KULTUR UND GESELLSCHAFT Organisationseinheit : 46 Reihe : LITERATUR 0.05 Uhr Titel der Sendung: Zeit der Wut Italienische Kriminalromane Autor : : Maike Albath Redaktion: : Sigried Wesener Sendetermin : 22.06.2014 : Urheberrechtlicher Hinweis: Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Jede Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in den §§ 45 bis 63 Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig © Deutschlandradio Deutschlandradio Kultur Funkhaus Berlin Hans-Rosenthal-Platz 10825 Berlin Telefon (030) 8503-0 DeutschlandRadio Kultur Literatur, 22. Juni 2014 Red.: Sigried Wesener Maike Albath Zeit der Wut. Italienische Kriminalromane Regie: Musik, mit O-Tönen collagieren, Charles Mingus, Legenden des Jazz, Track 2, Intro ab 0’14 (O-Töne rechts, links legen, Namen wie bei Gerichtsverhandlung trocken und knapp) O-1, O-Ton Maurizio de Giovanni/ Sprecher 1 In Neapel hat jedes Viertel ein schwarzes Herz. In sozialer Hinsicht mag das ein Problem sein, aber für einen Krimiautor ist es ideal. Zitator: Maurizio de Giovanni. O-2, O-Ton Massimo Carlotto/ Sprecher 2 Man kann sagen, dass der Nordosten Italiens zu einem europäischen Versuchslabor für eine neue Kriminalität geworden ist, die aus der Globalisierung heraus entstand. Zitator: Massimo Carlotto. O-3, O-Ton De Cataldo/ Sprecher 1 Das große Problem unserer Demokratien ist doch folgendes: Die Verflechtung von illegaler Wirtschaft mit legaler Macht, also die Verunreinigung der Wirtschaft. Diese Geschichten kann man erzählen. Zitator: Giancarlo De Cataldo. O-4, O-Ton Roberto Riccardi/ Sprecher 2 Dem Drogenhandel Einhalt zu gebieten, ist so, als wolle man den Wind mit seinen Händen aufhalten. Zitator: Roberto Riccardi. O-5, O-Ton Andrea Camilleri/ Sprecher 1 Es reicht eben nie. So wie Dagobert Duck nie genug Reichtum anhäuft, kennt auch die Korruption keine Grenzen. Zitator: Andrea Camilleri. Autorin: Der sizilianische Schriftsteller und seine Kollegen sind Gegenwartsspezialisten, versessen auf alles, was um sie herum passiert. Sie schreiben Kriminalromane. Einige hauptamtlich, andere haben noch einen Brotberuf. O-6, O-Ton Maurizio de Giovanni/ Sprecher 1 Mein Ermittler kriecht in den Täter hinein. Er begreift ihn, weil er genauso denkt wie er. O-7, O-Ton Roberto Riccardi/ Sprecher 2 Es gibt komplett unverdächtige Leute. Ich habe Narcos kennengelernt, die Angst vor Gewalt hatten, vor Waffen, die kein Blut sehen konnten und noch nie Drogen in der Hand hatten. Sie wussten nicht einmal, wie das Zeug aussieht. O-8, O-Ton Massimo Carlotto/ Sprecher 2 In Italien haben wir dieses einzigartige Phänomen: Richter, Polizisten und Carabinieri schreiben Kriminalromane. Autorin: Kaum jemand ist näher dran an den Verwerfungen der Gegenwart als die Vertreter des Staates und der dritten Gewalt. Sie arbeiten dort, wo die Macht sitzt, in Rom. Ein Magnet. O-9, O-Ton Giancarlo De Cataldo/ Sprecher 1 Die Camorra, also die neapolitanische Mafia, hat sich in mehrere Gruppen unterteilt, die um die Kontrolle der Gebiete kämpfen. Das gilt auch für Rom. Es gibt zwei Zentren, eines ist Ostia, das andere ist Cinecittà, also der Osten der Stadt. Dort haben wir Umschlagplätze für Drogen, die von den Händlern per Videokamera überwacht werden. Hauptgeschäftszweige sind Drogenverkauf und Geldwäsche. Im Moment erwerben die Clans sehr viele Läden, sie kontrollieren den Fischmarkt und eröffnen Restaurantketten. Autorin: Giancarlo De Cataldo, 58 Jahre alt, eine kompakte Person mit Zigarillo im Mundwinkel und zerzausten Haaren, die langsam grau werden, weiß, wovon er spricht. Er hat als Richter immer wieder mit der organisierten Kriminalität zu tun. Die Namen der Geldwäsche-Restaurants darf er nicht verraten. De Cataldos rasanter Romanzo criminale, der ihm 2002 den Durchbruch brachte und auch verfilmt wurde, war inspiriert von einem Gerichtsverfahren, an dem er beteiligt gewesen war: Es ging um die Magliana-Bande, eine römische Gang, die sich mit der Mafia verbündete und Politiker auf ihre Seite zog. Regie: Filmsequenz (italienisch), nur als Atmo verwenden, A1 Autorin: Inzwischen legte De Cataldo eine Reihe von Krimis vor, die genau diese Grauzone zwischen Legalität und Illegalität ausleuchten. In Zeit der Wut, gemeinsam mit dem Drehbuchautor Mimmo Rafele verfasst, hat der Polizist Marco sich nicht im Griff. Regie: Musikakzent (wie Atmo behandeln), Mingus, Track 5, ab 1‘09 Zitator (auf Musik): Sie hatten sich geprügelt, dann hatte die WUT begonnen zuzuschlagen. Methodisch, ohne Atem zu holen. Irgendwann hatte der Schwarze, dessen Gesicht nur noch blutiger Brei war, in die Innentasche seiner Jacke gegriffen. Suchte er vielleicht ein Messer oder eine Pistole? Ein Schleier hatte sich vor Marcos Augen gesenkt. Die WUT hatte die Wucht der Schläge gesteigert. Als Hauptkommissar Mastino, und seine Kollegen Rainer und Corvo ihn schließlich bändigten, war der Senegalese nur noch ein Haufen zerfetzter Kleider und Schleim. Er rührte sich nicht mehr. - Der ist hinüber, stellte Reiner fest. - So ein Scheiß, sagte Mastino. - Hast einen festen Schlag, was Junge?, fügte Corvo hinzu und zündete sich eine Zigarette an. -Er wollte… die Pistole ziehen… stammelte Marco. Mastino bückte sich, um die Leiche zu durchsuchen. Marco nahm seinen Kopf in die Hände. Aus. Er war ein Mörder. Ein Mörder ohne Motiv. Er war auf die andere Seite gewechselt. Das hatte nichts mehr mit dem Gesetz zu tun. Nur noch mit der WUT und sonst nichts. Dann lächelte ihn Mastino an. Brüderlich, ermutigend. – Keine Angst, wir kümmern uns darum. Sind wir ein Team oder nicht? Jetzt räumen wir auf, los! Hier ist nichts passiert, habt ihr verstanden, Jungs? Zwei Scheißneger haben sich geprügelt und einer hat drauf gezahlt… verstanden? Autorin: Von nun an hat Mastino den jungen Polizisten komplett in der Hand. Marco, der früher zur Hooliganszene gehörte, ist mit seiner unbändigen Wut typisch für seine Generation: zu kurz gekommen, an den Rand gedrängt. Das Kleinbürgertum kürte Berlusconi als Regierungschef, das Wertgefüge zerfiel. O-10, O-Ton De Cataldo (voice over)/ Sprecher 1 Für einen Polizisten wie Marco ist die Polizei eine Art Vater. Wenn es in der Beziehung zwischen Vätern und Söhnen zu Krisen kommt, sind das dieselben, wie wir sie in der Gesellschaft beobachten können. Mit anderen Worten: Es ist heute schwierig, jungen Leuten den richtigen Weg zu weisen. Wenn also jemand wie unser Held Marco seinen heiligen Vater Dantini verliert und es stattdessen mit einem grausamen Stiefvater wie Mastino zu tun hat, kann es leicht passieren, dass es zu Verstrickungen kommt, vor allem, bei schwachen Charakteren ohne intellektuelle Mittel, das Ganze zu durchschauen. Ich möchte aber noch etwas anderes unterstreichen. Unser Roman reiht sich in eine Tradition des Krimis ein, die sich nicht auf Italien beschränkt, da sind nicht nur wir, Carlotto und Camilleri. Nein, es gibt die Schweden, die Franzosen, die Engländer. Und eigentlich erzählen wir alle eine ähnliche Geschichte. Die Demokratie ist in Gefahr, weil sie zu schwach ist, sich gegen den Angriff der organisierten Kriminalität zu behaupten. Gleichzeitig gibt es eine innere Korrosion durch bestimmte Leute, die die Demokratie am liebsten abschaffen und ein autoritäres Regime etablieren würden. Regie: Musikakzent, Gomorrha, Filmmusik Autorin (auf Musik): In kurzen Kapiteln, mit schnellen Schnitten, Schauplatzwechseln, einer Fülle von Figuren und vielen Lücken, steigert De Cataldo die Spannung. Für zartbesaitete Leser ist der Roman nicht gedacht, denn Gewalt, Exekutionen und brutale Fahndungstaktiken sind die Regel. Die Polizei hat einen einflussreichen Drahtzieher illegaler Geschäfte im Visier. Sein Gegenspieler ist ein hochrangiger Polizist namens Lupo, der an die Demokratie und den Staat glaubt, für den er kämpft. O-11, O-Ton Giancarlo De Cataldo (voice over)/ Sprecher 1 Als Staatsdiener in Italien konnte man nie für den Staat in seiner Gesamtheit eintreten, sondern sich immer nur mit Teilen des Staatswesens identifizieren. Bis heute muss man, und das wird beim Kampf gegen die Mafia besonders deutlich, gegen einen äußeren und gegen einen inneren Feind vorgehen. Ein italienischer Ermittler muss sich also nicht nur vor dem Verbrecher, sondern auch vor seinem Bruder in acht nehmen. Auch deshalb gibt es in unseren Krimis keinen einzigen Kommissar, keinen einzigen Polizisten und keinen einzigen Richter, der in seinem Umfeld nicht dieselben Probleme hätte wie draußen auf der Straße. Wir haben in Italien hervorragende Kommissare, vor allem in der Geldwäsche-Bekämpfung und der Anti-Mafia-Behörde, und herausragende Polizeipräsidenten, aber auf den unteren Ebenen gibt es viele problematische Figuren, sogar mit faschistoiden Neigungen. Und aus diesem Grunde sind unsere erfundenen Polizisten alle ein bisschen verrückt und halbe Borderliner. Denk an die Bücher von Massimo Carlotto. Diese traditionelle Beherrschtheit, die man normalerweise mit der Polizei in Verbindung bringt, kommt bei uns nicht vor. Jemand wie Derrick wäre in Italien unvorstellbar. Regie: Musik, Mingus, Track 5, ab 0‘22 Autorin (auf Musik): Auf den Straßen von Prati jedenfalls, wo Giancarlo De Cataldo wohnt, würde ein Mann wie Derrick auffallen wie ein bunter Hund. Es geht die Via Oslavia hinunter, in Richtung Piazza Mazzini. Prächtige Wohnanlagen und Jugendstilbauten säumen die Alleen, die extra so angelegt wurden, dass die Kuppel von Sankt Peter nie den Fluchtpunkt bildet – der junge italienische Staat wollte seine Distanz zur Kirche betonen. An den Zeitungsständen springen die Überschriften ins Auge: Claudio Scajola, unter Berlusconi mehrfach Minister, wurde festgenommen. Der gesamte Führungsstab der Mailänder Expo: verhaftet. Rund 150 Jahre nach der nationalen Einigung rauben einige der obersten Repräsentanten ihr Land aus. O-12, O-Ton De Cataldo (voice over)/ Sprecher 1 Wir Richter und Vertreter der Linken haben seit zwanzig Jahren gekämpft, und man hat uns zehn- und hunderttausendfach behindert. Die Politiker wollten vermeiden, dass effiziente Gesetze gegen die Korruption entstanden. Aber überleg mal: Berlusconi wurde verurteilt, Dell’Utri, der Gründer seiner Partei, ebenfalls. Dasselbe gilt für den ehemaligen Verteidigungsminister Previti. Scajola ist im Gefängnis. Der innere Zirkel dieser neuen Rechten ist im Knast gelandet. Wir scheinen also doch irgendwie recht gehabt zu haben. Es kommt alles viel zu spät ans Licht, und unterdessen haben viele Bürger das Vertrauen in das Staatswesen komplett verloren. Man kann es nur sehr schwer zurück gewinnen. Regie: Musik, übergehend in Atmo, A 2 Autorin (auf Musik/ Atmo): Schauen wir es uns ein bisschen genauer an, dieses beschädigte Staatswesen. Ich überlasse Giancarlo De Cataldo seinem Richteramt und den Recherchen für seinen nächsten Roman. Es geht an chinesischen Touristengruppen mit grünen Schirmmützen vorbei in Richtung Piazza Repubblica, zu den Carabinieri. Die Carabinieri sind die Gendarmerie Italiens, ausgerüstet mit einem starken Corpsgeist. Roberto Riccardi, Jahrgang 1966, Generaloberst der Carabinieri, präsentiert sich in Zivil, aber mit blau gestreifter Krawatte, ein schmaler, zäher Typ. Er kultiviert eine große Leidenschaft für Literatur und führt mich als erstes in ein Restaurant. Conrad, Kundera, die Krimis von Camilleri! Der Grund für seine Berufsentscheidung war dann auch ein Buch: Leonardo Sciascias berühmter Roman Der Tag der Eule von 1961, in dem ein norditalienischer Carabiniere nach Sizilien geschickt wird und es mit der Mafia zu tun bekommt. Genau wie Sciascias Held ging auch Riccardi nach Sizilien, mit 22 Jahren. Palermo war damals Schauplatz des großen Mafia-Prozesses unter dem Vorsitz des Untersuchungsrichters Giovanni Falcone. Im Mai 1992 zerbrach die Hoffnung auf einen Neuanfang. O-13 mit Restaurantatmo /O-Ton Roberto Riccardi (wie Atmo behandeln)/ Sprecher 2 Ich war dort, als die Nachricht von dem Anschlag auf Falcone über Funk mitgeteilt wurde, ich saß in einem Streifenwagen und raste sofort zum Krankenhaus. Falcone wurde kurz darauf eingeliefert. Dann traf sein Freund und Kollege Paolo Borsellino ein, den die Mafia ja sechs Wochen später ebenfalls umbringen sollte. Ich kannte beide gut. Wir hatten die Bedrohung schon gespürt, denn im Februar war das Urteil des großen Mafiaprozesses in letzter Instanz bestätigt worden, und zum ersten Mal in der italienischen Geschichte gab es drastische Gefängnisstrafen. Ich fuhr dann auch zum Tatort. Diese komplett zerborstene Autobahn habe ich noch vor Augen… Wir fühlten uns wie im Krieg. Aber ich wollte genau das, ich wollte dort sein. Regie: A2/ A3 (A 3 kann man vielleicht aufpeppen) Autorin (weiter auf Atmo, Restaurant, Riccardi, unten Atmowechsel): Nach sechs Jahren an vorderster Front gab es Drohungen. Riccardi musste weg aus Sizilien und ging an den nächsten Brennpunkt: nach Kalabrien, wo die Ndrangheta, heute die stärkste Fraktion unter den mafiösen Vereinigungen, verankert ist. Dort blieb er weitere fünf Jahre. Wir sind schon beim Espresso, als wir auf seine Bücher zu sprechen kommen. Riccardi leitet den Verlag der Carabinieri, den er mir zeigen will. (ATMO) Sachliche Büros mit blauen Trennwänden, nur bei Riccardi hängen Bilder an der Wand, ein paar Carabinieri-Porzellanfiguren stehen auch herum. Seine Erfahrungen als Ermittler fließen ein in seine Bücher. O-14, O-Ton Riccardi (over voice)/ Sprecher 2 Ich habe auch verdeckt gearbeitet, ja. Wer meine Krimis liest, bemerkt, wie realistisch sie sind. Es geht um das psychische Unwohlsein desjenigen, der undercover ermittelt. Jeder denkt bei diesem Job immer an Risiko, an Action, aber vor allem erlebt man eine Persönlichkeitsverdoppelung, man muss sich über einen langen Zeitraum den Menschen gegenüber, mit denen man zu tun hat, komplett verstellen. Erst gewinnt man ihr Vertrauen, aber dann kommt der Moment, in dem man zeigt, wer man eigentlich ist und die Handschellen zuschnappen. Da fühlt man sich schon als Verräter. Der andere schaut dir in die Augen und sagt, na, dann war das also alles gespielt. Schließlich gab es eine menschliche Beziehung. Du musst dir innerlich schon sehr sicher sein, dass das, was du tust, richtig ist und es deine Pflicht ist. Nur diese Überzeugung gibt dir in diesen Momenten Halt. Regie: Musik, Mingus, Track 4, ab 0‘10 Zitator (auf Musik): „Signor Cadorna, darf ich Ihnen den Träger des Ordensritterkreuzes vorstellen?“ Diego reicht Cadorna mit einem halben Lächeln die Hand. „Es ist mir eine Ehre. Ich habe schon viel von Ihnen gehört.“ „Ich auch“, erwidert der Neuankömmling, ein Mann um die vierzig mit einem runden, gutmütigen Gesicht. „Wir sind im Begriff, ein glänzendes Geschäft abzuschließen.“ Die beiden kommen gleich auf das Wesentliche zu sprechen, während der Rechtsanwalt dem Kellner ein Zeichen gibt und sich umschaut, tatsächlich aber kein Wort der Unterhaltung versäumt. „Es hätte längst unter Dach und Fach sein müssen“, klagt Diego, die Nummer zwei der Führungsspitze der Zetas, und betont jedes einzelne Wort, „aber es gab Schwierigkeiten.“ „Das wurde mir zugetragen. Zuerst hat sich der Kommissar von der Anti-Drogen-Behörde eingemischt, dann haben sie unseren Mann bei der Polizei Mazzaferro festgenommen.“ „Aber jetzt ist alles gelöst“, schneidet Diego ihm das Wort ab. „Wir haben einen neuen Kontakt, der es uns erlaubt, Ihnen die Ware schnell zu liefern.“ Der Gast merkt auf. „Darf ich fragen, um wen es sich handelt?“ „Einen Oberstleutnant der Carabinieri, der die Löschung der Ladung überwacht.“ „Interessant… Für seine Zuverlässigkeit garantieren Sie?“ Cadorna Fernández deutet ein Lächeln an. „Wenn die italienischen Bullen so bezahlt werden wie die Mexikaner, ist das Geld, das wir ihnen anbieten, die beste Garantie. Wir kümmern uns natürlich. Morgen treffe ich den Oberstleutnant, ab da werden wir ihn überwachen.“ „Gut“, kommentiert der Mann von der Ndrangheta nach einem Moment des Schweigens. Autorin: Der vermeintlich korrupte Polizist Rocco Liguori, der Held in Riccardis Roman Undercover, soll herausfinden, was mit seinem verschwundenen Vorgesetzten passierte. Geschickt arrangiert Roberto Riccardi sein Personal, Mexiko-City und eine Koka-Plantage sind ebenso Handlungsorte wie Rom, die Costa del Sol und Kalabrien. In Rocco Liguoris Spezialeinheit scheint jemand ein doppeltes Spiel zu treiben, die Geschichte dreht sich ein paar Mal, gut und böse sind keine eindeutigen Kategorien. O-15, O-Ton Roberto Riccardi (over voice)/ Sprecher 2 Meine Bücher stehen in der Tradition des Noir, der Schluss ist nie tröstlich. In Deutschland spricht man, soweit ich weiß, meistens von Krimis. Wir unterscheiden zwischen dem klassischen Krimi, dem giallo, benannt nach der ersten italienischen Krimireihe des Verlagshauses Mondadori von 1929 mit dem gelben Einband, und dem Noir. Im giallo passiert ein Verbrechen, ein Polizist oder Detektiv ermittelt, der Roman endet mit der Lösung des Falls. Im Noir ist das nicht so, die Geschichte hat viele dunkle Facetten und kann ebenso gut aus der Perspektive des Täters geschildert werden. Ich bin auf dieser Schiene. Der Noir scheint mir besonders geeignet, die Wahrheit zu vermitteln. Autorin: Durch seinen Beruf sind ihm die abgründigsten Sphären vertraut. Roberto Riccardi kennt Mexiko, Kolumbien und Spanien aus seiner Zeit als Ermittler, er war an mehreren Festnahmen in Mannheim beteiligt, von wo aus die Ndrangheta die Vertriebswege organisierte. Als jemand, der jahrelang seine Haut riskiert hat, müssen die Vorwürfe gegen den Ex-Minister Scajola, der schließlich auch sein ehemaliger Dienstherr war, einen besonderen Beigeschmack haben. O-16, O-Ton Roberto Riccardi (over voice)/ Sprecher 2 Ich will mich nicht auf einen konkreten Fall beziehen, da bleibt der Gerichtsprozess abzuwarten. Grundsätzlich gerät man natürlich schon in innere Konflikte, wenn Personen aus den Institutionen selbst im Spiel sind. Aber man macht weiter, einfach aus Überzeugung. Es mag einen korrupten Repräsentanten geben, doch dem stehen viele andere gegenüber, die ihre Pflicht tun. Ich habe in den elf Jahren in Sizilien und Kalabrien viel erreicht, weil mich meine Mitarbeiter komplett unterstützt haben, und die Mehrheit war von dort. Ich habe damals sofort begriffen, dass ich aufpassen musste und nicht jedem vertrauen durfte, aber gerade auf die Leute aus der Gegend war Verlass. Sie waren bestens mit der Mentalität vertraut und dennoch nicht davon durchdrungen, hatten Lust und Mut, gegen sie zu kämpfen. Borsellino sagte in seinen letzten Monaten häufig, wer keinen Mut hat, gegen die Mafia zu kämpfen, stirbt jeden Tag. Autorin: Der Richter musste allerdings tatsächlich mit dem Leben bezahlen. Seither hat sich einiges geändert. Riccardi erzählt von den Festnahmen der flüchtigen Bosse, von widerständigen Geschäftsleuten, die kein Schutzgeld bezahlen und davon, dass auf den konfiszierten Landgütern der Mafiosi heute Gemüseanbau betrieben wird. Einer der gefragtesten Sizilianer Italiens schaut von der Wand hinab, wo ein Bild von ihm hängt, er hat eine Kolumne in der Monatszeitschrift der Carabinieri: Andrea Camilleri. Mit seinem Commissario Montalbano begann 1994 die neue Welle des italienischen Kriminalromans. Riccardi lässt Grüße ausrichten, und es geht quer durch Stadt zurück nach Prati. Der alte Herr erwartet mich, die unvermeidliche Zigarette zwischen den Fingern. Regie: Musik, Gomorrha Track 10, Intro, unter Autorin einblenden O-17, O-Ton Camilleri (over voice)/ Sprecher 1 Dieses zwanzigjährige Jubiläum von Montalbano passt mir gar nicht. Wir hatten schließlich zwanzig Jahre Mussolini, zwanzig Jahre Berlusconi, also, ich weiß nicht.… Autorin: In diese Reihe gehört Montalbano sicherlich nicht… Camilleri ist mittlerweile 89 Jahre alt, die man ihm nicht anmerkt, nur sein früher so mächtiger Körper ist ein bisschen schmaler geworden. Immer noch steht er im Morgengrauen auf und schreibt ein paar Stunden an seinem neuen Fall. O-18, O-Ton Camilleri (over voice)/ Sprecher 1 Als Polizist geht es Montalbano einzig und allein um die Wahrheit. Ob die dann mit dem übereinstimmt, was in einem Gerichtsprozess als Wahrheit herauskommt, interessiert ihn weniger. Aber er hat einen sehr starken Sinn für den Staat, das unbedingt. Den Staat verstanden als Gemeinwesen von Menschen mit denselben Interessen und Idealen. Das ist der Motor, der ihn antreibt und ihn dazu bewegt, sich bestimmten Anordnungen zu widersetzen, wenn sie nicht mit seinen Vorstellungen des Respekts gegenüber dem Staatswesen übereinstimmen. Zitator: „Livia, da gibt’s nicht mehr viel zu reden. Wir haben in den letzten Monaten doch so oft darüber gesprochen. Ich bin fest entschlossen.“ „Wozu denn?“ „Ich kündige. Morgen gehe ich zum Quästor; Bonetti-Alderighi wird sich freuen.“ Livia antwortete nicht sofort, und Montalbano glaubte, die Verbindung sei abgebrochen. „Livia? Bist du noch dran?“ „Ich bin noch dran. Salvo, ich halte es für einen Riesenfehler, so zu gehen.“ „Was meinst du mit so?“ „Wütend und enttäuscht. Du willst die Polizei verlassen, weil du dich fühlst, als hätte dich ein dir naher Mensch verraten, und deshalb…“ „Livia, ich fühle mich nicht verraten. Ich bin verraten worden. Hier geht’s nicht um Gefühle. Ich habe meinen Beruf immer mit Anstand ausgeübt. Als Ehrenmann. Wenn ich einem Kriminellen mein Wort gegeben habe, habe ich es auch gehalten. Und dafür respektiert man mich. Das ist meine Stärke, verstehst du? Aber jetzt reicht’s mir, ich hab die Schnauze voll!“ „Bitte schrei nicht“, sagte Livia mit zitternder Stimme. Montalbano hörte sie nicht. In ihm war ein Geräusch, als finge sein Blut gleich an zu kochen. Er fuhr fort: „Nicht mal dem schlimmsten Verbrecher habe ich falsche Beweise untergeschoben! Nie! Damit hätte ich mich ja auf sein Niveau begeben. Dann wäre meine Arbeit als Bulle zu einem Drecksgeschäft geworden! Stell dir das mal vor, Livia! Nicht irgendein unterbelichteter, gewalttätiger Polizist hat die Schule beim G8 in Genua überfallen und irgendwelche Beweise fabriziert, da waren Polizeipräsidenten und stellvertretende Polizeipräsidenten, Hauptkommissare und Inspektoren mit von der Partie!“ Regie: Musikakzent, Mingus, Track 6, ab 0‘11 O-19, O-Ton Andrea Camilleri (voice over)/ Sprecher 1 Es ist sehr schwer, sich von einem so großen Erfolg, wie ich ihn mit Montalbano habe, wieder zu verabschieden. Man braucht Mut und viel Kraft. Diese Kraft besitze ich nicht. Auch der neue Fall ist wieder auf der Bestsellerliste gelandet. Das ist natürlich wichtig. Es erlaubt mir, einer großen Masse von Leuten bestimmte politische und soziale Ideen unterzujubeln. Ich betätige mich als Ideenschmuggler. Autorin: Noch jagt der sympathische Sizilianer, der ein großer Gourmet ist und eine Vorliebe für schöne Frauen hat, die Täter. Andrea Camilleri hat den allerletzten Montalbano schon geschrieben, er liegt bei seinem Verlag Sellerio unter Verschluss. Der hochbetagte Schriftsteller bezieht in seinen Romanen klare Positionen und geht mit den Repräsentanten der Macht streng ins Gericht. Als er vor einigen Jahren den 2001 durch die Polizei verschuldeten Tod eines jungen Mannes bei den G8-Protesten in Genua angeprangert hatte, lud man ihn zu einem Treffen der Polizeigwerkschaft ein. O-20, O-Ton Camilleri (voice over)/ Sprecher 1 Damals hatten wir eine äußerst produktive Diskussion geführt und am Ende festgehalten, dass es gerade bei der Polizei darum gehen muss, die Demokratie instand zu halten, und zwar täglich. Allerdings hat die Polizei inzwischen erneut einige junge Leute auf dem Gewissen, und es kam kürzlich zu widerlichen Solidaritätsbekundungen mit den verurteilten Polizisten. Es wäre also dringend an der Zeit, an die Werte der Demokratie zu erinnern. Ich wiederhole das Adjektiv: was dort passierte, war widerlich. Es kann nicht sein, dass ein Bürger, der in die Hände der Polizei gerät, hinterher tot ist. Die Polizisten tragen Verantwortung für diese Person, sie wurde ihnen anvertraut. Daran gibt es nichts zu rütteln. Autorin: Francesco Aldrovandi hieß der 18jährige, der 2005 in Bologna bei einer Polizeikontrolle ums Leben kam. Im April 2014 gab es bei einer Gewerkschaftsversammlung stehende Ovationen für die Polizisten, die für den Tod von Aldrovandi schuldig gesprochen worden waren. Regierungschef Renzi beeilte sich, den Familienangehörigen sein Bedauern für den Vorfall auszudrücken. Kein Wunder, dass junge Leute mitunter an den staatlichen Einrichtungen zweifeln… Die Popularität der Krimis könnte auch Ausdruck eines großen Mangels sein: Nicht nur an Rechtsbewusstsein, auch an Fürsorge von Seiten der Institutionen. O-21, O-Ton Camilleri (voice over)/ Sprecher 1 In Italien sind Krimis unglaublich erfolgreich. Es gibt sogar neue, wichtige Vertreter des Genres. Dieser Neapolitaner de Giovanni ist richtig gut. Was ich von ihm gelesen habe, gefällt mir sehr. Er hat eine Serie erfunden, die während des Faschismus spielt, und darüber gelingt es ihm zu vermitteln, was der Faschismus war, wie er sich auf die Verhaltensweisen niederschlug. Das ist sehr spannend. Heutzutage verstecken sich im Krimi historische Romane, Sozialreportagen, alles. Regie: Musik, Mingus, Track 7, Intro Autorin (auf Musik) Also: Ein Abstecher nach Neapel. Hier gibt es alles: Plätze, die sich wie riesige Muscheln öffnen, Gemälde von Caravaggio, Giftmüll im Boden, die Camorra und eine atemberaubende Küste O-22, O-Ton Maurizio de Giovanni (voice over)/ Sprecher 1 Neapel steht wie immer am Abgrund, aber bleibt unsterblich. Neapel ist todkrank und gleichzeitig ein großartiger Ort. Übrigens bin ich überzeugt davon, dass sich die Stadt gerade wieder erholt und vor einer Renaissance steht. Regie: Atmo, A 5 Autorin (auf Atmo): Maurizio de Giovanni ist groß und breit und bewegt sich mit der Selbstverständlichkeit eines Ureinwohners durch die Gassen der Quartieri spagnoli. Über die Via Toledo geht es in die 1870 gebaute Einkaufspassage Galleria Umberto in ein Café. Der ehemalige Wasserball-Nationalspieler arbeitete bis vor kurzem in einer Bank. Seine Stadt kennt er in und auswendig. O-23, O-Ton Maurizio de Giovanni (voice over)/ Sprecher 1 Anders als andere Städte hat Neapel kein Zentrum, das von bürgerlichen Wohnvierteln umgeben wäre, die dann in Vorstädte übergehen mit noch ärmeren Außenbezirken. Hier hat jedes Viertel ein schwarzes Herz. In Neapel liegt die Peripherie mitten im Zentrum, auf engstem Raum trifft alles aufeinander. Sozial ist das ein Problem, aber erzählerisch birgt es ungeheure Möglichkeiten, denn man kann ganz unterschiedliche Gesellschaftsschichten aufeinander beziehen, Leute, die verschiedene Sprachen sprechen, ein komplett anderes Wertesystem haben und vollkommen anders leben. Daraus lassen sich Funken schlagen – was das kriminelle und das erzählerische Potenzial angeht, ist es großartig. Autorin: Mit Ende vierzig erfand de Giovanni seinen Commissario Ricciardi: Ein aufrechter Polizist, der mitten im Faschismus stur seinem Beruf nachgeht, ohne Rücksicht auf politische Empfindlichkeiten. Die Serie eroberte die Bestsellerlisten, de Giovanni hing seinen Job in der Bank an den Nagel und dachte sich einen zweiten Ermittler aus. Lojacono, gebürtiger Sizilianer, ist im Neapel von heute unterwegs. O-24, O-Ton Maurizio de Giovanni (voice over)/ Sprecher 1 Eine derartig komplexe Wirklichkeit wie die neapolitanische kann nur von einem anderen Süditaliener durchschaut werden, der aber nicht von hier sein darf. Als Neapolitaner ist man zu sehr Teil des Ganzen, es ist so, als müsse man den Charakter eines Hauses aus dem Inneren eines einzelnen Zimmers heraus beurteilen. Und Norditalienern bleibt Neapel auch fremd, sie finden nicht in unseren Rhythmus hinein. Aber wer wie Lojacono aus dem Süden kommt, kann die Stadt begreifen. Lojacono ist ein besonderer Fall, denn er hat wegen übler Nachrede alles verloren. Angeblich hat er der Mafia Informationen zugespielt, seine Frau hat ihn rausgeschmissen, seine Karriere ist zerstört, er ist auf einen Schlag alles los, Familie, Freunde, seine alte Stelle, Zukunft, Vergangenheit und Gegenwart. Er findet sich also in Neapel wieder, in einer anderen Wirklichkeit, aber er ist immer noch ein Polizist und beherrscht seinen Beruf. Er kann Verbrechen erkennen, rekonstruieren und analysieren. Regie: Musikakzent, Mingus, Track 9, ab 0‘33 Zitator (auf Musik): Es hatte gerade erst aufgehört zu nieseln, eine dünne Schicht Schlamm, den der Regen hervorgespült hatte, überzog den Boden. Lojacono trat zu dem bäuchlings daliegenden Körper, vorsichtig, um keine Spuren zu verwischen – obwohl er auf den ersten Blick keine erkennen konnte -, und hockte sich daneben. Die Einschussstelle befand sich direkt unterhalb des Haaransatzes. Die Frisur war frisch geschnitten und ausrasiert, wie es der Mode entsprach. (MUSIK WEG) Das Loch war sauber, winzig, ein Kleinkaliber, schätzte er. Der Junge hielt den Mopedschlüssel noch in der Hand. Er hatte es nicht mehr geschafft, die Kette anzulegen, deren Vorhängeschloss vom Hinterreifen herabbaumelte. Der Inspektor hob den Blick und bemerkte einen dunklen Hohlraum neben der Toreinfahrt, der auf eine irgendwann einmal vorgenommene Verbreiterung hindeutete. Er schaute zu Boden und entdeckte die Patronenhülse. Eine einzige. Er zog sein Stofftaschentuch hervor und nahm sie auf. Das Läuten eines Martinshorns durchschnitt die Nacht, und ein zweiter Streifenwagen kam angefahren, dicht gefolgt von einem dritten. Plötzlich war der Hof voller Polizisten. Autorin: Sein neuer Vorgesetzter schickt ihn zurück aufs Revier, aber die sardische Staatsanwältin Piras ist von der Kombinationsgabe des stoischen Sizilianers beeindruckt, und sie betraut ihn mit dem Fall. Maurizio de Giovanni nimmt klassische Elemente des Krimis spielerisch auf, wirbelt sie durcheinander und baut sie nach einer ähnlich zwingenden Mechanik wieder zusammen, wie sie auch Lojacono bei der Aufdeckung des Verbrechens benutzt. O-25, O-Ton Maurizio de Giovanni (voice over)/ Sprecher 1 In Neapel akzeptiert man Illegalität. Man toleriert sie, auch im Alltag. Wenn ich auf einer Einbahnstraße entlang fahre, und nach einem Drittel der Straße kommt mir jemand entgegen, der sie in die falsche Richtung hinunter fährt, setze ich zurück, obwohl ich recht habe, ganz einfach weil ich denke, es ist einfacher für mich als für den anderen. So ist meine Stadt. Man toleriert illegale Praktiken, was falsch ist, einem aber hilft, zu überleben. Ein Polizist aus dem norditalienischen Monza, der hier eine Weile arbeitete, erzählte mir, er habe eines Tages ein Mofa angehalten. Es war eine dieser kleinen Maschinen, ohne Nummernschild und mit fünf Leuten drauf, eine ganze Familie. Die fragten ihn: „Aber warum halten Sie uns denn an, wir haben doch jeder einen Helm auf!“ Autorin: Wir fahren ohne Helm, aber auch ohne Mofa zum Bahnhof. Es geht in den Norden, nach Venetien. Padua, oder Pa-Tre-Ve, wie die Region genannt wird, Padua, Treviso, Venezia, galt immer als Motor des italienischen Bruttoinlandsprodukts. Regie: Musik, Mingus, Track 9, ab 0‘33 Autorin (auf Musik): Die flache Landschaft ist zersiedelt, ein Gewerbegebiet geht in das nächste über. Jahrzehntelang arbeiteten hier Heerscharen von Afrikanern und Chinesen, oft ohne Verträge. Heute stehen die funktionalen Fabrikgebäude längst leer, die meisten Betriebe lassen in Rumänien und Moldawien fertigen. O-26, O-Ton Massimo Carlotto (voice over) (mit Atmo im Hintergrund)/ Sprecher 2 Die Familien, die in den Ortschaften alles in der Hand hatten, wie zum Beispiel die Benettons, haben vor allem ihre Kontakte mit dem Ausland gepflegt, sich mit der Politik arrangiert, ihr Business gemacht. Für diese Gebiete hier haben sie weder Verantwortung übernommen, noch sich sonst irgendwie engagiert. Es gibt Firmen, die überhaupt nie ihre Umsätze versteuert haben. Rein steuerlich sind sie Geisterwesen. Allein in Venetien gehen dem Staat dadurch pro Jahr 3 Milliarden Euro verloren. Die Finanzpolizei gab diese Summe vor ein paar Monaten bekannt. Die Folgen sind fatal. Kleinere Krankenhäuser müssen schließen, die Schulen sind eine Katastrophe. Außerdem schleicht sich über die Steuerhinterziehung die Camorra ein. In der Gegend um Venedig hat die Camorra es geschafft, immer mehr Bürgermeister zu installieren. Sie kommen mit Koffern voller Geld an, finanzieren Fußballclubs, waschen ihr Geld, kaufen Unternehmen, etablieren sie wieder auf dem Markt. Aber Chefs sind jetzt sie. Regie: Atmo, A6 Autorin (auf Atmo): Wir sitzen mit Massimo Carlotto in einem Café in Padua, wo der Schriftsteller 1956 geboren wurde und inzwischen wieder zu Hause ist. Es ist elf Uhr vormittags, unter den älteren Herrschaften Zeit für den ersten Spritz. Ein paar Studenten feiern ihren Universitätsabschluss. Massimo Carlotto hat eine regelrechte Carlotto-Gemeinde. Auch er hängt dem Noir an, arbeitet mit temporeichen Perspektivwechseln. Seine düsteren Geschichten basieren auf gründlich recherchierten Fakten. O-27, O-Ton Carlotto (mit Atmo) (voice over)/ Sprecher 2 Die illegale Wirtschaft vermischt sich bei uns überall mit der legalen. Die Sache läuft so: Die Mafia macht dir einfach den besten Preis, und zwar für alles. Von Autobahnen bis zum Hausbau. Du hast ein Problem mit Asbestentsorgung? Sie kommen, haben ihre Firmen und bieten dir den Service günstig an. Allerdings wird der Asbest nicht entsorgt, sondern unter einer Autobahn vergraben. Regie: Atmo, A6 Autorin (auf Atmo): Massimo Carlotto, der trotz seiner massigen Gestalt sehr sanftmütig wirkt, hat einiges hinter sich. Sein Schicksal zählt zu den spektakulärsten Fällen der italienischen Justizgeschichte. Er ließ sich nicht klein kriegen, und auch deshalb ist er heute so etwas wie ein Held. Die Politisierung war Mitte der siebziger Jahre in Padua nach den furchtbaren stragi di stato, den geheimdienstlich unterstützten, neofaschistischen Terroranschlägen, besonders radikal. Der damals neunzehnjährige Carlotto gehörte zur linksextremen Lotta continua. Im Januar 1976 fand er eine junge Frau auf, die an neunundfünfzig Messerstichen zu verbluten drohte, rannte zur nächsten Carabinieri-Station, erstattete Meldung – und geriet unter Mordverdacht. Aus Mangel an Beweisen folgte 1978 ein Freispruch, der einige Monate später aufgehoben wurde. Achtzehn Jahre Zuchthaus lautete nun das Urteil. Nach der Ablehnung des Revisionsantrags floh Carlotto nach Frankreich, tauchte unter und setzte sich von dort nach Mexiko ab, wo er endgültig eine neue Identität annehmen wollte. Sein Anwalt verpfiff ihn bei der Polizei, er landete im Gefängnis, stellte sich der italienischen Justiz und kehrte 1985 nach Italien zurück. Elf Prozesse und sechs Jahre Haft brachte der Schriftsteller hinter sich, sechsundachtzig Richter und fünfzig Gutachter waren mit dem caso Carlotto befasst, dessen Akten mehrere Kisten füllen. 1993 wurde er vom damaligen Staatspräsidenten begnadigt. O-28, O-Ton Massimo Carlotto (voice over)/ Sprecher 2 Ich habe im Gefängnis angefangen, Krimis zu lesen, einfach um mich zu amüsieren. Es war eine tröstliche Lektüre. Die italienischen Gefängnisse sind auf jeden Fall besser als die mexikanischen. Ich saß sowohl in den normalen Strafsicherheitsanstalten als auch in den Hochsicherheitsgefängnissen. In Italien hat man zwischen Terroristen und Leuten von der Lotta continua nicht unterschieden, es war alles dasselbe. Aber wenn ich diese Erfahrung nicht gemacht hätte, würde ich heute nicht meine Romane schreiben, denn ich habe dort Leute kennengelernt, die mir erklärt haben, wie die Welt der Kriminalität funktioniert. Die Zeit im Gefängnis war natürlich extrem schwierig. Es kam zu harten, internen Auseinandersetzungen. Ich war sehr engagiert, habe mich für die Strafreform eingesetzt und gegen die kriminelle Logik im Knast Front gemacht. Zum Glück habe ich dort jemanden kennen gelernt, der in der norditalienischen Unterwelt eine wichtige Rolle spielte, Milamilo Rossini. Später habe ich aus ihm eine Figur in meiner Alligatorserie gemacht. Er war der Schlüssel, um in diese Sphäre irgendwie einzudringen, er hat im Gefängnis für mich Partei ergriffen. Regie: Atmo, A7 Autorin (auf Atmo): Wir schlendern ein bisschen durch Padua. Piazza della Signoria, Piazza della frutta, Piazza delle erbe. Das alte Rathaus Palazzo della Ragione ist ein prächtiges Renaissancegebäude, aber direkt davor wurden Hinrichtungen zelebriert. Absolut passend für Krimis, meint Massimo Carlotto. Genau hier beginnen die meisten Geschichten, in die sich sein Privatdetektiv Marco Buratti, genannt der Alligator, verwickelt. Regie: Musik, Gomorrha, Track 3, Intro Zitator (auf Musik): „Du bist also der Alligator.“ Sein Italienisch war perfekt, verriet aber dennoch den Ausländer. Der Typ war nicht irgendein Angeber, aber was er war, stand leider nicht in seinem Gesicht geschrieben. Ein Bulle, ein Mafioso, ein Söldner oder ein Angehöriger des Geheimdienstes, schwer zu sagen. Ich beschloss, mich weiter dumm zu stellen. Das gelang mir an dem Tag besonders gut. „Ab heute arbeitest du für mich.“ „Na, das ist doch mal eine gute Nachricht“, prustete ich. „Ich frag mich schon die ganze Zeit, wann endlich der Märchenprinz kommt.“ „Brauchst du einen Kuss, um aufzuwachen?“ „In welchem Märchen sind wir denn?“ Er schüttelte den Kopf. „Ich engagiere dich für die Ermittlungen nach dem Rauschgift, das sie im Rechtsmedizinischen Institut gestohlen haben.“ „Da bist du an der falschen Adresse.“ Dasselbe Lächeln. Der Typ hatte keine Phantasie. „Du und die beiden anderen, die mit dir arbeiten, fragt euch durch, bis ihr wisst, wer den Haufen Stoff beiseite geschafft hat. Natürlich werdet ihr gut bezahlt.“ O-29, O-Ton Massimo Carlotto (voice over)/ Sprecher 2 Marco Buratti ist ein ehemaliger Gefängnisinsasse. Er hat unschuldig eine Reihe von Jahren verbüßt, weil man ihn in eine Terrorismussache hinein gezogen hatte. Seither dreht sich bei ihm alles um die Wahrheit. Als er raus kam, ließ er sich von Rechtsanwälten engagieren, die wegen ihrer Verfahren einen Draht zur Unterwelt brauchten. Er wurde also ein Ermittler ohne Lizenz. Früher war er mal Bluessänger, er trinkt sehr viel Calvados in Erinnerung an eine Frau, die er in Frankreich verloren hat, er ist ein spezieller Typ, mit Abgründen, und er ist getrieben von dem Drang, immer die Wahrheit herausfinden zu müssen. Bei seinen Nachforschungen bringt er sich dauernd in Schwierigkeiten, und zum Glück hat er einen Freund, Beniamino Rossini, den er noch aus dem Gefängnis kennt, der ihm in solchen Fällen hilft. Es gibt einen weiteren Kumpel, Max la memoria, Max, das Gedächtnis, einer aus der außerparlamentarischen Opposition, der die Manie hat, immer nach Gegendarstellungen zu fahnden. Er sammelt dauernd Material über diejenigen, die an der Macht sind und hilft damit dem Alligator bei seinen Recherchen auch häufig weiter. Regie: Atmo, A8 Autorin (auf Atmo): Es ist Zeit für die Stammkneipe des Ermittlers, die es auch in Wirklichkeit gibt und einem Freund von Carlotto gehört; sie liegt in einer der kleinen Gassen des alten Ghettos. Selbst mittags drängeln sich die Leute an der Theke bei Prosecco aus der Gegend und Antipasti. Massimo Carlottos aufklärerische Haltung hat durchaus Folgen; eines seiner Bücher über Umweltschäden auf Sardinien wird gerade dauernd in einem Gerichtsprozess zitiert. Venetien ist das Stammgebiet der populistischen Lega Nord. O-30, O-Ton Massimo Carlotto (voice over)/ Sprecher 2 Es gab hier bis vor kurzem in vielen Cafés die Sitte, das Symbol der Lega auf die Kasse zu kleben. Das hieß, dass du als Patriot darauf verzichten solltest, dir einen Kassenzettel als Beleg geben zu lassen, der Wirt steckte den Betrag so ein. Eine Bar hier am Stadtrand, in die ich oft ging, hatte so einen Aufkleber. Als ich neulich bei einer Lesung hier im Nordosten von der Geldwäsche der Camorra in Venetien sprach, stand ein Herr auf und sagte: „Ja und, warum hast du damit ein Problem?“ Nach dem Motto: Hier kommt zwar dreckiges Geld an, aber wenn es mit unserer Hilfe und unseren Unternehmen wieder sauber wird, ist das doch verdienstvoll. Ein Leser, einer meiner Leser, ein gebildeter Mann, nimmt diese Position ein. Das ist ein Zeichen der Zeit. Regie: Musik, Mingus, Track 10, ab 0‘40 Autorin (auf Musik): Teile des Bürgertums brechen weg, zwischen Recht und Unrecht wird nicht mehr genau unterschieden, was zählt sind Geschäfte. Auch der Bürgermeister von Venedig steht unter Hausarrest: Korruptionsverdacht, bei dem Hochwasserstaudamm floss viel Geld. Ein allgemeiner Zynismus bricht sich Bahn. Gleichzeitig beträgt die Jugendarbeitslosigkeit über 40 Prozent, im Süden liegt sie noch höher. Und was passiert mit den jungen Leuten? Meine letzte Station ist Mailand. Es geht in die Außenbezirke, Via Padova, eine schnurgerade Straße, auf der Araber, Schwarzafrikaner und Inder unterwegs sind. Die prosperierende Hauptstadt der Lombardei galt immer als Inbegriff des modernen Italiens, bis im April 2014 gegen die Führungsspitze der Expo Haftbefehl erhoben wurde. Einige der Namen kennt man von Tangentopoli, dem Parteienfinanzierungsskandal vor zwanzig Jahren, der das gesamte politische System zum Einsturz brachte. Genutzt hat es wenig. Die Herren sind jetzt über achtzig und stehlen immer noch. Aber auch die Mittsechziger haben kein Interesse daran, die Gesellschaft zu verändern. Im Namen der Gerechtigkeit heißt das Debüt von Giorgio Fontana, das mit Elementen des Noir spielt. Der quirlige junge Mann ist Jahrgang 1981, promovierter Philosoph, und verdient sein Geld mit einem Job in einer Computersoftwarefirma. Regie: ev. Atmo Mailand einblenden unter Autorin O-31, O-Ton Giorgio Fontana (voice over)/ Sprecher 1 Roberto Doni ist ein gestandener Staatsanwalt von 65, der darauf wartet, die letzte Stufe seiner Karriere zu erklimmen, um auf einem ruhigen Posten auf die Pension zu warten. Als er gerade seinen letzten Prozess führt, kommt ihm diese 30jährige freie Journalistin namens Elena in die Quere, die ihm verklickert, dass der tunesische Angeklagte in Wirklichkeit unschuldig ist, man müsste also eigentlich die Anklage revidieren. Es geht um eine Schießerei bei der Via Padova, bei der ein Mädchen im Rollstuhl landete. Die Geschichte ist erfunden, aber sie beruht auf realen Geschehnissen. Natürlich nimmt Doni diese verrückten Behauptungen nicht im Entferntesten ernst. Die Journalistin verfolgt die Spur weiter, und Doni lässt sich irgendwie doch verwickeln in die Nachforschungen, die zwar nicht illegal sind, aber nicht den Regeln entsprechen und seine Karriere gefährden. Er wird gezwungen, sich eine Reihe von Fragen in Bezug auf die Gerechtigkeit zu stellen, jenseits des konkreten Falls. Was bedeutet es, Recht zu sprechen, was bedeutet Recht überhaupt. Fragen, die er sich mit 25 hätte stellen müssen. Zitator: Doni stand von seinem Stuhl auf und ging um den Schreibtisch herum. „Hören Sie“, sagte er. Wieder hatte er seinen Tonfall verändert. „Ihren, sagen wir, Gemeinsinn in allen Ehren und auch Ihr Engagement für diesen komplizierten Fall, doch es gibt Verfahrensregeln. Und dieses Gespräch verstößt gegen alle Vorschriften. Ich habe nicht die Absicht, es fortzusetzen.“ „Und warum nicht?“ „Das habe ich Ihnen doch gerade erklärt.“ „Aber ich sage die Wahrheit.“ „Das spielt keine Rolle.“ „Das spielt keine Rolle? Was spielt dann überhaupt eine Rolle?“ Doni seufzte. Er konnte nicht glauben, dass er bis an diesen Punkt gekommen war. „Die Justiz ist eine komplexe Maschinerie“, sagte er. „Sie arbeitet nach präzisen Mechanismen, und diese Mechanismen dürfen nicht ignoriert werden. Natürlich ist die Wahrheit das einzige Wichtige, allerdings nur, wenn sie alle vom Gesetz vorgeschriebenen Stationen durchlaufen kann. Es ist traurig, es ist schlimm, aber so ist es nun mal. Die Alternative dazu wäre das Chaos. Und jetzt bitte ich Sie…“ „Demnach gilt ein Mensch, der unschuldig ist, nur deshalb als schuldig, weil irgendwer nicht die Kraft hatte, Kopf und Kragen für ihn zu riskieren? Denn darum geht es hier doch, Dottore. Wenn meine Zeugen vor Gericht erscheinen, sind sie geliefert, so oder so. Es kommt heraus, dass sie keine Aufenthaltserlaubnis haben, und sie müssen zurück, oder aber der wahre Schuldige findet sie und bringt sie um. Doch wen juckt das schon, nicht wahr? Es sind ja bloß Kanaken!“ Doni stand der Mund offen. Regie: Musik, Gomorrha, Track 15, ab 0‘18 Autorin (auf Musik): Elena rechnet ab mit der saturierten Generation, die aus Italien das gemacht hat, was es heute ist. Sie kann sich kaum über Wasser halten, aber immerhin hat sie Ideale. Die junge Frau illustriert Giorgio Fontanas eigene Erfahrungen. Er und seine Altersgenossen schlagen sich durch, ohne jede Absicherung. Sie sind absorbiert vom Existenzkampf. O-32, O-Ton Giorgio Fontana (voice over)/ Sprecher 1 Es ist total hart. Ich glaube, es hat historische Gründe, weshalb es noch keine Rebellion gibt, oder anders ausgedrückt: Die Abwesenheit des Sozialstaates wird bei uns durch die Familien ausgeglichen. In der Generation nach meiner werden die Wogen hochschlagen. Denn wir können noch irgendwie mit den Ersparnissen unserer Eltern und Großeltern rechnen. Wir selbst haben aber keine Ersparnisse mehr. Die Lage ist wirklich gefährlich. Nicht nur auf politisch-sozialer Ebene, sondern auch, was die möglichen Folgen betrifft, denn man weiß ja: Wer sich völlig zerstört fühlt, fängt an, alles zu hassen und wirklich böse zu werden, der Schritt zur Gewalt klein. Es ist schlimm, noch schlimmer ist, dass überhaupt nichts passiert, um daran etwas zu ändern. Ich weiß wirklich nicht, was ich sagen soll. Regie: ev. Musik, Gomorrha Track 10 oder Track 4 Autorin: Viel Stoff für die Schriftsteller und viel Arbeit für ihre Helden. Montalbano, Lojacono, Rocco Liguori und all die Richter und Polizisten, die an ihrem Ethos festhalten. Sie sind zu moralischen Instanzen geworden. O-33, O-Ton Giorgio Fontana (voice over)/ Sprecher 1 In die Zukunft zu blicken, ist nicht gerade lustig. Es ist eher ziemlich beunruhigend. O-34, O-Ton Massimo Carlotto (voice over)/ Sprecher 2 Wir haben in Italien eine eindrucksvolle Anzahl von korrupten Politikern. Das zeigt, wie tief die Kriminalität in die Gesellschaft eingedrungen ist, aber nicht nur, es handelt sich um einen anthropologischen Wandel. Korruption ist heute für viele Teil der Normalität. O-35, O-Ton Roberto Riccardi (voice over)/ Sprecher 2 Mit einem Noir kann man folgendes ausdrücken: Wir gewinnen im Bereich der Kriminalität einige Kämpfe, aber der Krieg geht weiter. Hinweise zur Übersetzung: Titel des Werkes Autor Übersetzer Verlag Das kalte Lächeln des Meeres Andrea Camilleri Christiane von Bechtolsheim Lübbe, Bergisch Gladbach 2003 Zeit der Wut Giancarlo De Cataldo/ Mimmo Rafele Karin Fleischanderl Folio, Bozen 2012 Das Krokodil Maurizio De Giovanni Susanne Van Volxem Kindler, Hamburg 2014 Übersetzung der Zitate von Roberto Riccardi und der Interviews: Maike Albath 1