DEUTSCHLANDFUNK Sendung: Hörspiel/Hintergrund Kultur Dienstag, 12.10.2010 Redaktion: Hermann Theißen 19.15 ? 20.00 Uhr Down and up Das Risiko des Andersseins von Tita Gaehme URHEBERRECHTLICHER HINWEIS Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Jede Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in §§ 45 bis 63 Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. ? Deutschlandradio - Unkorrigiertes Manuskript - Musik Kalibani. Ouvertüre: "Eins, zwo, drei vier ..." O-Ton Marcel Fabian: Hallo! Darf ich mich auch vorstellen? Ich bin der Marcel vom Theater Ramba Zamba. Ich freu mich schon auf die nächsten vier Vorstellungen von Weltmenschen und die letzten beiden von Multikultitango, das ist eine Musikrevue mit viel Musik, Spaß. Ja und ich liebe, da mitzuspielen. Richtig. Bin auch sehr talentiert. Ja, fühl mich auch sehr gut. Ansage Down and up Das Risiko des Andersseins Ein Feature von Tita Gaehme Musik Kalibani. Ouvertüre Sprecherin Die "Kalibani" vom Theater Ramba Zamba gastieren auf der großen Berliner Volksbühne. Sie spielen auf glitzernden Musik-Instrumenten, tragen farbige Kostüme mit bizarrem Witz, bemalte Masken und pompöse Kopf-Aufbauten. Ein dicker Sultan tanzt in Gummistiefeln. Musik Kalibani (Marschschritte) Sprecherin Die Kalibani spielen wild, mit endlos rhythmischen Wiederholungen. Ihre melodische Lebensfreude reißt das Publikum mit. Doch manchmal scheint es, als ob das schwunghafte Geschehen auf der Bühne durch ungelenke Körperbewegungen irritierend stockt. Soll es so sein oder passiert es? Da stolpern Füße, deren Schritte dem Rhythmus der Musik folgen wollen. Da bleibt jemand stehen, der doch weiter gehen sollte. Bunte Menschen springen in eine flache Spielkiste auf bunte Plastikbälle, manche rutschen lang hin, einige taumeln, schlagen Purzelbäume. - Sind wir im Fellini-Film? Im Narrenschiff? Sehen wir der Theatertruppe des Marquis de Sade im Irrenhaus von Charenton zu? Oder ist im Kinderbetreuungsraum bei Ikea Karneval? Musik / O-Ton Max Raabe Irgendwo auf der Welt gibt`s ein kleines bisschen Glück... Sprecherin Aus der Tiefe der Bühne kommt der Sänger Max Raabe langsam nach vorn, sucht einen Platz, zieht Hose und Jackett aus, steigt - wie zum Umkleiden am Badestrand - in einen orangegelben Frottesack mit applizierten bunten Stoffblumen und bleibt darin. In dieser Weise behindert findet Max Raabe seine Bühnenfigur: Eine schmale, singende Stoffsäule ohne Arme. Jetzt ist er nur noch Frottesack, Kopf und Mikrofon, das er von innen, die Arme eng an den Körper gepresst, durch die Halsöffnung dicht an den Mund schiebt. In seinem Umkleidesack taucht der Star in die verrückte Farbigkeit der anderen Spieler ein. Gemeinsame Benefiz für die Kalibani, die kurz vor ihrem 20-jährigen Jubiläum um das Überleben kämpfen. O-Ton Max Raabe Das ist so ein ganz anderes Bühnengefühl, was die haben, von dem ich lernen kann. Mit welcher Ruhe und welcher mit Energie aber auch gleichzeitig hier Musik gemacht wird. Da bin ich gern dabei und lass mich jedes Mal mitreißen. Musik / O-Ton Max Raabe Irgendwo auf der Welt gibt`s ein kleines bisschen Glück.... Sprecherin Dagmar 11. April 1975 Träume können entsetzlich sein von Tieren, die beißen können oder mit einem kämpfen. Manchmal auch alte Mütterchen, die hexen können. Abenteuern im Wilden Westen, Krieg. Es gibt auch schöne Träume, Angstträume und vieles anderes. Es gibt manche Menschen, die schreien, weinen, fluchen oder laut lachen in der Nacht. Wenn ich träume, da geht es auf abenteuerliche Reisen mit meinen Puppen zum Beispiel Sprecherin Eines Tages überraschte Dagmar Bach, damals ein 8-jähriges Mädchen mit Down Syndrom, ihre Mutter im Supermarkt, indem sie ihr plötzlich die Namen der Waschmittel vorlas. Die Ärzte hatten Frau Bach gesagt, dass ihr Kind niemals schreiben und lesen würde. Doch nun begann die Mutter, systematisch und liebevoll mit ihrer Tochter zu üben. Schreiben wurde Dagmars Leidenschaft, die sie seit ihrem 17. Lebensjahr über dreißig Jahre lang in Tagebüchern auslebte. Sprecherin Dagmar 23. 9. 1976 Vom 12. Juni 42 bis 1. August 44 schrieb ein Mädchen mit dem bekannten Namen Anne Frank Tagebuch. Anne hatte noch eine Schwester, die Margot hieß und Eltern, die in Amsterdam wohnten in einem Hinterhaus, vielen Bekannten, die dazu zogen. Alles jüdische Familien. Anne ist Jüdin und ganz verliebt in Peter. Dauernd sitzen sie zusammen. Margot ist eifersüchtig auf Anne. Ein Einbrecher wirkte in den Räumen. Die grüne Polizei fand auch Franks und brachte sie ins Konzentrationslager. Anne Frank wurde ins Vernichtungslager Bergen-Belsen gebracht wo sie kurze Zeit später starb. Im März 1945 lebte Anne nicht mehr. Bei alten Büchern und Zeitungen fand man Annes Tagebuch. Ich bin nicht die einzige, die Tagebuch schreibt. Sprecherin Die Autorin und Verlegerin Petra Fohrmann veröffentlichte eine kommentierte Auswahl von Dagmars Tagebüchern. "Ein Leben ohne Lügen". O-Ton Petra Fohrmann Sie hat ja nicht nur geschrieben, sie hat gemalt, sie hat jedes Ticket da rein geklebt, jede Postkarte reingeklebt; sie hat aus der Zeitung ausgeschnitten, wenn die Uhr umgestellt wurde, und hat es eingeklebt in ihr Tagebuch. Jedes Buch sieht aus wie ein Arbeitsbuch. Sprecherin Dagmar 20. Dezember 1995 Was ich mir selbst wünsche: Das ich immer gesund bleibe munter fidel sowie fröhlich währt am längsten. Musik Kalibani. Vorspiel, Gesang "Ich bin wie ich bin, was kann ich dafür. Mehr ist nicht drin. Was wollt ihr von mir". Sprecherin Das ist Maria Hasenberg, die hier singt. Bei den Kalibani im Ramba Zamba Theater machen Menschen mit unterschiedlichen körperlichen und geistigen Behinderungen gemeinsam Musik und Theater. Musik Micha Schnabel "wild thing" O-Ton Michael Schnabel: Meine eigene Behinderung fällt mir in dieser Gruppe überhaupt nicht auf. Die Leute mit Down Syndrom die denken anders, und warum ist es verkehrt so wie sie denken? Wer weiß det denn? Sprecherin Michael Schnabel gehört seit 12 Jahren zu der Truppe. Der gelernte Werkzeugmacher ist als Mittfünfziger frühverrentet und geht an Krücken. Musik Micha Schnabel "wild thing" O-Ton Micha Schnabel: Sieht so alles kantig aus, wie ich laufe. Also nicht so wild. Aber in mir selbst, ich bin wild. Ich bin ein alter Wilder. Also ick hab ne genetische Krankheit, die ich von meiner Mutter bekommen habe. Meine Knochen haben eine Mangelerscheinung. Mir fehlen Phosphate in den Knochen und dadurch hab ich nur Schmerzen. Ich bin austherapiert, gibt keine Therapie mehr für mich, nur noch Schmerzmittel. Ich muss Morphium nehmen, das geht mir ganz schön auf die Organe. O-Ton Musik "wild thing" O-Ton Michael Schnabel: Durch wild thing und durch die Lieder kann ich mich befreien, kann ich mich wild machen. Also auch det Lied, dat is, meinen Frust auch raus zu bringen gegen die Welt, gegen den Weltenschmerz, gegen die Ungerechtigkeit, Unterdrückung. Das bring ich alles in meiner Stimme raus, das kommt auch ganz klar raus, das weiß ich, dass das ankommt. Das Lied selbst ist für mich selbst befreiend. Ick merk das auch am Publikum, wie et ankommt, dass die darauf einsteigen, dass die das auch sehen wahrscheinlich die Problematik, die bei mir herrscht. Musik Kalibani Sprecherin Die Kalibani zeigen ihr Stück "Weltmenschen", eine Paraphrase von Lessings "Nathan der Weise". Das Spiel geht um Liebe, Vorurteile, menschliche Härte, um die Gemeinsamkeit der Religionen und den Wunsch nach Versöhnung. Vor der Vorstellung stimmt sich der 29-jährige Marcel Fabian am Schlagzeug ein. Er spielt seit 15 Jahren beim Theater Ramba Zamba, Dirk Nadler jongliert mit 2 Bällen und probt seinen Auftritt. Die Bälle hochwerfend steigt er auf einen Stuhl und hat dort oben den ersten, deshalb schwierigen Satz des Stückes zu sagen. O-Ton Dirk Nadler Das ist ein Scheißplatz. Das ist ein Scheißplatz. Dass ich da auf diesen Stuhl runtergehe und mit de Bälle wieder so mache und woanders hinstelle und wieder hoch gehe. Autorin: Und warum ist es ein Scheißplatz? Dirk Nadler: Dass dieser Platz gar nicht richtig ist. Sprecherin: Dirk Nadler stellt sich ins richtige Licht und jongliert. Klaus Erforth, der Theaterleiter, Schauspieler und Regisseur probt mit Sidney Kadow, der die Rolle des Tempelherrn kurzfristig übernommen hat. O-Ton Dirk Nadler u.a. Sydney Kadow: Ich trug sie auf dem Feuer. Sie lag in Armen und duftete nach Weihrauch. Klaus Erforth: Ja, jetzt gehst du wieder weiter, hinken: (spricht vor und Sidney nach:) Oh verbrennen, oh verbrennen oooo verbrennen , ooooh verbrennen. oooo verbrennen, ooooh verbrennen. oooo verbrennen , ooooh verbrennen. Klaus Erforth: Genau. Autorin: Und was ist das Schönste für dich beim Theaterspielen? Dirk Nadler: Auf den Stuhl hochgehen und sag das ist ein Scheißplatz. Autorin: Das macht dir am meisten Spaß? Dirk Nadler: Ja. Und bei Zuschauer zu sitzen und später wieder zu tanzen. Wo die sagen "der König" und dann fing ich an zu tanze mit alle Leute. O-Ton Marcel Fabian Hello, Welcome and Germany and Theater Ramba Zamba, Weltmenschen, Sept and taste Schlagzeug, Bigband, Sweat and Icecream Autorin: Warum sprichst du englisch mit uns? Marcel Fabian: Na, weil ich ein bisschen englisch lernen will. Ich will so ein bisschen Erfahrung kriegen, wie man mit Leuten englisch redet, damit ein andrer dat übersetzen kann. O-Ton Marcel Fabian, singt: Unzulänglichkeit des männlichen Strebens. Der Mensch lebt durch den Kopf der Kopf ... denn für dieses Leben ist der Mensch nicht schlau genug. O-Ton Marcel Fabian: Ich möchte auch weiterkommen. Ich möchte auch in Dingen, die hinaus in den Weltall eindringen. Ich bin glücklich, weil ich ein Schauspieler bin, ich bin sehr glücklich, ich spiele verschiedene Rollen, ich spiele auch so gerne Instrumente, Schlagzeug, spiel ich auch, ja, ich bin so jut, und ja... Ich bin so jut, ich bin auch sehr dadurch berühmt. Musik. Geigenvorspiel: Irgendwo auf der Welt... Sprecherin Dagmar 28. Juni 1974 Ich möchte von meinen 5 Puppen eine Erzählung machen: Susanne ist 12 Jahre und meine ältere Tochter. Sie ist sehr lieb zu mir. Auch manchmal bockig, wenn sie nicht das darf, was sie möchte. Ihr größter Wunsch, was erfüllt wurde, ist Reitlehrerin. Ilona meine zweite Tochter ist 11 Jahre, ist noch in der Schule bis zum Abitur. Sie möchte Tier- oder Kinderärztin werden, sie ist auch lieb zu mir, aber manchmal will sie keine Hausaufgaben machen. Imke und Karin, die Zwillinge sind 7 Jahre alt und in der 1. Schulklasse und machen schon Fortschritte, um in die zweite Klasse zu kommen. Ihr größter Wunsch ist singen. Ein paar Vorführungen hatten sie schon im Fernsehen. In "Disco 73", der blaue Bock, Aktion Sorgenkind. Bianka ist meine kleinste und 1 Jahr alt. Ihr allererster Wunsch: Schauspielerin. Ich helfe ihr zwar, aber sie will noch nicht alles mitmachen. Sie besucht auch schon die Schule, aber alles macht sie nicht mit. Ich bin Journalistin und viel tätig auch dauernd auf Reisen zum Fernsehen. Zur Zeit Schulleiterin, da habe ich sehr viel zu arbeiten. Mein Mann ist Chefarzt von Beruf und ist in Bielefeld tätig bei meiner Schwester und meinem Schwager. Ich sehe ihn mein Jürgen sehr selten. Sprecherin Dagmar wurde 47 Jahre alt. Sie hatte einen 8 Jahre älteren Bruder und lebte immer in ihrem Elternhaus, von der Mutter liebevoll gefördert, in den großen Freundes- und Bekanntenkreis der Familie einbezogen. Sprecherin Dagmar 10. April 83. Aus meinem innigsten Herzen einmal losgelassen. Bevor morgen wieder alles beginnt, die Schule und die Kurse will ich noch einmal meinen herzlosen Tiefpunkt los werden. Der sich bei mir im Moment seit Ostermontag immer löst. Ich könnte dauernt laut losheulen, oder weinen, wenn ich an meinen sehr kranken Papa denke, den ich sehr, sehr lieb habe. Ich möchte auch sehr gerne an etwas schönes und lustiges denken, was ich leider im Moment nicht kann und es tut mir auch so sehr weh. auch des Nachts, morgens weiß ich nie wie ich wach werden soll, das ist mein größtes Problem. O-Ton Petra Fohrmann Ich glaube, dass die Ehe nicht ganz glücklich war. Jedenfalls erzählte die Mutter, dass der Vater oft die Straßenseite gewechselt hat, wenn sie mit dem Kinderwagen spazieren war und dass er nicht in Verbindung mit diesem behinderten Kind gebracht werden wollte. Sie hat natürlich sehr viel geweint, als sie wusste, dass ihr Kind behindert ist und kam überhaupt nicht damit zurecht. Bis ihre Mutter sie dann besuchte und sagte: "Du hast keinen Grund zum Weinen. Du nicht. Wir, die wir im Krieg unsere Kinder im Graben tot liegen lassen mussten, weil sie verhungert sind, wir hatten Grund zum Weinen. Du nicht. Dein Kind lebt. Und wir werden dir alle helfen. Und dann konnte sie sich an diesen Worten aufrichten. Und Dagmar war bis zuletzt, bis Dagmar starb, das Liebste auf der Welt, das sie um nichts in der Welt weggeben wollte. Sprecherin Dagmars Vater, ein Chirurg, starb an seiner Krebserkrankung, als Dagmar 30 Jahre alt war. Sprecherin Dagmar 27. Juli 1983 Die sehr traurige Einäscherung von unserem sehr lieben Papa, das kurze Gebet in der Kapelle. Und am Grab haben wir unser "Vater unser" mit Pastor Lehmann gesprochen. Das sehr große weinen bekam ich hinterher bei dem Ausspruch Asche zu Asche, Staub zu Staub. Feierlich wurde es erst abends zu dem großen Lachsessen mit Pastor Lehmann und seiner Frau bei uns ein sehr schöner Sommerabend und im Kerzenschein auch. 23. Oktober 1983 Wieder ein sehr neues Leben, im 30. Lebensjahr, den ich in den letzten Tagen verbracht habe. Am 18. Oktober morgens die ersten Gäste. 3 Geiger, die mir was vorgeigten. Vor Freude liefen mir die Tränen im Arm meiner Mama. O-Ton Petra Fohrmann Ich glaube nicht, das es das Stadium ´ich bin jetzt erwachsen` oder groß` bei ihr gegeben hat. Das war gleich entweder Kind oder ´jetzt sterb ich bald`. O-Ton Klaus Erforth Die Biografien sind so exemplarisch. Und sie sind so wunderbar wie grausam. Und man muss miteinander über all diese Dinge reden und nicht sozusagen unter so einem unangenehmen Begriff des ´Schutzbefohlenen` solche Sachen verschweigen. Jeder Mensch hat das Recht sein Risiko zu leben. Das müssen sie auch haben. Und vor allem als Künstler müssen sie das haben. Sprecherin Die Selbstverständlichkeit, mit der Klaus Erforth die Schauspieler gleichberechtigt und gleichwertig behandelt, tut in der Kalibani-Truppe allen gut. In seiner Theaterarbeit ermutigt er sie, auch die erschreckende Härte ihrer Erfahrungen auf die Bühne zu bringen. O-Ton "Hommage an Tadeusz Kantor" Ich habe Angst, Anst, Angst, der Tag darf nicht sein, die Nacht muss aufhören. Ich habe Angst, Angst, Angst, ich habe Angst Angst, Angst ... O-Ton Sven Hakenes Da muss man ganz ernst spielen, bis dass nicht mehr der Krieg ausbricht mehr. Ja, das machen wir so lange, bis die nicht mehr proben schießen. Dass die ihre Gewehre einpacken und wegnehmen. Dass sie endlich mal die Gewehre niederlegen. Das muss mal niedergelegt werden. Nicht mehr rumschießen mehr. Ich mag das nicht. Sprecherin Sven Hakenes trägt unübersehbar das Foto einer jungen Frau an einem Band um den Hals. Er kommt wie die anderen Kalibani mittags gegen zwölf in den Probenraum. Das Foto nimmt er bei der Probe nicht ab und auch später beim gemeinsamen Essen nicht. O- Ton Sven Hakenes: Ich möchte mit Grit zusammen ziehn. Autorin: Mit Grit. Sven: Ja, das ist meine Liebe. Autorin: Ach, wie schön. Sven: Ich hab auch mit Grit ein Privatleben. Das will ich auch haben. Ich will nicht, dass der Vater die mir wegnimmt. Das will ich nicht mehr haben. Ich will, dass der Vater seine Strafe kriegt, ne Strafe kriegt. Ich will mit Grit zusammen ziehn. Ich will nicht ohne Grit da sein, da stehn. Ich muss festhalten, dass ich mit Grit zusammen ziehn kann. Du musst mir dabei helfen. Autorin: Spielt Grit denn auch mit Theater? Sven: Ja. Die will ich haben. Ihr müsst mir unterstützen. Autorin: Wie können wir das tun? Sven: Dass der Vater die nicht mehr, mehr, mehr, dass die nicht mehr seine Tochter ist. Die ist meine. Ja. Die will ich haben. O- Ton Klaus Erforth: Die beiden haben sich kennen gelernt, haben sich verliebt ineinander und das geht jetzt seit vier Jahren. Seit vier Jahren kommen sie nicht richtig zusammen. Da wird ein Psychologe..., dann wird das gemacht, dann wird das gemacht, dann hört es wieder auf, dann finden diese Sitzungen nicht statt. Dann ist der Psychologe oder die Psychologin krank. Immer wieder passieren so Sachen. Und es geht nicht weiter. Man kann doch ein Leben erst dann alleine führen, wenn man es miteinander ausprobiert. Er läuft rum, es waren schon Formen, wo das richtig schwer depressiv wurde. Er hat immer ein Bild von ihr, immer ein Bild, er redete nur von ihr. Ja klar, aber da gucken wir doch mal um uns. Im Moment ist unser Haushalt nicht zum Aushalten, weil wir keine Zeit haben und bei vielen Menschen ist das so. Wenn es bei ihnen ist, dann ist es sofort, hat es was damit zu tun, dass sie unfähig sind.. O-Ton Musik Lia Vanezi "Ich will keine Schokolade ... " Sprecherin Auf der Bühne strahlt die klein gewachsene Frau. Lia Vanezi arbeitet mit hoher Konzentration, mit präzisen unaufwendigen Mitteln und fasziniert durch ihre spielerische Leichtigkeit und enorme Präsenz. O-Ton Musik Lia Vanezi "Ich will keine Schokolade ... " Sprecherin Wenn man der fast 60-Jährigen dann gegenüber sitzt, beeindruckt auch ihre persönliche Ausstrahlung, ihr ausdrucksstarkes intelligentes Gesicht mit großen dunklen Augen umrahmt von dichtem schwarzen Haar, ihre lebendige Sprechweise, ihr lebensfrohes Lachen. O-Ton Lia Vanezi Unser Hauptproblem hier ist für uns Schauspieler, dass wir fremd bestimmt sind. Andere bestimmen über uns. Überleg mal, einer von unseren Schauspielern, der Marcel, der hat ein Jahr Sperre zu spielen. Er hat bei Woyzeck gespielt, und er kam nach Hause in die Wohngemeinschaft oder Heim war das damals, und er hat immer von Büchner erzählt, und da haben die gesagt, der soll nicht immer von Büchner erzählen, überleg mal, er beschäftigt sich mit dem Text und lernt den Text und erzählt von Büchner und er ist sozusagen ein gebildeter, geistiger behinderter Mensch, also das ist doch nicht normal, dass man das dann verbietet, und da haben die gesagt, ein Jahr der muss lernen, Waschmaschinen zu benützen, dafür braucht auch ein geistig Behinderter nicht ein Jahr. O- Ton Klaus Erforth Marcel sollte die Waschmachine lernen, da durfte er ein Jahr nicht zu dem Wesentlichen seines Lebens kommen, zum Theater. Haben sie ihm verboten, die Betreuer, und der hat sich das verbieten lassen. Die entscheiden darüber, dass sie sich in einen solchen Menschen nicht hinein fühlen können, sie betrachten den letztlich als einen Behinderten. Also kann sehr gut passieren, ein Betreuer sagt, also jetzt schreiben wa mal was ein, der kann das sowieso nicht lesen. Das sind immer die Haltungen. Sie werden belogen, es wird ihnen was gesagt, werden Illusionen erzeugt und es passiert nicht. Sprecherin Klaus Erforth hat selbst einen Sohn mit Down Syndrom, und so sind es neben ideellen Vorstellungen von einer "wirklich ganz menschlichen Gesellschaft" vor allem biografische Erfahrungen, die ihn zu seiner Arbeit motivieren. Als Schauspieler in der DDR habe er sein Menschenbild in Konfrontation zum Stalinismus entwickelt, Picasso, Sartre und Marx seien seine künstlerischen und politischen Bezugspunkte. O-Ton Klaus Erforth Im eigentlichen tieferen Sinne ist das alles der Ursprung. Und deshalb, sage ich, interessiert mich an dieser Geschichte nur, wenn es Theater ist, nicht Behindertentheater. Sprecherin Gemeinsam mit Kerstin Janeva ist Klaus Erforth für Spielplan, Inszenierungen und Ausstattung der Kalibani verantwortlich. O-Ton Lia Vanezi Da kommen Leute, die können sich nicht mal bewegen körperlich. Die sind von Betreuern und Eltern wie behinderte, die Frisur schon, wie die Haare geschnitten werden, oder mit Kinderanoraks, dabei sind sie über 30 Jahre alt. Und da machen Klaus und Kerstin viel Mühe und da kommen aus den Leuten richtige Talente raus. Sprecherin Lia Vanezi wurde in Volos, in Mittel-Griechenland geboren. Ende der 60er-Jahre kam sie nach Berlin, weil sie sich verliebt hatte. Sie blieb und studierte Betriebswirtschaft. In Berlin Wilmersdorf eröffnete die kleine Frau ein Geschäft mit Teppichen und Kelims aus ihrer Heimat, das prominente Kundschaft anzog, aber vor einigen Jahren unrentabel wurde. Jetzt scheint das Wichtigste in ihrem Leben die Theaterarbeit bei den Kalibani zu sein. Atmo Sommerfest O-Ton Lia Vanezi Diese sogenannten geistig Behinderten, die sind gar nicht geistig behindert. Die sind vielleicht nicht so gebildet wie ich. Aber die haben eine unheimlich emotionale Intelligenz und die sind urteilsfähig. Die haben unheimlich Sinn für Humor und Sinn für Vergnügen. Wir machen Vorstellungen und danach sitzen wir zusammen und wir kommen wie die Bohèmes um vier Uhr nach Hause. Da sitzen die Techniker, die Assistenten, die Schneider, da sitzen die Schauspieler. Alle sitzen wir zusammen und trinken das Bier und tanzen und dann machen wir Musik und unterhalten uns und wir amüsieren, wir kommunizieren miteinander. In meinem Alter kommt in meinem Freundeskreis kein Mensch um drei Uhr nach Hause. Ich komme immer um drei Uhr nach Hause. Atmo Sommerfest O-Ton Kerstin Janeva Ich mach das schon 20 Jahre. Ich nehme den Menschen, rede mit ihm, arbeite mit ihm, und wenn ich merke, der versteht das nicht so, hab ich das Problem, nicht der. Also, meine Aufgabe ist, mich ihm anzupassen, das größtmögliche für ihn möglich zu machen, dass er auf der Bühne einfach toll ist, dass er so sein kann, wie er ist, was er ausdrücken will und der Nebeneffekt ist, dass ich auch meinen Spaß habe und mich selber ausmisten kann. Z. B die Masken und Kostüme, die heute da waren, die haben wir zusammen gemacht, das macht natürlich Spaß. Lia Vanezi: Wenn wir herkommen, ich sage immer das Gleiche, wir kommen alle wie Pfannkuchen und dann macht der Klaus Erforth und die Kerstin Janeva, die machen aus uns Persönlichkeiten. Dass die Talente rauskommen. Wir machen nicht behindertes Theater, wir machen Theater mit behinderten Menschen. Kerstin Janeva: Mein Ziel ist, wenn man vergisst, welche Menschen auf der Bühne stehen. Und das gelingt uns sehr oft. Na so soll das sein. Nich dass man sagt, guck, der hat ein Down-Syndrom, kiek ma, wo der seine dings hat... Lia Vanezi: Und es ist auch wichtig, dass wir uns ergänzen. Jeder mit seinen Handycap, wir ergänzen uns. Musik. Geige "Irgendwo auf der Welt" Sprecherin Dagmar 5. Okt., 1995, Donnerstag, 10:11 Uhr Heute am 5. Okt. ist meine allerliebste Freundin Ingrid wieder hier endlich bin ich wieder überglücklich, da mein Lieblingsschatz wieder bei mir ist. Ich möchte am allerliebsten, dass du immer bei mir bist. Dann wäre ich noch überglücklicher. Das wünsche ich mir sehnlichst. Mein Schatz, du bist ´ne Wucht, nach dem Schlager von meinem Lieblingssänger Chris Roberts. 31. Januar 1996, Mittwoch, 18.48 Uhr. Heute hatte ich auch wieder ein fantastische Betreuung meine heißgeliebte Tante Anni. Die mich immer betreut hier. Sie liebe ich auch heiß und innig. Sie spielt mit mir Scräbbel, Top Rummy. Was mir immer sehr viel Spaß macht. Ich denke an so viele, die das nicht haben. Wer hat das schon. 27. Juni 1998, 18:50 Uhr Es spricht der Mensch Es wiehert das Pferd Bei Dagmar ist es umgekehrt Sprecherin Ende September 2000, wenige Wochen vor ihrem Tod, wird Dagmar wieder von ihrer Pflegerin Anni betreut. Sprecherin Dagmar Donnerstag, 28. Sept. 2000 9:45 Uhr Heute ist Tante Anni wieder bei uns, weil Mama in West Berlin ist bei ihrem Bruder, der so krank ist. Linsensuppe Apfel Pfannkuchen Königsberger Klopse Himmel und Erd Möhren Suppe Das hat Tante Anni für uns beiden gekocht. Atmo "Hommage an Tadeusz Kantor". Sprecherin Die letzte Vorstellung der Kalibani vor der Sommerpause: "Hommage an Tadeusz Kantor". Die Schauspielerin Ruth Lewin spielt Saxophon und trägt ihre Interpretation eines Chansons von Blandine Ebinger und Friedrich Holländer vor. O-Ton Ruth (Chanson): Wer ohne Schuld tut sein, der schmeißt den ersten Stein. Doch ick lieg ganz still, wenn ick mal tot bin, wenn ick mal tot bin. Wenn ick mal tot bin, dann mach ick wat ick will. (Saxophon) O-Ton Ruth Lewin: Oh, is schwer, weiß ich gar nicht so richtig, wie ich es erzählen soll. Hm. Ich möchte nichts Unüberlegtes sagen. Also, bei meinen Rollen, da muss immer ein bestimmtes Gefühl sein. Also und dann muss man versuchen, die Rolle mit dem Gefühl, dass das der richtige Einklang ist. Dass das zueinander passt. Und das ist nicht so einfach. Autorin: Hast du das Gefühl, dass du da alleine hinkommst, oder dass der Klaus mit dir diesen Weg geht und was versteht, von dem was du sagen möchtest? Ruth Lewin: Also, ich, ist jetzt schwierig. Also, ich glaub, ich brauch auch oftmals auch die Hilfe von Klaus, dass er mir hilft. Dass er mir versucht zu erklären, was er meint und ich versuche dann, das zu verstehen, was er meint. Auch wenn's natürlich nicht immer gelingt. Weil ich bin ja auch nur n Mensch. Weil wir Menschen sind, haben wir nun mal Fehler. Sprecherin Lange arbeitete die heute vierzigjährige Ruth Lewin in einer Behinderten-Werkstatt. Doch Ruth wollte Theater spielen. O-Ton Ruth Lewin: Es gibt eigentlich 2 Lieblingsrollen. Die Königin von "Die Schöne und das Monster" und die Migrantin. Die spiel ich ganz gern. Jedes ganz anders auf seine Art. Aber eben sehr, sodass es wieder ein ganz anderes Gefühl hervorheben kann. Autorin: Welches Gefühl ist es denn, wenn du die Königin spielst? Ruth Lewin: Na ja, stell ich mir vor, ich bin die Königin und ich regiere da so über die Leute. Autorin: Bist du gut zu den Leuten? Ruth Lewin: Na, ich bin zu meinem Sohn nicht gut. Autorin: Warum nicht? Ruth Lewin: Der soll keine Frau bekommen. Autorin: Bist du eifersüchtig? Ruth Lewin: (stöhnt.) Er ist eben, er sieht nicht so gut aus der Sohn, und der soll keine bekommen. Autorin: Und gewinnst du in dem Streit mit dem Sohn? Ruth Lewin: Nee, der bekommt dann doch welche. Behält er aber nicht. Der tut denen was an. Saxophon Autorin: Sagst du dann was zu dem Sohn? Wenn er den Frauen was antut? Ruth Lewin: Also das is so, dass ich erst gar nicht will, dass er ne Frau bekommt und dann will ich es, versuch ich es mit nem Handel zu machen, mit der armen Frau in den Bergen, weil er mich dann,... er will mir dann was antun. Und damit mir nichts geschieht, versuche ich den Handel zu machen. Erforth: Das ist für mich ungeheuer klar, was Ruth erzählt. Und das ist vielleicht auch das, was andere Schauspieler betrifft. Dass sie scheinbar so weiße Stellen haben in so ner Beschreibung. Aber die hat sie ja nicht im Spiel. Und Ruth in dieser Figur, die sie spielt, führt eine bildhafte Herrschaft über den Sohn aus. Das geht bis in den Missbrauch rein. Das spielt sie so klar, warum bringt der dann immer eine nach der andern um? Weil die ihn nicht respektieren als das, was er ist.. O Ton Ruth (Chanson) Wenn ick mal tot bin, dann fängt erst mein Leben an. Die Engel, tirillieren, die Geigen tirilliiieren. wenn zum Empfang von Lieschen alle aufmarschieren, Mensch, machen die enen Krach. Wenn ick mal tot bin, wenn ick mal tot bin, dann ist mein schönster Tach. (Saxophon ) O Ton Ruth Lewin Autorin: Fühlst du dich behindert? Ruth Lewin: Ehm, vom Gefühl her nicht. Fühl mich nicht behindert. Ich hab nur eben ein paar Schwierigkeiten mehr vielleicht. Autorin: Diese Schwierigkeiten, kann du die mir erzählen? Ruth Lewin: Ist schwer zu sagen. Is auch... die möchte ich auch wieder vergessen, die Schwierigkeiten. Aber ich fühl mich nicht behindert. Da gibt es was ganz anderes. Es gibt bettlägrige Leute, die nicht aufstehen können. Und so. Oder Leute, die gewindelt werden müssen. Es gibt ganz andere schlimmere Schicksale. Ich bin doch eigentlich noch ganz gut dran. Im Großen und Ganzen. Mein ich. Ruth Lewin singt: Wie ist mein Herz so schwer. Keiner will mich. Wie ist mein Herz so schwer. Keiner will mich. O Ton Ruth Lewin: Auf der Probe, wo der Text entstanden ist, da war dieses Gespür, und da hab ich mir was vorgestellt und da ist es einfach so entstanden. Sprecherin Gelebte Liebesbeziehungen und Sexualität von Behinderten sind immer noch nahezu Tabuthemen. Ruth Lewin hat ihre Sehnsucht in einem eigenen Lied ausgedrückt. Ruth Lewin singt: Ich suche schon seit 1000 Jahren nach einem Mann. Überall Wasser, ach überall Meer, ach liebes Herz, das Herz so schwer. O Ton Ruth Lewin: Da finde ich, dass das Wichtige für mich betrachtet ist, da diese Betonung mit ´keiner will mich`, dass niemand mich will. Niemand. Diese Betonung, und dass 'das Herz schwer ist'. Musik. Geigenvorspiel, Irgendwo auf der Welt Sprecherin Dagmar Ich bin eine Dame ohne Unterleib hatte Tante Anni zu mir gesagt. O-Ton Musik Geigenvorspiel O-Ton Kalibani Gesang Irgendwo auf der Welt gibt's ein kleines bisschen Glück. Abspann Down and up Das Risiko des Andersseins Ein Feature von Tita Gaehme O-Ton Kalibani Gesang Irgendwo auf der Welt gibt's ein bisschen Seligkeit und ich träume davon schon lange, lange Zeit. Wenn ich wüßt, wo das ist, ging ich in die Welt hinein. Denn ich möcht einmal recht so von Herzen glücklich sein. Abspann Es sprachen: Manuela Alphons und Anja Bilabel Ton und Technik: Wolfgang Rixius und Jutta Stein Regie und Redaktion: Herrmann Theißen O-Ton Kalibani Gesang Irgendwo auf der Welt fängt mein Weg zum Himmel an irgendwo, irgendwie irgendwann. Abspann Sie hörten eine Produktion des Deutschlandfunks 2010 27