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Musik Wildgänse rauschen durch die Nacht (Gesang Strophe 1) Wildgänse rauschen durch die Nacht Mit schrillem Schrei nach Norden - Unstete Fahrt! Habt acht, habt acht! Die Welt ist voller Morden. Sprecherin In Der Wanderer zwischen beiden Welten glorifiziert Flex den jungen Soldaten und Theologiestudenten Ernst Wurche, mit dem er gemeinsam eine Offiziersausbildung absolvierte. Die erste Begegnung mit Wurche schildert Flex wie folgt: Zitator "Der Gang dieses Menschen konnte Spiel sein oder Kampf oder Gottesdienst, je nach der Stunde. Er war Andacht und Freude. Wie der schlanke, schöne Mensch in dem abgetragenen grauen Rock wie ein Pilger den Berg hinabzog, die lichten grauen Augen ganz voll Glanz und zielsicherer Sehnsucht, war er wie Zarathustra, der von den Höhen kommt, oder der Goethesche Wandrer." Sprecherin Die beiden Kriegsfreiwilligen begegnen sich im Frühjahr 1915 an der Westfront. Die Einheit von Spiel, Kampf und Gottesdienst im Erscheinungsbild Wurches spiegelt sich gleich darauf in dessen literarischem Gepäck. Musik Wildgänse rauschen durch die Nacht (ein Teil des Zwischenspiels nach Strophe 2) Zitator "Im Eisenbahnwagen kamen wir ins Gespräch. Er saß mir gegenüber und kramte aus seinem Tornister einen kleinen Stapel zerlesener Bücher: ein Bändchen Goethe, den Zarathustra und eine Feldausgabe des Neuen Testaments. "Hat sich das alles miteinander vertragen?" fragte ich. Er sah hell und ein wenig kampfbereit auf. Dann lachte er. "Im Schützengraben sind allerlei fremde Geister zur Kameradschaft gezwungen worden. Es ist mit Büchern nicht anders als mit Menschen. Sie mögen so verschieden sein, wie sie wollen - nur stark und ehrlich müssen sie sein und sich behaupten können, das gibt die beste Kameradschaft."" Musik Wildgänse rauschen durch die Nacht (Ende Strophe 3 mit Refrain) Und fahr'n wir ohne Wiederkehr, Rauscht uns im Herbst ein Amen! Sprecherin In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts belegt Der Wanderer zwischen beiden Welten unter den meistgelesenen Büchern in Deutschland Rang sechs. Es ist nach Erich Maria Remarques Im Westen nichts Neues von 1929 das auflagenstärkste Weltkriegsbuch überhaupt und maßgeblich daran beteiligt, dass sich das Bild vom Nietzsche und Goethe lesenden Soldaten in den Erinnerungen an den Ersten Weltkrieg festsetzte. Sprecher (Überschrift) KAPITEL 2: Erinnerungen von Zeitgenossen Zitator "Ich weiß nur, dass viele Soldaten im Ersten Weltkrieg Goethes Faust und Nietzsches Zarathustra im Tornister trugen", Sprecherin schreibt Heinz Westman, ein bekannter Psychotherapeut, im Rückblick auf seine Soldatenzeit. Ganz ähnlich der evangelische Theologe Paul Schütz: Sprecher (Zitat) "Wir hatten Nietzsche oder auch Faust im Tornister." Sprecherin Der Literaturwissenschaftler Rudolf Wustmann schreibt 1915 in dem Buch Weimar und Deutschland: Zitator "In manchen Schützengraben kehrte Faust mit ein, und [...] bei Fausts Selbstgesprächen dachten wir unserer Feinde: >So etwas habt ihr doch nicht.<" Sprecherin Der Schriftsteller Richard Huelsenbeck, der in Deutschland den Kriegsdienst verweigerte, in die neutrale Schweiz emigrierte und dort 1916 Dada mitbegründete, sah das im Rückblick 1920 ganz anders: Sprecher (Zitat) "Wir hatten alle keinen Sinn für den Mut, der dazu gehört, sich für die Idee einer Nation totschießen zu lassen, die im besten Fall eine Interessengemeinschaft von Fellhändlern und Lederschiebern, im schlechtesten eine kulturelle Vereinigung von Psychopathen ist, die [...] mit dem Goethe-Band im Tornister auszogen, um Franzosen und Russen auf Bajonette zu spießen." Sprecherin George Grosz, der sich freiwillig zum Kriegsdienst gemeldet hatte, dann aber zum Kriegsgegner und Dadaisten wurde, sieht die Wurzeln der deutschen Dada-Bewegung in der Erkenntnis: Zitator "...dass es vollendeter Unsinn war, zu glauben, der Geist oder irgendwelche Geistige regierten die Welt. Goethe im Trommelfeuer, Nietzsche im Tornister, Jesus im Schützengraben - da gab es immer noch Leute, die Geist und Kunst für eine selbständige Macht hielten." Sprecherin Goethe, Nietzsche, Neues Testament beherrschten die Tornister allerdings nicht unangefochten. In Martin Heideggers Vortrag Der Ursprung des Kunstwerks heißt es Mitte der dreißiger Jahre: Sprecher (Zitat) "Hölderlins Hymnen waren während des Feldzuges im Tornister mitverpackt, wie das Putzzeug." Sprecherin Bücher im Tornister spielten offenbar eine wichtige Rolle für den Weltkriegssoldaten und dessen Selbstbild. Eine Voraussetzung dafür war, dass Soldaten lesen konnten. Sprecher (Überschrift) KAPITEL 3: Ein Heer mit Büchern O-Ton 1 (Nübel) Also die Belesenheit und die Möglichkeit, überhaupt zu schreiben, war zumindest zu Beginn des 19. Jahrhunderts noch nicht besonders weit verbreitet. Das verändert sich natürlich im 19. Jahrhundert ganz radikal. Und sie haben im Grunde in den deutschen Armeen Mitte des 19. Jahrhunderts eine sehr sehr geringe Analphabetenrate. Ich würde sagen fünf Prozent. Das heißt also: Im Grunde kann jeder Soldat lesen. Damit werden natürlich auch die Lesestoffe wichtiger. Sprecherin Christoph Nübel ist Geschichtswissenschaftler an der Humboldt- Universität Berlin. Markus Pöhlmann vom Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr in Potsdam ergänzt: O-Ton 2 (Pöhlmann) Die zweite Voraussetzung ist natürlich ein entsprechender Buchmarkt, ein Publikationswesen, was darauf abgestellt werden kann, dass es im Krieg eben die Soldaten beliefert, auch die literarischen Bedürfnisse befriedigt, bestimmte Märkte sich auch erschließt. Auch das ist vor 1914 gegeben, so dass wir eigentlich sagen können, der Erste Weltkrieg ist ein Krieg, in dem die Voraussetzungen dafür, dass sofort und über die gesamte Dauer des Krieges gelesen wird, die sind eigentlich mit dem Kriegsbeginn schon erfüllt. Und es geht dann nur darum, wie man die Infrastruktur des Lesens in den Kriegsgebieten, in den Etappen- und Besatzungsgebieten organisiert. Sprecherin Dass Soldaten massenhaft mit Büchern in einen Krieg ziehen können, ist also erst im Industriezeitalter und durch das damit gestiegene Bildungsniveau der Bevölkerung technisch möglich. Politisch bringt das Industriezeitalter aber auch den Imperialismus hervor. Die zahlreichen kleinen Konflikte zwischen den Großmächten, ihr Wettrüsten und Bündnisschmieden lassen die Menschen in Europa bereits nach der Jahrundertwende immer öfter an einen Krieg denken. Natürlich auch die Schriftsteller. Christoph Nübel: O-Ton 3 (Nübel) Es gab im Vorfeld des Ersten Weltkriegs zahlreiche Publikationen, literarische Publikationen, die sich mit dem Krieg befasst haben. Wir haben von Wilhelm Lamszus ein Buch, das heißt Das Menschenschlachthaus, wo die tödliche Wirkung der Maschinengewehre sehr plastisch geschildert wird. Und wir haben ein Buch von einem Autor, der nennt sich Seestern, und das Buch heißt 1906, was das Szenario durchspielt, dass Deutschland gegen Großbritannien Krieg führen muss und die Marinen dann gegeneinander kämpfen. Sprecherin 1906 und mehr noch Das Menschenschlachthaus - das erste 1906, das zweite 1912 erschienen - waren Bestseller und keine kriegstreiberischen Titel. O-Ton 4 (Piper) Also der Lamszus ist das Gegenteil. Der durfte auch während des Ersten Weltkriegs nicht vertrieben werden. Sprecherin ...weiß Ernst Piper, Verleger und Privatdozent für Neuere Geschichte an der Universität Potsdam. O-Ton 5 (Nübel) Also da haben Sie so Szenarien, die sich im Ersten Weltkrieg auf zweierlei Ebene dann so ereignet haben. Einmal sind es die Koalitionen, die schon relativ deutlich abgebildet werden. Und dann haben Sie die Brutalität und enorme Grausamkeit des Krieges und die enorm hohen Verluste, die sich auch in diesen Schilderungen immer wieder widerspiegeln. Also die werden nicht ausgespart oder heroisiert. Sprecherin 1914 überrascht dann nicht der Ausbruch des Krieges, sondern die Welle des Patriotismus in allen großen europäischen Nationen und vor allem in Deutschland. Musik Hörbild zur Mobilmachung Sprecher (Überschrift) KAPITEL 4: Der Geist von 1914 und wohin er sich ergießt Musik Hörbild zur Mobilmachung, Sprecherin 1915, ein Jahr nach Kriegsausbruch, stellt die Deutsche Grammophon zu Propagandazwecken in einer sechseinhalb minütigen Aufnahme, einem sogenannten Hörbild, die Mobilmachung im August 1914 nach. Musik Hörbild zur Mobilmachung, (Ende Marschmusik & Jubel) Bataillon Halt! Gewehr ab! Rührt Euch! O-Ton 6 (Pöhlmann) Also die Kriegsbegeisterung als Phänomen ist in der Fachwissenschaft in den letzten zehn Jahren stark hinterfragt worden. Sprecherin Markus Pöhlmann zufolge wäre die These der Wissenschaft heute... O-Ton 7 (Pöhlmann) ...ob man nicht mehr von einer Mobilisierungseuphorie spricht, also einem nationalen Gemeinschaftserlebnis, einem Event, würde man heute sagen, wo der Krieg eigentlich nur einen Anlass bildet. Sprecherin Im Hochgefühl von 1914, dem sogenannten Augusterlebnis, schreiben die Deutschen wie wild Gedichte. O-Ton 8 (Piper) Alle Welt bezieht sich auf eine einzige Schätzung, die richtig oder falsch sein kann, nämlich von dem Julius Bab, der eben hochgerechnet hat, dass da eben fünfzigtausend Gedichte am Tag geschrieben worden sind. Da kommt er irgendwie auf eine Gesamtzahl von anderthalb Millionen. Sprecherin ...allein für den August 1914. Obwohl er dieser Zahl gegenüber skeptisch ist, schreibt Piper in Nacht über Europa, seiner gerade erschienenen Kulturgeschichte des Ersten Weltkriegs, über das Phänomen allgemein: Zitator "Eine solche Eruption national-stolzer Dichtung hatte es noch nie in einem Krieg gegeben, und nirgends hatte sie so einen gewaltigen Umfang wie in Deutschland. Diese Springflut affirmativer Textproduktion zu einem politischen Ereignis ist in der deutschen Literaturgeschichte singulär." Musik Hörbild zur Mobilmachung (Musik, Rufe und wieder Musik) Stimmen Sie mit mir ein in den Ruf: Unser oberster Kriegsherr, seine Majestät Kaiser Wilhelm II.: Hurra. - Hurra! - Hurra. - Hurra!! - Hurra. - Hurrahh!!! Heil dir im Siegerkranz... Sprecherin 5,4 Millionen Deutsche werden 1914 mobil gemacht. Die Daheimbleibenden jubeln über die ersten militärischen Erfolge. Die Verlage reagieren entsprechend. O-Ton 9 (Piper) Die großen Verlage haben ja alle ihre Buchproduktion umgestellt. Es gab ja kaum einen Verlag, der nicht eine eigene Reihe gestartet hat mit Kriegsliteratur. Musik Hörbild zur Mobilmachung (Abfahrt Zug, Lied: Die Russen sind alle Verbrecher; Gesang und Gelächter) O-Ton 10 (Piper) Also mein Großvater, der hat ja fast nur noch Kriegsliteratur gemacht. Da gibt's eine Textpassage, wo er an seine Teilhaber schreibt: "Die Kriegsproduktion droht, alles andere zu verschlingen." Aber es ist nicht so, dass der Verlag nun wahnsinnig expandiert hat, sondern der hat einfach wenig anderes gemacht. Sprecherin Ernst Piper nennt in seinem neuen Buch Nacht über Europa auch genaue Zahlen. Sprecher (Zitat) "Gleich nach Kriegsbeginn hatte die einschlägige Buchproduktion gewaltige Ausmaße angenommen. Bis Dezember 1914 erschienen 1416 Bücher, die der Kriegsliteratur zuzurechnen sind, zwei Monate später hatte sich die Zahl bereits verdoppelt und Ende 1915 waren es etwa siebentausend Bände, von denen ein knappes Viertel auf die Belletristik entfiel. (...) Insgesamt erschienen im Jahr 1915 nicht weniger als 23.558 neue Bücher, womit die kriegsbezogenen Veröffentlichungen einen beachtlichen Anteil von etwa 30 Prozent erreichten, was ein Schlaglicht auf das Ausmaß der Militarisierung wirft." Sprecherin Eine Sammlung von dreitausend Frontbüchern aus dem Ersten und dem Zweiten Weltkrieg beherbergt das Deutsche Buch- und Schriftmuseum in Leipzig. O-Ton 11 (Jacobs) In einzelnen, wenigen Verlagen ist da mal ein Blick drauf geworfen worden, welche unglaublichen Gewinnchancen dieser Frontbuchhandel gerade im Ersten Weltkrieg, aber auch im Zweiten Weltkrieg für die Verlage bedeutete. Ja, die haben sich da 'ne goldene Nase mit verdient, mit diesen unglaublichen Auflagen. Und das ist der Aspekt, der uns z.B. interessiert, also dieser kulturhistorische oder geisteswissenschaftliche Kontext. Sprecherin Stephanie Jacobs leitet das Museum seit 2007. O-Ton 12 (Jacobs) Und wenn man sieht, das sind eben auf Massenauflage konzipierte Bücher, die eben auch konservatorisch schwierig sind, ja aber wo ein unglaublicher Durchsatz, also billiges Material schnell produziert, also nicht die hohen Kosten, die Verlage sonst haben, aber eben diese riesige Auflage, und dann über's Oberkommando eben angefordert, ja, das ist besser als die beste Aktie. Sprecherin Meist handelt es sich um leichte Taschenformate mit dünnem Pappumschlag und engem Drucksatz. Vor allem aber beklagt Jacobs die nach wie vor fehlende umfassende verlagshistorische Aufarbeitung dieses Kapitels deutscher Buchgeschichte. O-Ton 13 (Jacobs) Man müsste das im Querschnitt mal untersuchen. Für einige Verlage ist das gemacht worden, aber was heißt das gesamtwirtschaftlich gesehen? Ja, man sagt immer die Schwerindustrie und die chemische Industrie. Ja, das ist klar, dass das Kriegsgewinnler sind. Aber das auch eben die Belletristik, das ist ja in ganz großer Zahl belletristische Literatur, dass man da eben auch die Gewinne ausmachen kann, das ist ein spannendes Thema, weil es im Bewusstsein überhaupt nicht verankert ist. O-Ton 14 (Pöhlmann) Der Krieg ist natürlich ein Riesenthema und schafft Konjunkturen. Und diese Konjunkturen sind natürlich in der Publizistik auch ganz klar nachzuweisen. Das ist aber ganz sicher so, dass Krieg an sich ein Thema ist, was sich verkauft. Das geht bis hin in die Ratgeberliteratur und in die Hochliteratur rein, natürlich. Da will jeder noch etwas von dem großen Kuchen abhaben. Sprecherin Der Krieg erobert den Buchmarkt in kürzester Zeit, einen großen Markt mit verschiedenen Publikumsinteressen. O-Ton 15 (Pöhlmann) Kriegsbücher interessieren vermutlich die Soldaten weniger, sondern eher die, die eben nicht im Krieg sind. Also da waren die Verlage entsprechend natürlich auch ausgerichtet auf einen Heimatbuchmarkt oder den Buchmarkt der Soldaten, wobei der Buchmarkt der Soldaten den anderen Vorteil hatte, dass er teilweise ja subventioniert wurde durch die Militärbehörden. Sprecher (Überschrift) KAPITEL 5: Hölderlin im Tornister Zitator "Die Natur ist jetzt mit Waffenklang erwacht, Und hoch vom Äther bis zum Abgrund nieder Nach festem Gesetze, wie einst, aus heiligem Chaos gezeugt, Fühlt neu die Begeisterung sich, Die Allerschaffende wieder. Und wie im Aug ein Feuer dem Manne glänzt, Wenn hohes er entwarf, so ist Von neuem an den Zeichen, den Taten der Welt jetzt Ein Feuer angezündet in Seelen der Dichter." Sprecherin Wie wenn am Feiertage ist eines der späten Gedichte Hölderlins, die der 21-jährige Student Norbert von Hellingrath zusammen mit dessen Pindar-Übertragungen 1909 in der Stuttgarter Bibliothek entdeckte, wo sie jahrelang unbeachtet geblieben waren. Hellingrath präsentierte den Fund sogleich Stefan George und dessen Münchner Kreis, promovierte 1910 über das Spätwerk und leitete 1913 die Herausgabe der ersten beiden Bände einer kritischen Werkausgabe. Damit hatte er maßgeblichen Anteil an Hölderlins Aufstieg zum Nationaldichter. O-Ton 16 (Brokoff) Wer hat denn Hölderlin gelesen zu dieser Zeit? Man könnte sagen: Die Jugend liest Hölderlin. Es gibt eine interessante Rede von Max Kommerell, einem Mitglied des George- Kreises, der 1931 eine Rede Jugend ohne Goethe hält. Carl Schmitt, der Staatsrechtslehrer, geht auf diese Rede nach dem Zweiten Weltkrieg ein und ergänzt: "Jugend ohne Goethe heißt seit 1910 Jugend mit Hölderlin". Sprecherin Jürgen Brokoff, Professor für Neuere deutsche Literatur an der FU Berlin, erklärt auf die Frage, ob Hölderlin wirklich wie das unabdingbare Putzzeug im Tornister steckte oder ob es sich um einen eher exklusiven Lesestoff handelte, O-Ton 17 (Brokoff) ...dass zeitgleich zwei Hölderlin-Ausgaben - im Insel-Verlag und die von Hellingrath besorgte - erscheinen. Insofern geht das dann über das Milieu eines Intellektuellenzirkels, eines Künstlerzirkels eigentlich hinaus. Sprecherin Die Abgründe Hölderlins, dass er sich weder bürgerlich, noch literarisch hatte etablieren können, nicht zuletzt das Stigma der Geisteskrankheit, die Hellingrath ganz neu bewertet, ziehen die Jugend an. Aus Hölderlin wird der vaterländische Dichter schlechthin, obwohl sich die politische Situation, in der seine Texte entstanden, von derjenigen 100 Jahre später stark unterscheidet. O-Ton 18 (Brokoff) Ich finde nur interessant, dass ein 25-jähriger Philologe, der sich freiwillig zum Krieg gemeldet hat und dann am Krieg teilnimmt, während seines Fronturlaubs Reden über Hölderlin hält, dabei, so wie die Quellen das nahelegen, in Uniform auftritt und etwa Rainer Marie Rilke zu seinen Zuhörern zählen darf, denn Hellingrath hat seine Hölderlin-Reden 1915, also ein Jahr nach Kriegsausbruch, im Salon Bruckmann, in München gehalten. Sprecherin Rilke und Hellingrath kannten sich seit 1910. Durch die Gespräche und den Briefwechsel mit dem dreizehn Jahre jüngeren Hellingrath erschloss Rilke sich die Dichtung Hölderlins. O-Ton 19 (Brokoff) Und dieser Salon ist ein ganz wichtiger Versammlungsort, Kommunikationsort gewesen, für Antisemiten später und etwa auch für Adolf Hitler dann in den 20er Jahren. Insofern ist es ganz interessant; hier gibt es einfach Berührungsflächen zwischen dem Hölderlin-Diskurs und den weiteren Entwicklungen der deutschen Geschichte, dem nationalistischen und nationalen Diskurs, an dem Hellingrath und die Hölderlin-Begeisterung ohne Zweifel einen Anteil hat. Also das wird man nicht wegdiskutieren können. Filmton Stukas - Herr Doktor! Wie geht's Wilde? - Ich hoffe, dass er durchkommt. Er ist schon unterwegs nach Deutschland mit der Sanitätio [?]. Wird heut' Nacht noch operiert. - Er muss durchkommen. Wir wollen ihm beide Daumen drücken, ja? Sprecherin In der Schlacht um Verdun... Filmton Stukas Lesen Sie das mal. Von Jordans Mutter. Sprecherin ...fiel Norbert von Hellingrath 1916. In seinen Vorträgen hatte er kurz zuvor Deutschland zum auserwählten Volk, Hölderlin zu dessen Propheten und sich selbst zu dessen Jünger stilisiert. Ein Vierteljahrhundert später, 1941, zitieren dann die Nazis Hölderlins Gedicht Der Tod fürs Vaterland in dem Propagandafilm Stukas. Filmton Stukas - Wenn eine Mutter das so aufnimmt, dann hat der Tod plötzlich gar kein Gewicht mehr. - Ja! Man denkt eigentlich gar nicht mehr daran, dass sie gefallen sind, sondern nur noch, wofür sie gefallen sind. Und man hat sie immer wie junge Götter in Erinnerung. - "Nehmt mich, nehmt mich mit in die Reihen auf, Dass ich einst nicht sterbe gemeinen Tods! Umsonst zu sterben, lieb' ich nicht, doch Lieb' ich, zu fallen am Opferhügel. Für's Vaterland, zu bluten des Herzens Blut, Für's Vaterland." Sprecherin Schon im Ersten Weltkrieg wird Hölderlins Werk benutzt für die Verklärung der Nation... Filmton Stukas "Lebe droben, o Vaterland, Und zähle nicht die Toten! Dir ist, Liebes! nicht Einer zu viel gefallen." Sprecherin ...und die Verklärung der Kriegsopfer. Filmton Stukas - Hölderlin. Schön. Sprecherin Heldentod. Schön. O-Ton 20 (Brokoff) Man kann sicherlich trotz der Neuentdeckung, trotz der Begeisterung, trotz der Intensität der neu einsetzenden Rezeption von Hölderlin, Hölderlin, glaube ich, nicht mit Goethe vergleichen, und man kann ihn auch nicht mit Rilke vergleichen. Das wäre ein weiteres wichtiges Buch. Die Weise von Leben und Tod des Cornet Christoph Rilke, 1912 in der Insel-Bücherei als erster Band dieser Insel-Bücherei erschienen - mit einer bestimmten Soldatentod-Handlung -, ist sehr viel populärer gewesen. Sprecher (Überschrift) KAPITEL 6: Mit Rilke fallen Zitator "Der von Langenau schreibt einen Brief, ganz in Gedanken. Langsam malt er mit großen, ernsten, aufrechten Lettern:" Sprecherin Ein 18-jähriger zieht 1663 in den Krieg gegen die Türken durch Ungarn. Zitator ""Meine gute Mutter, seid stolz: Ich trage die Fahne, seid ohne Sorge: Ich trage die Fahne, habt mich lieb: Ich trage die Fahne -"" Sprecherin Ein Kornett ist der jüngste Offizier in der Kavallerie. Oft trägt er die Fahne. Zitator "Dann steckt er den Brief zu sich in den Waffenrock, an die heimlichste Stelle, neben das Rosenblatt. Und er denkt: er wird bald duften davon. Und denkt: vielleicht findet ihn einmal Einer ... Und denkt: ...; Denn der Feind ist nah." Sprecherin Der Kornett führt kein Buch bei sich. Anders 250 Jahre später seine gleichaltrigen Landsleute, die, dem propagandistischen Langemarck- Mythos zufolge, mit Rilkes Erzählung im Tornister und dem Deutschland-Lied auf den Lippen bei einem verlustreichen, erfolglosen Angriff auf eine britisch-belgische Stellung bei dem belgischen Dorf Langemarck fielen. Musik Franz Schreker: Festwalzer und Walzerintermezzo (Introduction) Atmo Krieg, Granaten, Maschinengewehrfeuer Sprecherin Plötzlich ist der Feind, die Schlacht, der Tod da und der Kornett mitten drin und allein mit... Zitator "seiner langsam verlodernden Fahne. Es ist viel Fremdes, Buntes vor ihm. Gärten - denkt er und lächelt. Aber da fühlt er, dass Augen ihn halten und erkennt Männer und weiß, dass es die heidnischen Hunde sind -: und wirft sein Pferd mitten hinein. Aber, als es jetzt hinter ihm zusammenschlägt, sind es doch wieder Gärten, und die sechzehn runden Säbel, die auf ihn zuspringen, Strahl um Strahl, sind ein Fest." Musik Franz Schreker: Festwalzer und Walzerintermezzo (Introduction, Ende mit Glockenläuten) Sprecherin Über das Gefecht bei Langemarck am 10. November 1914 und die tags drauf im Heeresbericht veröffentlichte Behauptung, die Soldaten hätten beim Angriff das Deutschland-Lied gesungen, schreibt Ernst Piper in Nacht über Europa: Sprecher (Zitat) "Wenn man sich einen vielleicht Achtzehnjährigen mit 30 Kilo Marschgepäck vorstellt, der gegen Maschinengewehrfeuer auf vom Regen aufgeweichten Lehmboden eine Anhöhe hinaufzustürmen versucht, dann ist es nicht eben naheliegend, dass er dabei auch noch singt, noch dazu ein Lied mit einem derart langsamen, getragenen Rhythmus." Sprecherin Das Deutschland-Lied ist das eine. Die spätere Erweiterung des Mythos um Rilkes Cornet im Tornister das andere. Aber einen Sturmangriff macht man nicht mit Marschgepäck. Sprecher (Überschrift) KAPITEL 7: Der Tornister und was in ihn gehörte O-Ton 21 (Weißbrich) Der ist relativ gut überliefert. Da haben wir mehrere Stücke von. Das sind noch nicht unbedingt Raritäten. Sprecherin Weil es davon vor hundert Jahren eben Millionen gab. Thomas Weißbrich vom Deutschen Historischen Museum streift sich in der als Depot genutzten ehemaligen Alexander-Kaserne in Berlin-Spandau weiße Stoffhandschuhe über und präsentiert einen guterhaltenen Tornister mit braunem Fellbezug. O-Ton 22 (Weißbrich) Die Art und Weise der Produktion ändert sich im Laufe des Krieges. Das ist noch ein Original Kalbsfell. Das wird dann irgendwann schwierig zu beschaffen. Dann gibt es Ersatzfertigungen aus Segeltuch, beziehungsweise aus anderen Ersatzstoffen, wobei während des Krieges auch die verschiedenen Modelle weiterhin getragen wurden. Sprecherin Im Ersten Weltkrieg, erklärt der Sammlungsleiter für Militaria zwischen hohen Magazin-Schränken und neben einem wohl dreißig Meter langen Ständer mit hunderten Säbeln und Degen, wurde der sogenannte Tornister M95, also das Modell von 1895, getragen und zwar von der Infanterie und der Artillerie. Die Kavallerie hatte keinen Tornister. O-Ton 23 (Weißbrich) Da waren die Gegenstände in den Satteltaschen untergebracht und bei der Marine entsprechend im Seesack. Sprecherin Der Museumstornister ist mit Packpapier ausgestopft. O-Ton 24 (Weißbrich) Also: Wenn wir den Tornister aufschlagen, sehen wir hier zwei große, aus dunkelbraunem Stoff gefertigte Taschen. In der einen wurde Wäsche untergebracht: Leibwäsche, ein Hemd, Strümpfe, ein Taschentuch. Links und rechts neben diesem Wäschesack waren noch kleine Taschen mit einem Lederbezug, in die noch zusätzlich Patronen mitgeführt werden konnten, rechts und links. Neben dem Wäschesack befindet sich eine ähnliche Stofftasche, in der Lebensmittel mitgeführt wurden, also die berühmte Eiserne Ration: Konserven, Kaffeebüchsen, Salz, Zwieback und Gemüsekonserven. Zusätzlich gehörten in den Tornister noch ein Paar Schnürschuhe, Zeltzubehör, eine Plane und Weiteres, das wird auch noch hier im Bodenbereich untergebracht. Zusätzlich noch Putz- und Flickzeug. Dann wurde auch noch die Feldmütze eingepackt. Sprecherin Ein voller Tornister wog zehn, elf Kilogramm. O-Ton 25 (Weißbrich) Während des Krieges wurde dem Soldaten das Gewicht erleichtert und es wurde im Grunde eine Sparversion herausgegeben. Nur das Kochgeschirr wurde mitgeführt und mit einem Mantel und der Felddecke umwickelt. Das war das sogenannte Sturmgepäck 1915. Sprecherin Die Soldaten dürften also bei dem Angriff in der Nähe von Langemarck gar keinen Tornister auf dem Rücken gehabt haben. O-Ton 26 (Weißbrich) Die Tornister wurden in Kampfhandlungen nicht mitgeführt. Die blieben dann im Grunde in der Stellung, bzw. in der Etappe zurück. Im Schützengraben, bei Kampfhandlungen wurde allenfalls das leichte Sturmgepäck mitgeführt. Sprecherin In einen feldmarschmäßig gepackten Tornister passte über das, was vorgeschrieben war, allerdings sowieso kaum noch etwas hinein. O-Ton 27 (Weißbrich) Ein großes, fest gebundenes, dickleibiges Buch war im Grunde da gar nicht mitzuführen. Sprecherin Erst recht kein kleiner Stapel zerlesener Bücher, wie ihn Ernst Wurche bei Flex aus seinem Tornister kramte. O-Ton 28 (Weißbrich) Da könnte man davon ausgehen, dass, abgesehen von kleinen, schmalen Büchern, wie sie Reclams Universalbibliothek zur Verfügung stellte oder schmale Schriften der Erbauungsliteratur, nicht sehr viel vom einzelnen Soldaten transportiert werden konnte. Der Feldtornister war gut gefüllt. Da war kaum Platz mehr für weitere Mitnahmen, Sprecherin ...erklärt Weißbrich. Im Tornister befanden sich nur für den Krieg, bzw. das Militär unverzichtbare Sachen. Dazu gehörte für einige Soldaten trotz des Platzmangels auch der Faust. Er war in den vier Kriegsjahren Reclams meistverkauftes Buch, O-Ton 29 (Weißbrich) wobei diese Entwicklung, kleinformatige Bücher herzustellen, bereits im frühen 19. Jahrhundert einsetzte. Das ist keine Anpassung des Buchformats an das Weltkriegsformat. Das ergab sich aus gewissen historischen Entwicklungen des Buchdrucks, des Buchhandels heraus. Musik König-Karl-Marsch Zitator "Der deutsche Soldat im Felde braucht dreierlei: gute Waffen, gute Nahrung und gute Bücher, oder kürzer: Krupp, die Landwirtschaft und Reclam! Dieser Dreibund garantiert den Sieg über alle inneren und äußeren Feinde." Sprecherin ...heißt es im Feldpostbrief eines Gefreiten, den der Reclam-Verlag 1916 in einer Anzeige zitiert. Sprecher (Zitat) "Sie können Ihren Angehörigen im Felde keine größere Freude bereiten, als wenn Sie jeder Liebesgaben-Sendung ein Reclam-Buch für 20 Pfennig beifügen. Sonderverzeichnisse geeigneter Bücher unberechnet vom Verlag Philipp Reclam jun. Leipzig." Sprecherin Liebesgaben nannte man alle möglichen materiellen Spenden und Geschenke, die aus der Heimat an die Front geschickt wurden: Lebensmittel, Kleider, Tabak, Süßigkeiten, Postkarten, Bücher, Zeitschriften und so weiter. In einem Feldbrief eines anderen Gefreiten heißt es in derselben Anzeige: Zitator "Es ist immer ein Freudentag, wenn eine Sendung Universal-Bibliothek eintrifft, für mich und für viele Kameraden, denn die Bändchen machen natürlich sofort die Runde und wandern so lange von einer Hand in die andere, bis sie infolge ihrer Kreuz- und Querfahrten "den Faden verlieren" und sich in Wohlgefallen auflösen. Und wenn sie schließlich an Erschöpfung sterben, so ist's auch eine Art Heldentod." Musik König-Karl-Marsch Sprecherin Sind Tornisterbücher wirklich das Lesefutter für das Kanonenfutter, das was von Hand zu Hand und schließlich kaputt geht und durch neue Lektüre ersetzt wird? Oder sind Tornisterbücher etwas Beständigeres, Privateres, Behüteteres, etwas Besonderes? Dass das Westentaschenformat kein Muss ist, beweist Nietzsches Zarathustra, den es weder bei Reclam noch sonst in einer schmalen Ausgabe gab. Selbst die "auf Kriegspapier", wie es euphemistisch auf der Rückseite des Titelblattes heißt, gedruckte "Kriegsausgabe" des Leipziger Kröner- Verlags ist fast drei Zentimeter dick. Sprecher (Überschrift) KAPITEL 8: Nietzsche im Tornister O-Ton 30 (Niemeyer) Dieses Spießige, die kleinen Menschen, die dann im Zarathustra beschrieben werden: Der Mensch ist etwas, das überwunden werden muss. Ich lehre euch den Übermenschen. Das hat die Leute und gerade die Jugend, fasziniert. Denn die sind selber aus diesem, ihrem eigenen kleinen Elternhaus und fragen sich: Kann das alles sein? Dass wir beim Kaffee sitzen und nett zu Tante Anna sind und nette Gespräche führen? Sprecherin Christian Niemeyer ist Professor für Sozialpädagogik an der TU Dresden und einer der renommiertesten Nietzsche-Forscher. Was die Nietzsche-Begeisterung mit Ausbruch des Krieges angeht, so gelte es zuerst einmal... O-Ton 31 (Niemeyer) daran zu erinnern, dass es Förster-Nietzsche war, die diese These, dass Nietzsche ein Philosoph des Ersten Weltkrieges war, in die Welt gesetzt hat und zwar schon 1904, in ihrer großen dreibändigen Nietzsche-Biographie in Gestalt einer Anekdote. Sprecherin Nietzsches Schwester Elisabeth Förster-Nietzsche verwaltete den Nachlass und konnte durch das von ihr gegründete und geleitete Nietzsche-Archiv in Weimar das Bild des Philosophen entscheidend beeinflussen. In seinem Haus in Berlin Henningsdorf erzählt Niemeyer diese Anekdote nach: O-Ton 32 (Niemeyer) Ich kann mich noch gut erinnern, als wir in Naumburg spazieren gingen, es war so im Herbst 1885, da erinnerte eine Wolkenbildung meinen Bruder plötzlich an seine Zeit im Ersten, Entschuldigung, im Krieg 1870-71. Und er sagte zu mir: "Schwester! Genau so ein Wetter war damals, als ich als Sanitätshelfer im 1870er Krieg tätig war. Und plötzlich brach das deutsche Heer mit klirrenden Waffen über eine Waldlichtung. Und da kam mir der Gedanke: Das ist der Wille zur Macht." Sprecherin Das klingt so, als wäre eine von Nietzsches Hauptideen direkt dem wilhelminisch-preußischen Militarismus entsprungen und würde den Krieg, den Angriffskrieg, philosophisch rechtfertigen. O-Ton 33 (Niemeyer) Diese Anekdote, die natürlich überhaupt nicht falsifizierbar ist, diese hat sie ganz klug dann auch immer wieder im Vorfeld des Ersten Weltkrieges in den Tageszeitungen veröffentlicht und dann in ihrem Buch Wagner und Nietzsche zur Zeit ihrer Freundschaft - nicht zufällig 1915 erschienen. Da wird die gleiche Geschichte noch mal erzählt. Und mit dieser Anekdote ist sie sehr erfolgreich gewesen. Sprecherin Auch im Ausland, vor allem in Großbritannien und den USA, mehr sogar, als es ihr lieb sein konnte. Sprecher (Zitat) "Nietzsche galt damals als der Bösewicht schlechthin. Bisweilen nahm die Polemik gegen Nietzsche groteske Züge an. Der amerikanische Schriftsteller und Journalist Henry Louis Mencken, der sich seit langem für Nietzsches Werk in den Vereinigten Staaten engagiert hatte, wurde 1915 verhaftet und beschuldigt, ein Agent des "deutschen Monsters Nietzky" zu sein. Dass Nietzsche bereits im Jahr 1900 verstorben war, hatten die amerikanischen Behörden offenbar nicht registriert." Sprecherin ...schreibt Ernst Piper in Nacht über Europa und fügt im Gespräch hinzu: O-Ton 34 (Piper) Nietzsche ist der erste Fall in der Menschheitsgeschichte, wo ein Philosoph verantwortlich gemacht wird für einen Krieg. O-Ton 35 (Niemeyer) Dieser Kampf um Nietzsche, der tobt insbesondere in dem Feld, das ich ganz gut überschaue, das ist der Bereich der Jugendbewegung. Sprecherin Christian Niemeyer geht in seinem jüngst erschienenen Buch Die dunklen Seiten der Jugendbewegung. Vom Wandervogel zur Hitlerjugend ausführlich auf die anfängliche Ablehnung und spätere Vereinnahmung Nietzsches durch die nationalkonservative Jugendbewegung ein, zu der sich auch Walter Flex und sein Held Ernst Wurche bekannten. O-Ton 36 (Niemeyer) Plötzlich war Nietzsche dann eben nicht mehr der Jugendverführer, sondern er war der Kriegsphilosoph. Sprecherin Niemeyer erzählt von Fälschungen und Verfälschungen der Schriften und hier vor allem der Briefe Nietzsches durch die Schwester, ihrer tendenziösen Herausgabe des Nachlasses und ihrem offenen Antisemitismus, betont allerdings, O-Ton 37 (Niemeyer) dass die Nietzsche-Forschung sich keinen Gefallen tut, wenn sie jetzt die ganze Last bei Nietzsche immer nur der Schwester überbürdet. Aber man kann jetzt nicht sagen, dass die Texte nicht zu neunzig, neunundneunzig Prozent von Nietzsche selber sind. Musik Arnold Schönberg: Gurre-Lieder Sprecherin Für problematisch bei Nietzsche hält Niemeyer nicht nur Teile des von Wagner beeinflussten Frühwerks, sondern auch des von zunehmender geistiger Zerrüttung geprägten Spätwerks. Nietzsches Ideen von einer deutschen Leitkultur drückten ihn fest in die völkische Ecke. O-Ton 38 (Niemeyer) Wenn man dann noch die Kriegsausgabe des Zarathustra zur Hand nimmt; sie ist eingeleitet worden, von Worten Nietzsches, die die Schwester selektiert hat. Über vier Seiten ist so ein Vorspann: Worte meines Bruders zu Krieg und Frieden. Sprecherin Im Nachbericht am Ende des Buches schreibt Förster-Nietzsche: Zitatorin "Da wir das fünfte Kriegsjahr beginnen, und die vorliegende neue Kriegsausgabe wiederum hauptsächlich für unser herrliches tapferes Heer bestimmt ist, so habe ich auch wieder einige Nietzsche-Worte für Krieg und Frieden zur Stärkung und Trost ausgewählt und vorangestellt. Weimar, Nietzsche-Archiv, August 1918. Elisabeth Förster-Nietzsche." O-Ton 39 (Niemeyer) Und da findet man dann natürlich, was das Herz begehrt. Zum Beispiel: "Mein Paradies ist im Schatten der Schwerter." Zitator "Was zur Stärke gehört. - Wer wird Großes erreichen, wenn er nicht die Kraft und den Willen in sich fühlt, große Schmerzen zuzufügen? Das Leidenkönnen ist das wenigste: darin bringen es schwache Frauen und selbst Sklaven oft zur Meisterschaft. Aber nicht an innerer Not und Unsicherheit zugrunde gehen, wenn man großes Leid zufügt und den Schrei dieses Leides hört, - das ist groß, das gehört zur Größe." Musik Arnold Schönberg: Gurre-Lieder Zitator "Einstweilen kennen wir keine anderen Mittel, wodurch mattwerdenden Völkern jene raue Energie des Feldlagers, jener tiefe unpersönliche Hass, jene gemeinsame organisierende Glut in der Vernichtung des Feindes, jene stolze Gleichgültigkeit gegen große Verluste, gegen das eigene Dasein und das der Befreundeten, jenes dumpfe erdbebenhafte Erschüttern der Seele ebenso stark und sicher mitgeteilt werden könnte, wie dies jeder große Krieg tut". Sprecherin Den Soldaten allerdings dürfte die Euphorie schon nach den ungeheuerlichen Verlusten zu Beginn des Kriegs - 260.000 Tote und Verwundete allein auf deutscher Seite im September 1914 - vergangen sein. Sprecher (Zitat) "Zwar startete der Zarathustra mit Kriegsbeginn als Bestseller durch, aber ob es sich dabei wirklich um eine der zentralen Durchhaltelektüren des - dem Wandervogel entstammenden - Frontsoldaten handelte, steht doch sehr in Frage. Empirische Belege für die These, >der< Frontsoldat habe im nennenswerten Umfang den Zarathustra gelesen, stehen aus. Daran vermögen auch Beschwörungen von Zeitgenossen, wonach Nietzsche zu den Lieblingsschriftstellern gehöre, >welche in den Schützengräben gelesen werden<, nichts zu ändern." Sprecherin ...schreibt Niemeyer in Die dunklen Seiten der Jugendbewegung und weiter: Sprecher (Zitat) "Nüchtern erwogen besagt selbst der Umstand, dass 150.000 Exemplare einer (gekürzten) Feldausgabe des Zarathustra an die Soldaten verteilt und mehr als noch einmal so viel zwischen 1914 und 1919 verkauft wurden, nichts oder so gut wie nichts: Es handelte sich um einen Bestseller - aber eben um einen unter vielen. Im Übrigen bleibt natürlich die Frage, ob die Lektüre eines immerhin doch sehr schwierigen Textes, wie es Nietzsches Zarathustra zweifellos ist, unter Kriegsbedingungen in nennenswerter Zahl überhaupt erwartet werden darf." Sprecher (Überschrift) KAPITEL 9: Im Krieg lesen O-Ton 40 (Brokoff) Das, was wirklich gelesen wurde, das was wirklich konsumiert wurde, das, was wirklich mitgeführt wurde - ist ja auch ein Transportproblem - ich glaube, da spielen ganz andere Kriterien als Kriterien, wie hochwertig ist das, eine Rolle: praktische Erwägungen, Unterhaltungsbedürfnisse, Zerstreuungsbedürfnisse. Denn der Frontalltag war ja, neben allem Spektakulären, was die Materialschlachten angeht, was den Stellungskrieg angeht, ja vor allem eins, das kann man etwa bei Ernst Jünger sehen: Es war auch langweilig. Sprecherin ...gibt Jürgen Brokoff zu bedenken. Auf die Zusammensetzung des Heeres weist Markus Pöhlmann hin: O-Ton 41 (Pöhlmann) Wenn wir uns vor Augen halten, dass rund 14 Millionen Deutsche im Verlauf des Weltkriegs Kriegsdienst geleistet haben, dann müssen wir natürlich auch sehen, dass diese Zahl weit über - natürlich - die bildungsbürgerliche Schicht hinausgeht. Musik Soldatenlied Nein ins Feld muss ich heut' noch marschieren, denn dem König dem gab ich mein Wort. O-Ton 42 (Pöhlmann) Also ich glaube, die Soldaten haben viel und sehr unterschiedlich gelesen. Also nur der Zarathustra oder der Goethe im Tornister, das war sicher ein Phänomen der ersten Tage - und danach wurde wild und alles gelesen. Musik Soldatenlied (Refrain) Der Soldat muss hinaus in die weite Welt. schläft des Nachts ohne Dach unterm Sternenzelt O-Ton 43 (Niemeyer) Und die andere Frage: Ist nicht hier ein bildungsbürgerlicher Mythos am Werk bei welchem der Bildungsgrad des Weltkriegssoldaten maßlos überschätzt wird? Damals, vielleicht fünf Prozent haben Abitur gemacht und von denen waren vielleicht noch mal die Hälfte interessiert an solchen Literaturen. Die haben dann Goethe gehabt und vielleicht noch die Bibel. Aber ich denke, das ist unrealistisch anzunehmen, dass ein normal[er] Volksschüler mit siebzehn, achtzehn, ein Lehrling, der in den Krieg muss, dass der von seinen Eltern einen Goethe kriegt. Die wissen doch gar nicht, was das ist. Sprecherin Wenn sie überhaupt zum Lesen kamen, wollten die Soldaten sich ablenken, sagt Niemeyer und präsentiert zwischen den Bücherregalen im Dachgeschoss seines Hauses einige auflagenstarke Titel aus Ullsteins Kriegsbibliothek: O-Ton 44 (Niemeyer) Da sehen Sie mal, was hier die zentralen, verkaufsträchtigen Bände waren. Das entspricht, glaube ich, auch eher dem Bildungsgrad des normalen Soldaten. Das sind Kriegserinnerungen, Kreuzfahrten, U-Boot-Fahrten, Meine Kriegsfahrt von Kamerun zur Heimat, Der russische Niederbruch, Das deutsche Volk in schwerer Zeit, Wir draußen, Zwei Jahre Kriegserleben an vier Fronten, Drei Straßen des Krieges. Das waren die Bestseller. Musik Soldatenlied (Refrain) Oh, mein Liebster bleib hier in dem stillen Quartier und mein Herz, ja, mein Herz bleibt bei dir. O-Ton 45 (Jacobi) Wenn Sie hier an die Westfront denken und an Ernst Jünger, der schreibt ja in den Stahlgewittern auch, was er gelesen hat damals. Und dieser Anspruch, griechische, klassische Literatur zu lesen bei Ernst Jünger, ist natürlich etwas gewesen - er war ja ein junger Leutnant damals -, was die ihm Untergebenen natürlich mit großer Verwunderung angesehen haben. Ob die jemals etwas gelesen haben, das sei dahingestellt. Aber nicht, weil sie Analphabeten gewesen wären, sondern weil dieser Krieg an der Westfront etwas ist, was wir uns heute nicht vorstellen. Sprecherin Johannes Jacobi ist Fachreferent für Geschichtswissenschaft an der Deutschen Nationalbibliothek in Leipzig und leitet die Erschließung der dortigen, bereits 1914 angelegten Weltkriegssammlung. O-Ton 46 (Jacobi) Also wer nicht Jünger gelesen hat, der hat keine Vorstellung über dieses Elend, was diese Soldaten jeglicher Couleur dort erleben: Schützengräben, die abgesoffen sind, Ratten, die über die Leute nachts gelaufen sind und so weiter und so fort. Wenn die eins gemacht haben, wenn sie Angriffe überlebt haben, dann haben die sich abends oder nachts die Rübe volllaufen lassen, falls sie nicht Wachdienst hatten. Die haben Karten gespielt, die werden irgend etwas exzessiv betrieben haben. Aber mit Sicherheit nicht Literatur gelesen. Jünger hat das gekonnt. Aber Jünger ist die Ausnahme von der Regel. Sprecherin Eine andere Ausnahme muss Ernst Wurche gewesen sein. Zitator "Nach dem Dienste, in stillen Abendstunden, zündeten wir die kleinen Lichter in den farbigen Papierlaternen unsrer Holzhütten an und plauderten oder lasen. Dann lebten Goethes Lieder auf, oder Zarathustras trotzige Reden zerbrachen die Stille, oder aus den Versen des Neuen Testaments floss die Schönheit ewiger Worte geruhig über uns hin." Sprecherin Über Flex' Erzählung fällt Ernst Piper in seiner Kulturgeschichte des Ersten Weltkriegs ein vernichtendes Urteil. Sprecher (Zitat) "Der Wanderer zwischen beiden Welten ist eine eschatologisch überhöhte Heldengeschichte mit stark homoerotischen Zügen, geschrieben in einer Sprache, die zwischen mythischem Raunen und brünstigem Kitsch schwankt. Die Blindheit für die Realität des Krieges wird camoufliert durch wandervogelhaftes Lyrisieren über Heldenblut und Frühlingswind, sonnige Seen und schattige Wälder, Vogelflug und Schwerterglanz." O-Ton 47 (Jacobi) Die mögen tagelang nicht angegriffen worden sein, aber dann hatten die tagelang ganz andere Probleme, sich zu ernähren, ja, irgendeinen Platz zu finden, was zum Schlafen zu finden, ihre, was weiß ich, Unterstände zu erweitern, auszubessern oder sich einfach wach zu halten, dass der Gegner jetzt nicht angreift. Überleben ist ein 24-Stunden-Programm. Ich sehe da kaum eine Möglichkeit, das man sich irgendwohin zieht, falls nicht auf eine Latrine, aber selbst die war vor einer Beschießung nicht sicher, nach dem Motto: Ich les' jetzt mal was. Sprecherin Dagegen unterscheidet Markus Pöhlmann drei Erscheinungsformen des Krieges, den Bewegungskrieg, den Stellungs- bzw. Grabenkrieg und die Besatzung. Von der jeweiligen Form hängt es ab, O-Ton 48 (Pöhlmann) ...ob in diesem Krieg überhaupt praktisch gelesen werden kann. Es gibt riesige Besatzungsgebiete im deutschen Machtbereich in Belgien, in Frankreich und dann auch im Russischen Reich. Und sowohl im Stellungskrieg, als auch in diesen Besatzungsgebieten gilt natürlich der alte Landserspruch: Die Hälfte seines Lebens wartet der Soldat vergebens. Sprecherin In den Phasen der Inaktivität, sobald die materiellen und militärischen Bedürfnisse erfüllt sind, haben die Soldaten Zeit zum Lesen, zum Tagebuch oder Briefe schreiben und auch zum Spielen. O-Ton 49 (Pöhlmann) In diesen Phasen wird ganz viel und ganz unterschiedlich gelesen. Die Soldaten verschlingen die Literatur, weil es natürlich auch eine Mangelware oftmals ist. Man tauscht Bücher, man erzählt sich Bücher. Man findet Bücher irgendwo. Und das ist, denke ich, ein Phänomen, was Sie über den gesamten Krieg hin beobachten können. Sprecherin Pöhlmann zufolge gibt es bei den Soldaten sogar eine gesteigerte Lesekultur. O-Ton 50 (Pöhlmann) ...weil das Lesen auch eine der wenigen Formen der Freizeitbeschäftigung ist und natürlich eine, wo man für sich auch sein kann. Die Soldaten befinden sich ja permanent in kollektiven Situationen. Und Lesen ist auch immer die Möglichkeit der Flucht aus diesem Kollektiv raus und die Beschäftigung mit sich selber, der Selbstvergewisserung, aber auch einfach der Entspannung, über die man natürlich auch wieder zu sich kommt. Und da ist Lesen zu der Zeit das Wichtigste, das Bedeutendste. Sprecherin Die Soldaten lasen Bücher, Feldpostbücher, Zeitungen, die ihnen aus der Heimat zugeschickt wurden, die sie von zu Hause, aus dem Urlaub mitgebracht oder in einer Frontbuchhandlung erworben hatten. Teilweise konnten sie auch Zeitschriften abonnieren. Außerdem gab es von Soldaten selbst hergestellte Feldzeitungen. Mit Dauer des Krieges wurde die Bücherversorgung der Soldaten über Feldbüchereien organisiert. Dazu merkt Thomas Weißbrich vom Deutschen Historischen Museum Berlin allerdings an: O-Ton 51 (Weißbrich) Die Bücher aus den Feldbibliotheken durften nicht mit in die Stellungen genommen werden. Sprecherin Gewehre durften die Soldaten mit in den Schützengraben nehmen, aber Bücher nicht, denn so ein ausgeliehenes Buch hätte ja bei einem Angriff kaputt und für die Bücherei verloren gehen können. Christoph Nübel, Geschichtswissenschaftler an der Humboldt-Universität, ergänzt: O-Ton 52 (Nübel) Und eine Quelle der Lesestoffe ist sicherlich auch die Privatbibliothek des Belgiers, des Franzosen, der sein Haus verlassen musste und in dem jetzt deutsche Soldaten kampieren. Sprecherin Nicht zuletzt gab es für die Soldaten... O-Ton 53 (Tobegen) das, was sie an der Front gegen den Willen der Militärführung lesen konnten, nämlich die Flugblätter der Gegner, die also vor allem Großbritannien und Frankreich per Flugzeug und dann später per Ballon über den deutschen Linien abgeworfen haben. Sprecherin Michael Tobegen arbeitet zusammen mit Johannes Jacobi die Weltkriegssammlung der Deutschen Nationalbibliothek in Leipzig auf. O-Ton 54 (Tobegen) Da sind immerhin 21 Millionen Exemplare Ende 1917 und 1918 über den deutschen Linien niedergeregnet. Also, das ist ein erheblicher Lesestoff, der den deutschen Soldaten da unfreiwillig zur Verfügung gestellt worden ist. Das sind nicht nur Einfachdrucke gewesen, sondern auch ganze Bücher oder Zeitungen bzw. Zeitschriften. Sprecher (Überschrift) KAPITEL 10: Das Buch und der Tod O-Ton 55 (Pöhlmann) Eine wichtige oder die wichtigste Funktion von Literatur im Krieg für die Soldaten ist sicher Unterhaltung. Es geht darum zu entspannen, abzuschalten von einem körperlich und geistig absolut anstrengenden Alltag, einem der ab und zu mörderisch, lebensbedrohlich wird. Da gewinnt dann das schöne deutsche Wort vom Zeit totschlagen natürlich im militärischen Kontext nochmal eine ganz andere Konnotation. Sprecherin Die Bücher jedoch, mit denen junge Bildungsbürger in den Krieg zogen, dienten weniger der Zerstreuung, als vielmehr der Sammlung. Für Markus Pöhlmann erfüllt gerade die Hochliteratur auch die Aufgabe der kulturellen Selbstvergewisserung. O-Ton 56 (Pöhlmann) Die Soldaten erleben natürlich 14-18 einen extremen Zivilisationsbruch. Sie verursachen ihn mit, werden gleichzeitig Opfer desselben. Und da ist es, denke ich, auch eine wichtige Funktion, sich zu überlegen, wo komme ich her, wo bin ich im Moment, wo will ich wieder zurück. Also die Literatur kann auch eine Art Luftröhre sein zur alten Welt, zur Friedenszeit, zu den normalen Umständen im Gegensatz zu den extremen und den entmenschlichten Umständen, in denen sich die Soldaten befinden. Sprecherin Von diesem Zivilisationsbruch spricht auch Bertolt Brecht 1929 in einem Rundfunkgespräch Über Klassiker. Zitator "Wenn es wahr ist, dass die Soldaten, die in den Krieg zogen, den Faust im Tornister hatten - die aus dem Krieg zurückkehrten, hatten ihn nicht mehr." Sprecherin Brecht zufolge kamen die Soldaten verändert aus dem Krieg, mit anderen Ansichten, vielleicht sogar als andere Menschen. Das traf sicherlich für viele Soldaten zu. Gerade der Faust, der Zarathustra, Das Neue Testament, der Rilke oder Hölderlin hatten für viele Soldaten aber auch eine überlebenswichtige Funktion: des Trostes, der seelisch- moralischen Stärkung und des Festhaltens an der eigenen kulturellen Identität. In einem alles erschütternden Krieg werden sich viele Soldaten an ihre Tornisterbücher geklammert haben. Diese Funktion des Buches, eine Verbindung aufrecht zu erhalten zum früheren Leben und zur zivilisierten Welt, kann durch den Krieg sogar verstärkt werden. Insofern kann der Faust, wie bei Brecht, für den Bruch, er kann aber auch für Kontinuität stehen. O-Ton 57 (Jacobi) Ich denke, das ist wie 'ne private Droge, die sie besitzen, um überleben zu können. Sprecherin ...sagt Johannes Jacobi. Sein Kollege an der Deutschen Nationalbibliothek, Michael Tobegen, erzählt von der Enttäuschung bürgerlich-jugendbewegter Soldaten, die mit bestimmten Idealen und Hoffnungen in den Krieg gezogen waren: O-Ton 58 (Tobegen) Wandervögel, die sich vorher über Themen unterhalten haben wie nikotin- und alkoholfreies Leben und Turnen und Sport und Wahrhaftigkeit und Naturnähe. Und dann kommt man an die Front und denkt, jetzt können wir unsere Ideale vielleicht in diesem Ringen, wie man das immer dargestellt hat, in diesem Völkerringen durchsetzen. Und dann stellt man fest, hier wird einfach nur gesoffen und gehurt. Und dann zieht man sich zurück auf die eigene Gruppe. Sprecherin Und auf die eigenen Bücher. Wer es schaffte, aus dem Krieg heimzukommen, musste seine Tornisterbücher fast zwangsläufig als Überlebensbücher glorifizieren. Und die Gefallenen - Ernst Wurche, Norbert von Hellingrath, Walter Flex und zwei Millionen andere deutsche Soldaten, von denen wohl etliche das gleiche im Tornister getragen hatten - verliehen diesen Büchern eine um so höhere, eine nationale Bedeutung. Musik Ich hatt' einen Kameraden Sprecher (Zitat) "Während der Anteil der Gefallenen in der deutschen Armee insgesamt bei 15 Prozent der Kriegsteilnehmer lag, waren es bei den Angehörigen des Wandervogel 25 Prozent. Dabei darf man allerdings nicht übersehen, dass wir von einem überschaubaren Personenkreis sprechen. Insgesamt leisteten sechstausend Wandervögel Kriegsdienst, die Hälfte aller Mitglieder." Sprecherin ...schreibt Ernst Piper in Nacht über Europa. Die Toten und die Niederlage hinterließen eine Leere in der Gesellschaft, wie geschaffen für die Verbreitung neuer Mythen und alter Ressentiments, für die Vorbereitung eines neuen Krieges. Die Soldaten, tot oder lebend, und ihre Bücher wurden wechselseitig verklärt, nicht zuletzt von national gesinnten, unbelehrbaren Veteranen. O-Ton 59 (Nübel) Damit versucht man natürlich, indem man sagt, die deutschen Soldaten hätten Nietzsche gelesen, und da denkt man auch immer gleich an den Übermenschen, und sie hätten Goethe gelesen, also die klassische deutsche Bildung, ich glaube, das soll einfach zeigen, dass die deutschen Soldaten Kulturmenschen waren, dass sie besonders intelligent waren, das sie Interesse hätten an im Grunde metaphysischen Fragen und Fragen der klassischen Bildung und dass sie das sie sich selbst angesichts des Todes und des Krieges noch belesen hätten. Sprecherin Für diejenigen, die sich nicht mit der Weimarer Republik und ihrer demokratischen Verfassung und vor allem nicht mit dem Versailler Vertrag abfinden wollten, wurden Nietzsche, Goethe und Hölderlin als nationale Geisteshelden in den Tornistern nach dem verlorenen Krieg noch wichtiger als während des Krieges. Musik Ich hatt' einen Kameraden Tonmaterial Wildgänse rauschen durch die Nacht, 1916, Text: Walter Flex, Melodie: Robert Götz, Aufnahme einer Wehrmachtsformation von 1936; 3'09''. Hörbild zur Mobilmachung im August 1914, Aufnahme der Deutschen Grammophon von 1915, CD: Reden und Berichte (sonstige), Deutsches Historisches Tonarchiv; 6'35''. Stukas, Regie: Karl Ritter, Deutschland 1941, Ausschnitt; 1'52''. Festwalzer und Walzerintermezzo, Introduction (Ausschnitt), Franz Schreker, 1908; Aufnahme des Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin 1997, Dirigent: Hans-E. Zimmer, CD 2: Hymnen der Deutschen. Deutsches Historisches Museum Berlin; Deutsches Rundfunkarchiv; 60''. König-Karl-Marsch, Carl Ludwig Unrath, 1868, historische Aufnahme, CD: Marschmusik der Wehrmacht, Deutsches Historisches Tonarchiv; 2'49''. Gurre-Lieder, III. Teil: Die wilde Jagd, Orchestervorspiel: Des Sommerwindes wilde Jagd, Arnold Schönberg, 1900-11, Deutsches Radio-Symphonieorchester Berlin 1985, Dirigent: Riccardo Chailly. (Decca). Soldatenlied, Claire Waldoff, 1917, aus: Die drei Schachteln, Musik: Walter Kollo, Text: Rideamus, historische Aufnahme der Grammophon; 2'55''. Ich hatt' einen Kameraden, historische Aufnahme, Chor der Légion étrangère; 2'31'' Walter Flex, Der Wanderer zwischen beiden Welten. Ein Kriegserlebnis. In: Walter Flex. Gesammelte Werke, Bd. 1, 4. erw. Aufl., München: Beck, 1936, S. 190. Ebd., S. 192. Heinz Westman; Paul Tillich, Gestaltung der Erlösungsidee im Judentum und im Protestantismus: Eranos-Vorträge. Daimon, 1986, S. 101. Zitiert nach: Karlheinz Weißmann, Die Ethik des Aufbegehrens. Friedrich Nietzsche, der Erste Weltkrieg und die Konservative Revolution. In: Junge Freiheit, Nr. 35/2000. Rudolf Wustmann, Weimar und Deutschland 1815-1915. Im Auftrag der Goethe- Gesellschaft verfaßt; Weimar 1915, S. 386. Richard Huelsenbeck, En avant Dada. Zitiert nach: Dada. Eine literarische Dokumentation, hrsg. v. Richard Huelsenbeck, Reinbek b. H.: Rowohlt, 1964, S. 111f. George Grosz; Wieland Herzfelde, Die Kunst ist in Gefahr. Berlin: Malik, 1925, S. 22f. Martin Heidegger, Holzwege. Frankfurt am Main: Klostermann, 1980, S. 3. Ernst Piper, Nacht über Europa. Kulturgeschichte des Ersten Weltkriegs. Berlin: Propylän, 2013, S. 213f. Ebd., S. 128f. Friedrich Hölderlin, Gedichte. Hyperion. Briefe. Berlin; Weimar: Aufbau, 1991, S. 36. Norbert von Hellingrath, Pindarübertragungen von Hölderlin. Prolegomena zu einer Erstausgabe. Jena: Diederichs, 1911, S. 1. Rainer Maria Rilke, Die Weise von Liebe und Tod des Cornets Christoph Rilke. In: Gesammelte Werke, Bd. IV. Schriften in Prosa. Erster Teil. Leipzig: Insel, 1927, S. 19. Ebd. Ebd. Ebd., S. 33. Piper, a.a.O., S. 90f. Die Anzeigenseite befindet sich in: Die Kleine Feldbücherei. Praktischer Ratgeber für Private, Behörden und Buchhändler. Schriften der Zentralstelle für volkstümliches Büchereiwesen, Heft 3, Leipzig: Thomas, 1916, [ohne Seitenzahl, (30)]. Ebd. Ebd. Piper, a.a.O., S. 241. Elisabeth Förster-Nietzsche, Nachbericht. In: Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra. Leipzig: Kröner, 1918, S. 478. Nietzsche-Worte für Krieg und Frieden. In: Ebd., S. V. Ebd. Christian Niemeyer, Die dunklen Seiten der Jugendbewegung. Vom Wandervogel zur Hitlerjugend. Tübingen: Francke, 2013, S. 72. Ebd., S. 72f. Flex, a.a.O., S. 211. Piper, a.a.O., S. 95. Zitiert nach: Karl Robert Mandelkow, Goethe in Deutschland. Bd. 2, München: Beck, 1989. Piper, a.a.O., S. 93f. Tornisterbücher 2