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Es heißt, Utopus selbst habe von allem Anfang diese Gestalt und Anlage der Stadt vorgesehen. Thomas Morus: "Utopia" 1516 Spr. v.D: Die ideale Stadt vor 50 Jahren. Sennestadt in Nordrhein-Westfalen. Eine Deutschlandrundfahrt mit Sabine Korsukéwitz. Autorin Vorstellungen von der idealen Stadt gibt es seit der Antike. Mal stand die Gesellschaftsordnung, mal die Ästhetik, mal die Besserung des Menschen im Vordergrund. Der Wunsch nach mehr Natur in der Stadt stammt aus den Erfahrungen der industriellen Revolution. Anfang des 20. Jahrhunderts kamen sozialer Wohnungsbau und Genossenschaften dazu. In den 50er Jahren wurde als Weiterentwicklung alter Gedanken und mit Blick auf aktuelle Bedürfnisse, bei Bielefeld ein neues Idealbild gebaut: Sennestadt, die Stadt der Zukunft. Atmo 1: Straßenbahn Ansage "Senne" Autorin Die Sennestadt ist inzwischen ein Vorort. Geplant war sie als autarkes System. Das merkt man immer noch: Die Groß-Siedlung ist ein Fremdkörper am Rand von Bielefeld, vom öffentlichen Nahverkehr stiefmütterlich behandelt: Erst rumpelt man 25 Minuten mit einer Straßenbahn, dann noch einmal 15 Minuten mit dem Bus durch Feld und Wald, ehe man wieder in ein geschlossenes Wohngebiet einbiegt. Sennestadt - eine merkwürdige Mischung aus Futurismus und "Klein-Laramy". Atmo 2: Vorort, wenige Autos, Vogelgezwitscher O 1 Holst Tja, als ich hier angekommen bin, war das etwas trostlos, denn es war ja eigentlich noch nichts da außer ein paar leeren, noch nicht fertigen Straßen und Wegen und sehr viel Wald rund herum. Und ich hab dann irgendwo im Wald ein Zimmer gefunden und tja, habe den nächsten Morgen, als ich anfangen sollte, dann die Sennestadt gesucht. Hab' einen Bewohner gefragt, der in der Nähe wohnte, wo eine neue Stadt gebaut würde, und der sagte gar nichts, schüttelte nur den Kopf, und ich bin dann so weitergangen bis ich einen Kran gesehen habe, ja, und das war Sennestadt. Autorin Vorher war alles Kiefernwald. Dünen, Heide, ein paar verstreute Bauernhöfe. Heute sieht man eine weitläufige Ansammlung von Reihenhäusern, Einzelvillen und ein paar wenige Hochhäuser im schnörkellosen Stil der 50er Jahre. Jetzt, im März, blühen die sorgfältig gepflegten Vorgärten und Parks. Das Ganze macht keinen luxuriösen, aber einen harmonischen, freundlichen Eindruck. Das liegt an der Weitläufigkeit, dem vielen Grün und sicher auch an den gekrümmten Straßen und Wegen. O 2 Holst In der Sennestadt bestimmt die Landschaft nicht nur die Stadtform, sondern sie ist eigentlich integraler Bestandteil der gesamten Stadtplanung, und die naturgegebenen Dinge, Bachlauf, eine Senke, die durch Abtragen einer Düne entstanden ist für den Bau der Autobahn in den 30er Jahren, bilden das grüne Kreuz der Sennestadt, und die Bach Aue wird aufgestaut zu einem See im Zentrum, um diese Natur noch besonders zu steigern, sie wird außerdem gesteigert durch Blickbeziehungen, durch besondere Bauten, die an markanten Stellen des Landschaftsbereiches stehen, und das ist das Rückgrat der grünen Sennestadt. Autorin Die Auffassung, dass der Siedlungsbau der Landschaft zu folgen hat und nicht umgekehrt, stammt aus der Gartenstadtbewegung des späten 19. bis frühen 20. Jahrhunderts. Dadurch bekamen selbst komplett neu hin gestellte Viertel den Anstrich des natürlich gewachsenen. O 3 Holst So sind ja auch die Straßen angelegt, dass zum Zentrum hin die Straßen breiter werden, genau wie die Adern eines Blattes zum Stamm hin dicker werden und sich nach außen verästeln. Dadurch hat man das Gefühl, dass das Ganze in sich ein geschlossenes System bildet. Autorin Peter Holst ist einer der Architekten, der Sennestadt mit gebaut hat. Sein Chef und "Erfinder" der "Stadt der Zukunft" war der Hamburger Stararchitekt Professor Hans Bernhard Reichow. Er entwickelte besonders die Ideen der Gartenstadtbewegung weiter und nannte seinen Masterplan "Die organische Stadt". Der Straßenplan wirkt grazil. Mit seinen gekrümmten Linien, Kreisen und Schnörkeln erinnert er an ein Hirschgeweih oder Schmetterlingsflügel. O 4 Holst Das war Vorbild, ja, ein anderes Vorbild war zum Beispiel die feine Verästelung der Lunge, und zum Herzen hin die Blutgefäße auch wieder dicker werdend, das sind so organische Vorstellungen die da waren und die sicher im Hintergrund eine Rolle spielten, weil man ja das Ganze von den Vorstellungen und Bedürfnissen der Bewohner her sah. Autorin Reichow ging sogar noch weiter: Nicht nur die bewussten Wünsche der zukünftigen Bewohner, nein auch ihr instinktives Verhalten sollte in die Planung einfließen: O 5 Holst So gibt es von Reichow diese Bilder, die er immer wieder zeigte: wie fährt man in der Wüste? In der Wüste fährt man nicht rechtwinkelig um die Ecke sondern man kürzt irgendwo ab. Oder auch Bauernwege sind so, dass zum Hof hin die Wege ausgerundeter sind und so war er der Meinung, so sollten Straßen aufgebaut sein auf das Instinkt mäßige Verhalten von Menschen und von Fahrern. O 6 Reichow "Eine andere Aufgabe steht vor dem Planer als die Forderung des Tages: eine Stadtstruktur zu finden, in der es sich mit dem Auto menschenwürdig leben lässt." Autorin Damit gehörte der Stadtplaner Hans Bernhard Reichow 1954 zur Avantgarde. Mit Blick auf den zunehmenden Autoverkehr entwarf er eine Stadt ohne Kreuzungen und ohne Verkehrsschilder... O 7 Holst Einmal haben wir in der Sennestadt durchgehende Alleen von denen nur Stichstraßen ausgehen, so dass ein Umfahren von Karrees zum Spaß gar nicht möglich ist, und diese Stichstraßen sind abgeschlossen durch Wenderadien, die so ausgebildet sind, dass sie im zweiten Gang bequem umfahren werden können, also ohne viel zu schalten, zurückzusetzen und damit erneut die Luft zu verpesten... Atmo 3: Auto fährt langsam vorbei O 8 Holst ... und zu den Gartenhöfen schirmen die Rückwände der Garagen die Flächen dahinter, die Grünflächen zusätzlich ab, das ist der Schutz vor dem Auto und im Übrigen sind Überlegungen, die mit einbeziehen, wie sich ein Autofahrer in der Schrecksekunde benimmt. Also wie fährt er am leichtesten, ohne sich und andere zu gefährden? Autorin Kaum ein Detail wurde übersehen: Die meisten Leute sind erst nachmittags zu Hause, also werden die Häuser so gebaut, dass man nachmittags Sonne im Wohnzimmer hat; ein Fuß-Wegenetz, auf dem man überall hin kommt, praktisch ohne Straßen überqueren zu müssen; grüne Lunge in der Mitte, Straßen, die sich der Landschaft anpassen, die Farben des Laternenlichts... O 9 Holst ...weiß in der Mitte, an den Hauptalleen gelbliches Licht, und rötlich, etwas schwächer in den Wohnstraßen, dass man auch optisch merkte, wo man sich befand. (lacht) Da wo das Zentrum war, war's also am Hellsten und dann nahm das langsam ab. Autorin Die Abstände der Häuser so weit, dass man sich nicht auf die Nerven geht, aber so nah, dass soziale Kontakte entstehen können; Und überhaupt: Die soziale Durchmischung... : O 10 Holst Das wird erreicht durch gemischtes Angebot von Wohnungen: im Hochhaus, im Geschosswohnungsbau, drei- und viergeschossig, zum zweigeschossigen Reihenhaus bis hin zum Einfamilienhaus. Dadurch erreicht man natürlich, dass unterschiedliche soziale Schichten eng beieinander wohnen. Und diese überschaubaren Bereiche, in denen man also jetzt zusammen wohnt, mit ganz unterschiedlichen Leuten, haben, glaube ich wesentlich zur gemeinsamen Vorstellung im Leben und zur guten Identifikation der Bürger geführt. Autorin Steigt man im Zentrum aus dem Bus, fällt als Erstes die Weite auf: großzügige Plätze und Grünflächen. Man atmet auf. In einen kleinen See hinein ist das achtstöckige "Sennestadthaus" gebaut mit Gaststätte, Büros, und Veranstaltungsräumen. Auf dem Dach balancieren übergroße Bronzefiguren, die bei starkem Wind einknicken und sich wieder aufrichten. "Gratwanderung" heißt das Kunstwerk, ein Blickfänger, der nachdenklich macht und gleichzeitig dem kantigen Hochhaus Leichtigkeit verleiht. Musik 1 Titel: Klingende Wochenschau Interpret: Junge Philharmonie Köln, Dgt. Volker Hartung Komponist: Ernst Fischer Label: J P K, LC-Nr. 04809 O 11 Reichow ....Wenn heute eine Stadt in freier Landschaft geplant wird, geht es dabei um eine Synthese aus Stadt und Landschaft. Aus beiden wird das neue städtebauliche Gestaltungsobjekt: die Stadt-Landschaft, im günstigsten Fall eine künstlerische Einheit. Autorin Das war die Hauptthese von Hans Bernhard Reichow. Mit seinen sparsamen Siedlungselementen und viel Grün war er einer der prägenden Städtebauer der Nachkriegszeit. Prof. Dieter Frick von der TU Berlin: O 12 Frick Reichow, der ... trifft damit eine historische Situation, wo also alles Geometrische, alles Axiale, alles Monumentale tabu war, weil das bei den Nazis sehr stark gepflegt wurde. Autorin Kritiker warfen ihm vor, dass er in der Nazizeit Karriere gemacht und sich mit dem Regime arrangiert hatte. Die Ideen der Nazizeit habe er einfach umbenannt und als neu verkauft. Richtig ist: 1899 in Pommern geboren, lernte Reichow in den 20er Jahren bei dem jüdischen Architekten Erich Mendelsohn. Mit seiner Weiterführung der Gartenstadt-Idee stieß Reichow bei den Nazis zunächst auf Widerstand, und musste mehrmals den Arbeitsplatz wechseln. 1937 trat er schließlich der NSDAP bei, um arbeiten zu können. Seine Ideen aber stammen aus älteren Quellen. Nach dem Krieg entwickelt er sie so weiter, wie er es bereits lange vorher begonnen hatte und bekommt dafür international viel Anerkennung, 1974 sogar den bedeutendsten Architekturpreis der USA. Musik 1 Ende, weiter Atmo 2 Autorin Für Peter Holst war die Sennestadt sein erster größerer Auftrag als Architekt und auch der interessanteste seines Lebens: Nach Krieg und Gefangenschaft baute er zunächst Berlin mit auf. Da gab es aber wenig Geld. O 13 Holst Ich hatte nachher schon zwei Kinder und da wurde es langsam knapp. Und so habe ich mich beworben in Nürnberg bei einem Architekten aber der baute Kasernen und da hatte ich dann nach meinen Erfahrungen im Kriege keine Lust mehr und dann kam ein Kommilitone und hat mir erzählt, dass hier eine neue Stadt gebaut wird und dass Leute gesucht werden, und dann hab ich mich da beworben. Atmo 4: Straßenbau (kurzer Eindruck) Autorin Sobald die ersten Häuser fertig waren, kam die Familie nach... O 15 Holst Da war die Straße noch nicht ganz fertig, man musste den Kinderwagen durch den dicken Sand schieben. Naja, und wenn man irgendwo eingeladen war, musste man ja durch den Dreck, durch aufgeweichte Straßen, wenn es geregnet hatte, da war noch keine Deckschicht drauf, und nahm sich dann ein zweites Paar Schuhe mit, um dem anderen in der Wohnung nicht alles zu verdrecken. Autorin Ein bisschen wehmütig blickt Peter Holst in seinen kleinen japanischen Staudengarten. Es ist ruhig. Von den Nachbarn, die doch so nahe dabei wohnen, bekommt man nichts mit. O 16 Holst Das waren richtige Pionierzeiten und das haben alle, die hierher kamen, damals auch empfunden. Und sehnen sich heute noch dahin zurück, aber das ist vorbei. Autorin Die Hymne dieser Pionierzeit war Karl Berbuers: "Wir sind die Eingeborenen von Trizonesien", 1948 geschrieben, als sich die Abtrennung der Ost- von der Westzone abzuzeichnen begann. Musik 2 Titel: Trizonesien-Song Interpret: Karl Berbuer Komponist: Karl Berbuer Label: Dance Street, LC-Nr. 06813 Musik 3 Titel: Piccicato in Heaven Interpret: Peter Thomas Sound Orchester Komponist: Peter Thomas Label: Bungalow Records, LC-Nr. 02801 Zitat 2 "Von jedem Hügel, den ich erstieg, sah ich eine Überfülle glanzvoller Bauwerke in den verschiedensten Variationen von Material und Stil, dazwischen überall dasselbe Dickicht immergrüner Pflanzen, blütenbeladener Bäume und Baumfarne. Hier und da glänzten Wasserflächen wie Silber. Dahinter stieg die Landschaft zu blauen, sanft geschwungenen Hügeln an und verschmolz in der Ferne mit dem heiteren Himmel." Aus: "Die Zeitmaschine" Herbert George Wells, 1895. Autorin Für glanzvolle Bauwerke war nach dem Krieg kein Geld vorhanden. Immerhin: 1954, das Jahr in dem Hans Bernhard Reichow den Auftrag für seine "organische Stadt" erhielt, war das Jahr des Wunders von Bern. Knapp zehn Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs hatte man das Gefühl: Es geht wieder aufwärts. O 17 Zusammenschnitt Wochenschau 1954 (Fußball, Adenauer, Käfer, Heimkehrer) Atmo 5 Kaffeetafel am offenen Fenster (Vögel nah, wenig Verkehr fern) Autorin Ursula Biermann, 91 Jahre, gehörte zu den Ersten, die nach Sennestadt zogen. Ich besuche sie in ihrem Appartement im dritten Stock eines der kleineren Wohnblocks. Bescheidene Fassaden, Straße, Kübelpflanzen... nichts Besonderes. Sozialer Wohnungsbau eben. Unten im Haus sind eine Apotheke und ein paar kleine Läden. O 18Biermann Es hieß, es wird in der Senne eine Flüchtlingsstadt gebaut, aber das war uns vollkommen egal, Hauptsache wir kriegten dann eine Wohnung! Autorin Sie sieht wohl aus wie die ideale Großmutter: gebeugt aber fein, Haltung, silbergraue Locken. Die Kaffeetafel ist mit antikem Blümchengeschirr gedeckt, weiße Servietten mit Monogramm, selbstgebackene Makronen. O 19Biermann Das war schon ein schönes Durcheinander und gewürfeltes... auch Hiesige und aus Sachsen und aus allen mitteldeutschen Ländern und auch nicht nur die Westfalen um Bielefeld herum, die kamen auch aus allen möglichen Himmelsrichtungen und das war auch gut: Wir hatten alle nichts oder wenig und jeder freute sich, wenn dann so ein bisschen dazu kam und wenn's nur ein Fahrrad war, denn mehr gab's ja noch nicht. Vereinzelt stand dann mal ein Auto vor der Tür aber da wusste man auch: Das war nicht bezahlt. Ich denke, es ging uns gemeinsam allen wieder ein bisschen besser. Ich persönlich hab mich wohl gefühlt und war voller Hoffnung und voller Energie. Autorin Der Wohnungsmangel durch die Kriegszerstörungen wurde verschlimmert durch Millionen von Vertriebenen aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten und nun kamen noch DDR-Flüchtlinge: O20 Biermann Wie es in meiner Heimat war? Schön! Mecklenburg ist ein Agrarland und da gab es sehr viele große Güter und Staatsdomänen, aber wir waren ein Bauerndorf. Kleinere Bauern, größere Bauern, so richtig Mecklenburger Dorp. Man hatte von der Taube auf dem Dach bis zum Kleinsten sämtliches Tierzeug. Geflügel, Enten, Gänse, Tauben, Schweine, Kühe, Pferde, musste man ja haben um das Feld zu bestellen, es gab ja noch keine Traktoren, jedenfalls nicht für kleinere Betriebe, ja von morgens früh bis abends spät gearbeitet, trotzdem war's schön. Autorin Aber dennoch ging sie weg. O21 Biermann In kurzen Worten gesagt: Wir sollten dann ja irgendwann Genossenschaftsbauern werden, das war die Enteignung. Das wollten wir nicht mitmachen und dann hat man uns gesagt: na ja, denn man mit allem her, mit Viehzeug und Maschinen und dann machen wir ohne euch die LPG. Und Partei hatte man sowieso nix mit im Sinn... Und da war das Leben einfach nicht mehr schön im Dorf und die jungen Parteimitglieder, die dann auch zeigten was die durften, das war nicht schön. Und das war der Grund, dass wir gegangen sind. Autorin Ein halbes Jahr lang schmuggelte Ursula Biermann beweglichen Besitz zu Freunden in Westberlin: Wäsche, Geschirr, Bargeld - dann ein vorgeblicher Verwandtenbesuch -1958 ging das noch - und von dort mit dem Taxi ins Auffanglager Lichterfelde. O22 Biermann Dann wurde das so'n bisschen feierlich: Sie sind jetzt Bundesbürger und herzlichen Glückwunsch , Sie werden jetzt ausgeflogen. Mit der Pan Am nach Hannover geflogen. Und das war alles sehr aufregend, erste Mal im Flieger: Meine Mutter sagte dann in Hannover: Warum müssen wir denn aussteigen, das ist so schön hier im Flugzeug! Und ich hatte Angst, dass die Herzklopfen kriegt! Und von Hannover kriegten wir dann ein Zettelchen um den Hals: Sozialwerk Stukenbrok. Ja, das war ja vorher Russenlager gewesen, Russengefängnis. Autorin Und dann eine nagelneue Wohnung in einer nagelneuen Stadt, das Paradies... O23 Biermann Ich hab ja nun keine Beruf gelernt außer eine tüchtige Landfrau zu sein, mit Geflügel schlachten, mit Wurst machen, mit Vorratswirtschaft mit allem was dazu gehört auf dem Dorf. Ich konnte ja nun hier meine Eltern nicht allein lassen und habe dann das Glück gehabt, dass ich in einem recht angenehmen Beruf arbeiten konnte, nämlich im Blumenladen. Bevor ich da die Arbeit kriegte habe ich vierzehn Tage in einer Keksfabrik in Bielefeld gearbeitet und da habe ich gesagt, nee, das ist das Allerletzte, das war Fabrikarbeit und zweitens wurden wir da ausgenutzt, wir kriegten die schlechtesten Arbeitsplätze, wir waren ja Flüchtlinge und nein, da hab ich gesagt, lieber gehe ich wieder auf einen Bauernhof, Mist streuen, als da in einer Fabrik arbeiten. mit Musik 3 unterlegen Zitat 3 "Die Stadt bietet hohe Löhne und Kultur, aber die Luft ist schlecht und das Sonnenlicht wird immer mehr ausgeschlossen. Das Land ist die Quelle von Schönheit und Reichtum, doch man kann es nicht genießen wegen der niedrigen Löhne und dem Mangel an Unterhaltung. Stadt und Land müssen heiraten. Aus dieser glücklichen Vereinigung wird eine neue Hoffnung sprießen, ein neues Leben, eine neue Zivilisation." 1898, Ebenezer Howard, geistiger Vater der Gartenstädte. Atmo 6 draußen, Enten am Bach Autorin Über die Blumenkästen des kleinen Balkons geht der Blick zu einer weiten Grünachse. Der Bach, der schon vorher hier war, wurde erhalten, die einbetonierte Quelle 2001 sogar renaturiert. An beiden Ufern führen Spazierwege entlang. O24 Biermann Ich liebe das Bullerbachtal und dann den Wald. Die Seitenwege, die wir haben, finde ich, sind sehr schön, dass man von der Straße weg und dann nur diese Wege... Bullerbachtal, ja, das ist für mich Erholung pur und dann diese alten Bäume, die ich sowieso so liebe. Also Bäume geben mir Kraft, ich muss manchmal einen Baum anfassen, aber das hat vielleicht mit meiner Herkunft zu tun. Atmo 6 kurz stehen lassen, dann langsam weg O25 Biermann Heimat, also ich persönlich sage: Heimat isses nicht. Meine Heimat ist da wo ich geboren bin, wo ich erwachsen wurde. Aber mein Zuhause ist hier gewachsen und wo man zu Hause ist, fühlt man sich auch wohl. Und für kein Geld würd ich hier aus der Sennestadt... jetzt sowieso nicht in meinem hohen Alter, aber es war für mich gleich so ein Gefühl: hier kannst du sesshaft werden, hier ist es schön, man kommt mit den Menschen gut zurecht, weil wir ja alle neu anfangen mussten hier. Es fehlt natürlich vielleicht auch traditionsbewusstes Leben. Autorin Denn die alte Senne, die Heidelandschaft mit Vieh und uralten Bauernhöfen ist weg. Atmo 1 Bahnfahrt innen bis Anfang Musik Autorin Nur noch Straßennamen erinnern an die Höfe, die teils seit 400 Jahren hier gestanden hatten: Lindemann, Quakernak, Kracks... Die Kracker haben besonders lange hier gelebt. Der Name lässt sich aufs Mittelhochdeutsche zurückführen: Siedler am Krähenwald. Als dann die Industrialisierung kam, machte ein schlauer Kracks aus Erntewagen und Ackergäulen kurzerhand ein Fuhrunternehmen. Der alte Bahnhof wurde nach ihm benannt in Krackser Bahnhof - leider heute auch umbenannt, schlicht und geschichtslos: Senne Bahnhof. Von da geht es in 20 Minuten in die Bielefelder Innenstadt. In eine andere Welt... Musik 4: Titel: Guaglione Interpret: Perez Prado & is Orchestra Komponist: Giuseppe Fanciulli Label: Backline Records, LC-Nr. 09169 Mit Musik 3 unterlegen Zitat 4 Menschen schaffen sich in den Städten einen Lebensraum, aber auch ein Ausdrucksfeld mit Tausenden von Facetten, doch rückläufig schafft diese Stadtgestalt am sozialen Charakter der Bewohner mit. Alexander Mitscherlich, deutscher Psychoanalytiker und Schriftsteller 1965 in seinem Buch "Die Unwirtlichkeit unserer Städte" Atmo 8 Markt (auch unter die O-Töne, durchgezogen mal leiser, mal lauter) Autorin Eigentlich war die Sennestadt autark angelegt. Mit der Eingemeindung nach Bielefeld, gegen die Sennestadt erfolglos geklagt hat, wurde auch das Experiment abgebrochen: Verkehrsschilder kamen und der Sennestadtverein kämpfte lange Jahre darum, dass bei weiteren Bauvorhaben das Gesicht der Siedlung nicht vollkommen zerstört wurde. Sennestadt ist nach wie vor ein Fremdkörper am Rande von Bielefeld, der Zusammenhalt der Bevölkerung fast dörflich. O 26 Klemens In der Stadt selber finde ich den Marktplatz sehr schön. Der hat so ein bisschen italienisches Flair, ich gehe regelmäßig auf den Wochenmarkt, nicht nur weil man da die Sachen frisch und von guter Qualität kriegt, man trifft eben Menschen, die man kennt und mit denen man ein paar Worte dann wechselt und das finde ich auch sehr schön. Autorin Mittwochs und samstags belebt sich der kreisrunde, dunkel gepflasterte Reichowplatz rund um die moderne Skulpturengruppe. Bauern aus der Umgebung bieten Saison-Gemüse an, ein Blumenhändler aus Holland ist da. Es gibt ländliche Wurstspezialitäten, und durch die Buden zieht der appetitliche Duft von dicken Kartoffelpuffern, hier auch "Pillekuchen" oder "Pickert" genannt. Jeder möchte gern ein Wort mit Elke Klemens wechseln, denn sie ist seit 23 Jahren ehrenamtliche Bezirksvorsteherin oder, wie das jetzt eleganter heißt: Bezirksbürgermeisterin. O 27 Klemens Leider ist das, was wir uns damals gewünscht haben nicht eingetreten: wir haben damals gedacht, man könnte diesen Marktplatz mit vielerlei Geschäften beleben, Cafeteria und so weiter, das ist leider nicht so eingetreten, weil zu der Zeit, als dieser Marktplatz gebaut wurde, eigentlich schon das Sterben der kleinen Geschäfte vorprogrammiert war. Autorin Ein Schicksal, das Sennestadt mit anderen Orten teilt, hier aber besonders unangenehm, weil die Quartierszentren, in denen man sich mit allem Nötigen versorgen konnte, eben den Vorort- oder Schlafstadt-Charakter verhindern sollten. Die 1956 noch ungeahnte Mobilität und die Supermärkte auf der grünen Wiese haben die Vision autarker Quartiere zunichte gemacht. Elke Klemens ist mit ihrem Mann Ulrich 1962 hergezogen. O 28 Klemens wir sind hier mit unserem alten Käfer hingefahren, haben uns überall umgeguckt und uns gefiel diese neue Stadt, nicht so sehr vom städtebaulichen am Anfang als vielmehr von der wunderschönen Umgebung... Autorin Wald in und vor der Stadt, der Teutoburger Wald vor der Haustür... O 29 Klemens Es war eben eine neue Stadt, und die Menschen die hier hin gezogen sind, waren vorwiegend junge Familien mit Kindern, alle so in etwa in unserem Alter, Sennestadt war zu der Zeit die kinderreichste Stadt Nordrheinwestfalens, und wir wussten, dass wir jetzt hier die Möglichkeiten haben würden, Neues mit aufzubauen, uns mit einzubringen in dieses neue Gemeinwesen, man musste nicht erst irgendwelche Hindernisse, wie man in Westfalen sagt, gegenüber den alten Poahl-Bürgern beiseite räumen... Autorin Poahl-Bürger - Stock-oder Pfahl-Bürger, laut Wikipedia ein wohlhabender Alteingesessener, der vor seinem Haus einen Stock zum Pferde anbinden hatte... O 30 Klemens Poahlbürger, das ist so ein Münsterländisches Platt, das ist einer, der auf seiner Scholle sitzt und seine feste Meinung von den Dingen hat, und am liebsten auch keinen anderen rein lassen würde in seine Kreise. ... Hier sitze ich und hier bin ich und so ist das eben.... Marktatmo kurz hoch O 31 Klemens Wenn ich auf dem Spielplatz mit meinen Kindern war, hab ich einmal zwei Mütter angesprochen und gefragt, wie das denn hier so wäre und ob wir uns nicht mal treffen könnten auch so außerhalb der Kinderbetreuung, und das ist dann ein sehr nettes Verhältnis geworden, das sehr lange angedauert hat. Es waren alle neu und alle hatten das Bestreben Kontakte und Netzwerke zu knüpfen mit anderen, und von daher war das schon eine Aufbruchsstimmung in dieser Zeit. Autorin Elke Klemens hätte in ihrer Jugend nie gedacht, dass sie einmal in die Politik gehen würde. O 32 Klemens Ich habe damals eigentlich, als ich so 17, 18 war, habe ich gedacht, ich würde mal Schriftstellerin, ich hab viel geschrieben, Gedichte, Erzählungen, sogar einen kleinen Roman, und das war so mein Traumziel. Mein Berufsziel war eigentlich Forstmeister, weil ich mich sehr für Natur und Tiere interessierte, bis heute noch, aber das war ein Ziel, das man als Mädchen damals überhaupt nicht erreichen konnte. Als ich die Jägerprüfung gemacht habe, war ich das einzige weibliche Wesen unter 35 Männern. Autorin Das war 1957. Statt Försterin hat sie Buchhändlerin gelernt, war aber nur ein Jahr im Beruf, hat geheiratet und zwei Kinder bekommen... 33 Klemens Ich war dann zu Hause. Ja, ich hab in dem großen Haus meiner Schwiegereltern mit einem großen Garten, viel Obstbäumen, und Sträuchern und viel Gemüse und so weiter hab ich dann so mein Hausfrauen- und Mutterdasein gefristet. Autorin: Eine Zeit, an die sie sich durchaus gern erinnert, aber die Sennestadt hat dann aus der braven Schwiegertochter eine Kämpferin gemacht. Der Auslöser war... O 34 Klemens nämlich, dass Frauen kaum die Möglichkeit hatten, berufstätig zu sein, weil einfach die Kinderbetreuung nicht gesichert war. Die Kindertagesstätten waren ja noch keine Tagesstätten, und die Frauen hatten praktisch keine Möglichkeit, wenn sie nicht zufällig eine Oma vor Ort hatten; und so blieb es dabei, dass Frauen, wenn überhaupt berufstätig waren, kleine Aushilfsstellen gemacht haben, und das war natürlich auf die Dauer sehr unbefriedigend. Und wir haben schon versucht, von unserem kleinen Standpunkt aus, daran etwas zu ändern, aber da musste man sehr dicke Bretter bohren! Weil auch die politische Meinung damals die war, dass Frauen ins Haus gehörten und die Frauen, die dann ihr Recht einforderten auf Berufstätigkeit, auf Bildung, auf Teilhabe am öffentlichen Leben, die galten dann schlicht und einfach als Rabenmütter. Autorin Elke Klemens hat sich davon nicht behindern lassen, wurde Grundschullehrerin, machte in vielen Vereinen und Arbeitsgruppen mit, organisierte Kulturveranstaltungen, ebenso wie ihr Mann. In den 70er Jahren, nach dem erzwungenen Anschluss an Bielefeld hat sie für den Erhalt der Sennestadt-Idee gekämpft, sich aber nicht immer durchsetzen können, wie im Fall des Stadtteils "Quakernacks Hof". O 35 Klemens Wir nannten es Schachtelhausen. Und zwar deswegen, weil die Grundstücke relativ klein dort sind und die Häuser sehr sehr eng aneinander gebaut worden sind, was vorher hier in Sennestadt noch nicht der Fall war, da wurde sehr großzügig gebaut, auch zwischen den mehrgeschossigen Blocks war immer Platz gelassen worden mit grün und alten Bäumen die auch stehen gelassen worden sind; und da ist zum ersten Mal sehr dicht gebaut worden, weil natürlich auch die Grundstückspreise in den 70er Jahren massiv anstiegen und weil der Bedarf nach Wohnraum sehr groß war. Autorin Die Familie Klemens wohnt am Rand der Sennestadt in einem Einfamilienhaus mit winzigem Gärtchen. Einen Zaun gibt es nur, weil sie mal einen großen Hund hatten. Sonst gehen die Gärten ineinander über und man ist mit den Nachbarn ständig in Unterhaltungs-Weite. Kinder, Kirche, Küche, Chor, Vereine, Politik... Für Privatleben blieb da wenig Zeit. O 36 Klemens Also die Belastung war zeitweise schon grenzwertig. Aber ich denke, das ist in Ordnung. Das hat uns die ganze Zeit, uns beiden eigentlich sehr viel Befriedigung verschafft, mein Mann ist ja auch ein Mensch der sich ungern auf die faule Haut legt und nur noch seinen Garten betrachtet, sondern er hat auch immer Bedürfnis, was zu tun, auch für die Allgemeinheit zu tun. Und das war für uns eine sehr schöne Sache, es gibt für uns beide immer wieder Gesprächsstoff, man hat gemeinsame Ziele, und ich glaube, das ist was, was auch für Ehe positiv ist. Ich hab mich auch, muss ich schon sagen, in meinem Wesen sehr geändert. Als junges Mädchen war ich sehr still und zurückhaltend. Musik 5: Titel: Abendlied Komponist: Josef Rheinberger Interpret: Vokalensemble der Kantorei Sennestadt (Lizenzfrei überlassene private Aufnahme) Autorin: Einer der zahlreichen Sennestädter Chöre, in dem auch Elke Klemens singt, mit dem "Abendlied" von Josef Rheinberger Atmo 9: Fußballspiel vorm Fernseher leise im Hintergrund O 37Pörtner Sport, Sport, also, so bin ich viel rumgekommen und so weiter, so gesehen, Olympiade in Rom gewesen, Fußballweltmeisterschaft in Schweden da unten ne, und dann noch mal Fußballweltmeisterschaft 78 in Argentinien bin ich mit 4 Mann von hier gewesen, zu der Zeit war der Sport mein Ein und Alles, da kannte man nichts anderes. Atmo 10 (Tor!!!) Autorin Wilfried Pörtner, klein, stämmig, wortkarg wie Günther Netzer. Fußball ist sein Ein und Alles, kein wichtiges Spiel lässt er sich entgehen. Als 1956 die Architekten anrückten, mit vielen neuen und ehrgeizigen Ideen, da war er 30 Jahre alt und lebte in dem Haus, das sein Vater gebaut hatte, eigentlich einer der vorhin erwähnten Poahl-Bürger... O 38 Pörtner Mein Vater war Maurer, nich, hatte ,ne Feierabend-Wirtschaft dabei, ich musste als Kind fleißig mit auf's Land, graben oder sonst so, wir hatten 2 Ziegen, die Kuh des kleinen Mannes sagte man ja früher zu der Ziege, nich, und auch zwei Schweine hatten wir, so dass wir so nebenbei halbe Selbstversorger waren. im Winter ist mein Vater ja arbeitslos gewesen, die Maurer hatten da ja nichts. Und da musste er auf diese Art und Weise sehen, dass er was zu essen kriegte, gab ja keine Unterstützung, Schlechtwettergeld kannte man noch nicht. Autorin Dieses kleine Haus ist als Einziges geblieben, wie es war. Nur dass Willi Pörtner eine Garage hat einbauen lassen. Der Architekt der "Stadt der Zukunft" Hans Bernhard Reichow hatte 1954 - und das war schon fortschrittlich - einen Parkplatz pro drei Wohneinheiten vorgesehen. Heute ist das Verhältnis umgekehrt, doch wer konnte das damals ahnen? O 39 Pörtner Das war nur Land. Ganz früher war hier so: das nannte man das Schlappenviertel. Da unten standen zwei Hauser, hier oben eins, dann da, dann da: das waren so 5, 6 Häuser, und so ein Weg ging hier durch, früher kannte man ja nur Wege, Straßen waren ja nirgendswo da. Nur eine Landstraße, die war asphaltiert. Die Bauern mit ihren Fuhrwerken fuhren da durch und nebendran war so ein ein kleiner Packweg, da fuhren die Radfahrer oder als Fußgänger musste man da laufen und sonst war alles Sand. Sand, Sand , Sand! Trenner: Atmo 9 kurz hoch O 40 Pörtner Und der Boden war auch nicht so gut, wie bei anderen Bauern, nich. Insofern hat man da schon - meine ich - gut gemacht, weil hier der Ertrag der Landwirtschaft - wenn anders wo der Roggen woanders eineinhalb Meter hoch stand, stand der hier nicht mal einen halben Meter. Autorin Niemand musste hier zum Allgemeinwohl enteignet werden, im Gegenteil: Die Bauern haben ihr schlechtes Land nur allzu gern gegen gute Mark getauscht. O 41 Pörtner Das waren so drei große Bauernhöfe die haben verkauft ihr Land, noch son paar Kleinere dabei, und die haben gekriegt für'n Quadratmeter ,ne Mark, hatten natürlich dann ein paar hunderttausend manchmal, die haben sich ja dann alle ,nen Hof wieder gekauft, da wo der Boden ein bisschen vernünftig war, einer iss nach Norden rauf, Bauer Lindemann, das war der Größte, der hat sich auch ein großes Gut wieder gekauft, dann ist einer an die Weser gegangen, ein Kramme ist nach Bochum gegangen.... so dass sie alle sich wieder ganz gut angelegt haben, der Ertrag war da größer,ne? Autorin Da hat mancher seinem Glück nicht getraut. Man erzählt sich, dass einer der Bauern nur Bargeld annehmen wollte. Und Reichow musste einen seiner Architekten nach Bielefeld schicken, um von der Bank einen Sack Scheine zu holen, sonst hätte er dort nicht mit den Vermessungen beginnen dürfen. Willie Pörtner hatte unter diesen Umständen mit dem Landleben sowieso nichts im Sinn. Maurer werden wie sein Vater wollte er auch nicht. Und so fand er Arbeit in der "weißen Stadt" Bielefeld, die traditionell für Textilveredelung stand: O 42 Pörtner Gelernt habe ich Wäschezuschneider, Bielefeld viele Wäschefirmen, Seidensticker, Schäfer und Vogel, als 14jähriger, da sind wir noch mit der Kleinbahn gefahren und 45 wurde sie dann einmal auf der Rückfahrt bombardiert. Die kreisten erst über uns, die Flugzeuge, da sind wir nicht abgefahren, dann als sie weg waren, sind wir gefahren aber nur 2 Stationen, da krachte es mit einem Mal. Ich saß im ersten Wagen, der zweite Wagen war platt. Atmo/Trenner O 43 Ja, da hab ich denn mich um nix gekümmert, eine Schulkollegin von mir war im ersten Wagen gesessen, aber ich hab nur an meinen Zug gedacht, den ich um Viertel vor 8 kriegen musste, um nach hierhin zu kommen, die Bahnstrecke ab nach Bielefeld gelaufen, ... Trenner: Atmo kurz hoch O 44 Pörtner Nach der Geldumwertung, der D-Mark, ging das hier erst richtig schön los. Es war ein schöner Beruf, doch, schöne saubere Arbeit, man musste sich nicht dreckig machen, mit Stoff und zuschneiden und unten war ne Plätterei, wenn man das fertige Produkt sah, wie es aus der Plätterei kam, da hat man sich auch gefreut, ne! So waren wir früher auch immer schön angezogen, Hemd, Krawatte, nich? Autorin Mitte der 60er Jahre standen dann 500 Einheimischen plötzlich 15.000 Zugezogene aus Schlesien und allen Teilen Deutschlands. Gab das keinen Ärger? O 45 Pörtner Wir waren nicht abgeneigt, nich, also das möchte ich sagen. man hat sich allgemein gefreut: jetzt wird hier auch mal was Neues kommen, wie das so war, nich... Ich finde das ganze Projekt Sennestadt ist schon eine gute Sache gewesen. Und da Brackwede und so - wir hatten schon drei Großturnhallen gehabt, da hatten die noch nicht mal eine! Musik 6 Titel: When you grow up Interpret: Priscilla Ahn Komponist: P. Ahn / Jake Blanton Label: Blue Note Records, LC-Nr. 00133 mit Musik 3 unterlegen Zitat 5 Das Hauptverkehrsmittel war stets der Radschlitten, ...ferner kamen dazu die Stufenbahnen, die in regelmäßigen Abständen alle bewohnten Gegenden mit ihrem dichten Netz überspannten. Diese Stufenbahn war das Ideal einer Straße. In ihr war die Fantasie des Märchendichters realisiert, dass statt des Reisenden die Wege selbst sich bewegten. "Auf zwei Planeten" von Kurd Lasswitz, dem "Vater des Science Fiktion" Musik 3, darauf Autorin Sennestadt - einst bewunderte "Stadt der Zukunft". Funktioniert sie heute noch? Architekten aus der ganzen Welt kommen hierher, um sich Reichows Ideen anzuschauen, vor allem seinen Umgang mit dem Auto: fließender Verkehr ohne Kreuzungen und Ampeln. Ein Problem, an das allerdings damals niemand gedacht hat: All die jungen Leute, die gemeinsam herkamen, sind auch zusammen alt geworden. Die mittlere Generation ist weggezogen - aus Mangel an Arbeitsplätzen. Doch weil man sich um den Zuzug junger Familien bemüht hat, ist man auf dem besten Weg, die Altersstruktur auszugleichen. Sieben Schulen gibt es, zahlreiche Kindergärten und Spielplätze, ein gut ausgestattetes Jugendzentrum. Wie finden die heute Jungen die "Zukunft" von gestern? Schüler des Ehrenberg-Gymnasiums: O 46 Collage Eng, eng! Viele Häuser nebeneinander direkt. Also ich finde Sennestadt ist eher was für Ältere. Also, ich finde es ganz schlau gemacht, dass man immer Sonne hat, wenn man abends von der Arbeit kommt und ich finde, die Idee klappt eigentlich gut, weil das ist entspannt... ich finde wenn man im Sommer abends in Sennestadt ist gibt es eigentlich viele Möglichkeiten, nicht so Angebote, sondern Orte wo man sich mit Leuten treffen kann, das finde ich gut. Also es gibt zum Beispiel am Sennestädter Teich den Steg, MacDonalds... (Lacher der anderen), Die Straßenführung ist ein bisschen chaotisch aber sonst ist es ganz nett. Mich stört dass die Busse nicht so oft fahren, in der Woche alle halbe Stunde, am Wochenende nur einmal in der Stunde, nur mit diesem einen Bus kann ich in die Stadt fahren. Läden, wo man Klamotten einkaufen kann, gibt's hier gar nicht. Autorin Wie würde denn eure Stadt der Zukunft aussehen? O47 Collage2 Ich fänd' eine Schwebebahn cool... Eine gute Verknüpfung mit anderen Städten! Ich würde mehrere Architekten einbeziehen, dass nicht alles gleich ist, dass es unterschiedlich ist. Wenn man einmal irgendwohin will, sollte man das auch sofort erreichen können. Also am besten einen Beamer? Ja, aber das ist ja schon Fantasie... Atmo 10 Luna (Jugendzentrum) Autorin Zum Bevölkerungsgemisch der Sennestadt sind seit den 70er Jahren noch Russlanddeutsche hinzu gekommen und Menschen mit türkischem Migrationshintergrund. Yasim Zorlu ist in Sennestadt geboren und arbeitet im Jugendzentrum Luna. Von der besonderen Geschichte seiner Stadt hat er erst vor Kurzem erfahren, als der Architekt Peter Holst ihm das Maßstab getreue Stadtmodell gezeigt hat: O 48 Yasim Ich fand's erst mal sehr toll überhaupt, weil ich hab das ja zum ersten Mal gesehen, ich leb jetzt schon seit 18 Jahren hier und so ein Modell hab ich ja zum allerersten Mal gesehen, ich fand es faszinierend, wie so etwas zustande kommt erst mal. Trenner: Atmo kurz hoch Es ist zwar interessant zu erfahren, was die Leute überhaupt wollten, um die Stadt auf die Beine zu kriegen, aber für mich persönlich ändert das nicht viel, so. Für mich ist das meine Heimat hier. Ich hab schon andere Städte gesehen, ich war auch in Großstädten und - ist alles nicht vergleichbar für mich. Ich könnte mir sehr schwer vorstellen, woanders zu leben. Autorin Das Luna wurde kürzlich mit Landesmitteln modernisiert: rote Ziegelsteine, Holz, Stahl, Glas. Es gibt Spiele, Räume für Workshops und Events, im Keller übt eine Band. Und? Funktionieren die Ideen noch, lebt es sich angenehm hier, auch für Jüngere? O 49 Yasim Also das mit der Sonne, das hab ich noch nie in Betracht gezogen, aber das mit den Menschen, da kann ich zu sagen, dass ich persönlich keine Probleme mit Menschen habe, ob sie nun reich oder arm sind, diese Probleme kommen hier gar nicht auf. Jeder versteht sich, alles in Ordnung. Natürlich hakt's mal hier und dort aber ansonsten ist alles super, find ich. Trenner: Atmo ganz kurz hoch (Gelächter, spielende Jugendliche) O 50Yasim Alles, was man erreichen könnte, ist auch zu erreichen, wenn man einkaufen will. So weit ist das nicht, maximal von einem zum anderen Ende acht Kilometer? Ich bin auch sehr viel zu Fuß unterwegs, ich geh sehr viel Wege, nicht Straßen. Wir haben viel Wald und Landschaft. Autorin Aus dem Fenster des Luna geht der Blick auf den kleinen See, in den das Sennestadthaus, als gefühlte Mitte und Zentrum der Gemeinschaft, hineingesetzt ist wie ein Schiffsrumpf. Auf der Wiese genießen ein paar Wildentschlossene die erste Frühlingssonne. Worauf würde Yasim Wert legen, wenn er eine Stadt der Zukunft entwerfen könnte? O 51 Yasim Autos, die fliegen. Ich bin mir eigentlich sicher, dass das passieren wird. Dann denke ich mal, Schwebebahn oder so. Alle lieben sich, jeder kennt jeden, mehr gemeinschaftliche Häuser, dass man auch andere Menschen kennen lernt. Mehr gemeinschaftlich, mehr Kenntnisse, mehr sozial... Man braucht Menschen, man braucht soziale Kontakte - auf jeden Fall! Der Rest ist Formsache. Schlussmusik Spr.v.D.: Die ideale Stadt vor 50 Jahren. Sennestadt in Nordrhein-Westfalen Sie hörten eine Deutschlandrundfahrt von Sabine Korsukéwitz Ton: Bernd Friebel Regie: Roswitha Graf Redaktion: Margarete Wohlan Eine Produktion von Deutschlandradio Kultur 2012 Manuskript und online-Version der Sendung finden Sie im Internet unter dradio.de 1 Deutschlandrundfahrt Sennestadt Korsukéwitz