HINTERGRUND KULTUR UND POLITIK Reihe Literatur Titel Der Deutsche Simplicissimus. Ein Nachtstück Autor Holger Teschke Redakteur Dr. Jörg Plath Sendetermin 18.04.2021 Ton Bernd Friebel Regie Beate Ziegs Besetzung Dela Dabulamanzi, Martin Seifert Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Jede Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in den §§ 45 bis 63 Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig © Deutschlandradio Hans Jakob Christoffel von Grimmelshausen, Wirt im „Silbernen Stern“ Magdalena Borovicka, seine uneheliche Tochter Frühjahr 1667 im Wirtshaus „ Zum Silbernen Stern“ zu Gaisbach Musikalisches Vorspiel Heinrich Schütz „ Ich bin jung gewesen“ (SWV 320) Im Wirtshaus. Grimmelshausen schreibt am Schluss seines „Abenteuerlichen Simplicissimus, murmelt dabei halblaut, während die Feder kratzt. Wirt: Leb wohl, Welt, denn dir ist nicht zu trauen und nichts ist von dir zu hoffen. In deinem Haus ist das Vergangene schon verschwunden, das Gegenwärtige verschwindet uns unter den Händen und das Zukünftige hat nie angefangen. Das Beständigste zerfällt, das Stärkste zerbricht und das Ewigste nimmt ein Ende. Eine Kirchturmuhr schlägt Mitternacht. Der Wind heult im Schornstein, ein Hund schlägt an. Die Wirtshaustür wird knarrend geöffnet, ein Windstoß fährt herein. Der Student tritt ein, schließt die Tür und schüttelt seinen Mantel aus. Student: Guten Abend, Herr Wirt. Wirt: Hier ist geschlossen. Student: Ein Hundewetter. Ich bin seit heute früh auf den Beinen und such’ ein Nachtquartier. Wirt: Ich führ’ ein Wirtshaus, keine Herberge. Geht zum „Schwarzen Adler“, vielleicht gibt’s da noch eine Kammer. Student: Der Adler hat seinen Kopf schon unter die Flügel gesteckt. Eine Kammer brauch ich nicht. Ein Lager auf dem Heuboden reicht mir. Wirt: Ich hab’ keinen Heuboden. Student: Aber wenigstens eine Kanne Warmbier? Wirt: Schankschluss, junger Herr. Habt Ihr die Glocke nicht gehört? Student: Verzeiht, wenn ich Euch bei der Abrechnung störe. Ich setz mich nur ein Weilchen an den Ofen. Wirt: Abrechnung? Student: Die Papiere auf dem Tisch. Und all die Bücher. Wirt: Abrechnung! Soviel Papier brauch ich dafür nicht. Die Geschäfte gehen schlecht. Student: Dann nehm’ ich einen Krug Wein. Wirt: Und für ein Vergelt’s Gott, wie? Der Student wirft ein Geldstück auf den Tisch. Student: Ich zahl’ im Voraus. Wirt: So, aus dem Bayerischen. Und frisch geprägt. Wohl aus einem fremden Beutel geschnappt? Student: Ich bin Student, Herr Wirt. Kein Schnapphahn. Wirt: Und was studiert Ihr? Die Rechte? Student: Die Rechte sind ein Spielball der Mächtigen geworden. Ich studier’ Medizin. Wirt: So, die Medizin. Die wird Euch was Rechtes einbringen, in dieser kranken Zeit. Warum studiert Ihr nicht in Bayern? Student: Ein guter Freund hat mir die Fakultät in Straßburg empfohlen. Dahin bin ich unterwegs. Wirt: Da habt Ihr noch ein Stückchen Weg vor Euch. Student: Und deswegen ein Ruhelager nötig. Und einen Krug Wein, wenn’s möglich wär’. Wirt: Der Herr Student ist hartnäckig. Student: Meine Mutter sagt, das hätt’ ich vom Vater. Wirt: So? Ist der auch ein Mediziner? Student: Das weiß ich nicht. Habe ihn nie kennengelernt. Wirt: Im Krieg geblieben? Student: Im Frieden. Kaum dass die Jubelglocken ausgedröhnt hatten, war er verschwunden. Wirt: Wohin? Student: Keine Ahnung. Die Mutter sprach nicht gern darüber. Sie hat auch bald wieder geheiratet, einen Gastwirt. Wirt: Die Nummer kenn’ ich. Aber die zieht nicht. Nicht bei mir. Student: Wenn’s keine Rechnungsbücher sind, was schreibt Ihr zu so später Stunde? Wirt: Eine Chronik. Hört, Herr Student, Ich hab ein böses Reißen in den Knochen. Die Hausmittel schlagen nicht mehr an. Wisst Ihr eine Medizin dafür? Student: Wenn ich mich setzen darf? Wirt: Hartnäckig und unverschämt. Euer Vater muss ein Hallodri gewesen sein. Student: Das sagte meine Mutter auch. Wirt: Meinetwegen, setzt Euch da an den Ofen. Interessiert Ihr Euch auch für andere Bücher als für die medizinischen? Student: Darf ich einmal sehen? (Nimmt ein Buch vom Tisch.) „Piazza Universale, das ist: Allgemeiner Schauplatz, Markt und Zusammenkunft aller Professionen, Künste und Geschäfte.“ Sehr interessant. Wirt: Dachtet Ihr, ein Wirt liest nur in seinen Rechnungsbüchern? Ich bin auch Vogt und Schaffner. Student: Mitnichten. Ich wusste gleich, dass ich am rechten Ort bin, als ich die Karte da an Eurer Wand sah. Wirt: So, die gefällt Euch? Student: Die Welt in einer Narrenkappe, mit Eselsohren und Schellen. Ein gutes Bild für diese Zeiten. Wirt: So, findet Ihr? Student: Und kühn. Gleich neben dem Kruzifix. Wirt: Setzt Euch an den Ofen. Der Wein kommt gleich. (Holt einen Krug vom Ausschank und schenkt ein.) Von den Hängen der Schauenburg. Ein heimisches Gewächs, hat viel Sonne gesehen im letzten Sommer. Student (trinkt): Auf Euer Wohl! (Seufzt.) Ein guter Tropfen. Wirt: Wohl bekomm’s! Der Wein bringt wieder mehr Menschen unter die Erde als Pulver und Blei. Student: Das sagt Ihr? Wirt: Wer sonst? Student: Schließlich lebt Ihr davon. Wirt: Mehr schlecht als recht. Nennt Ihr das Leben? Säufern ihr Bier ausschenken und für Fresssäcke Kalbshaxen braten? Student: Ihr macht mich staunen. Wenn Ihr das Gewerbe so verachtet, warum seid Ihr dann Wirt geworden? Wirt: Es lässt mir Zeit für andere Dinge. Student: Habt Ihr deswegen Eure Gäste an den „Adler“ verloren? Wirt: Ich hab’ meine Stammgäste. Aber die achten die Polizeistunde. Student: Einen Fremden dürft Ihr auch nach Mitternacht noch aufnehmen, wenn er um ein Quartier nachsucht. Wirt: Für eine Nacht, wenn er am Morgen weiterzieht. Student: Das werd’ ich. (Trinkt wieder.) Was schreibt Ihr für eine Chronik? Wirt: Hartnäckig und unverschämt und neugierig. Student: Anders kommt man nicht durch die Welt. Wirt: Was habt Ihr denn schon gesehen von der Welt? Student: Nicht viel. Doch einiges gehört. Wirt: Von Euren Professoren? Student: Von meiner Mutter. Wirt: War sie eine Märchenmuhme? Student: Nein, eine Wirtsfrau. Aber im Krieg war sie Marketenderin. Da hat sie etliches erlebt. Wirt: Also Kriegsgeschichten? Student: Ja. Seid Ihr auch im Krieg gewesen? Wirt: Dreizehn Jahr’ lang. Wollt Ihr eine hören? Student: Aus Eurer Chronik? Wirt (sucht in den Blättern auf dem Tisch): Die Geschichte eines Knaben, der ahnungslos in den Krieg gerät. Der vom Narren zum Soldaten, vom Soldaten zum Wilden Jäger, vom Jäger zum Weltreisenden und am Ende zum Einsiedler wird. Student: Das klingt nach einer langen Geschichte. Ihr braucht Eure Zeit also zum Schreiben. Wirt: Beim Schreiben kommen die Erinnerungen zurück. Student: So ist es Eure eigene Geschichte? Wirt: Am Anfang war’s meine eigene. Aber dann begann der Knabe Dinge zu tun, an die ich niemals gedacht hatte. So wurde sie Seite um Seite zu seiner Geschichte. Student: Geht sie bis zum Kriegsende? Wirt: Viel weiter. Student: Das Ende interessiert mich am meisten. Wirt: Warum? Student: Vielleicht, weil’s meinem Leben am nächsten ist. Wirt: Eine Geschichte muss man von Anfang bis zum Ende hören. Sonst versteht man nichts. Student: Meinetwegen. Wirt: Es wird dauern. Student: Ich hab Zeit. Der Ofen ist noch warm und der Wein ist köstlich. Wirt: Wenn Ihr einschlaft, schmeiß‘ ich Euch raus. Student: Dann will ich hoffen, dass Eure Geschichte mich wachhalten wird. Wirt: Das werden wir sehen. Der Wirt beginnt zu lesen. Es ist das erste Mal, dass er die Geschichte vorliest, aber er ist seiner Sache sicher. Er liest mit Genuss und auch mit theatralischen Effekten. Wirt: „Es zeigt sich in dieser unserer Zeit (von der man glaubt, dass es die letzte sei) unter gewöhnlichen Leuten eine Sucht, bei der die Patienten, wenn sie daran erkranken und soviel zusammengerafft und erschachert haben, dass sie neben ein paar Hellern im Beutel, ein närrisches Kleid mit tausenderlei Seidenbändern nach der neuesten Mode zur Schau tragen können oder glücklich auf eigenen Beinen stehen und sich einen Namen gemacht haben, sie sogleich auch Adelspersonen von uraltem Geschlecht sein wollen. (…) Nun, mein Knan (so nennt man die Väter im Spessart) hatte einen eigenen Palast, so gut wie jeder andere und sogar noch schöner, als ein König ihn sich je mit eigenen Händen erbauen könnte. Der war mit Lehm verputzt, und statt mit unfruchtbarem Schiefer, kaltem Blei oder rotem Kupfer, war er mit Stroh gedeckt, auf dessen Halmen das edle Getreide wächst. (…) Statt Pagen, Lakaien und Stallknechte hatte er Schafe, Böcke und Säue, die, jedes fein ordentlich in seine Livree gekleidet, auch mir auf der Weide oft aufgewartet haben, bis ich sie dann heimtrieb. Die Waffen- oder Harnischkammer war mit Pflügen, Hacken, Äxten, Hauen, Schaufeln, Mist- und Heugabeln wohlversehen und mit diesen Waffen übte er sich jeden Tag. (…) Er versah mich mit der herrlichsten Würde nicht allein seines Hofes, sondern der ganzen Welt, nämlich mit dem Hirtenamt. Er vertraute mir erstens seine Schweine, zweitens seine Ziegen und zuletzt seine ganze Schafherde an, auf dass ich sie hüten, weiden und vor dem Wolf beschützen sollte und zwar vermittels meiner Sackpfeife, deren Klang, wie Strabo schreibt, die Schafe und Lämmer in Arabien obendrein fett macht. (…) (Ich) veranstaltete auf meiner Sackpfeife ein solches Gezwitscher, dass man die Kröten im Krautgarten damit hätte vergiften können, und fühlte mich so vor dem Wolf, der mir nicht mehr aus dem Sinn ging, halbwegs sicher. Und weil ich mich meiner Meuder erinnerte (so heißen die Mütter im Spessart) und dass sie oft gesagt hatte, sie fürchte, eines Tages würden noch die Hühner von meinem Gesang tot umfallen, begann ich auch zu singen, damit das Mittel gegen den Wolf desto stärker wirke, und zwar ein Lied, das ich von meiner Meuder selbst gelernt hatte. (Singt:) Du sehr verachter Bauernstand, Bist doch der beste in dem Land. Kein Mann dich gnugsam preisen kann, wann er dich nur recht siehet an. (…) Der Kaiser den uns Gott gegeben, Uns zu beschützen muss doch leben Von deiner Hand auch der Soldat, Der dir doch zufügt manchen Schad. Ja, der Soldaten böser Brauch, Dient gleichwohl dir zum Besten auch. Dass Hochmut dich nicht nehme ein Sagt er: Dein Hab und Gut sind mein.“ Student: Ein wahres Lied. Stammt das auch von Euch? Wirt: Ein altes Bauernlied, aus dem Hessischen. Ich hab’s aus der Erinnerung aufgeschrieben. Bitte mich nicht zu unterbrechen. Student: Vergebung. Wirt (liest weiter): „Bis hierhin und nicht weiter kam ich mit meinem Gesang, da wurden ich und meine Schafe plötzlich von einem Trupp Kürassiere umringt, die sich im großen Wald erst verirrt und nachher durch meine Musik und meine Hirtenrufe wieder zurechtgefunden hatten. (Ich) (…) meinte, es müssten Wölfe sein und ich wollte sie in die Flucht schlagen und vertreiben. Ich hatte aber zu diesem Zweck meine Sackpfeife noch kaum aufgeblasen, als mich einer von ihnen beim Kragen packte und ungestüm auf eines der Bauernpferde schleuderte (…). (Ich) sah mich fleißig nach meinem Knan um, ob er und meine Meuder uns nicht bald entgegenkämen und willkommen hießen. Aber vergebens. Er und meine Meuder samt unserem Ursele, welche meines Knans einzige Tochter war, hatten die Ankunft dieser Gäste nicht abwarten mögen und sich durch die Hintertür davongemacht. (…) Als Erstes stellten die Reiter ihre Pferde in den Stall. Dann hatte jeder seine eigene Aufgabe zu verrichten und alles, was sie taten, verhieß Untergang und Verderben. Einige begannen zwar zu schlachten, zu sieden und zu braten, so dass es aussah, als sollte ein lustiges Bankett veranstaltet werden. Andere jedoch durchwühlten das Haus von unten bis oben. (…) Einige durchstachen das Heu und das Stroh mit ihren Degen, als ob sie nicht Schafe und Schweine genug zu stechen gehabt hätten. (…) Andere zerschlugen Öfen und Fenster, als wollten sie einen ewigen Sommer ankündigen. (…) Es ist eine Schande davon zu berichten, aber unsere Magd wurde im Stall dermaßen traktiert, dass sie nachher nicht mehr herauskommen konnte. Den Knecht legten sie gefesselt auf die Erde, sperrten ihm mit einem Holz das Maul auf und schütteten ihm einen Melkeimer mit Jauchewasser in den Leib. Das nannten sie einen Schwedischen Trunk. (…) Einem anderen banden sie ein Seil um den Kopf und drehten es mit einem Knebel so zusammen, dass ihm das Blut zu Mund, Nase und Ohren herausspritzte. (…) Von den gefangenen Frauen, Mädchen und Töchtern weiß ich nichts Genaues zu sagen, weil mich die Krieger nicht zusehen ließen, wie sie mit ihnen umgingen.“ Student: Den Frauen und Mädchen ist es in diesem Krieg am schlimmsten ergangen. Wirt: Woher wollt Ihr das wissen? Student: Meine Mutter hat es mir erzählt. Wirt: Den Männern ist’s nicht besser ergangen. Habt Ihr doch gerade gehört. Student: Die Männer hatten Waffen und konnten um ihr Leben kämpfen. Wirt: Ich habe Weiber im Krieg gesehen, die haben besser gefochten als mancher Soldat. Da war eine, die hat einem zudringlichen Landsknecht mit einem einzigen Säbelhieb den Kopf abgehauen. Da haben alle, die ihr an die Wäsche wollten, eilends Fersengeld gegeben. Student: Und haben sich nicht später an ihr gerächt? Wirt: Das Weib war schlau und hat sich stets Offiziere genommen. Die hat sie allesamt unter die Erde gebracht und dabei fleißig geerbt. Aber das ist eine andere Geschichte. Student: Kommt sie auch in Eurem Buch vor? Wirt: Nicht in diesem. Wollt Ihr wissen, wie’s mit dem Knaben nach dem Überfall weiterging? Student: Unbedingt. Aber diese Frau, wie war denn ihr Name? Wirt: Was tut das zur Sache? Sie kommt nicht weiter vor. Also, der Knabe war in den Wald gelaufen und traf auf einen alten Eremiten, den er zuerst für den Wolf hielt, der Narr. Aber das war ein frommer und herzensguter Mann, der von Beeren und Wurzeln lebte und jeden Tag in seiner Bibel las. Student: Habt Ihr das alles selbst erlebt? Den Überfall und die Flucht in den Wald? Wirt: Das alles und mehr. Ich komm aus dem Hessischen. Aus Gelnhausen, falls Ihr davon gehört habt. Ich hab erlebt, wie unsere Stadt von den Kaiserlichen erobert worden ist und wie sie danach gewütet haben. Die Kroaten waren die Schlimmsten. Die haben den Mann vor den Augen seiner Frau gepfählt und die Mutter vor den Augen ihrer Kinder. Damals hab ich meine Mutter und meinen Stiefvater verloren, an einem Tag. Da bin ich mit fremden Leuten in die Festung Hanau geflohen. Ich war grad dreizehn Jahr alt. Student: Kommt das auch in Eurem Buch vor? Davon möchte ich noch was hören. Wirt: Ich les Euch lieber vor, wie der Bub Lesen und Schreiben gelernt hat. Das ist lustiger. (Liest:) „Als ich das erste Mal den Einsiedel in der Bibel lesen sah, konnte ich mir nicht erklären, mit wem er da so ein vertrautes (…) Gespräch führte. Ich sah zwar die Bewegung seiner Lippen, aber niemanden, der mit ihm redete. Und obwohl ich vom Lesen und Schreiben nichts wusste, merkte ich doch an seinen Augen, dass er es mit etwas in diesem Buch zu tun hatte. Ich gab acht auf das Buch und nachdem er es beiseite gelegt hatte, schlich ich hin, schlug es auf und hatte mit dem ersten Griff das erste Kapitel des Buchs Hiob und die davorstehende Abbildung, einen feinen, schön illuminierten Holzschnitt, vor Augen. Ich fragte die Figuren darin seltsame Sachen. Weil ich aber keine Antwort erhielt, wurde ich ungeduldig und sagte gerade, als der Einsiedel hinter mich schlich: ‚Ihr kleinen Halunken, habt ihr denn keine Mäuler mehr? Habt ihr nicht eben noch mit meinem Vater (denn so musste ich den Einsiedel nennen) genug schwätzen können?’“ (Der Student lacht.) „Wider seinen Willen und seine Gewohnheit musste der Einsiedel lachen und sagte: ‚Liebes Kind, diese Bilder können nicht reden. Was es mit ihnen auf sich hat, sehe ich an diesen schwarzen Linien. Das nennt man Lesen, und wenn ich nun lese, kommt es dir vor, als rede ich mit den Bildern. Aber so ist das nicht.’ Ich antwortete: ‚Wenn ich ein Mensch bin wie du, dann müsste ich doch auch an den schwarzen Zeilen sehen können, was du an ihnen siehst.’ (…) Darauf sagte er: ‚Nun gut, mein Sohn, ich will dich lehren, dass du so gut wie ich mit diesen Bildern reden kannst. Aber das wird Zeit brauchen, in der ich Geduld und du Fleiß aufbringen musst.’“ Student: Und, hat er’s dann gelernt? Wirt: Ihr habt gelacht. Student: Das war komisch. Wirt: Ihr habt auch komisch gelacht – mit so piepsiger Stimme. Student: Ach, manchmal bin ich selber noch ein Kind. Meine Mutter sagte, das kommt, weil ich keinen Vater hatte, der mir beigebracht hat, ein Kerl zu sein. Wirt: Und der Stiefvater? Student: War zu beschäftigt, mit seinem eigenen Wein und mit fremden Weibern. Wirt: So. Seid Ihr deswegen von zu Hause fort? Student: Deswegen auch. Ich will zu meinem richtigen Vater. Wirt: Warum? Student: Ich würd gern wissen, was er für einer ist. Wirt: Und was versprecht Ihr Euch davon? Student: Vielleicht zu sehn, was ich für einer werde. Wirt: Wo wollt Ihr Euren Vater denn finden? Hat Eure Mutter seinen letzten Aufenthalt gekannt? Student: Sie wusste, dass es ihn hierher an den Rhein verschlagen hat. Irgendwo zwischen Offenburg und Straßburg. Wirt: Deswegen Straßburg. Habt Ihr denn einen Namen? Student: Er heißt Hans. Wirt: Davon gibt’s viele. Mehr nicht? Student: Nur die Beschreibung. Wirt: Lasst hören. Ich kenn mich aus in dieser Gegend. Student: Ein langer Dürrer mit spöttischen Augen und ein Lästermaul. Wirt: Davon gibt’s auch genug. Da werdet Ihr lange suchen. Noch ein Glas? Student: Gern. Der Wirt schenkt nach. Wirt: Bei mir bekommt selbst ein Heide zu trinken, Hauptsache, er bleibt friedlich. Die Zeiten sind schlecht und die Leute sind rappelköpfig. Trinken lieber heimlich ihren Selbstgebrannten als ins Wirtshaus zu gehen. Aber wie sagt der Philosoph: „Wo in der Einsamkeit getrunken wird, da ist das Ende nah.“ Student: Welcher Philosoph? Wirt: Epikur, wer sonst? Lernt Ihr denn gar nichts mehr auf der Universität? Student: Und wo sagt der Epikur das? Wirt: Im „Gastmahl“ natürlich. Student: Seltsam. Das muss ich nachlesen. Wirt: Das tut nur. Im Epikur nachlesen ist immer nützlich. Der und der Colerus, die sind meine Hausheiligen. Student: Colerus? Wirt: Den kennt Ihr auch nicht? Der Colerus und sein Hausbuch, die sind doch das Alpha und das Omega für Medizin, Juristerei und selbst für die Theologie. Student: In München kam der Colerus nicht vor. Wirt: Dann seid froh, dass ihr nach Gaisbach gekommen seid. Hier. Er gibt ihm ein Buch, der Student liest. Student: „Oeconomia oder Das Hausbuch des Johannes Colerus, Pfarrer zu Brandenburg. Über das Backen und Kochen und Brauen, über Viehwartung, Fischfang, Jagd und Weinbau, Gärten, Äcker und Wiesen und viel anderen Dingen zu der Haushaltung Notdurft.“ Ein evangelisches Kochbuch? Wirt: Ein Meisterwerk. Darin findet Ihr alles über Heilkräuter und Wurzeln, mehr als der Hippokrates je gewusst hat. Aber wenn wir schon vom Essen reden, dann will ich Euch noch das Kapitel lesen, wie sich der Simplicius und der Einsiedel im Wald ernährt haben. Das wird Euch auf Eurer Reise nützen. Student: Wenn Ihr meint. Wirt: „Unsere Speise bestand aus allerlei Gartengewächsen – Rüben, Kraut, Bohnen, Erbsen und dergleichen. Aber auch Bucheckern und wilde Äpfel, Birnen und Kirschen verschmähten wir nicht, und wir ließen uns oft sogar Eicheln schmecken. Das Brot, oder besser gesagt, unsere Brotkuchen backten wir in heißer Asche aus zerstoßenem Mais. Im Winter fingen wir Vögel mit Fallen und Schlingen. Im Frühjahr und im Sommer aber bescherte Gott uns Junge aus den Nestern. Oft hielten wir uns an Schnecken und Frösche und hatten auch gegen das Fischen mit Angeln und Reusen nichts einzuwenden, denn nicht weit von unserer Wohnung floss ein fisch- und krebsreicher Bach. (…) Einmal hatten wir ein junges Wildschwein gefangen, das wir in einen Pferch sperrten und, nachdem wir es mit Eicheln und Bucheckern aufgezogen und gemästet hatten, schließlich verspeisten (…).“ Student: Also war’s nicht alles nur Wurzeln und Kräuter. Mir wird ordentlich der Mund wässrig. Wirt: Hungrig? Student: Zum Frühstück gab’s nur eine dünne Suppe und zu Mittag wilde Äpfel vom Baum. Ein kleiner Imbiss wär mir recht. Wirt: Das Herdfeuer ist schon heruntergebrannt, aber Brot und Käse und eine Zwiebel könnt Ihr noch haben. Student: Gern. Ist der Simplicius bei so guter Kost beim Einsiedel im Wald geblieben? Wirt (während er den Imbiss aufträgt und der Student gierig isst): Nein. Der Einsiedel starb nach zwei Jahren, und Simplicius begrub ihn. Später fand er einen Brief in seiner Hütte, der ihm riet, den Wald zu verlassen und in die Welt zu gehen. So kommt er auf die Festung von Hanau, wo er als Spion gefangen, aber von einem Pfarrer erkannt und befreit wird. Durch den Brief in seinem Gebetbuch stellt sich heraus, dass der Einsiedel ein Schwager des Gouverneurs der Festung war und Simplicius sein Sohn. Dadurch wird er Page beim Gouverneur, fällt aber bald wieder in Ungnade, weil er sein Maul nicht halten kann. Der Gouverneur steckt ihn in ein Narrenfell und in einen Keller voller Teufel, macht ihn betrunken und redet ihm ein, er sei zur Hölle gefahren. Aber der Simplicius läßt sich nicht narren, sondern spielt ihnen nur den Narren vor und narrt so seine Peiniger. Student: Ein übler Spaß. Habt Ihr den auch selbst erlebt? Wirt: Noch üblere. Man muss sich krumm machen, wenn man durch diese Welt kommen will. Einmal hab ich in einem geplünderten Haus ein Flugblatt gefunden: Der Ochse schlachtet den Metzger, das Pferd reitet den Dragoner, der Reiche bettelt beim Armen und der Heide predigt dem Priester. Da dachte ich, es wär lustig, so zu schreiben. Student: Danach habt Ihr zu schreiben angefangen? Wirt: Nicht gleich. Ich hab gezögert, weil ich dachte: Darf ich mich lustig machen über so viel Leid und Grausamkeit? Ist der Krieg nicht eine viel zu ernste Sache? Muss ich darüber nicht so schreiben wie die großen Poeten? Hier kennt Ihr das? Er sucht ein Blatt aus seinen Papieren hervor, gibt es dem Studenten. Student (liest): „Tränen des Vaterlandes Anno 1636“. Nie gehört. Wirt: Lest nur. Student (hört zu essen auf und liest): Wir sind doch nunmehr gantz, / ja mehr denn ganz verheeret! Der frechen Völcker Schaar, / die rasende Posaun, Das vom Blutt fette Schwerdt, die donnernde Carthaun Hat aller Schweiß / und Fleiß und Vorrath aufgezehret. Die Türme stehn in Glutt, / die Kirch ist umgekehret. Das Rathauß ligt im Grau. / Die Starken sind zerhaun, Die Jungfern sind geschänd‘t, und wo wir hin nur schaun, Ist Feuer, / Pest / und Tod, / der Hertz und Geist durchfähret. Hir durch die Schantz und Stadt / rinnt allzeit frisches Blut. Dreymal sind schon sechs Jahr, / als vnser Ströme Flutt, Von Leichen fast verstopfft, / sich langsam fort gedrungen. Doch schweig ich noch von dem / was ärger als der Tod, Was grimmer denn die Pest / und Glut und Hungersnot: Das auch der Seelen Schatz / so vielen abgezwungen. Wirt: So muss man über den Krieg schreiben, dachte ich. Aber dann saß ich in der Offenburger Festung und las mich durch die Bücher, die unser Feldkaplan aus einem Bürgerhaus gestohlen hatte. Durch den Gryphius und den Rist und den Herrn von Spee. Ein Jammern und Klagen und Barmen, sehr kunstvoll und ganz wirkungslos. Keiner unserer Kriegsherren hat je einen Pfifferling darum gegeben. Student: Ihr wollt von all dem Grauen mit Lachen erzählen. Wirt: Ich dachte: Wenn die über uns lachen, dann müssen wir zeigen, dass sie noch viel lächerlicher sind. Uns predigen sie die zehn Gebote und dass die Friedfertigen selig werden, aber selber üben sie Willkür und Gewalt nach Herzenslust. Dagegen ist das Wort ohnmächtig. Da hätt’ ich mich manchmal am liebsten an die Spitze einer Schar wilder Jäger gesetzt und das Pack aus seinen Palästen geholt und an den nächsten Baum geknüpft. Aber dann hätten sie mich eines Tages daneben gehängt und wieder das letzte Lachen gehabt. Student: Also habt Ihr Säbel und Muskete in die Ecke gestellt und zur Feder gegriffen. Wirt: Weil das Wort doch nicht so ohnmächtig ist, wie sie glauben. Denn würden sie es sonst so hassen? Und immerfort zwischen den Seiten schnüffeln, ob da auch nichts Verbotenes geschrieben steht? Hätt ich meine Wahrheiten so todernst aufgeschrieben wie der Gryphius, kein Drucker würde sie drucken. Aber wenn der Simplicius sie sagt, dann lachen sie, weil sie denken: Was für ein Narr! Student: Wie weit ist er damit gekommen? Wirt: Bis ans Ende der Welt. Aber erst einmal haben ihn kroatische Reiter verschleppt, als er vor der Festung auf dem Eis des Wassergrabens herumtollte. Sie machten ihn ihrem Oberst zum Geschenk, der noch blöder war als der Gouverneur. Eines Tages gelang es ihm zu fliehen, und er geriet in einen Wald, in dem er ein schauriges Haus fand. Mögt Ihr Spukgeschichten? Student: Kommen darin Hexen und Teufel vor? Wirt (blättert suchend): Jede Menge. Also, hört: „Statt eines Lichts hatten sie in jenem düsteren Haus auf der Bank eine schweflige blaue Flamme stehen, bei der sie Stöcke, Besen, Mistgabeln, Stühle und Bänke einschmierten und auf diesen einer nach dem anderen zum Fenster hinausflogen. Ich war ganz verdattert und ein Grauen überkam mich. Aber ich hatte schon größere Schrecken erlebt und außerdem mein Lebtag noch nichts von Hexen und Hexenmeistern gelesen oder gehört. (…) Nachdem alle davongeflogen waren, trat ich in die Stube und überlegte, was ich mitnehmen könnte und wo ich danach suchen sollte. In solchen Gedanken setzte ich mich rittlings auf eine Bank. Aber ich saß noch kaum, da fuhr auch ich samt der Bank zum Fenster hinaus. (…) schon befand ich mich bei einer riesigen Menschenmenge. (…) Die Leute tanzten einen seltsamen Tanz, wie ich ihn noch nie gesehen hatte. Sie hielten sich bei den Händen und hatten viele ineinander geschachtelte Kreise gebildet. Dabei tanzten sie mit dem Rücken nach innen und mit dem Gesicht nach außen, so wie man auf Gemälden die drei Grazien darstellt. (…). Die Bank, die mich hingetragen hatte, war bei den Musikanten niedergegangen, die außerhalb der Kreise um den Tanzplatz standen. Von denen hatten manche statt Flöten, Querpfeifen und Schalmeien nichts anderes als Nattern, Vipern und Blindschleichen, auf denen sie lustig daherpfiffen. Andere hatten Katzen, denen sie in den Hintern bliesen und dazu auf dem Schwanz herumfingerten – das klang wie Sackpfeifenmusik. Andere geigten auf Pferdeköpfen wie auf der besten Diskantgeige und wieder andere schlugen die Harfe auf Kuhgerippen, wie man sie auf dem Schindanger liegen sieht. (…) In diesem Getöse kam ein Kerl mit einer riesigen Kröte unter dem Arm auf mich zu, die bestimmt so groß war wie eine Kesselpauke. Ihr waren die Därme aus dem Hintern gezogen und vorn wieder ins Maul gestopft worden, was so ekelhaft aussah, dass ich mich fast erbrochen hätte. ‚Sieh hin, Simplicius‘, sagte er. ‚Ich weiß, du bist ein guter Lautenspieler. Lass uns doch ein schönes Stückchen hören.‘ Ich fiel fast um vor Schreck, weil mich der Kerl beim Namen nannte und brachte kein Wort heraus. (...) Doch der mit der Kröte (…) versetzte mir schließlich einen solchen Stoß vor die Brust, dass ich (…) anfing , so laut ich konnte, nach Gott zu rufen. Da verschwand das ganze Heer.“ Student: Ihr habt Euch auf dem Blocksberg sehr gut umgesehen. Wirt: Im Gegensatz zum Simplicius hab ich schon als Kind mehr als genug von Hexen und Hexenmeistern gehört. Bei uns in Gelnhausen ist sogar die Witwe eines Pfarrers als Hexe geköpft worden. Und nah bei unserem Haus stand der Hexenturm, wo die Angeklagten eingesperrt waren. Nachts hörten wir ihr Schreien und Wimmern. Da habe ich auch zum ersten Mal Teufel gesehen – Teufel in Menschengestalt. Sie trugen Amtstracht und Ornat und hielten fromme Reden, während sie foltern ließen. Das Geld der Hexen kam in die Stadtkasse. Es war ein einträgliches Geschäft. Student: Gewiss. Wie ist der Simplicius vom Blocksberg fortgekommen? Wirt: Er fand sich auf einem Feld vor Magdeburg wieder, das gerade von den Kaiserlichen belagert wurde. Ihr habt davon gehört? Student: Wer nicht? Die Bluthochzeit von Magdeburg. Das grausamste Gemetzel des ganzen Krieges. Meine Mutter hat’s überlebt. Wirt: Dann muss sie einen mächtigen Schutzengel haben. Student: Den hatte sie. Ich hoff’, sie ist jetzt bei ihm. Wirt: Ach so? Wie lang ist sie denn schon tot? Student: Seit einem Jahr. Wirt: Dann wird sie nie erfahren, ob Ihr Euren Vater findet oder nicht. Student: Ihr Engel wird’s Ihr schon sagen. Und der Simplicius? Wirt: Lernte vor Magdeburg seinen besten Freund kennen, den Herzbruder. Doch auch seinen ärgsten Feind, einen Schreiber namens Olivier. Der schob dem Herzbruder aus Neid einen Diebstahl unter, so dass der seinen Abschied nehmen musste und zu den Schweden ging. Ein besoffener Offizier tötete danach seinen alten Vater, und so war mein Simplicius wieder allein. Da hat er dann versucht, in Frauenkleidern aus dem Lager zu fliehen. Wollt Ihr die Geschichte noch hören? Student (zögernd): Warum gerade die? Wirt: Weil sie lustig ist. Student: Gut. Wenn’s noch was zu trinken gibt. Wirt (schenkt nach, blättert): Wohl bekomm’s. Also: „Da ich nun endlich allein war, zog ich (das Frauenkleid) an, warf mein Kalbskleid in einen Lokus und bildete mir ein, nun sei ich aus allen Nöten erlöst. In diesem Aufzug trat ich auf die Straße, an deren Ende ein paar Offiziersfrauen standen. Ich näherte mich ihnen und machte dabei so zierlich kleine Schritte wie einst Achilles, als seine Mutter ihn in Mädchenkleidern zu König Likomedes schickte, um ihn vor dem Krieg zu bewahren. Doch kaum war ich aus dem Haus, da erblickten mich ein paar Fouragierer und brachten mir das Springen wieder bei. Denn als sie schrien ‚Halt! (..)‘, rannte ich, so schnell ich konnte, und war bei den Offiziersfrauen, ehe sie mich eingeholt hatten. Auf Knien und bei der Ehre und Tugend aller Frauen flehte ich sie an, meine Jungfräulichkeit vor diesen geilen Burschen zu beschützen. Meine Bitte wurde mehr als erfüllt, denn eine Rittmeisterin wollte mich sogar als Magd nehmen. Bei ihr blieb ich, bis Magdeburg und (…) Havelberg und Perleberg (…) von den Unseren eingenommen waren. (…) Diese Rittmeisterin war zwar noch jung, aber bestimmt kein Kind mehr. Sie vernarrte sich so sehr in mein hübsches Gesicht und meinen ranken Leib, dass sie mir nach langem Hin und Her und vielen vergeblichen Andeutungen deutsch und deutlich zu verstehen gab, wo sie der Schuh am meisten drückte. (…) Bald erkrankten der Rittmeister und sein Knecht an der gleichen Leidenschaft. (…) Bald loderte (..) (sie) so hoch, dass Herr und Knecht voller Eifer von mir begehrten, was ich ihnen gar nicht bieten konnte, während ich es der Frau auf höfliche Weise verweigerte.“ (Legt das Blatt weg.) Das findet Ihr nicht lustig, wie? Student: Äh – doch, doch. Wirt: Ihr habt nicht einmal gelacht. Student: Das hat nichts zu sagen. Wirt: Nicht mal geschmunzelt. Student: Ich hab versucht, mir seine Lage vorzustellen. In Frauenkleidern, von allen Seiten bedrängt. Wie kam er da heraus? Wirt: Interessiert Euch’s wirklich oder bleibt Ihr nur des Weins und des Ofens wegen wach? Student: Das interessiert mich sogar sehr. Flog seine Verkleidung auf? Wirt: Genau an dem Morgen, als die Armee zum Angriff aufbrach. Da war die Rittmeisterin beschäftigt, und der wütende Rittmeister wollte ihn aus Rache der Wollust seiner Knechte überlassen. Als die ihm die Kleider vom Leibe rissen, war’s um ihn geschehen. Der Rumormeister des Regiments kam vorbei, und sie schleppten ihn als Spion vors Feldgericht. Gerade da begann die Schlacht, die so vielen das Leben kostete, aber dem Simplicius seins rettete. Wollt Ihr das noch hören? Student: Nur zu. Wirt: Ist aber nichts für zarte Gemüter. Student: Meine Mutter war dabei und hat mir auch davon erzählt. Wirt: Also gut: „Im Gefecht (...) versuchte jeder, dem eigenen Tod zu entgehen, indem er sein Gegenüber niedermachte. Das gräuliche Schießen, das Klappern der Harnische, das Krachen der Piken, die Schreie der Verwundeten und der Vorwärtsstürmenden und dazu die Trompeten, Trommeln und Pfeifen – das alles ergab eine grausige Musik. Man sah nur dicken Rauch und Staub, der den grauenhaften Anblick der Verwundeten und Toten verdecken zu wollen schien. Darin hörte man das jämmerliche Wehklagen der Sterbenden und das beherzte Geschrei derer, die noch voller Mut waren. Die Pferde schienen, je länger die Schlacht währte, zur Verteidigung ihrer Reiter immer frischer zu werden – so heißblütig zeigten sie sich bei der Erfüllung ihrer Aufgabe. Manche sah man tot unter ihren Herren zusammenbrechen, übersät mit Wunden, die sie unverschuldet zum Lohn für ihre treuen Dienste empfangen hatten. Andere stürzten aus der gleichen Ursache auf ihre Reiter und hatten so im Tod die Ehre, von denen getragen zu werden, die sie ihr Leben lang hatten tragen müssen. (…) Die Erde, die doch sonst die Toten deckt, war an diesem Ort nun selbst von Toten übersät, die ganz unterschiedlich zugerichtet waren. Da lagen Köpfe, die ihre natürlichen Herren verloren hatten und Leiber, denen die Köpfe fehlten. (…) Da sah man verstümmelte Soldaten um die Beschleunigung ihres Todes flehen und andere um die Gnade und Verschonung ihres Lebens. Summa summarum war da nichts, als ein elender, jammervoller Anblick.“ (Hört zu lesen auf.) Ihr seht selber elend aus. Student: Sehr eindringlich beschrieben. Glaubt Ihr, das wird Euer Buch glaubwürdiger machen? So dass jeder denkt: Der ist dabei gewesen? Wirt: Darum geht’s mir nicht. Ich wollt nur dran erinnern, wie es wirklich war. Denn der Krieg lebt vom Vergessen. Die jungen Leute heute, die denken schon wieder, der Krieg ist ein Abenteuer und eine Hatz. Man wird Soldat und bekommt seine Uniform und Waffen und ist Herr über Leben und Tod. Der reiche Bürger zittert, und die jungen Mädchen gaffen. Aber dann kommt die Schlacht, und dann ist es nur noch Tod und Verderben. Die Uniform geht in Fetzen und der Leib hinterher. Was von der Seele übrig bleibt, das wisst Ihr. Die sich im Krieg an Mord und Totschlag gewöhnt haben, die kennen auch im Frieden nichts Anderes mehr, egal, was die Pfaffen predigen. Student: Wohin verschlug es den Simplicius nach der Schlacht? Wirt: Er traf den jungen Herzbruder wieder, der mit den Schweden zurückkam und ihn aus den Fängen des Feldgerichts befreite. Dann verschwand er im Rauch der Schlacht. Simplicius wurde Bursche bei einem schwedischen Oberstleutnant, dessen verlausten Kürass er schleppen musste. Bald schon nahmen ihn wieder die Kaiserlichen gefangen und mit seinem sechsten Offizier kam er als Schutzwache zu einem Kloster namens „Paradies“, das eines für ihn wurde. Student: Davon hätt ich nach all dem Schlachten und Sterben gern noch was gehört. Wirt: Als Letztes, weil noch ein wenig Wein im Krug ist. (Gießt nach, dann liest er.) „Das Paradies fanden wir so, wie wir es uns gewünscht hatten – sogar noch besser, denn statt der Engel lebten schöne Jungfrauen darin, die uns mit Speisen und Trank so gut bewirteten, dass ich bald wieder rund und gesund aussah. Da kamen das dickste Bier und die besten westfälischen Schinken auf den Tisch, außerdem Knackwürste und köstliches, zartes Rindfleisch, das man in Salzwasser kochte und kalt aß. Da lernte ich das Schwarzbrot schmieren, fingerdick, mit gesalzener Butter, damit es besser rutscht, und Käse drauf. Und wenn ich über einer mit Knoblauch gespickten Hammelkeule saß, neben mir eine gute Kanne Bier, lebten Leib und Seele auf, und ich vergaß alles Leid, das ich ausgestanden hatte. Kurz, das Paradies tat mir so gut, als wenn es das echte gewesen wäre.“ Student: Das klingt wirklich wie ein Paradies auf Erden. Das habt Ihr selber erlebt? Wirt: In etwa, ja. Nur dass mein Paradies nicht die Speisekammer und die Küche waren, sondern die Bibliothek des Klosters. Student: Davon habt Ihr aber nichts geschrieben. Wirt: Wer will das heute lesen? Bücher und Wissen, die müssen verächtlich gemacht werden, wo man Dummköpfe für den nächsten Krieg braucht. Das ist unseren Herrschaften fast vollends gelungen. Zuckerbrot und Spiele, wie im alten Rom. Wir wissen, wie’s ausgegangen ist. Student: Und wie ist’s mit dem Simplicius ausgegangen? Wirt: Der wurde ein wilder Jäger und hatte das Kriegshandwerk so gut gelernt, dass er bald die Taschen voller Geld und den Kopf voller Flausen hatte. Er verliebte sich in die Tochter eines Obristen, wurde mit ihr im Bett erwischt und musste wider Willen heiraten. Deshalb machte er sich bald wieder aus dem Staub, bis nach Paris. Dort gab er den Orpheus auf der Bühne und wurde über Nacht zum gefeierten „Beau Allemand“. Aber das ist eine andere Geschichte. Student: Und das wilde Weib, von der Ihr erzählt habt. Die den Landsknecht mit einem Hieb geköpft hat? Wirt: Warum kommt Ihr schon wieder mit der? Student: Ihr wolltet noch von ihr erzählen. Wirt: Wann hab ich das gesagt? Student: Ihr sagtet: später. Wirt: Die heb ich mir auf für ein neues Buch. Meint Ihr, das hier wird sich verkaufen? Student: Bestimmt. Aber das wilde Weib – hatte es denn auch einen Namen? Wirt: Was wollt Ihr nur immer mit der? Sie war eine Böhmische, mit Namen Libuschka. Beim Heer hieß sie aber nur die Courasche. Student: Nannte sie sich nicht: Libuschka von Bragoditz? Wirt: Wie kommt Ihr auf den Namen? Student: Weil sie aus Bragoditz in Böhmen stammte. Wirt: Das allerdings. Student: Aber mit richtigem Namen hieß sie Borovicka. Wirt: Woher wisst Ihr das? Student: Weil sie meine Mutter war. Wirt: Die Wirtin vom „Goldenen Schwan“ in Wasserburg? Student: Dieselbe. Wirt: Ihr könnt mir viel erzählen. Student: Das kann ich. Von Breitenfeld bis Breisach hat sie alle Schlachten mitgemacht und Euch schließlich in Wasserburg wiedergetroffen. Wirt: So, hat sie das erzählt? Student: Wo Ihr Kanzleischreiber im Regiment Elter wart. Wirt: Kanzleisekretär. Student: Und wo Ihr in einer Maiennacht, als die Friedensglocken läuteten, mein Vater wurdet. Wirt: Zur Hölle, nein! Student: Beim Himmel: doch! Wirt: Nicht so laut, junger Mann! Wie willst du das beweisen? Student (zieht ein Amulett aus der Tasche): Erkennst du dieses Amulett? Maria aus Magdala, die Schutzheilige der Sünderinnen und der Weinhändler. Du hast es ihr damals gegeben, in der Friedensnacht auf dem Heuboden der Festung. Bevor du dich am Morgen aus dem Staub gemacht hast und ein braver Ehemann geworden bist, wie dein Simplicius. Wirt: Ich hab‘ das nie erfahren. Student: Das lügst du. Sie hat dir geschrieben, immer wieder. Wirt: Ich hab keinen Brief bekommen, ich schwör’s. Student: Schwör’ lieber nicht. Nachher findest du doch noch einen zwischen all deinen Papieren. Hast du dich wenigstens manchmal an sie erinnert? An die Hyäne, wenn du zu deiner braven Frau ins Bett gegangen bist? Wirt: Das geht dich einen Scheißdreck an. Student: Sie hat sich oft erinnert. Manchmal im Schlaf, als sie schon krank lag, hat sie sogar deinen Namen gerufen. Sonst hätt ich sie auf dem Sterbebett nicht danach fragen können. Da erst hat sie mir alles erzählt. Wirt: So? Dann werde ich dir jetzt beweisen, dass du ein Lügner bist. Denn deine ganze Geschichte ist erfunden. Wahrscheinlich hast du sie im Wirtshaus aufgeschnappt und dort das Amulett gestohlen. Student: Was du nicht sagst. Wirt: Ja, denn ich habe einen Brief bekommen. Ich trag ihn immer bei mir. (Zieht ein Papier aus seinem Hemd.) Und darin steht, dass ich eine Tochter habe. Was sagst du jetzt, du Lügensack? Student: Ich sage: Gut, dass du endlich mit der Wahrheit herausrückst. Da wird’s wohl Zeit, dass auch ich mein Kostüm ablege. Das Barrett zuerst. Wirt: Heilige Maria, Joseph und das Christkind dazu! Magdalena: Vergiss nicht Maria Magdalena, auf die bin ich getauft. Erschrickt dich meine Frisur? Wirt: Die eine Seite geschoren, die andere voller Locken. Magdalena: Sonst hätten sie nicht unter das Barrett gepasst. Soll ich mir noch das Mieder aufschnüren, damit du mir glaubst? Wirt: Nicht nötig. Oben beginnt ein Kind zu wimmern, Schritte, es wird beruhigt. Magdalena: Noch was Kleines, auf Deine alten Tage? Was sagst du deiner Frau, wenn sie jetzt mit meinem Geschwisterchen herunterkommt? Wirt: Ich sag’: ein später ungebetener Gast. Magdalena (lacht): Dann sage ich: die Jungfrau aus Mitternacht und Eure liebe Stieftochter. Wirt: Das lässt du bleiben. Magdalena: Angst vor dem Dorfklatsch? Weil du dann nicht mehr Schultheiß werden kannst? Wirt: Hast du spioniert, im „Schwarzen Adler“? Magdalena: Ich musste doch herausfinden, ob du’s auch wirklich bist. Aber so viele Rotbärte gibt’s ja nicht in diesem Nest. Wirt: Das hat sie dir also auch verraten. Magdalena: Wieso verraten? Hat sie dir etwa geschworen, niemandem zu erzählen, mit wem sie zum Friedensschluss im Heu lag? Wirt: Sie hat gesagt, sie könnte keine Kinder bekommen. Magdalena: Dann muss es an den Freudenglocken gelegen haben. Wirt: Mach dich noch lustig. Magdalena: Lust hat es dir gemacht, obwohl du schon eine Braut hattest. Und darum hast du dich auch aus dem Staub gemacht, du Bruder Lustig. Wirt: Wenn du mich erpressen willst: Denk’ daran, was darauf steht, wenn eine Frau in Männerkleidern durchs Land zigeunert! Magdalena: Was hast du gegen Zigeuner? Wirt: Warum bist du gekommen, Magdalena? Magdalena: Das hab ich schon gesagt. Ich wollte sehen, was mein Vater für einer ist. Wirt: Damit du weißt, was du für eine wirst. Hast du deswegen meine Geschichten hören wollen? Magdalena: Du hast damit angefangen. Wirt: Der Teufel muss mich geritten haben, dass ich dich nicht sofort wieder hinausgeschmissen hab. Magdalena: Nicht der Teufel, die Eitelkeit. Hast du schon einmal aus dem Buch vorgelesen? Wirt: Nein. Du warst der Erste. Magdalena: Die erste. Nicht einmal deiner Frau? Wirt: Was willst du wirklich? Magdalena: Dich daran erinnern, dass du noch ein Buch schreiben musst. Die Geschichte der Libuschka. Wirt: Wieso muss ich? Magdalena: Weil ihre Stimme dir sonst auf ewig im Kopf herumspuken wird. Schick mir das Buch, wenn es fertig ist. Wirt: Wohin willst du jetzt gehen? Magdalena: Nach Straßburg. Ein Bruder des Stiefvaters hat dort eine Malerwerkstatt. Da kann ich vielleicht unterkommen. Wirt: Kannst du denn malen? Magdalena: Was hältst du davon? Sie zieht ein Blatt aus ihrem Bündel. Wirt: Die Libuschka. Magdalena: Glaubst du noch immer, dass ich eine Lügnerin bin? Wirt: Das Alter hat sie mild gemacht, scheint’s. Magdalena: Dich auch. Wirt: Wie kommst du darauf? Magdalena: Weil du mich nicht rausgeschmissen hast. Wirt: Das war nur, weil du Geld hattest. Magdalena: Nein, weil du einen Zuhörer für dein Buch gewittert hast. Wirt: Das auch. Magdalena: Gefällt dir das Bild? Wirt: Sieht aus, als hätte sie am Ende ihren Frieden gefunden. Magdalena: Du kannst es behalten. Damit du das Buch nicht vergisst. Und als Dank fürs Vorlesen. Wirt: Willst du nicht bleiben? Meine Frau hat ein gutes Herz, ich werd’s ihr schon beibringen. Ein hübsches Mädchen hinterm Schanktisch könnt ich gut gebrauchen, wenn das Buch erst erschienen ist und ich Schultheiß bin. Dann werden sie alle zurückkommen aus dem „Schwarzen Adler“. Magdalena: Als Lockvogel für deine Säufer und Fresssäcke? Das hätt‘ ich auch in Wasserburg haben können. Das ist ebenso ein tristes Nest wie euer Gaisbach. In Straßburg gibt es eine Universität und Bibliotheken. Wirt: Aber du kannst nicht studieren. Magdalena: Ich kann mein Kostüm wieder anziehen. Du hast ja auch nichts gemerkt. Wirt: Weil es schon dunkel war und meine Augen alt sind. Die jungen Doktors und die Studenten, die haben scharfe Blicke und werden’s schnell merken. Es geht hoch her auf dem Paukboden und im Bierkeller. Da wird auch angefasst, was einer in der Hose hat. Magdalena (lacht): Ich kann mir ja eine Mohrrübe einstecken. Wirt: Wenn das herauskommt, gute Nacht, Marie. Du hast gehört, wie‘s die Kerle treiben. Magdalena: Ich kann mich wehren. Wirt: Hast du auch ein Messer unterm Rock? Magdalena: Im Stiefel. Wirt: Ich muss jetzt nach oben. Magdalena: Probier’s mit Arnika. Wirt: Wie? Magdalena: Gegen dein Knochenreißen. Du hast mich doch gefragt. Arnika ist das beste Kraut für alte Knochen. Morgen früh bin ich wieder der fahrende Student. Das ist besser, wenn deine Frau herunterkommt. Wirt: Gib auf dich acht. Es stinkt schon wieder nach Krieg, hier am Rhein. Magdalena: Und trotzdem glaubst du noch immer an Gottes Allmacht und Güte? Wirt : Wegen dem Kruzifix? Das muss dort hängen, genau wie die Narrenkarte. Magdalena : Aber die Narrenkarte ist größer. Wirt : Ja, aber sieh dir das Gesicht des Gekreuzigten genau an. Darin leuchtet die Liebe Gottes ebenso stark wie der Schmerz über unsere Sünden. Die sonderbare Barmherzigkeit des Allmächtigen hat mich den Krieg überleben lassen. Sie hat mich bekehrt und aus einem Narren einen Mann gemacht, der über seine Narrheit lachen kann. Und sie hat dich zu mir geführt, trotz all meiner Verfehlungen. Wie sollte ich da nicht an sie glauben? Magdalena (zärtlich): Gute Nacht, Rabenvater. Wirt: Gute Nacht, fremde Tochter. Musik Heinrich Schütz „Nacket bin ich von Mutterleibe kommen“ (SWV 279) darüber die Stimme des Wirts, der das letzte Kapitel schreibt. Wirt: Lebe wohl, Welt, denn an dir ist nichts beständig. Die hohen Türme werden vom Blitz zerschlagen und die Mühlen werden vom Wasser weggeschwemmt. Das Holz wird von Würmern, das Korn von Mäusen, das Obst von Raupen und die Kleider von Motten gefressen. (…) In dir, oh Welt, tut nicht einer, was der andere tut. Einer redet, der andere schweigt. Einer spielt, der andere arbeitet. Und wenn einer geboren wird, stirbt der andere. 2 Hintergrund Kultur und Politik Literaturredaktion T +49 30 8503 0 hoererservice@deutschlandradio.de Hans-Rosenthal-Platz, 10825 Berlin T +49 30 8503-0 deutschlandradio.de Deutschlandradio K. d. ö. R., gesetzlicher Vertreter ist der Intendant. Deutschlandradio kann auch von zwei vom Intendanten bevollmächtigten Personen gemeinsam rechtsverbindlich vertreten werden. Auskünfte über das Bestehen und den Umfang der Vollmachten erteilt der Justiziar. Gerichtsstand: Köln