergründen durchs Aufschrauben, durchs Nachgucken, durchs Nachrechnen, durch Nachlöten. Die Materialität der Kommunikation, die Bedingungen der Möglichkeit dieser Materialität, die wollte er aufs Buchstäblichste, aufs Materiellste ertasten, erörtern, ergründen ? das ist der Grund, das Gerät aufzuschrauben. Und man kriegt nirgends besser raus, wie etwas funktioniert, indem man?s nachstellt, indem man?s umpolt, indem man?s umfunktioniert. Das war der Hintergrund. SPRECHERIN Auf solche Zusammenhänge will das Literaturarchiv in Marbach mit speziellen Ausstellungen hinweisen, in denen auch Kittlers berühmter Synthesizer eine Rolle spielen wird. Und auch die Werkausgabe soll mit einer eigenen Website Licht hinter Kittlers Schaltpläne bringen, soll deutlich machen, dass jede seiner Forschungen mit der nächsten zusammenhängt. Tania Hron: O-Ton 19_HRON Am Anfang ist es die Frage nach den Alphabetisierungstechniken von Müttern und Kindern, die miteinander sprechen und schreiben lernen. Das geht dann über die Frage, wer hat eigentlich die Verstärker gebaut? Wo kommen die her, mit denen die Popmusik der 60er Jahre überhaupt erst so groß geworden ist. Da kommt er damit auf die Kriegstechnik. Dann fragt er sich, wer ist denn hinter den Kriegstechniken. Er fragt eben nicht nur, wie sind Massenvernichtungslager verstanden. Versucht nicht unbedingt die Frage zu beantworten, die ja schwer zu beantworten ist, was ist denn das gewesen, das dieses Entsetzliche des Zweiten Weltkriegs produziert hat? Was ist es, was in uns Menschen mordet, stiehlt, betrügt? Sondern er hat sich gefragt, was sind denn die Techniken, mit denen Leute morden, stehlen und betrügen. Und das fragt er sich auch bis zum Schluss mit der griechischen Antike. Was macht denn dort Musik und Mathematik, was sind die Techniken, was sind die Institutionen, was sind die Objekte, was sind die Gegenstände. ATMO_Meer Meeresrauschen, Sirenen SPRECHERIN Erinnern ist ein dynamischer Prozess. Schwer vorauszusehen, welches Bild von Friedrich Kittler sich mit den Jahrzehnten etablieren wird. Möglicherweise wird seine späte Beschäftigung mit der Antike schon in wenigen Jahren eine Rehabilitierung erfahren. Dass es eine tiefe Verbindung zwischen dem frühen Computer-Kittler und dem späten Griechenland-Schwärmer gibt, glaubt nicht nur Tania Hron. O-Ton 20_STINGELIN Man kann in diesem Nachlassmaterial den Stilisten Kittler bei der Arbeit sehen. Und das wird bleiben. Er ist einer der überraschendsten Stilisten des ausgehenden 20. und des beginnenden 21. Jahrhunderts. Und ihn noch bis zuletzt an dieser Arbeit zu sehen, das wird in ?Musik und Mathematik? auch im Nachlass noch bedeutend erhalten. O-Tom 21_HRON Er hat ja einen langen Weg von der Germanistik über die Kulturwissenschaft bis hin zur Medienwissenschaft zurückgelegt, und innerhalb der Ästhetik hieß seine Professur dann, wenn ich mich jetzt nicht täusche, ?Professur für Geschichte und Ästhetik der Medien?. Und am Ende kam er bei der Medienphilosophie an. Und was ist ein Philosoph? Das ist jemand, der die Weisheit liebt, der die Lehre liebt, das Wissen liebt. Und der Kittler ist wirklich sehr stark von dem Motor der Liebe getrieben worden, der Liebe zu Menschen, auch der Ablehnung, und auch von der Liebe zum Wissenwollen. Und ich denke, insofern ist FK sich selbst immer treu geblieben, auch wenn er sich Themen zugewendet hat, die nicht mehr alle nachvollziehen konnten. Und ich glaube, grade so die Generation, die von dem Technik-Kittler total begeistert war, der wirklich unheimlich cool und lässig daherkam und auch sehr mutig, die waren ein bisschen enttäuscht von seiner Griechen-Zuwendung, die ja durchaus so etwas, ja, Altertümliches auch hatte. Aber im Grunde hat er mit seinen Untersuchungen Griechenlands nichts anderes getan als er mit der Untersuchung der Techniken des Raketenbaus und der Raketentriebwerke betrieben hat. MUSIK_Pink Floyd Pink Floyd ?Shine on you crazy Diamond? (im Folgenden Intro unterlegen) ZITATOR (aus einem Vortrag ?Über Musik und Mathematik?) Am Ende des 21. Gesangs der Odyssee spannt Odysseus seinen Bogen. Nur er kann diesen Bogen spannen. Er spannt ihn, er ?stimmt? ihn richtig, wie man ein Saiteninstrument stimmen würde. Das griechische Wort tonós ergibt das deutsche Wort für Ton. Er zupft die Saite und die Saite schwirrt und klingt so schön wie eine Schwalbe. Also hat sich der Bogen, der tödliche Bogen, der im nächsten, im 22. Gesang dann108 Freier das Leben kosten wird, zunächst einmal als Musikinstrument präsentiert. Der Bogen ist sozusagen die Leier. Odysseus kann das eben sehr gut, das Stimmen und das Spannen dieses einmaligen Reflexionsbogens. Und deshalb fällt in diesen 21. Gesang des Odysseus ein Wort, das uns am Herzen liegen sollte: ?Epistamenos?. Er ist ein Wissender, ein Kundiger. Von diesem Kundigsein des Odysseus, der sich mit dem Bogen auskennt und mit der Leier auskennt, von diesem Wort epistamenos leitet sich dann später das griechische Wort episteme ab. Die Wissenschaft. SPRECHERIN Nicht zufällig war Anthony Moore, Co-Komponist bei Pink Floyd, ein enger Freund Friedrich Kittlers. Kittler hat der Rockmusik seiner Jugend mit der Erforschung von Kriegsmedien ein Denkmal gesetzt. Der Pink-Floyd-Song ?Shine on you crazy dimond? ? Leuchte weiter, Du verrückter Diamand ? ist vielleicht umgekehrt das Vermächtnis der Rockmusik an ihren Interpreten Friedrich Kittler. MUSIK _Pink Floyd Pink Floyd ?Shine on you crazy Dimond? jetzt mit Refrain hochkommen SPRECHERIN In einem Leserbrief an die Frankfurter Allgemeine Zeitung hieß es kurz nach Kittlers Tod: ZITATOR Ich habe bei Kittler vor seiner Habilitation studiert. Es war schwierig bis unmöglich, mit Friedrich Kittler eine Diskussion zu führen, da er Argumenten gewöhnlich mit einem enormen Schwall an Assoziationen aus seinen übervollen Zettelkästen zu entgegnen pflegte. Diese Art Gesangs vermittelte dem Lernenden jedoch eine polyphone Erkenntnis: Dass er selbst singen muss. Es muss ja nicht alles wie ein Duett oder Chor klingen. O-Ton 22_KITTLER (aus Sirenen-Feature) 18:00 Und das singen macht Lust und zwar volle Lust/ Trouver la pleine satisfaction de son désir. Und weil Odysseus von den beiden Sirenen das versprochen bekommt, weiß er auch mehr, denn ich denke schon, dass Lust und Wissen dasselbe sind. O-Ton 23_STINGELIN Es ist im Grunde genommen der Versuch, das orgiastische Ereignis der Liebe festzuhalten. ATMO_Meer Meeresrauschen, Sirenen O-Ton 24_STINGELIN Das ist den Griechen in Friedrichs Augen geglückt: Durch wunderbare mathematische Gleichungen, durch berückende Melodien und durch bestrickende Lyrik, das schafft das einundeinzig gleiche Zeichensystem des griechischen Alphabets und es holt vorübergehend das zurück, was überhaupt nur die Liebe eigentlich ermöglicht. Und das war, was Kittler dort gesucht hat. SPRECHERIN Hat er es gefunden? O-Ton 25_STINGELIN Er bestimmt! ATMO_Meer (Musen) Benutzte Literatur - Friedrich Kittler: "Musen, Nymphen und Sirenen. Hörspiel". Supposé Verlag, Köln 2005 - Friedrich Kittler: "Und der Sinus wird weiterschwingen/ Über Musik und Mathematik". Verlag der Kunsthochschule für Medien Köln 2012 - Friedrich Kittler: Rockmusik - ein Missbrauch von Heeresgerät. In: "Short Cuts." Hrsg. Peter Gente und Martin Weinemann, Zweitausendeins, Frankfurt 2002 - Friedrich Kittler: "Musik und Mathematik I. Hellas 1: Aphrodite", Fink Verlag, München 2006 1