KULTUR UND GESELLSCHAFT Organisationseinheit : 46 Reihe : Literatur Kostenträger : P 62 110 Titel der Sendung : "Das Universum als Gegenüber" - Tomas Venclova: Litauens Stimme in der Weltliteratur Autor : Carsten Hueck Redakteurin : Barbara Wahlster Sendetermin : 15.4. 2014 Besetzung : Zitator : Overvoice : Sprecher Regie : Urheberrechtlicher Hinweis: Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Jede Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in den §§ 45 bis 63 Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig (c) Deutschlandradio Deutschlandradio Kultur Funkhaus Berlin Hans-Rosenthal-Platz 10825 Berlin Telefon (030) 8503-0 Musik O-Ton ( Venclova) I was born in the city of Klaipeda, which is also called Memel, which belonged to Germany for 700 years. / Various landscapes figured in my poetry; but the main landscape is this landscape of Klaipeda and Klaipedas enviroments./ It is very important for me, especially the seascape. In this sense, I am a real son of Klaipeda or Memel. / So the Northern landscape, Northern seascape is my native landscape, my own landscape. Overvoice Ich bin in Klaipeda geboren, das lange Zeit Memel hieß und 700 Jahre lang zu Deutschland gehörte. Unterschiedliche Landschaften spielen eine Rolle in meiner Dichtung, aber hauptsächlich ist es die Umgebung von Klaipeda. Sie bedeutet mir sehr viel, vor allem die Küste. So gesehen bin ich ein Sohn dieser Stadt. Ich bin in die baltische Meer-und Küstenlandschaft hineingeboren. Mit ihr bin ich verbunden. Zitator Im schwarzen Fenster der Küste Kontur Erinnert an die fruchtlose Antarktis. Das Flachland duckt sich unterm nassen Wind. Der Hügel Hüllen fallen hinterm Haff, In eine Mulde sinkt verwehter Schnee, Sein Schmelz verschattet. "Und was ist dort?" "Auch Mündungen von Flüssen, Buchten, Häfen." "Gespräch im Winter". Übersetzung: Claudia Sinnig Autor Der Blick von Klaipeda hinaus auf das Meer, geht über das Haff hinweg, streift die Kurische Nehrung und verliert sich weit draußen, dort, wo alle Flüsse münden und feste Grenzen sich auflösen. In die andere Richtung erstreckt sich flaches Land. Ein Drittel der Fläche Litauens bedecken Wälder. Hier gibt es Grenzen: zu Russland, Lettland, Polen und Weißrußland. In den vergangenen Jahrhunderten wurden sie immer wieder neu gezogen. Musik O-Ton ( Venclova) If a person is a Lithuanian, he or she is a European at the same time, because Lithuania is part of Europe. So, well, you can call me a poet, who belongs primarily to Lithuania, because of the language he writes in, because of the language he uses for poetry. But I would define myself also as an European from the very beginning, from my birth and also as American by choice, because I choose an American citizenship - never objecting the Lithuanian citizenship. Overvoice In Litauen ist man zugleich Europäer oder Europäerin, denn Litauen ist Teil Europas. Man kann mich als litauischen Dichter bezeichnen, weil ich meine Lyrik auf Litauisch verfasse. Aber ich verstehe mich von Geburt an auch als Europäer - und als Wahlamerikaner. Autor Tomas Venclova lebt seit 1977 in den USA, seine Gedichte schreibt er nach wie vor in der Muttersprache. Äußerlich prägen sie Stadtlandschaften und Naturbilder seiner nordosteuropäischen Heimat. Inhaltlich entwickelt er Visionen unserer Gegenwart, stellt sich selbstbewußt dem ganzen Universum. Venclova ist Litauens Stimme in der Weltliteratur. Ein lakonischer Elegiker und moderner Klassiker. Ein freiheitsliebender Kosmopolit, zu Sowjetzeiten ein Dissident - und heute einer der größten lebenden Lyriker. Ein Unzeitgemäßer, dessen Verse streng geformt sich durch rythmischen Klang auszeichnen. Kurz freistehend: O-Ton Venclova liest auf Litauisch Autor In seiner Lyrik kommuniziert Venclova, über Zeiten und Räume hinweg, mit literarischen Vorfahren: Generationen von Dichtern, deren Bewusstsein über die eigene Lebenszeit und über persönliche Erfahrungen hinaus weist: Ossip Mandelstam und Anna Achmatowa, Ovid und Konstantin Kavafis, T.S. Eliot und Alexander Puschkin. Dabei bleibt Venclova ein ganz gegenwärtiger Dichter. Ästhetische, politische, historische Erfahrungen des 20. Jahrhunderts gehen durch ihn hindurch, er hebt sie auf, gestaltet sie - der Vergänglichkeit der Dinge stets eingedenk, doch der Ewigkeit auf der Spur. Das mag mit seiner speziellen geographischen und familiären Herkunft zusammenhängen. Musik Autor Venclova entstammt einer Landschaft historischer Brüche und Katastrophen. Memel, die Stadt des Barockdichters Simon Dach, Festungsstadt, von Schweden und Russen besetzt, Zufluchtsort des preußischen Königspaars auf der Flucht vor Napoleon, Handelsstadt englischer Kaufleute, wurde nach dem Ersten Weltkrieg vom Völkerbund verwaltet und von französischen Truppen besetzt. 1923 kam sie unter litauische Herrschaft. Hieß fortan Klaipeda. 1937 wurde Tomas Venclova dort als Sohn eines Lehrers und Literaten geboren. Autor Litauen war in den 1930er Jahren ein junger Staat. Über Jahrhunderte hatte das Gebiet entweder zu Preußen, Polen oder Russland gehört. Jahrhunderte lang Spielball stärkerer Nachbarn erlangte Venclovas Heimat erst infolge des Ersten Weltkrieges staatliche Eigenständigkeit - und büßte sie nach Beginn des Zweiten gleich wieder ein; als die kleine Baltenrepublik von Stalin okkupiert wurde, war Venclova gerade einmal drei Jahre alt. O-Ton ( Venclova) My father as a leftist became a minister in the pro-Soviet government of that period, which meant that the faith of our family changed very considerably. He was just a school teacher and became a minister. Then, in '41, the Nazis came again; took Lithuania, and the Soviets retreated, and my father retreated together with them to Moscow. / And we with my mother remained in Lithuania. My mother was arrested, but later released, but for three months, I lived without both of my parents. I was only 3 years old. That was a difficult experience, I must confess. Overvoice Als Linker wurde mein Vater Minister in der pro-sowjetischen Regierung dieser Zeit. Das Schicksal unserer Familie veränderte sich dadurch entscheidend. 1941 kamen die Nazis wieder, die Sowjets zogen sich zurück. Mein Vater ging nach Moskau. Ich blieb bei meiner Mutter in Litauen. Sie wurde verhaftet. Drei Monate lang lebte ich ohne meine Eltern. Im Alter von drei Jahren war das eine einschneidende Erfahrung. Zitator Ich habe gelernt im Dunkeln zu sehen, Glück von Glück zu unterscheiden, zu verstehen, welche Ferne die Nähe eines anderen Lebens ist, zu erfassen, wie eine Jahreszeit sich ändert. "Ich habe gelernt im Dunkeln zu sehen". Übertragung: Rolf Fieguth O-Ton ( Venclova) Later, in '44, the Soviets came again. Most of the Lithuania's population did not welcome them. The Soviets were considered to be occupiers, which was true. Overvoice 1944 kamen die Sowjets wieder. Die wenigsten Litauer begrüßten das. Sie wurden als Besatzer angesehen und das waren sie auch. Autor Mit den sowjetischen Truppen kehrte auch Venclovas Vater zurück. Er unterrichtete Literatur an der Universität in Kaunas. Übersetzte Dickens, Gide, Maupassant, Puschkin und Gorki ins Litauische, wurde Präsident der litauischen Schriftstellervereinigung, schrieb die Hymne des Landes, war ein populärer Volksdichter und Stalinpreisträger. Literaturaristokrat und sowjetischer Funktionär in einer Person. Autor Tomas Venclova wuchs so in einem Widerspruch auf: Viele Klassenkameraden sahen in ihm den Sohn eines Mannes, der sein Land an die Sowjets verraten hatte. Er hatte darunter zu leiden. Zugleich stiftete dieser Vater aber die enge Beziehung des Jugendlichen zur Literatur. Tomas lernte in der Bibliothek seines Vaters Werke von Boris Pasternak und Anna Achmatowa kennen Dichtung jenseits der Doktrin des sozialistischen Realismus wurde für ihn existenziell. In ihr und mit ihr baute sich der Heranwachsende eine Identität auf. Sie verhieß Stabilität und entsprach ihm mehr, als der geliehene Status des Sohnes eines Bildungsbürgers und Repräsentanten der Nomenklatura, der zwiespältige Status eines Litauers in einer Sowjetrepublik, der unbefriedigende eines Europäers im eisigen Ostblock. O-Ton ( Venclova) But I, as a son of a leftist and of communist, I subscripted to the communist ideology until the 19th year of my life. I was rather an exception among Lithuanians. Of course, many people joined the communist party, but as a whole they never believed in the Marxist ideology, just tried to conform to the new situation. Some people, not many of them, believed in the ideology. My father was one of them, and I was also one of them. But that ended in 1956. Overvoice Aber als Sohn eines überzeugten Linken hieß ich die kommunistische Ideologie gut. Bis zu meinem 19. Lebensjahr. Ich war damit unter den Litauern eine Ausnahme. Natürlich waren viele in der Partei, aber insgesamt glaubten sie nicht an den Marxismus. Sie versuchten eben mit der neuen Situation konform zu gehen. Mein Vater tat das und ich auch. 1956 endete das dann. Autor 1956 walzten sowjetische Panzer den Volksaufstand in Ungarn nieder. Tomas Venclova studierte zu der Zeit. Drei Jahre zuvor, im Alter von sechzehn, hatte er die Oberschule mit Auszeichnung abgeschlossen und sich an der Universität Vilnius immatrikuliert - als jüngster Student in der Geschichte der traditionsreichen Hochschule. In der mehrsprachigen Hauptstadt Litauens, das bis zum Holocaust als "Jerusalem des Nordens" gegolten hatte, studierte er drei Jahre lang Lithuanistik und Russische Literatur. O-Ton ( Venclova) Vilnius was a lucky city, because not all of it was destroyed, only the ghetto, only the Jewish part of the City. Since I am not Jewish, I am not necessarily very much connected with that part of the city. But all the Catholic parts have survived, including all the Vilnius' churches. The Vilnius' churches taught me something in poetry, because they taught me Barock. I think, my poetry to a very large degree related to Barock and also to Classicism... So this capriciousness and strangeness of Barock and strict formal elegance of Classicism, those things in my opinion should be united in poetry; and I tried to do my best to unite them. Overvoice Vilnius war eine glückliche Stadt, denn sie war nicht stark zerstört worden. Abgesehen vom jüdischen Teil. Da ich nicht jüdisch war, hatte ich dazu keine direkte Verbindung. Die katholischen Stadtteile mit all ihren Kirchen blieben unversehrt. Sie lehrten mich etwas für meine Dichtung, sie lehrten mich Barock. Meine Lyrik ist sehr stark mit dem Barock und dem Klassizismus verwandt. Ich finde, dass die Wechselhaftigkeit und die Merkwürdigkeiten des Barock sich mit der strengen, formalen Eleganz des Klassizismus in der Dichtung vereinen sollten. Und dafür tat ich alles, was in meinen Kräften stand. Autor Nicht nur die Architektur der Stadt Vilnius inspirierte Venclovas Lyrik, sondern auch der Aufstand der Ungarn. Er veränderten seine Weltsicht grundlegend. O-Ton ( Venclova) For me, the Hungarian uprising was very important, I was in a very significant stage of my life, 19 years old. In the beginning, I believed that was the way to improve socialism. But when the Hungarian uprising was repressed in an almost incredibly cruel way and Budapest was partly ruined, I understood that this system can not be corrected; that this system can only disappear, so to speak. Overvoice Für mich war der Volksaufstand in Ungarn von entscheidender Bedeutung. Anfangs glaubte ich noch, durch ihn könne man den Sozialismus verbessern. Doch als er auf so grausame Weise niedergeschlagen und Budapest teilweise zerstört wurde, verstand ich, dass man das System nicht reformieren, sondern nur zum Verschwinden bringen konnte. Autor Mit seinem Gedicht "Hidalgo" nahm Venclova 1956 politisch Stellung - gegen eine offiziell verordnete Sicht der Dinge. Es leistet Widerstand auch ohne Aussicht auf Erfolg, bekennt sich zur moralischen Bedeutung der Poesie, stellt den Dichter in die Tradition eines Liebenden und Kämpfers gegen Windmühlen. Es ist die selbstausgestellte Geburtsurkunde des Lyrikers Tomas Venclova. Zitator Unsre Kunst - nichts als lieben oder sterben, unser Reichtum - Worte kühn gewählt, Unser Lohn - nach traurigem Verderben Nur ein Platz im Dreck am Rand der Welt. Ich, ein Ritter, Redner, Spieler, Schwer von Blei gezeichnet und von Stahl, Nicht zum ersten Male fiel ich, Und leb auch nicht zum ersten Mal. Mit Pein und Qual, verlorner Ruh Wird jeder büßen für sein Schweigen. Es schlafen Urnen, Mausoleen, Leichen, Wer aber lebt, der macht kein Auge zu. "Hidalgo" . Übersetzung: Claudia Sinnig Autor Als tagespolitischen Agitator oder moralisches Gewissen einer Nation sah sich Tomas Venclova nie. Er denkt in viel größeren Zusammenhängen. Und genau darin besteht die Kraft seiner Lyrik. In ihr drücke sich eine Weltsicht aus, so Venclovas Freund der Literaturnobelpreisträger Joseph Brodsky, die außerhalb dieser Gedichte nirgends existiere. Die Position, in der der aus diesen Versen hervorgehende Mensch zur Welt stünde, fährt Brodsky in seinem Venclova gewidmeten Aufsatz "Poesie als Form des Widerstandes gegen die Realität", fort, sei nicht die Position des Anklägers oder des Allverzeihers. Man könne, meint er, dessen Position stoisch nennen; und müsste ihn mit einem hochwachsamen Beobachter vergleichen, einem Seismographen oder Meteorologen, der die atmosphärischen und moralischen Katastrophen außerhalb und innerhalb seiner selbst registriere. Zitator Und, in Zeit versinkend, spürst du nicht, wie der Herbst soeben Herankriecht, wie Himmel und Wasser die Farben verwischen, Und dein leerer Geist, soviel größer als das eigene Leben, Wie ein Bild auf der Netzthaut den Dingen sich untermischt. "Tag und Nacht sind halb um" . Übersetzung: Durs Grünbein Musik Autor Noch während Venclova auf den Abschluss sein Studiums hinarbeitete, wurde er Teil des Samisdat, des literarischen Untergrunds. 1958 erscheint sein erster Lyrikband in einer Auflage von vier Exemplaren. Der bleibt nicht ohne Resonanz. Und auch die Lektüre nonkonformistischer Autoren hat Folgen. Dreiundzwanzigjährig wird Venclova zum ersten Mal vom KGB verhört. O-Ton ( Venclova) The memory was under strong censorship, so to speak. Lots of things were forbidden to remember, so to speak. And such poetry as Achmatowa's poetry or Brodsky's poetry played the role of cultural memory and still plays. Overvoice Die Erinnerung stand sozusagen unter Zensur. Es war verboten, gewisse Dinge in Erinnerung zu behalten. Und die Dichtung Achmatowas oder später Brodskys war kulturelle Erinnerung. Und ist es bis heute. Autor Von Beginn seines Schreibens an steht Venclova im Dialog mit der zeitgenössischen Dichtung ebenso wie mit Autoren der Vergangenheit, der klassischen Moderne der Weltliteratur. Sie sind ihm geistigen Partner, inspirieren, geben Halt. O-Ton ( Venclova) For example Eliot or Dylan Thomas or W. H. Auden, I even translated them into Lithuanian; sometimes even managed to published those translations. So learning from those poets. And this feeling, that we are not alone; that there are lots of people in the world, who are interested in the same poetics as ourselves, that of course helped. Overvoice T.S.Eliot, Dylan Thomas, W.H. Auden. Ich übersetzte sie ins Litauische - und konnte sie sogar veröffentlichen. Von ihnen lernte ich. Und sie gaben mir das Gefühl, nicht allein zu sein. Dass es weltweit Menschen gab, die die gleichen poetischen Verfahren erprobten, das half sehr. Autor Venclovas poetischen Leitsterne galten im sowjetisch dominierten Kulturraum als subversiv - und dadurch waren sie es auch. Ihre Dichtung verhieß Freiheit. Werke verfemter oder unterdrückter Dichter zu lesen, war ein Akt der Selbstbestimmung. O-Ton ( Venclova ) Something was available in Polish translation, for example, Poland was much more liberal than Russia or for that matter Lithuania. We red the entire Western modernist fiction in Polish translation, such people like Joyce, like Faulkner, like Kafka for example. Kafka was virtually banned in Lithuania. I always say that Lithuania was the only country in the world, who followed Kafka's testament, because Kafka asked for his books to be burned. So, when 9 books by Kafka reached the Lithuanian bookshop, they were confiscated and burned, according to Kafka's wish. But still we managed to get hold of some of those books, including also books in the original. Overvoice Manches gab es in polnischer Übersetzung. Polen war liberaler als Russland oder in diesem Fall Litauen. Wir lasen sämtliche moderne Autoren des Westens auf Polnisch: Joyce, Faulkner, Kafka. Der war in Litauen praktisch verboten. Litauen war weltweit das einzige Land, dass Kafkas Testament ernst nahm. Wenn einmal 9 Bücher Kafkas in einen litauischen Buchladen kamen, wurden sie konfisziert und verbrannt. So wie Kafka es sich gewünscht hatte. Aber es gelang uns, einige von ihnen zu behalten, mitunter auch in der Originalsprache. Autor Immer selbstverständlicher wird für den Dichter: Die Poesie hat über einer aktuellen politischen Situation zu stehen. Ihre Aussagekraft erhält sie durch die Verbindung mit einer allgemein menschlichen, zeitlosen Moral, mit der Gefasstheit ihres Autors, dem Vertrauen auf die Strenge der Form und deren Beherrschung, dem festen Glauben an die Möglichkeit eines poetischen Dialogs mit Dichtern und Denkern auch fernerer Zeiten. O-Ton ( Venclova) Political situation changes; and poetry changes less, so to speak, much less. Brodsky always said that he never humiliated himself to such a degree as to fight the Soviet regime; that would be humiliating for a great poet. That was a bonmot of course, just a joke, because he also wrote some political poetry in his life. But generally, he was interested in metaphysical questions or probably in philosophical questions or in love poetry, much more than in political poetry. But poetry, I would say, the same about myself. I wrote probably 210 or 220 poems in my life, if they are considered to be worth of publishing, and only 10 or 15 of those forms are strictly political. Overvoice Politische Konstellationen wechseln. Poesie verändert sich viel weniger. Brodsky hat einmal gesagt, dass er sich nie so weit herablassen wollte, das sowjetische System zu bekämpfen. Für einen großen Dichter wäre das eine Demütigung. Natürlich war das ein Bonmot, ein Witz, denn er schrieb durchaus auch politische Gedichte. Grundsätzlich aber war er an metaphysischen und philosophischen Fragen, interessiert. Mehr als an politischen. An Liebesgedichten, an Dichtung an sich. Von mir kann ich dasselbe sagen. Vermutlich habe ich etwas über zweihundert Gedichte in meinem Leben geschrieben. Davon sind maximal 15 streng politisch. Musik O-Ton ( Venclova) But of course I was most interested in poetry, which touched me by some unknown reason. That could be defined as feeling of heart, I don't know does it happen in heart or in the brain, maybe in some specific parts of brain, so to speak. And Eliot, Dylan Thomas or Pasternak or Achmatowa or Czeslaw Milosz, who was also banned, but also more or less available in Lithuania, he leaked to Lithuania by secret channels, such poets - they are more important for me than the extremist modernists. Overvoice Selbstverständlich bin ich an einer Dichtung interessiert, die mich aus unerklärlichen Gründen berührt. Man könnte das als Instinkt des Herzens bezeichnen, ich weiß nicht ob er im Herzen oder im Hirn sitzt, vielleicht in einer speziellen Hirnregion. Deshalb waren auch Eliot, Dylan Thomas, Pasternak, Achmatowa und Czeslaw Milosz - auch ein Verbannter, von dem aber über geheime Kanäle etwas nach Litauen durchsickerte - für mich wichtiger als extrem moderne Dichter . Autor Beispielhaft verkörpert für Venclova die russische Dichterin Anna Achmatowa die Autonomie der Dichtung und die Leidenschaft für Poesie unter repressiven Verhältnissen. Jahrzehntelang von der Zensur unterdrückt, wurde die Dichterin erst Ende der 1950er Jahre wieder rehabilitiert. Venclova, der in dieser Zeit auch in Leningrad und Moskau lebte, traf sie dort wiederholt. Die Symbolfigur des Silbernen Zeitalters der russischen Dichtung, wurde für ihn zum menschlichen Bindeglied. Sie verband ihn, ähnlich wie Pasternak, mit einer anderen Ära der russischen Kultur, eröffnete ihm ein poetisches, aber auch ethisches Erbe. Wirkte wie ein Gegengift gegen den ideologieschweren sozialistischen Realismus der 1950er und 60er Jahre. Zitator Für Stimmen gibt es kein Vergangnes Und keine Gegenwart. Gleich, wo ich bin, wo du auch bist (Im Zentrum Nacht; im zwanzigsten Jahrhundert; mittendrin in diesen Tagen des August); gleich was uns beide nährt, was uns vergiftet - auf seine Weise quellwärts driftend, erreicht das vogelfreie uns, das Wort "Wiederholung mit Variation" . Übersetzung: Durs Grünbein O-Ton ( Venclova) I was lucky enough to meet at least two world class poets, poets of world statue...this were Pasternak and Achmatova./ I met Achmatova, because I translated some of her poems into Lithuanian. And pretesented my translations to her - so and in this case I was more lucky because I met her probably fifteen or more times in my life and we discussed various things. / She talked with me about many Russian poets about Blok, about Pasternak, about her late husband Gumiljow about Mandelstam, and discussed their poetry in detail in my presence. So, that was really important. Overvoice Ich hatte das große Glück, zwei Weltklassepoeten kennenzulernen: Pasternak und Achmatowa. Anna Achmatowa traf ich, weil ich einige ihrer Gedichte ins Litauische übersetzte und sie ihr zeigte. Wir trafen uns vielleicht fünfzehn Mal und tauschten uns über Verschiedenes aus. Sie sprach mit mir über viele russische Dichter, Block, Pasternak, ihren einstigen Mann Gumiljow und Mandelstam. Dass sie in meiner Anwesenheit deren Dichtung im Detail besprach, war sehr wichtig für mich. Musik Autor Die Begegnung mit Anna Achmatowa war für den jungen Venclova ebenso prägend wie die mit dem Werk ihres Zeitgenossen Ossip Mandelstam, der 1938 in einem von Stalins Arbeitslagern umgekommen war. "Venclova", schreibt der Dichterkollege Durs Grünbein, einer der Übersetzer Venclovas ins Deutsche, "beruft sich wörtlich auf Mandelstam und seine Vorstellung vom sobesednik, vom Gesprächspartner, als metaphysischen Adressaten für die eigene Produktion, wie jener sie als Modell einer neuen Poetik entwickelt hatte." Zitator Verlaß dies Ufer. Fahren wir. Nun ist es Zeit. Die Steine spalten sich, die Lüge ist verdunstet. Ein Zeuge bleibt uns noch - die Kunst, Die etwas Licht bringt in die Winternacht. Bei Kälte hilft so manches Heilkraut sehr, Bis an die Mündung folgt dem Fluß das Meer, Und selig sinnlos klingt von so weit her Das Wort, fast schon so sinnlos wie der Tod. "Einem Dichter zum Gedenken.Variante" . Übersetzung: Durs Grünbein Autor "Einem Dichter zum Gedenken" heißt dieses an Mandelstam gerichtete Gedicht von 1969. Venclova reist viel in den 1960er Jahren auf dem Gebiet der damaligen UdSSR. Er studiert im estnischen Tartu bei Juri Lotman Semiotik, vertieft sich in die Literaturwissenschaft, er schreibt, übersetzt, knüpft weitere Freundschaften. Dichterisch und persönlich entscheidend ist die mit dem späteren Literaturnobelpreisträger Joseph Brodsky. O-Ton ( Venclova) I looked at him from below so to speak up, because I knew that Brodsky was a genius; that was obvious. But still we could, at the same we could be on very friendly terms, are simply two young boys, who were having similar experiences, for example love experiences. Both of us were going through our first not very happy love affairs and so on and so on; who like the same poets; who knew the same poems by heart; both of us knew Achmatowa personally. So we had lots of things to talk about. And I introduced him to Lithuania: to Lithuania's history, to Lithuania's architecture, to Lithuania's literature to some degree, which was interesting to him. Later he was forced to emigrate and landed in New York. But I emigrated five years after him and also landed next to New York. So we continued our relationship in New York. Overvoice Ich schaute gewissermassen zu ihm auf, denn ich wusste, dass er ein Genie war. Das war offensichtlich.Doch wir konnten auch sehr freundschaftlich miteinander umgehen, zwei junge Kerle, mit ähnlichen Erfahrungen, zum Beispiel in der Liebe. Wir beide erlebten unsere ersten nicht sehr beglückenden Liebesabenteuer, wir schätzten die gleichen Dichter, kannten die gleichen Verse auswendig. Wir beide kannten Achmatowa persönlich. So konnten wir uns über so vieles unterhalten. Und ich machte ihn mit Litauen bekannt. Der Geschichte des Landes, seiner Architektur, bis zu einem bestimmten Grad mit seiner Literatur. Das interessierte ihn. Später wurde er zur Emigration gezwungen und lebte in New York. Fünf Jahre danach emigrierte auch ich und landete ebenfalls in New York. So konnten wir unsere Freundschaft dort fortsetzen. Musik O-Ton ( Venclova auf Litauisch, steht länger frei, dann:) Zitator Ich kann dich nie verlassen Und verlasse dich doch, Deine steinernen Straßen Lösch ich wie einen Docht. Die Glocke im weißen Turm, Den Sand, mit Teer befleckt, Und meine Seele, wenn nur Die Seele dann noch lebt. Im Diesseits meiner Lider - Bleibst du, wirst du gehen? Ich werd, die Augen schließend, Dein letztes Leuchten sehn. "Ode an eine Stadt" . Übersetzung: Claudia Sinnig Autor Seine "Ode an die Stadt" von 1974 kann man als vorweg genommenen Abschied von Vilnius verstehen. Venclova pflegt enge Kontakte zu sowjetischen Dissidentengruppen. Seine Reisefreiheit wurde 1971 eingeschränkt. Er engagierte sich als Mitbegründer der litauischen Helsinki-Gruppe für Menschenrechte und geriet in immer offeneren Konflikt mit dem Regime. Seine Verhaftung drohte. Durch Vermittlung des polnischen Dichters Czeslaw Milosz, der schon im amerikanischen Exil lebte, erhielt Venclova die Einladung, einige Vorlesungen an der Universität in Berkley zu halten. Überraschend genehmigen die Behörden in Moskau seine Ausreise. Ende März 1977 trifft er in Kalifornien ein - und wird kurz darauf aus seiner Heimat ausgebürgert. Ab 1980 unterrichtete Venclova am Lehrstuhl für Slawistische Literatur an der Universität Yale, 1993 wird er dort Professor. Zitator An diesem Tag las ich, wie üblich, mit Studenten Gedichte in einer ihnen noch kaum Begreiflichen Sprache. Vergeblich suchte ich zu erklären, was mir damals wichtig schien (und heute scheint): Konsonanten erkennen und rufen einander, wie in einem Wald verirrte Jäger - gedämpft und doch vernehmlich; Doch Verse entstehen lange vor uns, vor unserer Stimme, im ursprünglichen Reich der Leere. Das Gedicht träumt von sich selbst. Wir müssen an seine Träume rühren, es herausführen aus ihnen - dem Nichts - auf die Strassen von Syntax und Phonetik. Das ist schwer. Wir erfassen nicht alles. Uns bleiben nur Details. Und es genügt. "In Gedichten ist nichts belanglos" . Übersetzung: Claudia Sinnig Musik Autor Nach Vilnius kann Venclova erst nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion in den 1990er Jahren wieder zurück kehren. Seitdem werden auch seine Gedichte, Aufsätze und Essays in Litauen veröffentlicht sowie in zahlreiche Sprachen übersetzt: ins Englische und Deutsche, aber auch ins Russische, Polnische, Schwedische oder gar Chinesische. Venclova, mittlerweile emeritiert, lebt nach wie vor in den Vereinigten Staaten, hat aber die Kontakte in seine alte Heimat neu geknüpft. Seit 2013 ist er Ehrenbürger von Vilnius. Das ehemaligen Haus seines Vaters ist mittlerweile Museum. Es bewahrt die wechselhafte Geschichte und das poetische Erbe der Venclova Familie. Den Häusern der Menschen aber vertraut Venclova nicht. Die Erinnerung deponiert er woanders. O-Ton ( Venclova) Poetry is a resistance. Brodsky said also once, and I agree with him, it is a resistance to reality. Reality is much more chaotic than poetry. And reality is oriented towards death, so to speak. The reality ends. Every life ends in one and the same way; and this is not necessarily the most pleasant way; one can imagine. But the poetry resists that perish ability, that orientation towards death, so to speak, even if it writes, even if it speaks about that. It overcomes that in some sense Overvoice Poesie ist Widerstand. Brodsky sagte einmal - und ich stimme mit ihm überein - Poesie widersteht der Realität. Realität ist viel chaotischer als Poesie. Und sie orientiert sich zum Tode hin. Realität endet. Jedes Leben endet auf die eine oder andere Weise. Und das ist, wie man sich vorstellen kann, nicht immer gerade angenehm. Aber die Dichtung widersteht dieser Fähigkeit zur Auflösung, der Ausrichtung am Tod, selbst dann wenn sie rüber ihn spricht. In einem gewissen Sinn überwindet die Poesie den Tod. Musik 1 1