Deutschlandfunk GESICHTER EUROPAS Samstag, 8. April 2017, 11.05 - 12.00 Uhr KW 14 Im Nest der Rebellen - 40 Jahre nach der "Charta 77" Eine Sendung von Kilian Kirchgeßner Redaktion: Marcus Heumann Musikauswahl und Regie: Babette Michel Urheberrechtlicher Hinweis Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Die Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in §§ 44a bis 63a Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. (c) - unkorrigiertes Exemplar - Trailer GSE O-Ton-Collage: (Sumperk) "Im Leben gibt es einige Ereignisse, die für einen Menschen etwas bedeuten. Bei mir waren das die Hochzeit, die Geburt meines Kindes - und ich fühlte, dass das mit der Charta auch so etwas war. Dass es ein Schritt ist, der mein Leben beeinflusst." - Eine tschechische Bürgerin, die zur Bürgerrechtlerin wurde (Maly) "Ein wichtiger Moment ist, dass wir bereit waren, Opfer zu bringen für unsere Überzeugung. Freiheit wird auch aus Opfern geboren. Es hilft nichts, immer in die Vergangenheit zurückzukehren, aber in diesem Punkt ist die Charta heute noch aktuell." - Ein Priester im Griff der Tschechoslowakischen Staatssicherheit (Kusy) "Sehen Sie da oben die Fuge? Da ist ein Öffnungsmechanismus, dahinter kann man etwas verstecken. Ich habe viele solcher Verstecke hier im Haus eingebaut; manche haben sie gefunden, dieses hier aber nicht. Das ist der eindeutige Vorteil dieses Hauses gegenüber einem Plattenbau: Hier kann man etliche Verstecke unterbringen. Ich habe das Haus eigenhändig renoviert - schon im Wissen, dass ich diese Verstecke einmal brauchen werde." ...und ein slowakischer Reformkommunist, der zum Dissidenten mutierte Gesichter Europas. Im Nest der Rebellen - 40 Jahre nach der "Charta 77". Eine Sendung von Kilian Kirchgeßner. REPORTAGE 1 Die schwere Tür der Schatzkammer öffnet sich. Grau ist die Fassade des Hauses ein paar Schritte von der Moldau entfernt, sie wirkt abweisend. Ondrej Matejka geht im steinernen Treppenhaus nach oben, vorbei am missmutigen Pförtner, auf jeder Etage eine verschlossene Tür. In den Räumen, die vom Treppenhaus abgehen, lagern die Akten der Staatssicherheitsbehörde. "Das Gebäude, wo wir jetzt stehen, das ist ein Luxusgebäude in dem Sinne, dass es eine Luxuslage hat, es ist mitten in Prag, ein sehr schönes altes Gebäude, das verstaatlicht wurde nach dem Zweiten Weltkrieg. Seit den kommunistischen Zeiten gab es hier ein Archiv, wir haben das Archivgebäude seitdem und wir sind sehr froh darüber, weil es zentral liegt und Nutzer können hier sehr einfach herkommen." Ondrej Matejka ist Vize-Chef der tschechischen Stasi-Unterlagenbehörde. Der Historiker ist auf der Suche nach den Originaldokumenten zur Charta 77. Er spricht eine Archivarin an - sie verschwindet in den Reihen mit den metallenen Regalen, in denen tonnenweise Archiv-Kartons stehen. Ein vierseitiges Formular muss Ondrej Matejka ausfüllen, dann händigt sie ihm den Karton mit den Unterlagen aus. Er trägt ihn einen Raum weiter in ein Studierzimmer. Ein Dutzend karger Arbeitsplätze ist hier aufgebaut, jeweils ein Schreibtisch mit Lampe. Ondrej Matejka hat den Raum für sich. "Das hier ist die sogenannte [liest tschechisch vor, dann auf Deutsch die Erklärung:] das heißt: Die Behörde zur Ermittlung der Staatssicherheit, das ist die Ermittlungsakte zur Charta 77 und in dieser Akte sind die Unterschriften zur Erklärung Charta 77. Das ist eigentlich schön damals gemacht worden, diese papierenen Umschläge, wo das alles nach Alphabet geordnet wurde. Auf dem Umschlag sieht man: Föderales Innenministerium, mit Schreibmaschine alle die Namen niedergeschrieben, die hier drin sind." 40 Jahre alt sind die meisten der Papiere, die Ondrej Matejka sorgsam in die Hand nimmt. Um die Charta zu verstehen, sagt er, müsse man hierher kommen: Auf haarfeinem Papier ist der Text der Charta geschrieben, mangels nicht staatlich kontrollierter Druckereien tippten die Dissidenten alles mit möglichst vielen Durchschlägen auf der Schreibmaschine ab. "Charta 77 ist eine freie informelle und offene Gemeinschaft von Menschen verschiedener Überzeugungen, verschiedener Religionen und verschiedener Berufe, verbunden durch den Willen, sich einzeln und gemeinsam für die Respektierung von Bürger- und Menschenrechten in unserem Land und in der Welt einzusetzen ..." "Die Unterschriftensammlung ginge Ende Dezember 1976, zwischen Weihnachten und Neujahr. Da gab es ein paar Koordinatoren, die haben die Unterschriften gesammelt unter den Bekannten und Freunden oder gleichgesinnten Leuten, von denen sie erwartet hätten, sie würden das unterzeichnen. Allerdings wurde der Text absichtlich aus konspirativen Gründen an die Leute nicht ausgehändigt." "Charta 77 fußt auf dem Boden der Solidarität und Freundschaft von Menschen, die von der gemeinsamen Sorge um das Geschick der Ideale bewegt werden, mit denen sie ihr Leben und ihre Arbeit verbunden haben und verbinden. Charta 77 ist keine Organisation, hat keine Statuten, keine ständigen Organe und keine organisatorisch bedingte Mitgliedschaft. Ihr gehört jeder an, der ihrer Idee zustimmt, an ihrer Arbeit teilnimmt und sie unterstützt." "Das heißt, die haben nur eine kleine Karte unterschrieben, wo der Name steht und dann der Satz: Ich stimme mit der Erklärung der Charta 77 überein." Bei "Beruf" stehen auf diesen Karten häufig die gleichen Angaben: Heizer, Fensterputzer, Arbeiter beim Wasserwerk - das Regime hielt missliebige Intellektuelle systematisch aus ihrem eigentlichen Beruf heraus. Viele gelangten erst weit später in wichtige Positionen. "Vlasta Chramostova, die Schauspielerin. Jiri Hajek, der später Außenminister war, Pavel Rychecky, heute der Präsident des Verfassungsgerichts, Jiri Patocka, der Philosoph." "Charta 77 ist keine Basis für oppositionelle politische Tätigkeit. Sie will dem Gemeininteresse dienen wie viele Bürgerinitiativen in verschiedenen Ländern des Westens und des Ostens. Sie will also nicht eigene Programme politischer oder gesellschaftlicher Reformen oder Veränderungen aufstellen, sondern in ihrem Wirkungsbereich einen konstruktiven Dialog mit der politischen und staatlichen Macht führen, insbesondere dadurch, dass sie auf verschiedene konkrete Fälle von Verletzung der Menschen- und Bürgerrechte hinweist, deren Dokumentation verbreitet, Lösungen vorschlägt, die auf Vertiefung dieser Rechte und ihrer Garantien abzielen, und als Vermittler in anfallenden Konfliktsituationen wirken, die durch Widerrechtlichkeit verursacht werden können." Ondrej Matejka kommt ins Grübeln. Er selbst, der Historiker, wurde erst im Jahr 1979 geboren - zwei Jahre nach Entstehung der Charta. Bewusst erlebt hat er die Atmosphäre nicht mehr, in der die Charta entstanden ist; er blickt darauf mit der Distanz des Historikers. "Die eigentliche Leistung der Charta war, dass Kommunisten oder Altkommunisten mit katholischen Priestern oder evangelischen Priestern oder Intellektuellen oder dem Underground - dass die das zusammen getan haben. Das kann man sich heute kaum vorstellen, wie schwierig das war, wie unterschiedlich die Lebensläufe der Charta-Unterzeichner waren. Unter den ersten Charta-Unterzeichnern war Karel Pecka, ein leider wenig bekannter Schriftsteller, der aber sehr gute Bücher vor allem über die Straflager für die politischen Häftlinge der 50er Jahre geschrieben hat, er saß selbst zehn oder elf Jahre in den Lagern. Und dieser Mann kam in der Charta zusammen mit Leuten wie Pavel Kohout oder Jaroslav Sabata, die gerade in den 50ern eine glänzende Karriere gemacht haben als Schriftsteller oder Regimeleute. Diese reichen sich dann 76/77 die Hand." "Durch ihren symbolischen Namen betont Charta 77, dass sie an der Schwelle eines Jahres entsteht, das zum Jahr der Rechte politisch Gefangener erklärt wurde und in dessen Verlauf die Belgrader Konferenz die Erfüllung der Verpflichtungen von Helsinki prüfen soll. (...) Wir glauben daran, dass Charta 77 dazu beitragen wird, dass in der Tschechoslowakei alle Bürger als freie Menschen arbeiten und leben können. Prag, 1. Januar 1977" Ondrej Matejka hat selbst einen interessanten Werdegang hinter sich: Er gründete als Jugendlicher die Organisation Antikomplex, die sich mit der Aussöhnung von Tschechen und Deutschen beschäftigt. Jahrelang hat er im früheren Sudetengebiet das Schicksal von Orten und Familien recherchiert - dieses Faible für eine engagierte Forschung ist ihm auch in seiner neuen Position geblieben. Wer in den Unterlagen von einst blättert, sagt er, könne für die Gegenwart lernen - vor allem über die Kraft der Einigkeit. "Für mich ist dann eben diese Erkenntnis, dass heute, wo wir in der Zivilgesellschaft alle Möglichkeiten haben, das nicht machen. Heute, wo wir in der Zivilgesellschaft Geld haben, Zugang zu den Medien, die Zivilgesellschaft in Tschechien ist relativ sehr stark entwickelt, aber trotzdem beschäftigt sie sich vor allem damit, dass jeder Verein, jede Organisation vor allem darauf ausgerichtet ist, sich selber zu präsentiert. Man denkt vor allem daran, wie man sich sichtbarer macht - und man denkt kaum daran, wie man gemeinsam über das Wichtige für die Zukunft nachdenkt." Ondrej Matejka packt die Unterlagen wieder zusammen und trägt den großen Karton zurück auf das Pult der Archivarin. "Wir haben versucht, keine Unordnung zu machen. Aber eigentlich sollte hier Havel drin sein." Es fehlt, das Original mit der Unterschrift von Vaclav Havel. Im Papierumschlag für die Anfangsbuchstaben H ist seine Karte nicht enthalten. Ondrej Matejka und die Archivarin wühlen in den Unterlagen, blättern alles durch. Schließlich zieht Matejka einen Briefumschlag aus der Akte und atmet erleichtert auf. "Hier ist es drin, das sind die Highlights. Vaclav Havel. Die Reliquie." Gleich daneben liegt eine dicht beschriebene Seite Papier, über und über mit hingekrakelten Kommentaren versehen. Es ist der erste Textentwurf, an dem alle der Initiatoren mitgewirkt haben. "Und das hier ist das Original der Charta-Erklärung, wo die Anmerkungen zu sehen sind. Das haben sie bei den Hausdurchsuchungen alles gefunden." In ihrer Entstehungszeit die Charta zu unterschreiben, sagt Ondrej Matejka, sei eine heroische Tat gewesen. Im Archiv lässt sich der Preis erahnen, den die Signatare für ihre Unterschrift bezahlen mussten: Meterweise Akten, in denen genau dokumentiert ist, wie sie über die Jahre schikaniert wurden - heimliche Fotos aus ihrem Privatleben, Protokolle von endlosen Verhören; alle jene Instrumente, mit denen das Regime Druck ausübte. Die Schande und der Mut - hier sind sie heute in den gleichen Regalen zu besichtigen. MUSIK LITERATUR Diese zweite Eiszeit Ich war in eine besetzte Stadt gekommen, natürlich. Das neue am Stil sowjetischer Herrschaft heute ist: Man merkt davon nichts, jedenfalls nicht als Fremder. Man sieht keine Besatzungstruppen wie in der DDR oder anderswo. Auf der ganzen Reise keinem Sowjetsoldaten, keinem Panzer, keiner Kompanie der Roten Armee begegnet. Die fremde Macht ist da, sie herrscht souverän, aber sie zeigt sich nicht. Sie provoziert nichts. Sie agiert sehr diskret. Es ist nichts zu besichtigen an Okkupation in der Tschechoslowakei - nur ihre Reflexe, ihre Auswirkungen, ihre Antworten in den Gesichtern der Okkupierten. Vier Jahre nach der gewaltsamen Niederschlagung des Prager Frühlings besuchte der Schriftsteller Horst Krüger im Sommer 1972 die Tschechoslowakei. Aus dem Manuskript seiner Reisenotizen - später publiziert unter dem Titel "Die Normalisierung" - las er im September 1972 für die Hörer des Deutschlandfunks. Das Denkmal des Heiligen Wenzel war nicht mit Blumen geschmückt, wie ich erwartete. Es stand schwarz und hoch da, hoch über den Pragern. Hier hat sich Jan Palach verbrannt, auch davon ist nichts geblieben. Drei oder vier rote Polizeiwagen stehen alarmbereit neben dem Denkmal. Sie werden nicht benötigt. Fremdenverkehrs- Langeweile. Touristen steigen manchmal auf die Stufen, stellen sich steif hin, lächeln für eine Sekunde freundlich, werden von anderen Touristen geknipst, Erinnerungen an Prag 72. Es war sommerlich warm geworden. Die Sonne schien endlich, sie schien über einer müden, trägen Stadt. Merkwürdig: auch wenn man nichts von der großen Politik wüsste - man spürt, dass hier etwas nicht stimmt. Prag ist zu still, heute. Es ist nur Schweigen, Zurückhaltung, Resignation zu hören. Es fehlt jede Freude, jede Helligkeit in den Gesichtern der Menschen. Sie stehen herum wie erloschene Kerzen. Sie schieben sich über die großen Boulevards in der City wie graue Arbeitskolonnen, die gleichzeitig hasten und sehr viel Zeit haben. Zerknitterte Kleinbürgerlichkeit herrscht vor; keine Mädchen, die einen Hauch Eleganz, keine Jungen, die schöne Provokation zeigen. Es vibriert nichts zwischen den Menschen. Da springt nichts über; es leuchtet nichts auf - im Vorübergehen. REPORTAGE 2 Ein paar Minuten steht er schon hier auf dem Gehweg und raucht eine Zigarette nach der anderen. Vinohrady, ein elegantes Prager Viertel; hier in einem der Gründerzeit-Häuser hat die Band ihren Probenraum. The Plastic People of the Universe heißt sie, es gibt sie seit fast einem halben Jahrhundert und Jiri Kabes ist schon fast ebenso lang dabei. Einer nach dem anderen stoßen die übrigen Musiker zu Kabes hinzu. Kaba - so nennen die Bandmitglieder Jiri Kabes, den einzigen, der noch von der Ursprungsbesetzung dabei ist. Er ist 71 Jahre alt, gegerbtes Gesicht, lange Haare, schwarzes T-Shirt, Gehstock; ein gealterter Rockstar. "Genie an der Geige" nennen sie ihn in Prag. Jiri Kabes holt sein silbernes Zigarettenetui raus, er steckt sich die nächste Zigarette an. "Ich rauche noch eine. Ey, ich war vorhin in der Kneipe, da konnte ich eine Dreiviertelstunde nicht rauchen!" Dann gibt einer der jungen Musiker das Signal zum Aufbruch, die Band geht durch die geschnitzte Holztüre ins Haus und biegt an der Treppe in Richtung Keller ab. Der Proberaum ist klein, alle Wände sind dick mit Stofffetzen und Styropor ausgekleidet, damit die Musik niemanden stört. Das Schlagzeug ist schon aufgebaut, jetzt packen die jungen Musiker die anderen Instrumente aus den Kästen, Keyboard, E-Gitarre, Bass. Jiri Kabes hat sich auf seinen Stuhl fallengelassen. Die jungen Musiker könnten seine Enkel sein oder zumindest seine Kinder, sagt er und schmunzelt. "Immer, wenn jemand bei uns dazugestoßen ist, wusste er genau, worum es geht. Für die jungen Leute ist es eine Ehre, dass sie hier spielen dürfen. Und für uns Alte ist es wiederum angenehm, dass sie die Kisten schleppen. Wenn ich keinen Finger rühre, sehe ich zwar aus wie ein Arschloch, aber so ist es halt. Aber mal im Ernst: Ich habe meine Kisten für diese Band seit 1970 getragen, das ist nun wirklich genug." Die Plastic People of the Universe sind eine Legende. Sie gaben den Anstoß zur Charta 77 - ohne dass sie es wussten. Im Jahr 1976 wurden die Bandmitglieder wegen ihrer Liedtexte verhaftet; sie förderten den Umsturz, lautete der Vorwurf der Kommunisten. Die Kampagne gegen die Band war der letzte Anstoß, der noch nötig war, um die Regimegegner zu vereinen. Sie machten sich für die Plastic People stark; zu dem Zweck arbeiteten sie am Entwurf ihrer Charta. "Das war wunderbar, ganz ehrlich. Die Leute haben sich so um uns bemüht. Ich schwöre: Das war wunderbar." Viele Worte macht Jiri Kabes nicht um die Allianz, die auf den ersten Blick merkwürdig aussieht: Da sind auf der einen Seite die langhaarigen Musiker aus dem künstlerischen Untergrund - und auf der anderen Seite die international vernetzten Intellektuellen, die Schriftsteller und Dissidenten. Und beide Gruppen verbanden sich, sie feierten zusammen und diskutierten. Vaclav Havel war selbst viele Jahrzehnte später als Präsident noch auf den Konzerten der Plastic People, mitsamt Bodyguards baute er auf Open-Air-Festivals sein Zelt neben der gepanzerten Präsidentenlimousine auf. "Uns Musiker hat verbunden, dass wir uns nicht für Politik interessiert haben. Die Kommunisten haben uns so aufgeregt, dass wir einfach aufgehört haben, sie überhaupt noch wahrzunehmen. Wir haben einfach gemacht, was wir wollten." Jiri Kabes unterbricht seinen Ausflug in die Vergangenheit. Die Band ist fertig, alles ist aufgebaut, er greift zu seiner Elektro-Geige. Für die Regimegegner waren die Konzerte der Plastic People immer ein wichtiger Treffpunkt. Per Mundpropaganda sprachen sich die nächsten Auftritte herum, und jedes Mal reisten hunderte Fans selbst aus den entlegensten Winkeln der Tschechoslowakei an. Es war ein Katz- und Mausspiel mit der Polizei; einmal, in Budweis, haben die Polizisten Zuschauer und Band mit Schlagstöcken verprügelt, bevor das Konzert überhaupt losgehen konnte. "Wir haben öfters in Dörfern gespielt, von denen noch nie jemand gehört hatte. Irgendjemand, der ein Häuschen mit Scheune hatte, lud uns ein; also haben wir da ein Konzert gegeben, da kamen jedes Mal so vier-, fünfhundert Leute. Und 14 Tage später hat der Bolschewik das Haus abgebrannt oder einfach abgerissen. Das ist bei vier oder fünf Häusern passiert, immer nach unserem Konzert." Sie fürchten die Alten wegen ihrer Erinnerung Sie fürchten die Jungen wegen ihrer Unschuld Sie fürchten sogar Schulkinder Sie fürchten die Toten und ihre Beerdigungen Sie fürchten die Gräber und Blumen die Leute auf diese Gräber stellen Sie fürchten die Kirche, Priester und Nonnen Sie fürchten die Arbeiter Sie fürchten die Parteimitglieder Sie fürchten die Parteilosen Sie fürchten Wissenschaft Sie fürchten Kunst Sie fürchten Gedichte und Bücher (...) Sie fürchten den wissenschaftlichen Fortschritt Warum haben wir Angst vor ihnen? Die Musiker wurden ständig zu Verhören vorgeladen, oft kamen sie in Untersuchungshaft. Die Texte ihrer Lieder provozierten - aber vermutlich reichte schon ihr Lebenswandel, das demonstrativ Unangepasste. "Mein Chef in der Arbeit kannte das schon, der war auch nicht in der Partei. Wenn ich zwei Tage nicht zum Dienst erschienen bin, sagte er gleich: Na, die haben dich wieder eingelocht, stimmt's? Und ich dann nur: Na klar, diesmal kamen sie um halb fünf morgens in die Kneipe und haben mich rausgeholt." In Tschechien kennt jeder die Musiker der Plastic People. Mehrere sind inzwischen gestorben, immer wieder kamen über die Jahrzehnte neue Gesichter zur Band dazu. Nur Jiri Kabes hält eisern durch, er ist das Urgestein und absolviert immer noch Auftritte in Tschechien und Konzertreisen durch Europa und Amerika. Heute probt er mit seinen Jungs für ein Konzert am nächsten Tag, diesmal spielen sie in einem Prager Konzertsaal. Dort ist die Luft schwer vom Zigarettenrauch, die Besucher tragen Biergläser in der Hand und stehen vor der Bühne, auf der gerade eine Vorgruppe spielt. Viele im Publikum sind älter, sie tragen lange Haare wie ihre Idole und sehen immer noch so aus wie auf den Fotos, die früher während der verbotenen Konzerte entstanden sind. Jiri Kabes steht hinter der Bühne und schmunzelt. "Heute ist es die Vergangenheit, die uns verbindet. Aber nicht bei allen: Manche kommen auch aus Neugier und manche, weil ihnen unsere Musik einfach gefällt - auch, wenn sie einen Scheißdreck wissen, worum es geht. Und wir? Uns macht es Spaß, ganz einfach." Erst spät gehen die Plastic People selbst auf die Bühne. Im Konzertraum ist es stockdunkel, das ist ihr beliebter Effekt: Sie schleichen sich leise auf die Bühne, und auf einmal erklingen in der Dunkelheit die ersten Töne. Dann blenden die Scheinwerfer auf und sie stehen im Rampenlicht: Jiri Kabes ganz vorn, die langen Haare fallen über die Sonnenbrille; hinter ihm die anderen Musiker. Es ist ihre Show, wieder einmal. Und dass bei den Auftritten nicht jedes Mal die Polizei einschreitet, sagt Jiri Kabes, daran hat er sich inzwischen auch gewöhnt. MUSIK LITERATUR Man ist also nach Prag gekommen, um etwas auszumachen, zu erfahren über die Stadt, und schon am zweiten oder dritten Tag merkt man: Hier ist überhaupt nichts zu erfahren. Du bist falsch am Platz. Hier kriegt man gar nichts raus. (...) Ich ging in die Prager Buchhandlungen. Ich fragte nach Büchern Franz Kafkas. Nichts, nichts als ein Schulterzucken, betretenes Lächeln, Schweigen, offenbar unbekannt in der Stadt. Weiter, was fällt weiter auf? Die Trägheit, die Passivität, eine Art Arbeitsunlust, die kollektiv sein muss, während der Woche. Taxifahrer, die nicht fahrbereit sind, Kellner, die nicht servieren, Badeanstalten, die geschlossen sind, Büros für Theaterkarten, die dann erst um drei Uhr Nachmittag öffnen. Sie reagieren mit passiver Resistenz. Jeder tut hier nur das Nötigste, keine Handreichung mehr. Sie sind bockig wie kleine Kinder. (...) Es sieht komisch aus, so viel Widerstand. REPORTAGE 3 Die Stühle sind in einem Kreis um den Rednerplatz vorne an der Tafel gruppiert, auf den Tischen stehen Salzstangen und Butterkekse. Gleich wird er kommen, der Bischof, und die drei Dutzend Zuhörer sind in freudiger Erwartung. Einmal im Monat treffen sie sich hier in einem Prager Gymnasium, immer abends und immer mit einem prominenten Gast, um etwas über die Vergangenheit zu lernen: Ein paar Abiturienten sind dabei, einige Lehrer, interessierte Nachbarn, ein paar Senioren. "Guten Abend, ich begrüße Sie zu unserer heutigen Veranstaltung! Erlauben Sie, dass ich Ihnen unseren Gast vorstelle - obwohl ihn ja eigentlich alle kennen: Bischof Vaclav Maly hat unsere Einladung angenommen." Vaclav Maly geht mit kleinen Schritten auf seinen Platz, ein Mann von unscheinbarem Äußeren, schwarzes Sakko, darunter ein Poloshirt und ein dunkler Pullover. Aufrecht setzt er sich auf seinen Stuhl, den Blick auf die Zuhörer gerichtet. "Ich stelle mich kurz vor: Ich bin 1950 geboren, im Jahre 1969 habe ich mein Theologiestudium begonnen. Nach zwei Jahren Militärdienst wurde ich 1976 in der Sankt-Veits-Kathedrale hier in Prag zum Priester geweiht." Ein Jahr später unterschrieb Vaclav Maly die Charta 77 - und wenn er jetzt hier vor der Tafel von den Konsequenten erzählt, die seine Unterschrift für ihn trug, wirkt es, als erzähle er aus einem anderen Leben. "Ich war sieben Monate im Gefängnis, elf Jahre lang durfte ich nicht öffentlich als Priester wirken. Ich wurde rund um die Uhr von der Staatssicherheit beobachtet, wurde 250 Mal zu Verhören vorgeladen, bei der Geheimpolizei hat man mich verprügelt. Mit der Arbeit war es schwierig, weil ich viele Aufgaben nicht machen durfte. Mir ist es dann gelungen, als Heizer in mehreren Prager Hotels zu arbeiten. Danach habe ich auf der Baustelle einer U-Bahn-Station die Klos der oft betrunkenen Bergarbeiter geputzt, die die Prager U-Bahn gegraben haben." Vaclav Maly bilanziert mit ruhiger Stimme, fast so, als referiere er Fakten aus einem Geschichtsbuch. "Ich habe die Charta in der zweiten Welle unterschrieben, unmittelbar nach der Erstveröffentlichung. Ich habe mir gesagt, als Priester kann ich nicht abseits bleiben. In der Kirche predige ich Tapferkeit und Konsequenz - und dann soll ich schweigen zu den Gaunereien, die außerhalb der Kirchenmauern passieren?" Erst kurz war er damals Priester, nach seiner Unterschrift durfte er es lange nicht sein. "Ein wichtiger Moment ist, dass wir bereit waren, Opfer zu bringen für unsere Überzeugung. Freiheit wird auch aus Opfern geboren. Es hilft nichts, immer in die Vergangenheit zurückzukehren, aber in diesem Punkt ist die Charta heute noch aktuell." Der Bezug zur Gegenwart ist Vaclav Maly wichtig - er wolle nicht nur über Vergangenes referieren. Zu einem Interview lädt er deshalb in sein Büro ein. Wer ihn besucht, muss in Prag hinauf zur imposanten Burg, auf dem Vorplatz drängen sich Touristenmassen und Straßenmusiker. Gleich neben dem Hauptportal der Burg erhebt sich das Erzbischöfliche Palais, ein Barockbau mit überbordenden Verzierungen. Nach der politischen Wende ist Vaclav Maly zum Weihbischof geworden; seither residiert er mit seinem Chef, dem Erzbischof, hier in dem Palast. Seine Mission sieht er als noch nicht beendet an: Damals war er Dissident; heute nutzt er seine Autorität als Weihbischof, um Menschenrechte und Freiheit einzufordern - er war in Weißrussland, in China und vielen anderen Ländern. Und immer wieder hält er in aktuellen Debatten auch den Tschechen einen Spiegel vor. In der Demokratie, sagt er, müsse niemand mehr Opfer bringen für seine Überzeugungen, so wie damals viele der Chartisten. Das bedeute aber nicht, dass es in Europa nicht auch einen Grund zur Sorge gebe. "Damals war die Grenze klar: Es gab die harte Macht der Diktatur, und jeder anständige Bürger wusste: So nicht. Heute ist es viel schwieriger, sich vor Vereinfachungen und Manipulationen zu schützen. Es scheint mir, dass viele Menschen billigen Versprechen und vereinfachten Perspektiven erliegen. Deshalb ist es wichtig, Informationen zu suchen, die die Wirklichkeit abbilden und nicht nur Annahmen und Vermutungen." In dem Prager Gymnasium ist der Vortrag von Vaclav Maly zu Ende gegangen, eine Frau meldet sich zu Wort mit einer Frage. "Wie nehmen Sie die Feiern jetzt zum Jahrestag der Charta 77 wahr? Ich habe den Eindruck, dass manche die Charta eher in den Schmutz ziehen." "Wir hatten natürlich unsere Fehler, es geht mir überhaupt nicht um eine Heroisierung. Aber die, die heute dagegen agitieren, die wollen nur ihrem eigenen Gewissen schmeicheln. Sie sehen, dass es auch im Kommunismus möglich war, auch anders zu handeln. Die Charta hat damals ihre Rolle gespielt - und dass manche sich heute darüber lustig machen oder das in den Schmutz ziehen, damit kann ich leben. Mich ärgert das auch nicht mehr." Allmählich muss Bischof Maly weiter zum nächsten Termin, draußen vor der Tür wartet sein Chauffeur auf ihn. Eins sagt er noch, bevor er sich erhebt: "Uns wurde ständig gesagt, dass wir auf der Müllkippe der Geschichte landen, bei jedem Verhör bekam ich das zu hören." Das erste Mal ist ein wenig Genugtuung in seiner Stimme zu hören - die Freude darüber, dass die gute Sache am Ende gewonnen hat. MUSIK REPORTAGE 4 Es ist früh am Morgen, kurz vor sieben; Schichtbeginn im Erdgeschoss der alten Villa. Frauen mit roten Caritas-T-Shirts sichten Dienstpläne und füllen Papierbögen aus. Von ihrem kleinen Büro im Erker hat Jirina Dostalova den Trubel im Blick, ihre Tür ist immer offen. "Ich bin schon lange vor sieben Uhr hier, weil da ja die Mädels aufbrechen. Sie verbringen den ganzen Tag im Auto und bei ihren Patienten, meistens kommen sie erst um drei oder halb vier wieder zurück, die Abendschicht geht bis 19 Uhr." Jirina Dostalova leitet den ambulanten Pflegedienst in Sumperk, einer Stadt zwei Stunden östlich von Prag. Ihre Mitarbeiterinnen nennt sie nur "die Mädels". Die Atmosphäre ist herzlich, die harte Arbeit schweißt zusammen. Wir können!, ruft Jirina Dostalova, und die Pflegerinnen versammeln sich in einem Raum mit drei Schreibtischen. Zehn Frauen sind heute für den Frühdienst eingeteilt, die kleine Besprechung gehört zu ihrer Morgenroutine. "Schön, euch alle zu sehen, bevor es gleich losgeht! Ein paar Sachen müssen wir besprechen..." Rasch sprechen sie durch, bei welchen Patienten sich der Zustand geändert hat und worauf heute besonders zu achten ist. Ein paar Minuten nur dauert der konzentrierte Austausch, dann gibt Jirina Dostalova das Signal zum Aufbruch. Sie ist 52 Jahre alt, die schwarzen Haare trägt sie schulterlang. Gelernte Grafikerin ist sie, Bibliothekarin und eben Altenpflegerin; ein bewegtes Leben, sagt sie selbst. 1977, im Jahr der Charta, war sie zwölf Jahre alt. "Ich habe die Charta damals nicht wahrgenommen. Natürlich hörte ich die Nachrichten darüber, aber in dem Alter habe ich da keinerlei Zusammenhänge gesehen. Ich habe nur gemerkt: Da sind Leute unter uns, die ein Problem damit haben, wenn etwas nicht gut läuft. Als ich 15, 16 Jahre alt war, habe ich das besser verstanden - da kam ich selbst in eine erste Phase der Rebellion." Dostalova wuchs auf dem Land auf. Ihre Eltern waren Mitglieder einer Freikirche, die Kommunisten schikanierten die Familie deshalb schon lange. Ihre Empfindlichkeit gegenüber jedem Unrecht, sagt Jirina Dostalova heute, muss sie wohl schon in dieser Zeit entwickelt haben. Während ihrer Ausbildung in einer Kreisstadt kam sie in Kontakt mit Altersgenossen aus der Untergrund-Kultur. "Ich traf mich mit Leuten, die anders waren: Sie konnten verbotene Bücher besorgen und vieles andere, dadurch hat sich mir langsam die Welt geöffnet. Immer stärker erkannte ich den Unterschied zwischen all den Verboten im kommunistischen System und der Freiheit, die sich diese Leute geschaffen hatten." Bei Freunden traf sie öfters Vaclav Havel, irgendwann in den 1980er Jahren war das. Sie, die nie studiert hatte, keine Philosophin war oder Autorin wie die bekannten Vordenker der Charta, kam immer weiter in die Kreise, die dem Regime trotzten. 1883 Tschechoslowaken unterschrieben in den Jahren bis zur Revolution die Charta; viele von ihnen gehörten nicht zum Kreis der prominenten Dissidenten, sondern lebten irgendwo auf dem Land, so wie Jirina Dostalova. "Auf Tschechisch sagt man: Eine Krähe setzt sich zur anderen. Oder, anders ausgedrückt: So wie man selbst ist, ist auch das eigene Umfeld. Ich kam nah an die Leute heran, die die Charta unterschrieben haben und mir darüber etwas erzählen konnten. Und ich hatte Zeit, darüber nachzudenken." 1987 unterschrieb auch Jirina Dostalova, es war in der Wohnung eines Freundes. Sie war 22 Jahre alt. "Im Leben gibt es einige Ereignisse, die für einen Menschen etwas bedeuten. Bei mir waren das die Hochzeit, die Geburt meines Kindes - und ich fühlte, dass das mit der Charta auch so etwas war. Dass es ein Schritt ist, der mein Leben beeinflusst." Einen Monat dauerte es, dann setzten die Repressionen ein. Jirina Dostalova wurde regelmäßig zu Verhören abgeholt, ihre Post wurde geöffnet, einmal musste sie nach der Vernehmung mitten in der Nacht mit ihren Pantoffeln durch den Schnee nach Hause laufen. "In einem Verhör haben sie mir die Zusammenarbeit angeboten. Sie versprachen mir einen höheren Lohn und eine Dreizimmerwohnung. Ich lehnte ab. Dann sagten sie: "Sie haben doch eine kleine Tochter. Es kann sein, dass Sie sie nie mehr wiedersehen. Es ist kein Problem, sie im Kinderheim unterzubringen. Überlegen Sie sich gut, was Sie jetzt antworten!" Da kommt jede Mutter ins Grübeln. Aber ich sagte: Nein. Wenn ich darauf eingehe, verliert alles seinen Sinn, was ich bis dahin gemacht habe. Ich hatte riesige Angst und sagte mir: Das Kind wächst auf, und es wird sich später nicht für seine Mama schämen müssen. Ich wusste nicht, was passiert, aber so habe ich mich halt entschieden." Fast 30 Jahre ist diese Erinnerung jetzt alt, und sie geht ihr immer noch nah. Die Staatssicherheit nahm ihr die Tochter nicht weg, heute ist Jirina Dostalova schon Oma. Ein Glück, sagt sie, dass sie so spät geboren wurde. "Ich habe die Repressionen drei Jahre lang erlebt, bis die Wende kam, und das war furchtbar. Wenn ich mir vorstelle, dass manche das so viel länger ertragen mussten!" Bei der Caritas in Sumperk, wo sie erst seit ein paar Jahren arbeitet, wusste lange niemand, dass Jirina Dostalova Signatarin der Charta 77 ist. Ihre Kolleginnen fanden es nur heraus, weil eine Patientin in einem Buch an ihrem Namen hängengeblieben war. Manche, sagt Jirina Dostalova, hätten sie darauf angesprochen. Für die Jüngeren sei das alles aber schon heute nicht mehr vorstellbar. Sie steht auf von ihrem Stuhl, etwas will sie noch zeigen. "Wir gehen gerade mal in den Keller! - Habt ihr den Schlüssel? - Da müsste offen sein, hoffentlich schließt uns keiner ein!" Sie geht hinunter in den Keller der Villa, noch längst ist hier nicht alles renoviert. Hinten im Eck öffnet sie eine Tür, der Raum dahinter quillt über vor Windelpackungen. "Hier ist unser Zentrum der Nächstenhilfe. Für Arme gibt es hier Lebensmittelpakete, für sozial schwache Familien Windeln. Zweimal pro Woche sitzen hier unsere Mädels und geben den Bedürftigen Hilfe." Vielleicht sei das der tiefere Grund dafür, dass sie heute bei der Caritas arbeitet; eine Fortsetzung ihres Engagements von einst: "Ich kann Ungerechtigkeit immer noch nicht ausstehen. Auch heute versuche ich den Menschen zu helfen, die schlechter dran sind. Der Druck ist nicht mehr so lastend wie früher, aber finanziell ist es für viele sehr eng." Wer sich einmal auf ein großes Engagement eingelassen hat, den lässt es nicht mehr los, davon ist Jirina Dostalova überzeugt. LITERATUR Die Heiligen auf der Karlsbrücke wirken nicht freundlich-aufmunternd, die Besucher begrüßend, wie es sein sollte, wenn ich dem Cedok-Prospekt glaube. Sie stehen starr und stumm und reizen mich in ihrer barockbetulichen Gebärde. Albern, denkt man. Nichts als fauler Zauber, denkt man, nichts als Museen, Kirchen, Schlösser, Paläste - ein Ramschladen der Geschichte ist Prag. Man möchte etwas erfahren über die Stadt und wird immer wieder in den Staub ihrer Geschichte heruntergedrückt. Dauernd dieses schöngeistige Getue, als wenn wir alle Kunsthistoriker wären: Haben Sie auch Wallensteins Palais wirklich genau observiert? Ist Ihnen im Veitsdom auch nicht im dritten Altar von links diese Madonna entgangen, beste böhmische Gotik? Haben Sie auch schon am Altstädter Ring die historische Uhr mit ihrem Glockenspiel 12 Uhr mittags gesehen? Ich sagte: Ja, ich sah es, aber es interessierte mich nicht. Ich bin ein politischer Mensch. Kunstgewerbe der Geschichte gibt es überall. Als ich die heiligen Apostel oben für einen Augenblick aus ihren bunten Kästchen einzeln heraustreten sah, als ich beobachtete, wie steif und umständlich sie mit ihren Holzpuppenbewegungen dem Volke zunickten, reagierte ich ausgesprochen politisch. Ich dachte: Gewissermaßen die Herren vom tschechischen Zentralkomitee, die sich für Sekunden dem Volke zeigen und dann wieder verschwinden, steif und hölzern im Allerheiligsten der Macht. Bitte, das ist meine Optik. Politik heute. Wo ist sie? Ich finde sie nicht. Mich interessieren die Lebenden, nicht eure Toten. Ich telefoniere immer wieder, aber ich erreiche sie nicht. Es ist niemand zu sprechen. Ich komme nicht rein ins Schloss. MUSIK REPORTAGE 5 Eine Siedlung am Rand von Bratislava, hinter umzäunten Vorgärten stehen kleine Arbeiterhäuschen. In einem von ihnen war einst das heimliche Zentrum des slowakischen Widerstands. Die Tür öffnet Miroslav Kusy. 86 Jahre ist er alt, er trägt einen schwarzen Pullover, seine Augen strahlen. Er geht voran in die Küche und setzt einen Kaffee auf. "Ich bin hier an dem Tag eingezogen, als Kennedy erschossen wurde. Mein Leben lang werde ich das nicht vergessen." Mehr als fünf Jahrzehnte ist das jetzt her, und inzwischen hat sich viel getan am Haus: Einen Wintergarten hat Miroslav Kusy angebaut, alle Wände hängen bis zur Decke voll mit gerahmten Grafiken. Hier ist sein Lieblingsplatz. "Ich sitze hier vorne, im Hirtensessel, so nennen wir den." Kusy lässt sich in seinen hohen Korbstuhl fallen, vor sich die Tasse Kaffee, und taucht ein in die Vergangenheit. "Als ich die Charta unterschrieben habe, ging ich davon aus, dass die Slowakei stärker vertreten sein würde. Wenn ich gewusst hätte, dass ich der Einzige aus Bratislava bin, dann hätte ich wohl nicht unterschrieben, das hätte ich mich nicht getraut. Ich dachte, da entsteht eine Gruppe!" Bis zuletzt gab es nur eine Handvoll Signatare aus dem slowakischen Teil der Tschechoslowakei; das Herz der Charta schlug in Tschechien. Die Leute, vermutet Kusy, seien schlicht zufriedener gewesen. "In der Slowakei war die politische Verfolgung nicht so ausgeprägt. Das hängt mit der Entwicklung während des Prager Frühlings zusammen: Die Slowaken forderten vor allem einen Föderalisierungsprozess ein, der für die Sowjets akzeptabel war. Den Tschechen hingegen ging es um die Demokratisierung. Nach dem Einmarsch der Warschauer-Pakt-Truppen schlugen die Machthaber deshalb vor allem in Tschechien zu, dort statuierten sie ein Exempel." Der Leidensdruck sei dadurch in Tschechien weitaus höher gewesen. Und selbst die Slowaken, die bei der Charta dabei waren, hatten meistens eine Verbindung nach Prag: Entweder sie lebten dort oder sie waren Absolventen der Karls- Universität - so wie Miroslav Kusy. 1950 ging er zum Studium nach Prag, 1957 kam er als junger Philosoph nach Bratislava zurück. Ein paar Jahre später bekam er dort an der Uni seinen Lehrstuhl - für marxistische Philosophie. "Damals war eine gewaltige Bewegung in der Philosophie. Roger Garaudy in Frankreich und Adam Schaff in Polen etwa, selbst Sartre hatte sich ja als Verbündeter der Marxisten verstanden. Meine Generation dachte im Jahr 1968, der Rahmen des Sozialismus sei gegeben. Und wenn wir schon darin leben müssen, dann passen wir ihn doch so an, dass es uns darin besser geht - das Schlagwort vom Sozialismus mit menschlichem Antlitz entstand damals. Es ging um eine Erneuerung des Sozialismus." So überzeugt war Kusy damals vom Kommunismus, dass er im Jahr 1968 als junger Philosophie-Professor zum Chefideologen der kommunistischen Partei wurde. Ein Hardliner, sagt er heute, sei er aber nie gewesen. "Ich habe morgens immer den bourgeoisen Gruß entboten und "Küss die Hand!" gerufen - und das im Büro des Zentralkomitees! Ich habe die erste Stripbar des Landes eröffnet; das waren alles Versuche auszutesten, was noch durchgeht. Natürlich werfen mir viele nachträglich vor, dass ich auf so einem Posten war, aber man konnte von dort aus die Ideologie tatsächlich beeinflussen." Miroslav Kusy steht auf, er geht zur hölzernen Treppe und winkt, zu folgen. "Vorsicht auf den Stufen, mit den Socken rutscht man leicht!" Sein Arbeitszimmer dort oben ist der eindrucksvolle Beweis für seinen Wandel vom Saulus zum Paulus, vom Marxisten zum Dissidenten: Ganze Abschnitte im Bücherregal stehen voll mit Samizdat-Büchern, jener Untergrund-Literatur, die die Intellektuellen mit zehn Durchschlägen auf der Schreibmaschine selbst getippt haben. Er zieht ein Buch heraus. "Das hier ist aus der Edition Spalicek, hier ist ein ganzer Jahrgang in einen Band zusammengefasst." Nach der Niederschlagung des Prager Frühlings war es vorbei mit der wissenschaftlichen Karriere von Miroslav Kusy, vom Professor wurde er zum Bibliothekar degradiert, später grub er für das Wasserwerk Brunnen - und schrieb abends seine Aufsätze für den Samizdat. Mit den anderen Dissidenten war er in ständigem Austausch. "Wir trafen uns vierteljährlich, in Böhmen, in Mähren, oft irgendwo auf einer Datsche. Auch hier im Haus haben wir uns drei- oder viermal getroffen, da waren 30 Leute zu Gast." Miroslav Kusy zeigt im kleinen Wohnzimmer umher - hier haben sie diskutiert, und hier hat die ganze Gruppe auch übernachtet. Die Spuren der Untergrund- Aktionen sind heute noch zu sehen. "Hier in dem Tisch zum Beispiel war ein Abhörgerät drin." Kusy geht zu einem antiken Esstisch mit Besteckschublade. Er räumt eine Blumenvase weg und hebt die Tischplatte herunter. "Da oben war ein Loch, dort hat jemand das Mikrofon durchgesteckt. Ich habe das Gerät ausgebaut und zur Polizei gebracht. Das war noch ein uraltes Gerät, nicht diese Miniatur-Technik aus dem Westen, die später zum Einsatz kam. Die Batterien mussten ständig ausgetauscht werden. Manchmal musste ich lange beim Direktor sitzen ohne ersichtlichen Grund - ich vermute heute, dass die in der Zeit neue Batterien eingelegt haben." Die Zeit des Dissens war ein Wettrüsten mit der Staatssicherheit. Miroslav Kusy lacht verschmitzt und zeigt auf die Holzbretter, mit denen er die Decke verschalt hat. "Sehen Sie da oben die Fuge? Da ist ein Öffnungsmechanismus, dahinter kann man etwas verstecken. Ich habe viele solcher Verstecke hier im Haus eingebaut; manche haben sie gefunden, dieses hier aber nicht. Das ist der eindeutige Vorteil dieses Hauses gegenüber einem Plattenbau: Hier kann man etliche Verstecke unterbringen. Ich habe das Haus eigenhändig renoviert - schon im Wissen, dass ich diese Verstecke einmal brauchen werde." Der Graben zwischen Tschechen und Slowaken sei bei den Verhören immer wieder spürbar geworden, sagt Kusy: Ihr habt Euch von der Prager Bourgeoisie in die Falle locken lassen - das sei einer der Standard-Vorwürfe gewesen, wenn ihn die slowakischen Beamten in die Mangel genommen haben. Für die Chartisten selbst habe es aber nie einen Unterschied zwischen Tschechen und Slowaken gegeben - und auch, dass er als Ex-Kommunist die Seiten gewechselt hat, habe ihn nie jemand spüren lassen. "Ich war recht eng mit Vaclav Havel im Kontakt, so eng das halt ging. Wir haben ganze Nächte durchdiskutiert - aber der Vorwurf, dass ich einmal Kommunist gewesen bin, der kam nie." MUSIK Sie hörten: Gesichter Europas: Im Nest der Rebellen - 40 Jahre nach der "Charta 77". Eine Sendung von Kilian Kirchgeßner. Ton und Technik: Christoph Bette, Musikauswahl und Regie: Babette Michel, Redaktion: Marcus Heumann. Die Literaturelemente dieser Sendung, gesprochen von ihrem Autor Horst Krüger, entnahmen wir dem Band "Ostwest-Passagen. Reisebilder aus zwei Welten", erschienen 1975 im Verlag Hoffmann & Campe.