COPYRIGHT Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von Deutschlandradio Kultur benutzt werden. Deutschlandrundfahrt "Dichter zwischen den Meeren" Literarische Reise durch Schleswig Holstein Von Susanne von Schenck Sendung: 11. September 2010, 15.05h Ton: Inge Görgner Regie: Roswitha Graf Redaktion: Margarete Wohlan Produktion: Deutschlandradio Kultur 2010 O-Ton Jingle Kennmusik OP 1 Uwe Pörksen, Gerade an der Ostseeküste - es gibt Leute, die sind ganz verliebt in diese Herrenhäuser und besuchen sie so reihum. O-Ton Kennmusik OP 2 Pal Landschaft Das ist die Traumlandschaft. Es ist unfassbar schön, wenn man jetzt gerad hier mit dem Fahrrad rumfährt, es ist richtig paradiesisch. Dafür hält man auch neun Monate Winter aus, um dann darauf zu hoffen, dass man im Sommer etwas von diesem Paradies mitkriegt. O-Ton Kennmusik OP 3 Hab Wortkarg Es ist aber nicht die Landschaft, die das Entscheidende ist an Norddeutschland, inzwischen ist es so was wie die Sprache der Menschen, der Menschenschlag, das schnelle Duzen, das gerade Reden. Man nennt es wohl Wortkargheit, aber das trifft es gar nicht wirklich, es ist nur, dass die Leute nicht lange um den heißen Brei herumreden. O-Ton Kennmusik OP 4 Egge ein Dichter Dass er ein Dichter war - das Wort hatte immer noch, vielleicht hier am Rande der Welt noch mehr als anderswo, einen geheimen Glanz und ein Geheimnis. Das war etwas, ein Dichter. über O-Ton Jingle Kennmusik Sprecher vom Dienst "Dichter zwischen den Meeren" Literarische Reise durch Schleswig Holstein Eine Deutschlandrundfahrt mit Susanne von Schenck Atmo Ostsee und Möwen (Archiv) Autorin "Was willst Du hier? Die Möwe schreit, die Fischer rudern stumm die Kähne", schrieb Detlev von Liliencron 1922. Er ist einer von vielen Dichtern in Schleswig Holstein, die über das Land mit den drei Ws: Wind - Wasser - Weite - geschrieben haben. Dort ließ Theodor Storm den Schimmelreiter über die Deiche galoppieren und Thomas Mann die Buddenbrooks untergehen. Beinahe wäre sogar Johann Wolfgang von Goethe gekommen - nach Gut Emkendorf nahe Rendsburg, das zu Beginn des 19. Jahrhundert als das Weimar des Nordens galt. Allein, der Dichterfürst vermerkt: "Ich find's nicht auf der Karte" und reist dann lieber nach Italien. noch mal Atmo Ostsee und Möwen (Archiv) geht über in M 1 ganz kurz Interpret: Amestoy Trio Titel: Sport et Couture Komponist Gilles Carles Verlag: Daqui, LC 13108 Autorin Über dreihundert Kilometer zieht sich die Ostseeküste Schleswig- Holsteins von Lübeck in Richtung Dänemark, und immer wieder gräbt sich das Meer tief ins Landesinnere ein. Die Orte haben eigenartige Namen: Gammelby, Hüsby oder Süderschmedeby. Anmutig die Landschaft, frisch die Luft, intensiv die Farben: gelb wogen die Felder, grün leuchten die Wiesen, blau strahlt das Meer, und weiß ziehen die Wolken - wenn es nicht gerade regnet. M 1 ff Autorin In Flensburg, kurz vor der dänischen Grenze, versucht Robert Habeck seit Stunden, seinen Fernseher in Gang zu bringen. Atmo Hab. nicht ins Micro Warte mal, oh nee, bitte nicht. Nicht meine Verzweiflung ins Micro, Installation, warte.... Autorin Der Elektriker steigt mit einem Kabel in die erste Etage, Robert Habeck lehnt an der Tür zum Wohnzimmer und hat den Bildschirm im Blick. Der helle Raum ist sparsam eingerichtet: ein dunkelrotes Sofa ist der Blickfang, auf dem Holzfußboden liegen Kissen - alles wäre bereit für einen gemütlichen Fernsehabend. 1 Hab. Fernsehen mit Atmo hinten Es geht um das dänische Programm für meine Söhne, Fernsehen ist so lala, aber da die zur dänischen Schule gehen - nee, ist alles noch, wie es vorher war - ist dänisches Fernsehen ok, ist politisch korrekt, viel Sachkunde. Hätte ich jetzt einen dänischen Sender, wäre alles gut. - super, es wird besser 70, 71, Horst, leg ihn mal quer .... Autorin Robert Habeck ist Anfang vierzig, kräftig gebaut, etwas untersetzt, hat braune, glatte Haare, die Augen kneift er häufig zusammen. Mit seiner Familie ist er vor wenigen Wochen vom Land in die Stadt gezogen - ins Villenviertel von Flensburg. 2 Pal. Taxi Mama 0.56 Eigentlich bin ich der Grund, Autorin sagt Andrea Paluch, seine Frau. ff Pal. Taxi Mama Alle waren zufrieden in Großenwiehe im Dorf. Wir hatten auch ein wunderschönes Haus und alles war ganz toll. Nur fing das jetzt so an, dass die Kinder größer wurden und angefangen haben, sich verschiedene Hobbys zuzulegen, die auch zeitintensiv sind und sich alle in Flensburg abspielen. Sobald die Kinder aus der Schule kamen, fing ich an, Taxi zu spielen, bis abends, teilweise dreimal am Tag nach Flensburg und zurück. Da hab ich gesagt: Wenn wir alle glücklich bleiben wollen, müssen wir unbedingt umziehen, damit jeder sein Ding machen kann. Autorin Per Internet fanden sie das Haus - eine renovierungsbedürftige, geräumige, lichte Villa. Innen sind die Fußböden abgezogen, die Wände verputzt, die Zimmer fast eingerichtet. Atmo Küche Autorin In der Küche schnippelt Andrea Paluch den Salat für das Abendbrot und öffnet ein typisches Flensburger Getränk. Atmo Flens Plopp - Du auch? Ich hab dich gar nicht gefragt. Autorin Dem Haus, zu dem ein großer Garten gehört, fehlt noch ein Außenanstrich. Auch ein Handballkorb, findet Sohn Oskar, acht Jahre alt und, wie viele Flensburger, Handballspieler. Atmo Ball, Garten Autorin. Robert, Andrea, Oskar - das sind drei Mitglieder der Familie Paluch/Habeck. Die anderen drei Jungs, darunter Zwillinge, sind verreist. Und auch Robert Habeck ist viel unterwegs. 3 Hab Haus Es ist schwierig, wenn man so viel weg ist, sein Leben zu begreifen. Insgesamt hat sich durch die Politik das Leben so verändert, dass die Woche unfassbar voll ist. Eigentlich stehe ich morgens 5.30 aufstehen, um die e-Mails vom Vortag abzuarbeiten und bin erst um 23 Uhr durch mit dem Tag. Autorin Robert Habeck ist eigentlich Schriftsteller. Aber vor sechs Jahren schloss er sich den Grünen an, und alles änderte sich rasant: erst wurde er Kreisvorsitzender, dann Fraktionsvorsitzender, und beinahe wäre er in Berlin gelandet. 4 Pal Berlin Wir haben gesagt, wenn er das gerne möchte und ihm das wichtig ist, soll der das tun. Wir geben ihm frei. Es war uns klar, er würde dann nur am Wochenende, wenn überhaupt kommen. Er hat gesagt, er kann das nicht, weil er liegt in Berlin nachts im Bett und weint, er kann uns nicht verlassen. Autorin Auch Andrea Paluch ist Schriftstellerin. Gemeinsam mit ihrem Mann hat sie schon zahlreiche Bücher geschrieben. Die lebhafte Frau mit dem feinem Gesicht, blauen Augen, dunklen, kurz geschnittenen Haaren stammt aus Hannover, er aus Lübeck. Kennengelernt haben sie sich als Studenten. 5 Pal. Freiburg Theater Ich habe Robert in Freiburg an der Uni getroffen, genau gesagt beim Theaterspielen. Wir haben die Panne von Dürenmatt aufgeführt. Das ist eigentlich ein reines Männerstück, und wie das oft so ist, waren wir mehrheitlich Frauendarstellerinnen. In diesem Stück geht es um eine Gerichtsverhandlung. Es gibt einen Richter, einen Staatsanwalt, einen Henker und den Angeklagten. Robert war der Held, der Angeklagte, und ich war der Henker. Und das hat dazu geführt, dass wir uns ineinander verliebt haben. Autorin Erst spielten sie zusammen Theater, dann machten sie sich einen Namen als Lyrikübersetzer aus dem Englischen: mit Werken von Yeats, von Ted Hughes und Sylvia Plath. Und schließlich begannen sie, gemeinsam zu schreiben: Romane für Erwachsene, Kinder- und Jugendbücher, ein Theaterstück. Immer wieder spielen die Landschaft Schleswig-Holsteins und seine Menschen darin eine Rolle. M 2 Interpret: Ry Cooder Titel: Walking away Blues Komponist Ry Cooder Verlag: Warner Bros., LC 00392 Atmo Ostsee und Möwen (Archiv) Zitator Die deutsch-dänische Grenze ist eine schöne Grenze: sie verläuft durch einen Fjord, der sich als Postkarte eignet, schwingt sich über hügeliges Ufer, trennt Äcker, Wäldchen und Wiesen, zieht sich an fischreichen Seen hin und teilt Weideland, auf dem deutsche und dänische Schafe ergebnislos über ihren Unterschied grübeln." Autorin Siegfried Lenz, Blick auf die Grenze, 1980 ( Kahrs 405). Der Schriftsteller lebt heute in Dänemark. Die Schleswig-Holsteinische Landschaft spielt in seinen Romanen eine wichtige Rolle, vor allem in "Deutschstunde" und "Heimatmuseum". M 3 unterlegen Interpret: Tchavolo Schmitt Titel: Seul ce soir Komponist Tchavolo Schmitt Verlag: Le Chant du Monde, LC 00609 6 Groth Wahrnehmung 0.08 Lehmann beginnt so ganz langsam, wenn Sie so wollen, in konzentrischen Kreisen, wahrgenommen zu werden. Aber wir müssen eben Zeit haben. Autorin Nein, es ist nicht der deutsche Torhüter der Fußballweltmeisterschaft von 2006. Nein, auch nicht einer von den Lehmann Brothers. Karl Heinz Groth aus Eckernförde weiß es. 7 Groth großer Sohn Er ist der größte Sohn der Stadt. Vielleicht erkennen das irgendwann auch die anderen Bürger, die im Moment noch ein bisschen zurückhaltend Lehmann gegenüberstehen, (da er ja auch von der Sprache her nicht einfach ist, sperrig. Wer sich mit Lehmannschen Texten befasst, braucht Zeit, Muße, sich mit den gedanklichen Hintergründen dieses sprachlichen Visionärs. Er bemüht eine Sprache, die ich bisher noch nicht kennengelernt habe.) Autorin Wilhelm Lehmann, geboren 1882 in Venezuela, gestorben 1968 in Eckernförde, war Lehrer und Schriftsteller. Und gar kein schlechter. Immerhin erhielt er den Kleist-, den Schiller-, und den Lessingpreis, verkehrte mit vielen literarischen Größen seiner Zeit. Er war Gründungsmitglied der deutschen Akademie für Sprache und Dichtung in Darmstadt, und Alfred Döblin schrieb ihm: "Wissen Sie, dass Ihre Romane auf meinem Regal in der Ehrenreihe stehen?" In der norddeutschen Einsamkeit schrieb Wilhelm Lehmann zahlreiche Romane, darunter "Der Überläufer", in dem er seine Erfahrungen im ersten Weltkrieg verarbeitete. Und "Provinzlärm" - die Geschichte eines Schulleiters, gilt als Schlüsselwerk über Eckernfördes Schulen. Die Stadt und ihr Umland spiegeln sich in vielen seiner Texte. Zitator "Uns schenken sich hier Wunder von Wolken, Weiden, Bäumen, Vogelscharen, langen, vor sich hinspinnenden Chausseen an Gutshöfen vorbei und durch Dörfer, über Heidestrecken und Hügelschwellung. Oft sinkt der Fuß in Sand und die Elster schnarrt. Immer winkt, auch ungesehen, das Meer. Ein heißer Sommer lässt die Bäume früh rosten, ein feuchter belässt sie bis in den Herbst grün.... Mit seiner heidnischen Schönheit wurde dieses Land die Mutter meiner Dichtung." (Lehmann, Einfälle, SW III, 249-253) Autorin Wilhelm Lehmann war ein bedeutender Naturlyriker der 1950er und 1960er Jahre, auf Augenhöhe mit Gottfried Benn. Dann drohte das Vergessen: in den politisierten sechziger Jahren war Naturlyrik nicht gefragt und Wilhelm Lehmann wurde als Idylliker abgestempelt. Hätten nicht rührige Menschen vor sechs Jahren die "Wilhelm Lehmann Gesellschaft" ins Leben gerufen - der Name wäre nur noch Schall und Rauch. Die Gesellschaft macht, was literarische Gesellschaften so tun: Sie veranstaltet Tagungen, gibt das Gesamtwerk des Dichters heraus, hofft auf ein Wilhelm Lehmann Haus in der Stadt und schreibt den Wilhelm Lehmann Preis aus. Karl Heinz Groth, Schuldirektor im Ruhestand und Dichter der niederdeutschen Sprache, gehört zum Vorstand. 8 Groth Platt kann Lehmann nicht Eckernförde.. ich hev versucht mal ruutzufinden... Lehmann het mit plattdütsch überhaupt nichts an Hut het. Autorin Der Mann ist ein richtiges Nordlicht, klar, kantig, geradeheraus. Das karierte Hemd unter dem hellen Anzug lässt einen zupackenden Typen vermuten. In Eckernförde kennt er fast jeden. Moin moin, grüßt er, während der Verkehr vorüberrauscht. 9 Groth Verkehr Es ist fürchterlich, fürchterlich. Also, das verleidet einem, der außerhalb Eckernfördes wohnt, doch den täglichen Besuch Eckernfördes. Die Verkehrssituation ist nicht beruhigt, es sieht auch nicht so aus, als ob sich das ändern würde. Das ist ein Nadelöhr hier, auf der einen Seite das Noor, auf der anderen die Ostsee, und hier durch schlängelt sich nun täglich ein Verkehr von über 19.000 Autos. Autorin Wo nicht die Autos vorbeidonnern, da wird gebaut. An der Nikolaikirche ist es zwar ruhiger, dafür ist aber neben dem Marktplatz die Straße aufgerissen. In direkter Nähe zum neuen Rathaus liegt das alte - ein für die Region typischer Backsteinbau. Und davor steht, kaum zu sehen, eine Bronzebüste. Ja, er ist's: Wilhelm Lehmann. Streng und vergeistigt schaut der vergessene Dichter über den Platz, als könne er dem bunten Treiben dort gar nichts abgewinnen. Wilhelm Lehmann wirkt nicht unsympathisch, aber auch nicht so, dass einem gleich das Herz aufgeht. 5 Lehmann (OT bei Länderreport) Ich hätte gern in der sogenannten besten Zeit des Mannes zwischen dem vierzigsten und fünfzigsten etwas mehr Zuspruch gehabt. Autorin sagt der Dichter in einem Interview des NDR, das Siegfried Lenz 1962 mit ihm führte. M 3 Tchavolo Schmitt noch mal hoch Autorin Karl Heinz Groth ist inzwischen vor dem Baulärm in die kleinen, beschaulichen Gassen Eckernfördes geflüchtet. Da sind die Sträßchen noch gepflastert, die Häuser meist eingeschossig und hin und wieder etwas windschief. Zahlreiche Radfahrer sind unterwegs. Manch einer grüßt Karl Heinz Groth, der sich auf einem Bänkchen vor einer Hauswand niedergelassen hat. 13 Groth West-Ost Wir haben immer das Gefühl, dass es ein Kulturgefälle gibt und zwar von Ost nach West. Das heißt, die Westküste ist Jahrhunderte lang immer ein bisschen zu kurz gekommen, was die Versorgung mit Kultur anlangte. Das hat einen einfachen Grund. Wenn wir einmal die gesamte Ostküste entlang wandern, dann sehen wir viele Gutshöfe und Schlösser, die haben wir an der Westküste nicht. Das heißt, die Adligen haben sich hier über den Winter aufgehalten und haben im Gefolge Kultur mitgebracht. Die Lebendigkeit einer solchen Stadt, die finde ich vielleicht noch in Husum, vielleicht. Autorin Theodor Storm hat Husum ein Denkmal gesetzt, als "graue Stadt am Meer" - obwohl es dort eigentlich gar nicht grau ist. Im Vergleich mit den Orten der Westküste bieten Städte wie Kiel, Lübeck oder Flensburg kulturell mehr. 14 Groth wortkarg Ja, die Landschaft ist lieblicher, das hat auf jeden Fall Einfluss auf das literarische Schaffen. Das Schwerblütige, das Weite der Westküstenlandschaft, wo Sie gucken, gucken, gucken können, ohne irgendwo eine Menschenseele zu sehen. Da fällt es auch schwer, dass man sich vorstellen kann, dass dort Dialogisches passiert, Menschen sprechen nicht miteinander. Im Dithmarschen, aus dem Bereich, aus dem ich komme, haben die Menschen ganz wenig miteinander gesprochen: Gespräche morgens am Frühstückstisch mit meinen Eltern, die waren so knapp, dass man sagen konnte: jo, nee, hätst det wußt, hätst det hört - das war alles, das waren Gespräche, Dialoge, die einen ganzen Tag bestimmt haben. Autorin Karl Heinz Groth jedenfalls hat sich von dieser Wortkargheit befreit. M 4 kurz Interpret: Amestoy Trio Titel: Paquerette Komponist Gilles Carles Verlag: Daqui, LC 13108 Autorin Wer sich auf Wilhelm Lehmanns Spuren begibt, begegnet vor allem ergrauten Häuptern. Zum Beispiel Marlies Egge. Atmo Klingel (Archiv) Autorin Sie wohnt in der Liliencronstraße 10: neunzig Jahre alt, adrett, flink und mit festem Händedruck, Typ Lehrerin mit Herz und Strenge. Ihre Eltern erbauten das rote Klinkersteinhaus, in dem sie die meiste Zeit ihres langen Lebens verbracht hat. In der Liliencronstraße wohnte seinerzeit übrigens auch Wilhelm Lehmann - mit Blick direkt auf die Ostsee. 39 Egge Nachbar Als kleines Mädchen, als ich noch nicht seine Schülerin war, ging ich auch oft vorbei, er potterte im Garten herum, mit Erde und Pflanzen, man konnte nie recht sehen, ob es was Nützliches war, aber es war sicher sehr wichtig. Ich knickste vor ihm, wie man das damals tat, und er grüßte freundlich zurück. Und wenn ich ihn mir heute vorstelle, stelle ich ihn eher als meinen Nachbarn und Spaziergänger vor als meinen Lehrer. Denn ich habe ihn sehr häufig aus seinem Gartentor auf die Straße schreiten sehen, dann wandte er sich nicht nach rechts zur Stadt, sondern ins Land hinein nach links und ging über ein paar Sandwege. Und da war er denn völlig allein mit sich und der Natur, und das war ja, was er liebte. Autorin Vermutlich fand er immer etwas zum Bedichten, wenn er mit Stock und Stift losstiefelte. So wie im folgenden Gedicht. M 5 Interpret: Chet Baker Titel: Lullaby of the Leaves Komponist Bernice Petkere Verlag: Blue Note, LC 00133 Zitator "Leiser Herbstwind Der Wegstaub pudert die Malven, Es kraust sich die Wolle am Lamm. Der Wind ist die Puderquaste, Der Wind der zärtliche Kamm. Es summt in den leeren Linden Wie Bienengeisterschar, Die Stirn streift Spinnenfaden, Oder ist es mein eigenes Haar? Ich bin schon halb vergangen, Das Auge wird mir dumm, Auf den wespengelben Stoppeln Geht ein Gestorbener um. Der Wind nimmt mich auf den Rücken, Ich bin ihm nicht zu schwer; Hase und Maus und Amsel Fliehen vor mir nicht mehr. Mit dem Winde staub ich die Malven Und krause die Wolle dem Lamm, Ich bin die Puderquaste, Ich bin der flüchtige Kamm." Autorin Eckernförde war noch ein kleines Fischerdorf, als Marlies Egge Schülerin bei Wilhelm Lehmann war. Hinter Hamburg, spätestens hinter Kiel, hörte damals die Welt auf, und Eckernförde lag an ihrem Rand. Kultur war etwas, was bestaunt wurde. Von 1923 an unterrichtete Wilhelm Lehmann fast ein Vierteljahrhundert an der Jungmannschule in Eckernförde. Er sei fast immer ruhig und gelassen gewesen, erinnert sich Marlies Egge. 40 Egge Unterricht Wir hatten 36 Kinder in der Klasse, in der Quarta, und da geschah es im Verlauf der Stunde schon, dass es mal laut wurde und Lehmann tat dann das, was die Lehrer meistens nicht tun: er sprach immer leiser, so dass man hinten wirklich nicht mehr hören konnte, was er sagte. Und dann gingen wir alle nach vorne. Wir ahnten natürlich nicht, dass wir einem Dichter zuhörten, aber wir hörten zu, bis er mit einer Bewegung seiner Hand uns dann auf die Plätze zurückverwies, mit seiner schönen Hand, denn er hatte so schöne Hände, das wusste er auch. Und dann saßen wir wieder wie es sich gehört. Autorin Wilhelm Lehmann, der in Straßburg, Tübingen, Berlin und Kiel Philosophie, Naturkunde und Sprachen studiert hatte, hatte einiges von der Welt gesehen. Unter seinen Kollegen war der Dichter ein Außenseiter und musste viel Spott einstecken. Das Unterrichten war ihm vor allem Broterwerb. Dennoch war er ein anspruchsvoller Deutschlehrer, der litt, wenn seine Schüler schlechte Aufsätze schrieben. "Ich wäre an Ihrem Text fast gestorben", soll er einmal zu einem Jungen gesagt haben. 41 Egge ein Dichter Dass er ein Dichter war - das Wort hatte immer noch, vielleicht hier am Rande der Welt noch mehr als anderswo, einen geheimen Glanz und ein Geheimnis. Das war etwas, ein Dichter. M 6 kurz Interpret: Amestoy Trio Titel: Rural Swing Komponist Gilles Carles Verlag: Daqui, LC-Nr. 13108 Zitator "Sicher sieht es in Kalifornien anders aus, aber auch unsere kleine norddeutsche Welt hat ihre Vorzüge. Wir liegen nicht unter Palmen, sondern unter umweltfreundlichen Windrädern." Autorin Jurek Becker an Manfred Krug, geschrieben in Sieseby, nahe Eckernförde. Dort verbrachte der Schriftsteller von 1990 bis zu seinem Tod 1997 seine Urlaube. Atmo Autofahrt Autorin Baustellen über Baustellen - wie überall im Land werden auch in Schleswig Holstein die Straßen repariert. Dazu Müllautos, Traktoren, Lastwagen - die Fahrt von Eckernförde nach Cismar dauert Stunden. Cismar liegt östlich von Lübeck auf der Wagrischen Halbinsel. Dort lebt Doris Runge. 15 Run im Haus mit Mann Ich bin jetzt 34 Jahre in diesem Haus, also bodenständig. Das ist mein Mann, der kommt gerade um die Ecke - du brauchst nicht zu flüchten .... Wir haben einen Gärtner, der interessiert sich immerhin für klassische Musik, das ist doch schön. M 7 Interpret: Panocha Quartett Titel: Allegretto scherzando aus: Bagatellen für zwei Violinen, Cello und Harmonium Komponist Antonin Dvorak Verlag: Supraphon, LC 00358 Autorin Doris Runge hat es gerne schön: schön im alten dänischen Amtschreiberhaus, in dem sie wohnt, schön im Garten mit den prachtvoll sich rankenden Rosen, schön auf den antiken Kommoden, auf denen an flämische Stillleben erinnernder Blumenschmuck neben englischen Lederausgaben mit Goldschnitt prangt. (Hier lebt ein Mensch mit Sinn für Raum, für Ästhetik, für Stil - und Zeit, um sich den angenehmen Dingen des Lebens zu widmen.) 16 Run Ged. WG WG im dänischen amtschreiberhaus am tage verwalte ich sorge versorge sorge vor lege ab und an, fege staub den die nachtschicht aufwirbelt Die unsterblichen fliegen gegen alle klatschen gefeit aus altem geschlecht dänisch schätze ich wie die verblichenen buchhalter mit ärmelschonern meine geschichte verwischen penetrant und penibel alles vermischen. nacht für nacht legt mir eine unerlöste seele ihr gebrochenes herz ans herz als wär's mein eigenes Autorin Doris Runge ist Lyrikerin. Sie ist eine zierliche, gepflegte Frau mit mittellangem, braun-rötlichem Haar und auffallend blauen Augen, die gebogenen Wimpern sind dunkel getuscht. 1943 kam sie in Mecklenburg zur Welt und erst spät, mit 42 Jahren, zur Lyrik. Ihre meist reimlosen Gedichte sind knapp formuliert und doch musikalisch. Sie schreibt über das Landleben, das Meer, die Mönche, die Liebe, über Promenadenbänke und den Hafen: kein Wort zuviel, keines zuwenig. 17 neuer Ton in Gedichten Ich denke schon, dass ich mit der Lyrik meine Form gefunden habe, obgleich meine Gedichte, die neuen, jetzt ein wenig anders sind. Ich war ein bisschen so festgelegt auf die äußerste Reduzierung und auf bestimmte Stilmittel, die ich immer wieder benutzt habe. Und ich habe jetzt mal versucht, ein klein bisschen einen anderen Ton reinzubringen. Vielleicht auch, weil man im Laufe des Alters auch geschwätziger wird. M 8 unterlegen Interpret: Javier Perianes Titel: 4 Impromts D899 Komponist Franz Schubert Verlag: Harmonia Mundi, LC 00761 Run Gd Promenadenbank Promenadenbank Sie ist die letzte in der Reihe der Lackweißen und blättert ab besitzt den Außenposten das Ende des zivilisierten Wegs angrenzend schon wildes Camperland Sie schaut wie alle aufs Meer Sie wartet wie alle Promenadenbänke auf Flaneure in weißen Leinenschuhen und gestreiften Sommeranzügen Sie ist begehrt unbeleuchtet und immer noch stabil. Autorin Sechs bis acht mal im Jahr öffnet Doris Runge ihr "Weißes Haus" für andere Schriftsteller. Dann lesen Autoren aus ihren Werken, und im Anschluss steht man in der Küche bei einem Glas Wein zusammen. Cees Nooteboom oder Lars Gustafson waren schon unter ihren Gästen. Das "Weiße Haus" liegt direkt neben der alten Klosteranlage von Cismar. Die entstand im 13. Jahrhundert und ist das größte mittelalterliche Kloster Ostholsteins. Seine Gründung verdankt es einer pikanten Geschichte. 18 Run Mönche vorne Atmo Schritte (schon unter Text)... Die Mönche, die hier landeten, sind die Strafversetzten, sie hatten die Nächstenliebe zu wörtlich genommen und haben die Fischerfrauen etwas mehr betreut, und das hat man nicht so gut gefunden. Deshalb mussten sie in die Einöde nach Cismar, was sie sehr entsetzt hat, denn hier war nichts. Aber dann haben sie eines der schönsten Klöster unserer Region hier aufgebaut. Autorin Doris Runge ist in das Kellergewölbe der einstigen Klosteranlage hinabgestiegen. Dort befindet sich die heilkräftige Johannisquelle, mit der die Mönche einst viel Geld verdienten. Eine Heilig-Blut-Reliquie tat ein Übriges, um die Kassen zu füllen. Als sich allerdings herausstellte, dass es sich dabei lediglich um ein zusammen gewickeltes Stück Purpurseide handelte, blieben die Pilger aus, die Gebäude verwaisten... 19 Run Kloster verändert Als wir hierher kamen, gab es gar nichts, es gab weder Tourismus, die Einheimischen hatten ihr Kloster auch ein wenig vergessen. Es war alles verfallen, es gab keine heilen Fensterscheiben in diesem Gebäude. Und es ist nach und nach wiederentdeckt, restauriert und mit Leben belebt, durch die Ausstellungen, das kleine Cafe. Autorin Das Kloster ist von einem Wassergraben umschlossen. Der Weg in die benachbarten Wallanlagen und Klosterseewiesen gehört zu den täglichen Spaziergängen von Doris Runge. 20 Run Schuhe Highheels Alles da, Schuhe wechseln, hier ist es so abschüssig, ich gehöre ja zu der Generation, die mit Highheels auf die Welt gekommen ist, und die das mit den flachen Schuhen erst wieder lernen muss. Atmo Wind im Schilf Autorin Gleich hinter den Klosterseewiesen ahnt man die Ostsee. Wenn der Nebel auf ihnen steht, bilden sie mit dem Meer fast eine Einheit. 21 Run Landschaft Ja, ich glaube, dass Mensch und Landschaft irgendwann eine Art von Symbiose eingehen, und das ist mir sicher im Lauf der vielen Jahre, die ich hier lebe, passiert. Die Landschaft ist auch ein Teil von mir, ich fühle mich in ihr zuhause, ich wüsste nicht, wie ich anders leben und schreiben könnte. Ich muss mich hineinhören in das, was sie mir erzählt, das ist durchaus ein Zwiegespräch mit der Landschaft, was hinterher im Text sichtbar wird. M 9 unterlegen Interpret: Javier Perianes Titel: 4 Impromts D899 Komponist Franz Schubert Verlag: Harmonia Mundi, LC 00761 OT Run Gedicht Watt 0.24 "Ich sah sie übers wasser gehen In gummistiefeln In reih und glied ein vielbeiniger wattwurm mit gelber regenhaut ich hörte den schmatzenden gurgelnden grund ich sah einen fänger in der luft mit silberner beute ich seh ein gefräßiges grau landeinwärts kriechen." M 9 Atmo Meer (Nordsee, Wind) - Archiv Zitator "Jetzt aber kam auf dem Deiche etwas gegen mich heran; ich hörte nichts; aber immer deutlicher, wenn der halbe Mond ein karges Licht herabließ, glaubte ich eine dunkle Gestalt zu erkennen, und bald, da sie näher kam, sah ich es, sie saß auf einem Pferde, einem hochbeinigen hageren Schimmel; ein dunkler Mantel flatterte um ihre Schultern, und im Vorbeifliegen sahen mich zwei brennende Augen aus einem bleichen Antlitz an. Wer war das? Was wollte der? - Und jetzt fiel mir bei, ich hatte keinen Hufschlag, kein Keuchen des Pferdes vernommen; und Ross und Reiter waren doch hart an mir vorbeigefahren!" Autorin Theodor Storm "Der Schimmelreiter" Atmo Möwen, Wind (Archiv) Autorin Das hat es immer wieder gegeben: Dass literarische Stoffe neu bearbeitet werden und die alten Meister Pate stehen. Die Schriftsteller Robert Habeck und Andrea Paluch haben "Hauke Haiens Tod" vor zehn Jahren im Duett geschrieben und die Handlung ins ausgehende zwanzigste Jahrhundert verlegt. In ihrem spannenden "Heimatthriller" betreten die düsteren Nebenfiguren aus Theodor Storms dramatischer Novelle "Der Schimmelreiter" nun noch einmal die Bühne der Literatur, an der Westküste Schleswig Holsteins. 31 Hab Land im Schreiben Schleswig-Holstein spielt eine nicht zu unterschätzende Rolle in unseren Büchern. Nicht alle spielen in Schleswig Holstein, einige explizit, "Hauke Haiens Tod" offensichtlich, ne Adaptation des Schimmelreiters offensichtlich. Oder auch "Zwei Wege in den Sommer" atmet sehr diesen Schleswig-Holsteinischen Sommer. Aber vom Lebensgefühl der Menschen, diesem Leben am Wasser, den langen Sommerabenden schwingt diese Stimmung durch. Atmo Möwen, Wind oder Watt (Archiv) Autorin Das ist die Landschaft: weit, mit Häusern auf maulwurfshügligen Warften, wo die Ortschaften seltsame Namen haben: quillt nicht bei Wobbenbüll oder Bottschlottersee förmlich der schwarze Schlick zwischen den Lauten hervor? Und da könnten sie herkommen, die Iven Johns, Ole Peters' oder Trine Jans: aus den engen, mit Eternit verkleideten Häusern in der Hattstedter Marsch, wo Satellitenschüsseln die weite Welt in die Küchen holen, während Muttern in karierter Kittelschürze mit ihrem Mann streitet. Dort könnten sie vor ihren Schnapsgläsern hocken: im schlecht renovierten Schimmelreiter-Krug gleich hinterm Deich. Es ist eine ganz andere Landschaft als an der Ostküste, sagt Andrea Paluch. 32 Pal West-Ost Bei "Hauke Haiens Tod" haben wir noch nicht hier gewohnt, da wohnten wir in Lüneburg, binnenlands, da haben wir die graue Stadt am Meer Stormsche Stimmung beschrieben, zwar großer Himmel, aber trübe, öde, und so. Und tatsächlich ist es so, dass die Landschaft geteilt ist, hier in Flensburg und westlich davon ist Angeln, da ist diese hügelige, besonders schöne anmutige romantische Landschaft, dann gibt es den Geestrücken, wo eigentlich nichts ist außer Maisfeldern und geraden Straßen. Und die Marsch, die dann wieder besticht, dadurch, dass da gar nichts ist, dass das Land unter Null liegt und man nur noch Wolken sieht, keine Landschaft mehr, das sind hier ziemliche Extreme, die sich hier finden lassen und die es ziemlich reizvoll machen, hier zu wohnen. Atmo Möwen, Wind (Archiv) Autorin Wortkarg sind die holzschnittartigen Figuren von Andrea Paluch und Robert Habeck, kommunikationsgestört und auch verstört. Rohe Gesellen, die fast alle Dreck am Stecken haben. Die naive, leicht verwirrte Wienke, die etwas über ihren toten Vater Hauke Haien erfahren möchte, ist ihnen mit der Fragerei ein Dorn im Auge. Das Mädchen stört, und einer schickt die Ahnungslose hinaus ins Watt. M 10 Interpret: Bob Dylan Titel: Cantina Theme Komponist Bob Dylan Verlag: Sony BMG Music, LC 13989 darauf Zitator Die Nordsee war jetzt überall, quoll aus dem Boden, lief aus allen Richtungen heran. Der Priel war überspült und nur noch an der braunen Färbung zu erkennen, wo die Strömung den Sand aufspülte. Vor Wienke zog der Schlammstrom eine Schleife. Sie wurde vom Strand abgeschnitten. Sie begann zu laufen. Sie musste schneller sein als das Wasser. Autorin Andrea Paluch und Robert Habeck verstehen sich als Team und haben das gemeinsame Schreiben in ihren Alltag integriert. Ihre Bücher entstehen am Küchentisch. Dort diskutieren die beiden nächtelang. 33 Pal jedes Wort Eigentlich entstehen unsere Texte mündlich. Wir unterhalten uns darüber, was wir machen wollen, was für ne Gattung was für Helden, ganz grob. Wir halten alles fest, es wird alles notiert, aber es ist zettelartig. Wir lesen uns diesen Fließtext, der stilistisch keine Gültigkeit hat, vor und sehen, was passieren soll und bringen ihn dann in die für uns sprachlich schöne Form. Wir lesen uns den Text so oft vor, bis niemand mehr was mäkelt und dann ist er fertig. Autorin Im Lauf der Jahre haben sie ihre Zusammenarbeit perfektioniert. Das Eigene geht dabei restlos im Gemeinsamen auf. Kein Problem, betonen beide, offenbar frei von schriftstellerischen Eitelkeiten. Ein neuer Ton entsteht. Der sei ihr Markenzeichen, sagt Andrea Paluch. 34 Pal Def. des Tons 0.23 Der ist einerseits manchmal sehr knapp und präzise und pointiert, andererseits manchmal auch sehr rührend. Manchmal kommt es mir vor wie eine Wanderung auf dem schmalen Grad zum Kitsch, zu Tränen rührend, das finde ich besonders an dem Paluch/Habeck Ton. Autorin Aber seit Robert Habeck in die Politik gegangen ist, hat er keine Zeit mehr, Bücher zu verfassen. Schade, sagt seine Frau. Schade, sagt auch der überzeugte Grüne, und vermisst das Schreiben. 34 Hab. vermisst Schreiben Ja, das tue ich sehr und bilde mir auch ein, dass es irgendwann kein Verlust ist, Politiker sein zu können, sondern dann wieder Bücher schreiben zu können. Das merke ich schon sehr, dass diese Allmacht über Figuren und Stoffe ne ganz andere Form von Freiheit oder Kreativität darstellt als jetzt die Politik. Atmo Musik Paluch live einblenden Autorin Andrea Paluch wird vorläufig allein schreiben. Aber genaugenommen wollte sie nie Schriftstellerin werden. Ihr Traum war Musikerin. Jahrelang spielte sie Querflöte. 35 Pal. Rockmusik Von der Querflöte habe ich umgesattelt auf Rockgesang. Ich singe jetzt hier in einer Rockband. Autorin wie hier zu hören, mit dem Song "Ambivalence" 35 Pal. Rockmusik ff Und Musik machen ist ziemlich arbeitsaufwendig und speziell mit anderen. Ich hab zwar nicht vor, damit Geld zu verdienen, aber schon, damit an die Öffentlichkeit zu gehen und dass ist sehr aufregend und ist halt meine Perspektive. Musik Paluch geht über in Atmo Ostsee und Möwen (Archiv) Zitator "Sonne strahlendrot, Himmel strahlendblau, die Förde strahlendgrau, auch kein Fluss mehr wie einfach nur Elbe, sondern richtig offene See, weites Meer." Autorin Peter Rühmkorf (687). Der Schriftsteller hatte seine letzten Lebensjahre in einer Bauernkate im Lauenburgischen in Schleswig-Holstein verbracht. Vor zwei Jahren ist er dort gestorben. Atmo Schritte Autorin Gut Hemmelmark liegt wenige Kilometer von Eckernförde entfernt. Ein gepflegtes Herrenhaus, das an einen englischen Landsitz erinnert. Ein Mann streicht die Fenster, das schmiedeeiserne Portal des Torhauses ist verschlossen. Die Anlage ist im Besitz eines Amerikaners und nicht zu besichtigen. Atmo Mähdrescher Autorin Nur ein Mähdrescher stört die morgendliche Ruhe, und hin und wieder fährt ein Auto vorüber. Der Weg führt hinunter an die Steilküste. 22 Pörksen Heinrich Das Gut war berühmt durch den Prinz Heinrich, den Bruder Wilhelm II., des Kaisers, und er besuchte ihn, der Kaiser, einmal im Jahr mit seiner Jacht, die ja lag hier vor Borby, vor der Nordküste von Eckernförde. Autorin Uwe Pörksen, emeritierter Professor für Germanistik, lebt in Freiburg. Die Sommermonate verbringt er in seiner Schleswig-Holsteinschen Heimat. Den Weg an Hemmelmark vorbei hinunter zum Meer ist er schon entlang gewandert, auf den Spuren von Wilhelm Lehmann. 23 Pörksen Hemmelmark Das Gut war ein sehr beliebter Ausflugsort und auch ein Platz, an dem Wilhelm Lehmann sehr häufig vorbeigegangen ist, um hier dann an der Küste zu wandern. Er ging jeden Nachmittag, nachdem die Schule hinter ihm war, schon um 14 Uhr nach draußen. Er war ein Geher, ein Gehtyp, wie er sagte. Autorin Und da kommt Dagmar Weinberger. 24 Weinberger kommt Tag Frau Weinberger.- Wir haben uns ja schon hin- und wieder gesehen. - Ja, ich kenn Sie schon, das Gesicht. Sozusagen ja. Autorin Mit ihrem blau-weiß geringelten Matrosenshirt passt sie an die norddeutsche Küste. Dagmar Weinberger ist Anfang sechzig, hat kurze graue Haare, ein feines Gesicht, schmale Lippen, und photographiert mit Begeisterung. Sie ist redselig und entspricht ganz und gar nicht dem Klischee der wortkargen Norddeutschen. 25 Wbg Landschaft Wenn wir jetzt mal von hier in die Landschaft gucken - nur leider ist der Mähdrescher da vorne, der Krach macht, wenn wir ihn uns wegdenken, dann haben wir diese wunderbare geschwungene Waldlinie vor uns, und hinter uns rauscht die Ostsee. Es gibt ein feines Zitat bei Wilhelm Lehmann: Denken wir in Gerüchen. Und wenn ich photographiere, mein Bild, dann weiß ich, so, der Mähdrescher fuhr da, und hinter mir plätscherte die Ostsee. Autorin Ihre Bilder sind inspiriert von den Schriften Wilhelm Lehmanns, und wenn die Sprache auf dessen "Bukolisches Tagebuch" kommt, leuchten ihre Augen hinter den Brillengläsern auf. 26 Wbg philosoph. Reduktion Wenn Sie im Bukolischen Tagebuch lesen, dann ist es immer ein Kombination von Naturbeschreibung in diesen wunderbaren Bildern, aber auch dann ganz tiefe philosophische Erkenntnisse, die sich daran anschließen. Es gibt zu einem Datum einen Text, der schließt damit: "Alles existiert, weil es wunderbar ist." Und dieses kann man so als Lebensmotto sehen, damit kann man mit offenen Augen durch die Welt ziehen und sich alles anschauen, alles Wunderbare anschauen, was es gibt und alle müssen sich bemühen, das zu erhalten. Autorin Wilhelm Lehmanns schrieb seine Skizzen und Miniaturen ursprünglich für die Sonntagszeitung 'Die Grüne Post'. Tagebuchartig hält er fünf Jahre lang, bis 1932, minutiös und subtil Schilderungen der Vorgänge in der Natur fest, vor allem in der Landschaft um Eckernförde. M 11 Interpret: Dominic Miller Titel: Lyres String Komponist Dominic Miller Verlag: Q-Rious Music, LC 12228 "Silberne Weide gleicht Einer Olive. Leicht Wie sie die Blätter rührt, werde ich südwärts geführt. ... Aus dem zaudernden Dunst Hebt eine himmlische Gunst Ostsee, glycinenblau, Und italienische Stadt." Nein, es ist keine Naturschwärmerei! Wilhelm Lehmanns Impuls ist die Sehnsucht nach Vertrautheit und Verbundenheit mit dem Dasein, mit der Welt. Für ihn, traumatisiert vom ersten Weltkrieg und seiner Zerstörungskraft, ist die Natur mit ihrem Werden und Vergehen alles. 27 Pörk. Naturlyriker, an meinen Sohn Das erste Gedicht, das er gelten ließ von den Gedichten, die er schrieb, das ist "An meinen ältesten Sohn"... Autorin sagt Uwe Pörksen ff 27 Pörk. Naturlyriker, an meinen Sohn ...Es stimmt alles, was er schreibt, und es ist trotzdem ein reiner Klang. Es stimmt, dass, wenn die Winterlinde geblüht und die Sommerlinde anfängt, dass dann die Vögel, die Ornithologen sagen, heimlich werden, nicht mehr singen. Sie hören jetzt auf. Oder: es stimmt, dass die Schwalbenwurz, also diese Pflanze, auf Kalk wächst. Oder dass es Goldammern gibt, die haben diesen langen Laut ziiiii, bei denen dieses letzte ziiiii fehlt. Und das Gedicht heißt: An meinen ältesten Sohn: "Die Winterlinde, die Sommerlinde blühen getrennt. In der Zwischenzeit, mein lieber Sohn, geht der Gesang zu End. Die Schwalbenwurz zieht den Kalk aus dem Hügel, mit weißen Zähnen Ich kann es unter der Erde im Dunkeln sehen. Ein Regen fleckt die grauen Steine. Der letzte Ton fehlt dem Goldammermännchen zum Liede, sing du ihn, Sohn." Musik 11 unterlegen Autorin Brombeerranken und Vogelzwitschern, durchs Kornfeld streift ein leichter Wind, und in der Luft liegt der salzige Geruch der Ostsee. Es geht nur langsam voran. Der Weg ist das Ziel ist, die Zeit steht still, die Stadt ist weit weg. 28 Pörk. Zeit nehmen Da gibt es ein Gedicht, worin er jemand zitiert: du hättest anderes zu tun, sagt er. Da sagt er, ich hab nichts anderes zu tun, ich habe Zeit, ich nutze sie. Es ist schon wahr, es ist ein Mensch, der Zeit hat, Zeit ist eines seiner Themen. Grundsätzlich könnte man sie haben, wir haben sie tatsächlich sehr oft nicht, wir nehmen uns die Zeit nicht, obwohl sie daliegt. Autorin Auf den Spuren Wilhelm Lehmanns: Die Wanderung von Hemmelmark nach Hohenstein ist sechs Kilometer lang. Der Verfasser des "Bukolischen Tagebuchs" hat keine Ortsnamen genannt, aber alles beschrieben: Das Gutshaus, den Weg zum Strand durch den Wald, die Steilküste, die Scheune vom Gut Hohenstein. Atmo Ostseerauschen Musik 11 hoch Autorin Sie gehen und stehen, rezitieren und schauen: Dagmar Weinberger und Uwe Pörksen. Der Strand ist trotz des schönen Endsommerwetters menschenleer. Am Horizont gleiten ein paar Segelboote vorüber, im Sand liegen ausgebleichte Baumstämme, und natürlich kreischen Möwen, ohne die kein Ostseetag vergeht. Sonst ist es still. 29 Pörk. Wbg. Dialog über Lehmann Einer, der auf die Fragen des Daseins keine Antworten weiß, wandere, sie zu suchen. Das ist dieses Nachdenken im Gehen. Und ich finde, wenn man heute Leute anguckt, es gibt so viele Leute, die sind so fertig, die wissen alles, können alles, haben auf alles Antworten. Und ich bin eher so veranlagt, ich gucke mit beiden Augen in die Welt und ich habe noch so viele Fragen an das Leben und an die Welt und deswegen kommt mir das auch so entgegen. - Die gefällt mir deswegen so gut, weil ihn das von den Autoren, die die Antworten wissen, völlig unterschied, von den Nachkriegsautoren, die die Antworten wissen, war er meilenweit entfernt. Er wollte das Vorletzte, er nannte es das Vorletzte, das Rauschen, nicht das Letzte, nicht die allerletzten Dinge. M 12 Interpret: Angela und Jennifer Chun, Nelson Padget Titel: Sonatina for two violons and piano Komponist Bohuslav Martinu Verlag: Harmonia Mundi, LC 00761 Atmo Ostsee und Möwen (Archiv) Zitatorin "Die wahre Herrschaft aber gebührt den Winden. Allen voran den Westwinden. Die große Schwester der Ostsee schickt sie seit Jahrtausenden von Küste zu Küste, die Nordsee kann von der Ostsee nicht lassen. Was die Eiszeit trennte, fügen die Winde wieder zusammen." Autorin Karin Reschke, Von Schleswig nach Holstein (S. 21). Die Skizzen und Miniaturen der Berliner Schriftstellerin ergeben ein eigenwilliges Porträt des weiten und flachen Landes im Norden. 42 Atmo Wall 1 Schritte unter Text lassen So, und jetzt gehen wir mal rüber, Nils, wo bist du? Jetzt bist du wieder dran..... Autorin Das Danewerk, nahe Schleswig, ist ein mächtiger Verteidigungswall. Vermutlich um 700 entstanden, erbauten die Dänen diese Befestigungsanlage gegen Sachsen und slawische Stämme. Es gilt als das größte archäologische Denkmal Nordeuropas. 43 Wall 2 Also, man sieht jetzt ja nur eine Ruine - Ich war mal in Athen, da haben die mich gleich runtergebürstet von der Akropolis, als ich die Mauer berührt habe - Das ist hier anders, hier gehört sich das, dass jeder Besucher mal dieses historische Relikt anfäßt.... Autorin Robert Habeck ist auf Sommerreise in Schleswig Holstein unterwegs. Claus von Carnap-Bornheim vom Archäologischen Landesmuseum Schleswig und Nils Hardt, Leiter des Danevirke Museums, begleiten den Fraktionsvorsitzenden der Grünen. Der schaut sich nicht, wie auf solchen Politikerreisen meist üblich, Kindergärten, Solaranlagen oder Betriebe an - Robert Habeck möchte sich über die Landesidentität informieren. "Reise in die Schleswig-Holsteinische Revolution" hat er seine Tour genannt. 44 Hab Sommerreise Der große Bogen spannt sich von der Zeit 1840 bis 48 in Schleswig Holstein, die Zeit, die man als Schleswig- Holsteinische Erhebung bezeichnet bis in die Gegenwart. Ich geh auf den Spuren der Revolution und gucke, was das Land für eine politische Tradition hat jenseits dieses dumpfen, völkischen, nationalistischen Traditionsstamms, den es auch in Schleswig Holstein gibt. Das war in Schleswig Holstein für mich das Bedrückende an dem Land, dass es immer so erdschwer, teutsch, ungemütlich, dumpf und dunkel daherkam. Jetzt überraschenderweise gibt es eine Zeit wo das Land ganz vorn in der liberalen Bewegung in Deutschland dabei war, wo Verfassungsgedanken entstanden sind. Die spüre ich auf. Autorin Vom Schriftsteller zum Politiker - für Robert Habeck und seine Familie hat sich das Leben geändert. Termine, Termine, Termine. Statt Romanfiguren zu entwerfen, muss er jetzt Unmengen an e-mails abarbeiten, auf Sitzungen seine Zeit verbringen, Verhandlungen führen, Entscheidungen fällen, durchs Land fahren. Er macht es gern, hat es selbst gewählt. 45 Pal. waren isoliert Für Robert als Mensch ist es super toll, dass er sich jetzt auf einem anderen Feld austoben kann. Autorin findet Andrea Paluch, seine Frau. ff 45 Pal. waren isoliert Ich sehe, was der für Energie hat und was der leisten kann. Eigentlich wäre der hier unterfordert gewesen. Als wir zusammen geschrieben haben, waren wir sehr isoliert. Wir waren immer alle den ganzen Tag zuhause, wir sind ja nicht zum arbeiten weggegangen, wir haben unser Arbeitszimmer gehabt, das direkt neben der Küche lag, wir haben Tag und Nacht uns mit unseren Büchern beschäftigt und den Kindern. Wir haben es nicht gemerkt, weil wir immer unter Zeitnot litten mit den kleinen Kindern und so. Aber jetzt, aus der Außenperspektive, wo das aufgebrochen ist, sehe ich, wie isoliert das war. Das ist auf jeden Fall ne neue Chance, hier was anderes auf die Beine zu stellen. Atmo Ostsee unterlegen Autorin Als Politikergattin ihren Mann auf Empfänge zu begleiten, davon hält Andrea Paluch allerdings nicht viel. Geldverschwendung sei das, meint sie. Sie erkundet stattdessen lieber die neue Umgebung in Flensburg. Bis zum Ostseestrand ist es nicht weit. 46 Pal Landschaft Die Schleswig-Holsteinische Landschaft, also die Landschaft hier, ist eher dänisch. Um diese Zeit gelbe Kornfelder, durchbrochen von blauen Fjorden und Sunden, der Wechsel von blauem Himmel, blauem Wasser, gelben Feldern, grünen Hügeln, dass ist so die Traumlandschaft hier. Es ist unfassbar schön, wenn man jetzt hier mit dem Fahrrad rumfährt, es ist richtig paradiesisch. Dafür hält man auch neun Monate Winter aus, um dann darauf zu hoffen, dass man im Sommer etwas von diesem Paradies wieder mitkriegt über O-Ton Jingle Kennmusik Sprecher vom Dienst "Dichter zwischen den Meeren" Literarische Reise durch Schleswig Holstein Sie hörten eine Deutschlandrundfahrt mit Susanne von Schenck 1