„Ich folge den Ablagerungen der Geschichte in mir“ Eine Lange Nacht über den israelischen Filmemacher Amos Gitai Autoren: Heike Brunkhorst und Roman Herzog Regie: Claudia Mützelfeldt Redaktion: Dr. Monika Künzel SprecherInnen: Renate Fuhrmann Volker Risch Josef Tratnik Nicole Engeln Uli Auer Sendetermine: Deutschlandfunk Kultur Deutschlandfunk __________________________________________________________________________ Urheberrechtlicher Hinweis: Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Jede Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in den §§ 45 bis 63 Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. © Deutschlandradio - unkorrigiertes Exemplar - insofern zutreffend. 1. Stunde Atmozuspiel (Filmanfang Berlin-Jerusalem) Klaviermusik, Explosionen, Schüsse, Sirenen, Radiostimmen auf Hebräisch, Helikopterrotor. Zuspiel (Amos Gitai) A: «I consider that I am a witness, you know. Since my position during the Kippur war, I find myself as a witness…» E: «…And I think, that it deserves a strong cinema, not complaisant, not caressing, but engaging with this history.» Sprecher Josef Tratnik Ich denke, seit dem Jom-Kippur-Krieg bin ich ein Zeuge, der aufgrund merkwürdiger Umstände überlebt hat, als mein Helikopter abgeschossen wurde. Ich bin extrem interessiert, fasziniert und verstört von diesem Land. Und ich denke, es braucht ein starkes Kino, kein schmeichelndes oder wohlgefälliges, sondern ein Kino, das sich mit der Geschichte Israels auseinandersetzt. Sprecherin Renate Fuhrmann Amos Gitai, ein israelischer Filmemacher, geboren 1950 in Haifa. Über 60 Spiel- und Dokumentarfilme in 40 Jahren Filmschaffen. Ein Star des Autorenkinos in aller Welt, in Deutschland weitgehend unbekannt. Kein studierter Regisseur, ein promovierter Architekt. Atmozuspiel (Filmanfang Berlin-Jerusalem) Zuspiel (Amos Gitai) A: « There are some events which, äh, definitely contributed to the fact that I stopped to be an architect …» E: «… It is an incredible strong stage to do good work, cinematic work, cultural work. So this is the attractive challenge.» Sprecher Josef Tratnik Einiges trug natürlich dazu bei, dass ich mit der Architektur nicht weitermachte, sondern Filmemacher wurde. Die Architektur hatte sich völlig von dem entfernt, was sie für mich sein sollte. Ich wollte nicht damit enden, Lobbys für Hilton-Hotels zu entwerfen. Zudem ist Israel ein fortwährend dramatisches Land. Daraus ergibt sich eine Reihe interessanter, widersprüchlicher und konfliktträchtiger Geschichten, um die du dich kümmern musst. Denn sie sind nicht leicht zu interpretieren. Es ist ungemein einfach, aus der Entfernung falsche Urteile über die eine oder die andere Seite zu fällen. In Wirklichkeit ist alles widersprüchlich. Das macht Israel zu einer attraktiven Bühne für gute Film- und Kulturarbeit. Sprecherin Renate Fuhrmann Amos Gitai begann nach dem Jom-Kippur-Krieg 1973 Filme zu drehen, nach einem Helikopterabsturz, den er überlebte. Er drehte Dokumentarfilme für das israelische Fernsehen, die nicht ausgestrahlt wurden, sondern der Zensur zum Opfer fielen. Mitte der 80er Jahre ging Amos Gitai ins Exil, in die Diaspora nach Paris und begann neben Dokumentarfilmen auch Spielfilme zu drehen. Zunächst verfilmt er das Buch Esther der hebräischen Bibel. Sprecher Josef Tratnik (Amos Gitai - Text - Architecte de la mémoire, Gallimard 2014, S. 64) Eines Tages sagte ich zur Überraschung vieler Freunde, ich möchte versuchen, einen Spielfilm zu drehen. Keinen naturalistischen Liebesfilm oder das Gegenteil über den Nahen Osten, sondern eine Art Gleichnis oder Metapher. Einige Bibeltexte sind außergewöhnliche Parabeln. Ich stimme Pier Paolo Pasolini zu: wir müssen uns diese Texte wieder aneignen, wie er es mit dem 1. Evangelium nach Matthäus getan hat. Man darf die Auslegung nicht nur den Reaktionären und Konservativen überlassen. Sprecherin Renate Fuhrmann Die Filmwissenschaftlerin Yael Munk Sprecherin Nicole Engeln (Yael Munk: Amos Gitai: Blick auf die blinden Flecken israelischer Identität, in: Munio Weinraub ׀ Amos Gitai: Architektur und Film in Israel, TU München, Edition Minerva 2009, S. 238) «Esther» stellt den ersten Versuch einer aussagekräftigen politischen Interpretation einer biblischen Geschichte im Kino Israels dar. Der Film erzählt von der Jüdin Esther, die den nicht-jüdischen König Achaschwerosch heiratet und dadurch ihrem Volk zum Sieg über seine Unterdrücker verhilft. Er spielt in den historischen Ruinen des Tals Wadi Salib, wo Gitai auch seinen israelischen Dokumentarfilm «Wadi» gedreht hatte, und zeigt orientalische «tableaux vivants». Aufgelöst werden dadurch die Grenzen zwischen Realität und Fiktion, zwischen Vergangenheit und Gegenwart. Und zugleich eröffnet der Film eine neue Sichtweise auf den Sieg der Juden über ihre Unterdrücker: Gitai stellt die Befreiung des eigenen Volkes als den Ausgangspunkt für einen endlosen Kreislauf von Gewalt dar. Sprecherin Renate Fuhrmann Der Architekturprofessor Richard Ingersoll. Sprecher Volker Risch (Richard Ingersoll - Gitai-Weinraub, Sohn-Vater… in: Munio Weinraub ׀ Amos Gitai: Architektur und Film in Israel, TU München, Edition Minerva 2009, S. 223) Ich besuchte Gitai 1985. Es waren keine rosigen Zeiten für seine Familie mit einem kleinen Kind. Sie lebten in einer engen Zwei-Zimmer-Wohnung in einem heruntergekommenen Teil des elften Arrondissements. Zu der Zeit arbeitete Amos hart an dem Drehbuch für «Esther». Die biblische Geschichte - die einzige, in der Gott nicht vorkommt - bot eine beunruhigende Analogie zu den damaligen Ereignissen in Israel, nach der Invasion im Libanon 1982. Die meisten Juden verbinden die Geschichte von Esther mit dem karnevalähnlichen Purim-Fest und der Erinnerung an die Befreiung aus der Unterdrückung. Den Schlussteil der Geschichte lassen sie dabei außer Acht, als Esther Rache an den Feinden ihres Volkes fordert. (Richard Ingersoll, a.a.O. S. 223) Angesichts der Tatsache, dass Amos' Filme vom Staat verboten wurden, war es wichtig, die Geschichte genau so zu erzählen, wie sie niedergeschrieben ist. Damit wäre die israelische Regierung gezwungen gewesen, die Bibel zu zensieren. Zuspiel (Amos Gitai) Sometimes, I think, it's very useful to attack the source of this and to tell them, «Hey guys, it's very nice that you have these strange hats in the middle of the summer from felt, but you don't really read the text, read the text.» Sprecher Josef Tratnik Manchmal ist es, glaube ich, hilfreich, das Ganze mit den Ur-Quellen anzugreifen und zu sagen, «Hört mal, schön und gut, dass ihr mitten im Sommer diese merkwürdigen Filzhüte tragt, aber ihr lest nicht wirklich den Text. Lest den Text!» Atmozuspiel (Filmausschnitt Esther) monotone Paukenschläge Sprecher Volker Risch (Die Schrift - Das Buch Esther: 9,1 - 9,2, 9,5, 9,16 - Gütersloher Verlagshaus 2007 S. 957f.) Im zwölften Monat aber, am dreizehnten Tag davon, an dem die Verfügung des Königs ins Geschehn gelangen sollte, am Tag, den die Feinde der Juden erwarteten, mit ihnen zu schalten - und es wandelte sich: der Tag wars, an dem die Juden mit ihren Hassern schalten durften - sammelten sich die Juden in allen Städten, in allen Gauen des Königs Achaschwerosch von Indien bis Äthiopien, Hand zu legen an sie, die nach ihrem Bösgeschick trachteten. Und niemand hielt ihnen stand, denn ihr Schrecken war auf alle Völker gefallen. Die Juden schlugen auf all ihre Feinde ein - Schwertschlag, Umbringen, Vernichten - taten ihren Hassern nach ihrem Willen. Die Juden brachten von ihren Hassern fünfundsiebzigtausend um. Sprecher Josef Tratnik (Amos Gitai in: Serge Toubiana: Exils et territoires. Le Cinéma d'Amos Gitai, ARTE Éditions Cahiers du Cinéma, Paris: 2003, S. 60) «Esther» wurde nur einmal im Kinomuseum in Tel Aviv gezeigt und man warf mir vor, die Bibel gefälscht zu haben. Die Rache ist aus dem kollektiven Bewusstsein Israels getilgt worden. Dort ist Esther eine Art Märchen mit Happy End. Mir wurde vorgeworfen, die Rache erfunden zu haben. Aber das steht wirklich im Text. Der Film wurde in Israel nie wieder gezeigt. Atmozuspiel Filmausschnitt/Musik: Simon Stockhausen: War of the sons of light against The Sons Of Darkness, Track: A Time for Musik (Hanna Schygulla) To everything there is a season, and a time to every purpose under heaven. Musik. Time to weep, time to laugh. Musik. Sprecherin Nicole Engeln (Die Schrift - Versammler 3,1 - 3,4, Gütersloher Verlagshaus 2007 S. 942f. - Übersetzung angepasst) Alles hat seine Stunde. Für jedes Geschehen unter dem Himmel gibt es eine Zeit: eine Zeit fürs Geborenwerden und eine Zeit fürs Sterben, eine Zeit fürs Pflanzen und eine Zeit fürs Entwurzeln der Pflanzen, eine Zeit fürs Weinen und eine Zeit fürs Lachen, eine Zeit fürs Töten und eine Zeit fürs Heilen. Zuspiel (Hanna Schygulla) Eines Tages kam ein Anruf, ob ich Else Lasker-Schüler spielen will. Sprecherin Renate Fuhrmann Hanna Schygulla. Zuspiel (Hanna Schygulla) Und dann hab ich so gerade raus, wie ich manchmal bin, ihm gesagt, «Ne, eigentlich nicht, von der finde ich manche Gedichte so furchtbar schwulstig». Hab' aber ganz vergessen, dass mir immer schon dieses «Es ist ein Weinen in der Welt, als ob der liebe Gott gestorben wär'» , das war immer schon eines der, der Gedichte, die eigentlich zu meinem Gedichtschatz gehören. Atmozuspiel (Filmausschnitt Berlin-Jerusalem) Lisa Kreuzer: «Es ist ein Weinen in der Welt, als ob der liebe Gott gestorben wär, und der bleierne Schatten, der niederfällt, lastet grabesschwer. Das Leben liegt in aller Herzen, wie in Särgen. Sprecherin Renate Fuhrmann Nach seinem ersten Spielfilm «Esther» dreht Amos Gitai 1989 «Berlin-Jerusalem» mit Lisa Kreuzer. Einen Film über die Poetin Else Lasker-Schüler die nach der Bücherverbrennung der Nationalsozialisten nach Palästina flieht, und über die aus Russland geflohene Revolutionärin Manya Wilbushewitch Shohat, Begründerin der Siedlerkollektive in Palästina Anfang des 20. Jahrhunderts. Gitai verschränkt im Film die Biografien beider Frauen. Der Berater am Zentrum Jüdische Studien Berlin/Brandenburg, Micha Brumlik. Zuspiel (Micha Brumlik) Das sind beides Frauen, denen es in den europäischen Herkunftsländern, Russland hier und Berlin dort, zum Leben aus unterschiedlichsten Gründen nicht mehr gereicht hat. Die deswegen wähnten in Israel/Palästina etwas ganz neues aufbauen zu können und - auch das zeigt Gitai - es endet in beiden Fällen entweder tragisch oder wenn man so will katastrophal. Bei Manya Wilbushewitch, dass sie als eine linke Revolutionärin in Berlin beginnt, dann aber in einer Art Kibbuzgemeinschaft endet, die sich dann schließlich den Krieg gegen die Araber auf die Fahnen geschrieben hat, also mit dem Spruch, «In Blut und Feuer ging Zion unter, in Blut und Feuer wird es wieder auferstehen». Und die letzten Einstellungen von «Berlin-Jerusalem», da sieht man Else Lasker Schüler durch Jerusalem laufen und dann plötzlich tauchen ganz anachronistisch, Autos auf, die nicht in diese Zeit gehören und am Ende ist es eine Einstellung in der Gegenwart und man hört dann Stimmen aus den Nachrichten und sonst wo, die von furchtbaren Konflikten, Attentaten und anderem sprechen. Atmozuspiel (Filmausschnitt Berlin-Jerusalem - Schlussplanfahrt) Klaviermusik, Schritte, Bombenexplosion, Feuer, Radionachrichten auf Hebräisch. Sprecherin Renate Fuhrmann 1991 dreht Gitai den zweiten Film seiner Golem-Trilogie, «Golem - Geist des Exils». Zuspiel (Hanna Schygulla) Ich kann mich gut erinnern an die eine Einstellung in einem Pariser Hinterhof, wahrscheinlich sogar in dem Viertel, wo er wohnt, da bin ich als Geist aufgetreten. Das war der Geist des Exils scheint mir. Ich weiß nur, dass ich diesen tollen Text aus dem Kohelet, jedes Ding zu seiner Zeit. Und dann eben diese Gegenüberstellungen, eine Zeit zum Leben, eine zum Sterben, eine zum Weinen, eine zum Tanzen, eine zum Steinewerfen, eine zum Steinewiedereinsammeln, usw. Da gibt es ganz überraschende auch Formulierungen drin. Atmozuspiel (Musik War of the sons of light… Track: A Time for) Musik. (Hanna Schygulla) Time to cast away stones, time to gather stones together. Musik. Zuspiel (Amos Gitai) A: «I was in France in this self imposed exile or absence or whatever you'll call it …» E: «… So they vehicle this, and too Stockhausens' sons, Simon and Markus, and so on.» Sprecher Josef Tratnik Ich war in Frankreich, in diesem selbst auferlegten Exil, dieser Abwesenheit oder wie auch immer du das nennen möchtest, und suchte nach Anhaltspunkten. Um eine gute Arbeit zu machen, musst du die Nuancen einer Kultur verstehen. Also sagte ich mir, ich mache eine Parabel. Ich nehme etwas, von dem ich glaube, dass ich es verstehe, und übertrage das nach Frankreich. Daraus wurde dann die Golem Trilogie, der «Geist des Exils». Ich habe damit Stilübungen betrieben, um mein Handwerk zu lernen, würde ich sagen. In «Geist des Exils» spielen Hanna Schygulla, die Tänzerinnen von Pina Bausch, Bernardo Bertolucci, Philippe Garrel, eine Menge Leute. Ich wollte lernen, auch wenn mich die Schauspieler selbst in dieser Phase noch nicht so sehr interessierten. Denn mein Ziel war, einen Text in eine Landschaft zu befördern. Und die Schauspieler befördern ihn in die Landschaft, genau wie die Musik von Markus und Simon Stockhausen. Zuspiel (Simon Stockhausen) Der ganz ursprüngliche Kontakt zu Amos kam über meinen Bruder Markus, der in einem Film über Else Lasker-Schüler, glaube ich war es, den Liebhaber spielte und auch Trompete spielte. Und dann hat Amos Markus gefragt, da er gerade den nächsten Film vorbereitete, «L'esprit de l'exil», ob wir nicht zusammen die Filmmusik dafür machen wollen. Und das hat auch total Spaß gemacht, den zu machen. Damals hatten wir beide noch nicht irgendwie wirklich Studiotechnik. In der alten Wachsfabrik in Köln Süd. Da hatten wir so ein Loft. Und da hatten wir da irgendwie so einen Fernseher aufgebaut, damals noch alte Videotechnik, Video läuft, dazu gleich improvisiert. Mit den Aufnahmen, die dann weiter bearbeitet. Und so entstand dann so eine Kollektion von verschiedenen Tracks, die wir dann mit nach Paris genommen haben. Und dann haben wir noch mit ihm die Kinomischung in Paris gemacht, in zwei Nächten. Sprecherin Renate Fuhrmann In «Golem - Geist des Exils» verbindet Amos Gitai die biblische Geschichte des Buches Ruth mit der Geschichte des Golem aus der jüdischen Kabbala, aber nicht als außer Kontrolle geratener Maschine, sondern als Geist des Exils. Zuspiel (Simon Stockhausen) «Esprit de l'exil» war ein sehr experimenteller Film. Aber es hatte sehr viele schöne Momente auch. Es ging auch viel um Liebe und Innigkeit und Begegnung. Und Hanna war der Geist. Und das fand ich so faszinierend an dem Film, diese surreale Atmosphäre und die Vermischung der Geschichten. Das Biblische hatte mich erst eher so abgestoßen, weil es mir so riesig archaisch vorkam. Und ich habe mich hauptsächlich auf die Bilder konzentriert und die Atmosphäre und fand die ansprechend. Also auch eben das Setting. Es spielt ja auch immer wieder auf diesem Schiff, in Paris, auf den Kanälen. Und da war viel nacktes Fleisch zu sehen. Und irgendwie fand ich das alles spannend, aufregend, erotisch. Sprecherin Renate Fuhrmann Gitais enge Freundin seit der Jugendzeit, die Malerin Ophrah Shemesh, spielt in «Golem - Geist des Exils» Noomi, die Schwiegermutter von Ruth. Zuspiel (Ophrah Shemesh) A: « He thought about everything was like a picture, I found it very haunting, it's like watching pictures and getting lost …» E: «… He makes the observer to be very active. You always have to look for something. And he doesn't lead him, so it's very difficult.» Sprecherin Nicole Engeln Amos hat den ganzen Film in Bildern gedacht, das ist verzaubernd. Man kann sich in diesen Bildern treiben lassen. Gleichzeitig erhält man fortwährend inhaltliche Botschaften. So bringt Amos verschiedene Dinge zusammen und im gewissen Sinne funktioniert das ganz gut. Mir gefällt der Film, gerade weil er so collagenartig und abstrakt ist, wie ein Gedicht: Der Aufbau folgt allein Assoziationen, es gibt kaum Dialoge und der Text basiert ausschließlich auf der Bibel - das hat große Kraft. Dadurch eröffnet der Film einen großen Assoziationsraum, der ganz von der Poesie erfüllt wird. Aber es ist ein sehr langsamer Film, wie Amos' Filme im Allgemeinen. Außerdem hat Amos sehr viel aus seinem Innenleben eingewoben, die Architektur etwa, die Zug- und Maschinenbewegungen.Und weil so viele Elemente enthalten sind und er kreisförmig gebaut ist, nicht linear, ist der Film nur schwer zu verstehen. Amos verlangt viel vom Zuschauer: stets aktiv sein, immer nach etwas Ausschau halten, ohne Anleitung. Das ist sehr schwer. Sprecher Josef Tratnik (Amos Gitai: Filmische Strategien, aus: Amos Gitai: News from Home, Verlag der Buchhandlung Walther König 2006 (Berlinale-Katalog) S. 299) Ich möchte die Zuschauer gern zu einem Dialog einladen und wende mich an Menschen mit Interesse an aktiver Interpretation. Mein Kino bezieht sich auf dieses mögliche Interesse des Zuschauers, an der Entschlüsselung einer Bildsequenz, einer Abfolge akustischer Elemente oder der Fragen, die die Kamerabewegung aufwirft. Man braucht für diese Filme also Geduld. Denn ihre Erzählweise ist nicht einfach. Man kann nicht zwischendurch mal kurz in die Küche gehen und sich ein Brot machen, sondern muss aufmerksam zuschauen. Denn ich sende eine Reihe von Signalen aus oder Zeichen, denen man folgen muss. Manchmal verdrehe ich gegen Ende auch den Sinn. Bei einigen Filmen muss man bis zum Schluss warten, um zu wissen, welche Richtung sie nehmen. Sprecher Volker Risch (Paul Willemen: Amos Gitais Montagetechniken, Text aus: Amos Gitai: News from Home, Verlag der Buchhandlung Walther König 2006 (Berlinale-Katalog) S. 406, 408f) Gitais Filme verlangen eine cineastische Aufmerksamkeit, das heißt einen hohen Grad an Konzentration über lange Zeiträume hinweg. Sprecherin Renate Fuhrmann Der Filmwissenschaftler Paul Willemen. Sprecher Volker Risch (Paul Willemen: Amos Gitais Montagetechniken, Text aus: Amos Gitai: News from Home, Verlag der Buchhandlung Walther König 2006 (Berlinale-Katalog) S. 406, 408f) Seine Filme zeichnen sich durch eine Strategie der Publikumsansprache aus, die versucht, Bedeutungen zu evozieren, statt sie dem Zuschauer aufzudrängen. Diese Strategie nutzt das kulturelle und politische Wissen, das beim Betrachter vorausgesetzt wird. Sie appelliert an eine unkonventionelle Entschlüsselung der Umwelt, um Wege zum Verständnis des Gezeigten zu finden. Dabei wird das Publikum aber weder manipuliert noch sich selbst überlassen. Das sind die beiden einzigen Methoden, die die Medien- und Fernsehfunktionäre anbieten und mit aller Kraft verteidigen. Statt zu manipulieren, wird bei Gitai ein Dialog zwischen Filmemacher und Zuschauer vorgeschlagen. In diesem Dialog bietet der Künstler einen Weg zum Verständnis an, lädt aber gleichzeitig dazu ein, die Mittel, mit denen er dies erreichen will, kritisch zu hinterfragen. Atmozuspiel (Filmausschnitt «Golem Esprit du Exil») Musik, Hanna Schygulla: Il y a un moment pour tous et un temps pour chaque désir sur le ciel. Un temps pour naître et un temps pour mourir. Et un temps pour planter et un temps pour arracher les plants. Et un temps pour tuer et un temps pou guérir. Sprecherin Renate Fuhrmann Erika und Ulrich Gregor organisieren seit 1971 einen Teil der Berlinale, das Internationale Forum des Jungen Films. Anfang der 80er Jahre lernten sie Amos Gitai und seine Filme kennen und holten in immer wieder nach Berlin. Zuspiel (Erika Gregor) Eine Besonderheit des Forums ist ja immer gewesen, dass wir Diskussionen nach den Filmen haben. Wir wollen ein Publikum, was mitredet. Und daher war es auch so wichtig, dass er immer kam. Und diese Diskussionen waren außerordentlich gut und lang. Und insofern war Gitai als Gast sozusagen ein Geschenk des Himmels, weil ein Festival braucht lebendige Diskussionen. Zuspiel (Ulrich Gregor und Amos Gitai, Berlinale 1982) Amos Gitai: For me the return to the country of origin, which is a conceptual country of origin also, is the sense of the voyage, you know, so… Ulrich Gregor: Die Rückkehr in das Land des Ursprungs ist eigentlich der Sinn der Reise. Amos Gitai: And it's not true, that you always arrive in the conceptual country of origin. Ulrich Gregor: Man langt nicht unbedingt immer an, in dem Land des Ursprungs an, das man sich konzeptuell vorgestellt hat Amos Gitai: Because even your country of origin has been transformed through the time. Ulrich Gregor: Diese Ursprungsländer sind vielleicht im Laufe der Zeit umgewandelt worden. Amos Gitai: The Jews have crafted in a very sophisticated and intelligent way though the centuries this very long return, which took them centuries and centuries, which never came to the point until the twentieth century. Ulrich Gregor: Die Juden haben durch die Jahrhunderte hindurch diese Reise zurück zu einem imaginären Ausgangspunkt immer weiter fortgesetzt, die sie nicht eigentlich ans Ziel brachte, bis vielleicht im zwanzigsten Jahrhundert. Amos Gitai: So in spite of persecution, of burning of the Ghettos, of many disasters which happened consistently through this very long history, they kept voyaging without actually making a rupture in this voyage. Ulrich Gregor: Diese Reise wurde immer fortgesetzt, trotz oder gerade wegen aller schlimmen Ereignisse, Verbrennungen von Ghettos usw., wurde immer fortgesetzt ohne eigentlich eine Unterbrechung. Amos Gitai: And the sense of the voyage is, what is the sense, which interested me. Ulrich Gregor: Also der Sinn dieser Reise ist das, was ihm am meisten am Herzen lag in diesem Film. Atmozuspiel (Musik War of the sons of light… Track: A Time for) Musik. (Hanna Schygulla) Time to love, and time to hate. Musik. Sprecherin Nicole Engeln (Die Schrift - Versammler 3,8, 3,1 - 3,2, Gütersloher Verlagshaus 2007 S. 942f. - Übersetzung angepasst) Eine Zeit fürs Lieben und eine Zeit fürs Hassen. Alles hat seine Stunde. Für jedes Geschehen unter dem Himmel gibt es eine Zeit: eine Zeit fürs Geborenwerden und eine Zeit fürs Sterben. Zuspiel (Hanna Schygulla) Und dieser Text, das war nun natürlich schon mal 'ne Bereicherung den so zu verkörpern in diesem Moment. Und der wurde ja auch immer wieder aufgegriffen, dieser Text. Hatten wir ja auch mal 'ne ganz… Hat er innerhalb von ein paar Tagen eine Inszenierung hingekriegt in Sizilien, auf einem nach einem Erdboden verschluckten Ort, Gibellina. Und da hat er in wenigen Tagen eben von Titus Flavius das inszeniert «Die Söhne des Lichts gegen die Söhne der Dunkelheit». Und da war ich wieder so eine Art Geist auf einem Turm. Basis war vom Simon und Markus Stockhausen auf einer Improvisation von uns beiden aufbauend, auch wiederum mit dem Text, eine Zeit zum Leben, eine Zeit zum Sterben, zum Säen, zum Geerntetwerden. Zuspiel (Ophrah Shemesh) A: «He made an installation on the Beuys sculpture in the summer of '91 …» E: «… The text was like delivered by everyone in English, Hebrew and Italian. Everything was like overlapping and I have to say, it was the best thing I ever did with him.» Sprecherin Nicole Engeln Es war eine Performance auf dem Joseph Beuys Platz im Sommer 1991. Gibellina wurde immer namhaften Regisseuren angeboten, Peter Brook war vorher da. Dann fragten sie Amos. Wir fuhren also nach Sizilien und haben die ganze Produktion in sieben Tagen gemacht, 24 Stunden am Tag, das war sehr intensiv. Er hatte den Flavius Text, brachte all die Sänger herbei, gab Hanna Schygulla und Sam Fuller zwei Rollen auf großen Felsen am Rand und Hanna hat gesungen. Dann kamen die Stockhausens und Enrico Lo Verso dazu und all die anderen italienischen Schauspieler, die hinten auf Leitern standen. Alles war ständig in Bewegung, emotional und körperlich sehr kraftvoll, mit sich überlagernden Stimmen, die den Text auf Englisch, Hebräisch und Italienisch vortrugen. Ich muss sagen, es ist das Beste, was ich je mit ihm gemacht habe. Atmozuspiel (Musik War of the sons of light… Track: Massada Amos Gitai, Simon Stockhausen, Enrico Lo Verso, Stimmengewirr auf Englisch, Hebräisch, Italienisch. Zuspiel (Simon Stockhausen) Und dann kamen ein paar Jahre, wo wir ziemlich viel mit ihm zu tun hatten, bis einschließlich 1993, wo die Biennale in Venedig war, wo ich extra 'ne Klanginstallation mit Schauspielern live auf einem großen Platz in Venedig im jüdischen Viertel komponiert hab. Und es war letztendlich wieder eine auf den Ort zugeschnittene Variation. So wie Amos halt dann mit diesen Puzzle-Mosaikstücken, die er so hat, die würfelt er dann neu, und dann wird was Neues daraus. Also der würde nie zweimal das Gleiche machen. Das waren zusammengesuchte Texte und dann eben die Sachen von mir, die ich dazu komponiert habe. Ich weiß noch, als wir bei uns in Leverkusen waren, habe wir dann Schauspieler aus Amerika bei mir auf einen Anrufbeantworter sprechen lassen mit den Texten, und die haben wir dann eingebaut, also auch in dieser Klangqualität einer alten Kassette vom AB. Weil die…, wir hatten unmöglich das Budget, die einzufliegen. Also machte man aus 'ner Not 'ne Tugend. Atmozuspiel (Musik War of the sons of light… Track: Josephus Musik, (Samuel Fuller) The war of the Jews against the Romans was the greatest of our times, greater too perhaps than any recorded struggle whether between cities or nations. Yet persons weren't allowed of first hand knowledge, excepting baseless or inconsistent stories or hearsay, a written gab that accounts of it. Zuspiel (Hanna Schygulla) In Venedig, da hat es für mich 'ne besondere Stärke, weil es war im jüdischen Ghetto. Und das war vielleicht eines der stärksten Theatererlebnisse, die ich auch je hatte. Weil da ging so viel zusammen. Er hat den Krieg, also die Eroberung Jerusalems durch die Römer und auch Massada und das alles, hat er… Er hat die Römer mit einem Amerikaner besetzt. Er hat alles sozusagen neu umgegraben für die Moderne. Er hat den Titus Flavius, hat er den Samuel Fuller genommen. Und er hat die Italiener als die Juden besetzt. Und das war für mich sehr eindrücklich. Atmozuspiel (Musik War of the sons of light… Track: A Time for) Sprecherin Renate Fuhrmann Amos Gitai bezieht sich in seinen Filmen nicht nur immer wieder auf die Bibel und die Kabbala, vor allem der Text vom Krieg der Römer gegen die Juden von Titus Flavius Josephus aus dem 1. Jahrhundert hat es ihm angetan. Nach der Inszenierung des Textes im sizilianischen Gibellina und in Venedig wird er Flavius' Beschreibung der Zerstörung des 2. Tempels und des Verlustes der Souveränität der Juden immer wieder in seinen Filmen aufnehmen. Zuspiel (Amos Gitai) A: «Flavius is the head of the rebellion against Rome in the Galilee. And they catch him …» E: «…So when I have a good occasion, I put it again on stage, you know.» Sprecher Josef Tratnik Flavius war unter den Anführern des Aufstandes in Galiläa gegen die Römer. Sie nehmen ihn gefangen und gestatten ihm, die Geschichte dieses Krieges niederzuschreiben. Er weiß also, geht er zu weit, enthaupten sie ihn. So muss er seinen Weg finden, diese Geschichte zu erzählen. Auch seine Lage ist also sehr interessant. Zugleich ist es die Zeit der Entstehung des Christentums, des Zusammenbruchs der Eigenständigkeit der Juden und des Anarchismus, der Ultranationalisten, der Zeloten, eine wirklich interessante Phase mit starkem Widerhall im heutigen Israel und den heutigen Gefahren. Bietet sich eine Gelegenheit, bringe ich den Stoff immer wieder gern auf die Bühne. Zuspiel (Micha Brumlik) Ja, Flavius Josephus … vielleicht gibt es da eine gewisse Identifikation. Was Flavius damals als jemand, der aus einem jüdischen Priestergeschlecht kam, getan hat, um zu schildern, wie es denn gewesen ist, und der deswegen seine hebräischen Schriften ins Griechische übersetzt hat, sieht sich Amos Gitai als einer jener Juden aus zionistischer Herkunft, die der Welt Zeugnis ablegen wollen, von dem, was sich dort abspielt. Zuspiel (Amos Gitai) A: «It's the story of excessive nationalism, excessive nationalism always destroys itself, you know.…» E: «…It's becoming more and more hermetic and closed and so it's very dangerous, you know.» Sprecher Josef Tratnik Es ist die Geschichte vom exzessiven Nationalismus, der immer sich selbst zerstört und das Gewebe einer Gesellschaft. Davon berichtet Flavius. Und es gibt einen weiteren Aspekt, der für den gesamten Nahen Osten gilt und auch für Europa: Der Andere existiert heute immer weniger. Ich denke, jede gesunde Gesellschaft braucht den Anderen im Inneren. Die Deutschen brauchten die Juden, denn es ist ein sehr kreativer Austausch. Und die Israelis brauchen die Araber. Jede Auslöschung des Anderen ist ein Desaster, nicht nur für die Menschen, die ausgelöscht werden, sondern auch für diejenigen, die andere auslöschen. Im Nahen Osten haben wir heute kleinste Splittergruppen mit jeweils eigenem Gott. Der Andere existiert nicht mehr. Also können sie Frauen in Syrien vergewaltigen und verstümmeln, weil es für sie nur ihren Gott gibt und sonst niemanden. Das ist die ganze Tragödie. Flavius spricht genau davon: wie sich der hermetische Nationalismus selbst zerstört. Es wird immer hermetischer und das ist sehr gefährlich. Atmozuspiel (Musik War of the sons of light… Track: Jerusalem Cries Jerome Koenig: «While the sanctuary was burning, looting went on right and left. And all who were caught were put to the sword. There was no pity for age, no regard for rank, little children and old men, laymen and priests alike were butchered. Every class was held in the iron embrace of war, whether they defended themselves or cried for mercy. Through the roar of the flames as they swept relentlessly on could be heard the groaning of the falling. Such were the heights of the hill and the far stance of the place you get of this, that the entire city seemed to be on fire. Zuspiel (Ophrah Shemesh) A: «It's still existing, it's happening in a different form in Israel. …» E: «…You know, that there is a constant war, that is an inner war that's reflecting outside, that's what I think.» Sprecherin Nicole Engeln Der Krieg geht weiter, deshalb ist Amos der Text so wichtig. Er will damit sagen, der Krieg findet noch heute in Israel statt, in anderer Weise, vor einem anderen Hintergrund, aber er währt immer noch. Ich denke, bei Amos geht es immer um das, was heute geschieht, auch wenn er Geschichten aus der Bibel verwendet. Wie auch das Buch Amos. Er versucht etwas darüber zu sagen, was unverändert weiter geschieht, weil die Mythologie sich wiederholt. Ein immerwährender interner Krieg also, der sich auch im Außen spiegelt. Atmozuspiel (Musik War of the sons of light… Track: A Time for) Zuspiel (Micha Brumlik) Für mich ist Amos Gitai der Regisseur und Filmemacher des jüdischen Israel in all seinen Widersprüchen. Und er zeigt in verschiedensten Filmen wie widersprüchlich und konfliktreich diese erneute Einwurzelung von Juden in diesem Land Palästina/Israel ist. Er versteht das Judentum eben auch vor dem Hintergrund der hebräischen, der jüdischen Bibel, die für ihn ja ein Reservoir von Weisheit und Einsicht ist. Ich kenne wenig Israelis oder auch israelische Filme, die so massiv auf die jüdisch-biblische Tradition Bezug nehmen, wie Gitai das tut. Zuspiel (Simon Stockhausen) Also dieser ganze Kosmos, auch dieser Bezug auf diesen jüdischen, religiösen Background, das alte Testament, die ganzen Figuren, die immer wieder auftauchen, auch die Namen, die dann verwendet werden für die Protagonisten, also das scheint ja schon ein Verwurzelung zu sein in dieser jüdischen Tradition, die gar nicht so zu seinem liberalen Lefti-Image passt. Also, als wäre er beides. Als wäre er jemand, der fußt auf dem Moses-Buch aber auch auf der linksgerichteten politischen Strömung, um gegen die konservativen orthodoxen Juden zu agieren. Also eigentlich eine seltsame Mischung. Das ist bestimmt 'ne Zerrissenheit, die da auch dann in seine Filme sich transportiert, und auch seine Zerrissenheit, die vielleicht entstanden ist, weil er in Israel dann auch nicht mehr arbeiten konnte. Musik: Septer Bourbon: “Bonk” Sprecherin Renate Fuhrmann Parallel zu seinen Spielfilmen und Theateraufführungen dreht Gitai im Exil in Frankreich in den 80er Jahren weiterhin Dokumentarfilme, unter anderem eine Trilogie über die Globalisierung für den britischen Channel 4 der BBC: den Film «Ananas» über multinationale Konzerne im Nahrungsmittelsektor am Beispiel der Konservenproduktion, «Bangkok-Bahrain» über die Versklavung thailändischer Frauen in der Sex-Industrie und thailändischer Männer mittels internationaler Arbeitsagenturen im Bauwesen der arabischen Staaten und «Brand New Day» über den Kolonialismus des internationalen Musik-Business am Beispiel der britischen Band Eurythmics, die für ihr neues Album in Südostasien auf O-Ton-Jagd geht. 1993, nach dem Golem und auf dem Weg nach Venedig, stößt Gitai dann auf eine Geschichte aus Wuppertal. Sprecher Uli Auer In Wuppertal traten zwei Skinheads am 13. November 1992 den 53-jährigen Karl-Hans Rohn zu Tode, der sich beim Wettsaufen "aus Spaß" als Halbjude ausgegeben hatte, während vom Plattenteller die Musik der Bösen Onkels lief. Zuspiel (Ulrich Gregor) Der Film über die Wupper, «Dans le vallée de la Wupper», ein Film über, ja, antisemitische und ausländerfeindliche Vorfälle in der Stadt Wuppertal, Geburtsort von Else Lasker-Schüler, deswegen für Gitai besonders interessant. Und der Film ist aufregend, aufwühlend. Und solche Filme, wie diesen, haben wir natürlich speziell gesucht in unserem Festival und auch immer wieder gezeigt, die also einen dokumentarischen Blick haben, aber gleichzeitig solche schlimmen Begebenheiten aufsuchen und aufspießen und daraus einen Diskurs machen. Zuspiel (Amos Gitai - Berlinale 1994) A: « I was working on the Biennale of Venice, I was doing one of the opening events of Venice…» E: «… the word Jew is still persecuting this land, you know. So I thought it's … this is actually the, the theme. » Sprecher Josef Tratnik Ich war gerade mit der Gestaltung einer der Eröffnungsveranstaltungen der Biennale in Venedig beschäftigt, einem Schauspiel, und auf einem der Flüge von Paris nach Venedig las ich einen kurzen Artikel in der Herald Tribune über diesen Vorfall. Als ich in Venedig ankam, rief ich sofort meinen französischen Produzenten an und sagte, «Komm doch bitte per Nachtzug mit der Kamerafrau Nurith Aviv und der Ausrüstung und wir beginnen einen Film zu drehen». Ich hatte sofort das Gefühl, wir sollten das nicht in einem Rutsch machen, sondern mehrmals für einige Tage nach Wuppertal fahren. Denn es bedurfte einer langfristigen Beobachtung der Situation. Ein Jahr lang kamen wir dann immer wieder nach Wuppertal. So entstand ein übergreifender Blick auf die deutsche Gesellschaft durch ein kleines Ereignis. Am meisten hat mich die Mehrdeutigkeit des Falles interessiert. Denn es ist ja nicht das dramatischste all der derzeitigen Ereignisse in Deutschland. Mich interessierte dieser Vorwurf, dass dieser Mann, der sagte er sei kein Jude, sondern Halbjude, damit quasi den Vorwand geliefert habe, umgebracht zu werden, so wurde es ihm vorgeworfen. So kurze Zeit nach all dem, was geschehen ist, reicht das kleine Wort Jude aus, um einen akzeptablen Vorwand für einen Mord zu liefern. Obwohl doch derart wenige Juden im heutigen Deutschland leben. Das Wort Jude verfolgt dieses Land immer noch. Das ist das Thema des Films. Sprecherin Renate Fuhrmann Im Film «Im Tal der Wupper» geht Gitais dokumentarisches Konzept, ohne Stimme aus dem Off, Bilder und Interviews unkommentiert für sich sprechen zu lassen, vollständig auf. Er schafft ein bedrückendes Bild über den wachsenden Fremdenhass im wiedervereinten Deutschland. Vor allem die Gedankenlosigkeit der Bevölkerung spricht für sich und das unbeholfene Agieren der Staatsbehörden, die den Mord verharmlosen, Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus als generelles Problem verneinen und die Ermittlungen einseitig ausrichten, ohne etwa die beteiligten Zeugen wegen unterlassener Hilfeleistung zur Rechenschaft zu ziehen. Der Oberstaatsanwalt Horst Rosenbaum im Film. Zuspiel (Filmausschnitt «Im Tal der Wupper») Horst Rosenbaum: Wir haben diesen bedauerlichen Fall hier gehabt, ja, der ist so passiert, aber es ist eben die Frage, wie man ihn von der Motivation aus her sieht, nicht, ist die Frage, was man beweisen kann, nicht wahr. Was soll ich dazu sagen, ich weiß nicht, was das öffentliche Bild ist, nicht wahr, die örtliche Presse hat korrekt berichtet. Es ist nur eine Falschmeldung damals durch AFP verbreitet worden mit der Überschrift «Skinheads treten Juden tot» und die ist falsch, nicht. Und der, der war überhaupt kein Jude. Es waren Zeugen, vorhanden, nämlich Gäste in der Gaststätte, zwei, die aber auch so erheblich unter Alkoholeinfluss standen, dass deren Aussage keine Bedeutung beigemessen werden kann. Übersetzer: Werden die Zeugen auch wegen unterlassener Hilfeleistung belangt werden? Horst Rosenbaum: Nein, Amos Gitai: Warum nicht? Horst Rosenbaum: Ja, die haben doch nichts erkannt, nicht wahr, die waren doch betrunken, die haben doch zum Teil in der Ecke gelegen und geschlafen, nicht wahr. Dass hier ein Klima der Ausländerfeindlichkeit herrscht, kann ich, soweit es strafrechtliche Beurteilungen anbelangt, nicht feststellen. Zuspiel (Ulrich Gregor) Gitai hat ja auch, ich glaube ungefähr im gleichen Zeitraum, verschiedene andere Filme gedreht, die sich mit Antisemitismus und auch dem Faschismus in Italien befassen. Da hat er einen Film gedreht über den Neofaschismus in Italien mit der Tochter des Duce, wenn ich mich recht erinnere in Neapel. Das ist auch ein sehr aufregender Film mit dramatischen Zwischenfällen. Die dramatischen Zwischenfälle liebt ja Gitai in gewisser Weise. Manchmal provoziert er sie auch. Das ist aber eben gut und wichtig, denn dadurch kommen Dinge in Bewegung und dadurch fallen vielleicht einige Masken auch mal ab und Realität kommt zum Vorschein. Zuspiel (Amos Gitai - Berlinale 1994) A: «I think that actually we are facing something in Europe which is rather new …» E: «… and there is a resurgence of extreme right not just in Germany, in France in Italy in other countries. » Sprecher Josef Tratnik Ich denke, wir haben es in Europa mit einem neuen Phänomen zu tun, der Auslöschung der Erinnerung einer ganzen Generation. Vielleicht dachten die Menschen wegen des Falls der Mauer, die hier stand, dass es keine Bedrohung mehr gäbe und man die Erinnerung auslöschen könne, denn Deutschland ist wiedervereinigt. Auch Europa ist ein anderes nach dem Mauerfall. Es gibt ein Wiedererstarken der extremen Rechte nicht nur in Deutschland, auch in Frankreich, Italien und anderen Ländern. Atmozuspiel (Musik War of the sons of light… Track: Lament Nr. 3 Musik, Gesang Sprecherin Renate Fuhrmann 1992 wird Yitzhak Rabin in Israel zum Premier gewählt, für Amos Gitai eine Möglichkeit für eine Rückkehr aus dem Exil. Zuspiel (Amos Gitai) A: «My return, I can give you, it's a composite. One, I got fed up of the grey sky of Paris, it's not political (Lachen)…» E: «…now they are settled in Paris, when Amos (Lachen) decided that he is fed up with the grey sky and Rabin is elected.» Sprecher Josef Tratnik Bei meiner Rückkehr spielten verschiedene Dinge eine Rolle. Erstens hatte ich die Nase voll vom grauen Himmel in Paris. Das ist völlig unpolitisch. Dass Rabin gewählt wurde, war natürlich hilfreich. Er hob jede Menge Verbote auf, etwa dass Israelis und Palästinenser sich nicht treffen dürfen. Rabins Kultusministerin Schulamit Aloni kam zu mir und sagte, «Komm nach Hause.» Sie hob das Verbot auf, dass ich das Sendergebäude des israelischen Fernsehens nicht mehr betreten durfte. Es war also eine etwas hoffnungsvollere Phase. Aber für meine Frau Rivka und die Kinder war es eine Zumutung. Sie hatten große Probleme, sich auf Paris einzulassen, waren dann endlich in Paris angekommen, und da sagt Amos, er habe die Nase voll vom grauen Himmel und Rabin wurde gewählt. Sprecherin Renate Fuhrmann Zurück in Israel dreht Gitai Dokumentarfilme zur politischen Situation seines Landes, wie immer indirekt. Er befragt Schriftsteller während der Jahre der Osloer Verhandlungen zu den Problemen palästinensischer und jüdischer Identität, beschreibt die Ausbeutung der Palästinenser in den israelischen Zitrushainen und fragt die Menschen im Gazastreifen nach ihrer Meinung zum Friedensprozess. Ende September 1995 unterzeichnen Yitzhak Rabin und Yasser Arafat das zweite Osloer Abkommen über die Teilung des Landes und die Gründung einer palästinensischen Regierung. Am 4. November wird Rabin von dem jüdischen Extremisten Yigal Amir erschossen. Israel befindet sich in einer Schockstarre. Amos Gitai dreht sofort einen Film: «Die Mordarena», ein persönliches Klagelied über den scheinbar unlösbaren Konflikt im Nahen Osten. Sein Casting-Direktor und persönlicher Assistent, Ilan Moscovic. Zuspiel (Ilan Moscovic) A: « Three weeks after he called me, I was in äh, in Los Angeles, and it was only my second movie with him…» E: «…it's something that happened in the…, between us and the Palestinians, between us and the Syrians.» Sprecher Uli Auer Drei Wochen nach dem Mord rief Amos mich an. Ich war mit «Devarim» auf dem Filmfestival in Los Angeles, und «Dewarim» war erst mein zweiter Film mit Amos. Er sagte, «Du musst sofort zurückkommen. Roberto Berta - der Kameramann - hat jetzt Zeit, zwei Wochen. Er kann Sonntag hier sein. Ich will einen Film über den Mord an Rabin drehen.» Oft ist es so: Es geschieht etwas, und Amos reagiert unmittelbar darauf. Der Film «Die Mordarena» sagt, «Der Mord an Rabin geschah für mich an der Grenze.» Natürlich hat er in Tel Aviv stattgefunden, aber das Problem, das Rabin angesprochen hat und warum er umgebracht wurde, ist etwas, das zwischen uns und den Palästinensern, zwischen uns und den Syrern steht. Zuspiel (Amos Gitai) A: «The assassination of Rabin is again co-produced by Palestinian ultra-nationalists and fundamentalists and the Israeli extreme right …» E: «…The Islamic terror will nourish the ultra-rightwing in Europe, they really help them a lot, you know..» Sprecher Josef Tratnik Der Mord an Rabin ist eine Koproduktion der ultranationalistischen, fundamentalistischen Palästinenser und Israelis zur Destabilisierung der vielleicht moderatesten Phase der israelischen Politik. Denn die Fanatiker stützen sich gegenseitig. Die fundamentalistischen Palästinenser, die Bomben legten, als Rabin der Armee befahl, sich aus den besetzten Städten zurückzuziehen, haben den Rechtsextremen in Israel geholfen, Rabin zu ermorden. Denn sie haben Rabins Taten delegitimiert. Das sind gefährliche Koalitionen und die sind heute auch in Europa deutlich zu erkennen: der islamische Terror hilft den Extremisten, er ist der Nährboden für Europas Ultrarechte. Sprecher Uli Auer (Serge Toubiana: Exils et territoires. Le Cinéma d'Amos Gitai, ARTE Éditions Cahiers du Cinéma, Paris: 2003, S. 135 f.) Der Film «Die Mordarena» ist eine intime und chaotische Reise, ein ungeordneter Parcours durch das Innere des traumatisierten israelischen Bewusstseins. Sprecherin Renate Fuhrmann Der ehemalige Leiter der Cinémathèque Française, Serge Toubiana. Sprecher Uli Auer (Serge Toubiana: Exils et territoires. Le Cinéma d'Amos Gitai, ARTE Éditions Cahiers du Cinéma, Paris: 2003, S. 135 f.) Der Film enthüllt einen Bruch innerhalb der israelischen Gesellschaft. Gitai tastest sich zögernd durch verschiedene Formen, als ob der Film selbst abgestumpft wäre, blind für das Ereignis, traumatisiert, und der Filmemacher selbst durch das Ereignis seine gewohnten Orientierungspunkte verloren hätte, alles ausdrücken möchte, aber nicht weiß, wo er beginnen soll. Mehrmals ist Gitai mit seinem Cutter zu sehen vor einer Wand mit zahlreichen Bildschirmen, die sie zu organisieren versuchen. Als ob die Realität nicht anders darstellbar wäre, als in explosiver Form, unorganisierbar. Selten war das Kino Gitais eine so seismographische Abtastung der Realität, wie in diesem Film. Musik: Alon Yavnai: „Ilha B'nit“ Sprecherin Renate Fuhrmann Paul Willemen. Zuspiel (Paul Willemen) A: «The arena of murder, I think, is a little bit of a turning point …» E: «…And I think, the making of that film gave him the confidence, I think, to embark on a different direction with the personal take, the personal look.» Sprecher Volker Risch «Die Mordarena» ist ein Wendepunkt im Oeuvre Gitais. Er war mit dem Film eingeladen beim Rotterdam Film Festival und bekam große Probleme mit der jüdischen Festivalleitung und dem Publikum. Sie wollten den Amos Gitai sehen, den sie kannten, und erwarteten einen kämpferischen Film, der politisch klar Position bezog. Stattdessen wurden sie konfrontiert mit diesem unerwartet lyrischen, sehr persönlichen und undramatischen Gedicht. Die Mordarena ist ein filmisches Klagelied. Damit hat Gitai das Publikum verstört. Und ich glaube, das gab ihm das Selbstvertrauen, eine andere sehr viel persönlichere Richtung in seinen Arbeiten einzuschlagen. Sprecher Josef Tratnik (Amos Gitai - Text - Architecte de la mémoire, Gallimard 2014, S. 70) Wie erschafft man etwas ausgehend von Erinnerungen? Ist es eine Chronologie oder eine Geographie? Die Erinnerung arbeitet assoziativ. Genial ist, wie man assoziiert, um allem einen Sinn zu verleihen. Man versucht das in Kunst umzusetzen und in gewisser Weise ist ein Künstler auch ein Heiler. Ich habe das Gefühl, im Nahen Osten herrscht eine derartige Kakophonie, dass man kaum kohärente Orientierungspunkte hat. Alles schwankt beständig. An einem Abend sagt man sich, die eine Seite ist die Ausgeburt des Bösen, am nächsten Morgen ist es die andere. So geht es unaufhörlich weiter. Sich darin zurechtzufinden, ist sehr schwierig. Deshalb habe ich nach dem Mord an Rabin beschlossen, ausgehend von meiner Familiengeschichte über Erinnerungen zu arbeiten. Musik: Shauli Einav: „One for Alex“ Sprecherin Renate Fuhrmann Nach der «Mordarena» und zurück in Israel beginnt eine dritte Phase im Schaffen Gitais. Seine Filme werden persönlicher und experimenteller. Er schichtet mehrere Bild- und Tonebenen übereinander, collagiert Erinnerungsströme, Interviews und Medienfragmente mit Bibelzitaten, Briefen seiner Mutter, Gesprächen mit seinen Kindern. Bezugspunkt ist dabei kontinuierlich seine eigene Geschichte und die Geschichte seiner Eltern. Der Vater, Munio Weinraub, ein Bauhausarchitekt aus Polen, der von den Nationalsozialisten verfolgt nach Palästina floh. Seine Mutter, Efratia Margalit, eine in Palästina vor der Staatsgründung geborene Sabra, die weltliche Bibelstudien lehrte. Von Gitais Familiengeschichte und den persönlich experimentellen Filmen erzählen wir in der zweiten Stunde der langen Nacht und von der Zeit seiner frühen Dokumentarfilme in Israel vor dem Exil und den Gründen für sein Drehverbot. Musik: Shauli Einav: One for Alex“ 2. Stunde Musik: Avishai Cohen: “About a Tree/Oyfn eg Shteyt a Boym” Zuspiel (Amos Gitai) A: «Sometimes I relate to elements of my biography after I do the act. So I first do the film and then I'm looking at the origins…» E: «…I would say I do it and then I listen. Sometimes I listen to the old layers of the family stories.» Sprecher Josef Tratnik Manchmal beziehe ich mich auf Elemente meiner Biographie, nachdem ich ein Werk geschaffen habe. Ich mache also erst den Film und schaue dann, wo er herkommt. Meine Mutter lehrte die Bibel, aber aus weltlicher Sicht. Im Alten Testament, als die Juden die zehn Gebote bekommen, antworten sie, «Wir werden sie befolgen und dann hören wir». Die Interpreten der Bibel sagten, «Also, die Wortfolge ist etwas merkwürdig, wir tun es und dann hören wir?» Rein psychoanalytisch betrachtet ist das aber möglich. Ich würde also sagen, ich tue es, und dann höre ich. Und manchmal folge ich den Ablagerungen der Geschichte in mir. Sprecherin Renate Fuhrmann Amos Gitai, ein israelischer Filmemacher, geboren 1950 in Haifa. Der Vater, Munio Weinraub, ein Bauhausarchitekt aus Polen, der von den Nazis verfolgt nach Palästina floh. Die Mutter, Efratia Margalit, eine in Palästina vor der Staatsgründung geborene Sabra, die weltliche Bibelstudien lehrte. Zuspiel (Ophrah Shemesh) A: « The make-up of Amos is very complex. Amos is an Is…, born Israeli with German parents…» E: «…And then I think that when his mother brought the very modern culture to his life and his father, so it was a mix, you know.» Sprecherin Nicole Engeln Amos Persönlichkeitsstruktur ist sehr komplex, ein gebürtiger Israeli mit deutsch- und russischstämmigen Eltern, das zeigt schon diese Komplexität. Sprecherin Renate Fuhrmann Gitais enge Freundin, die Malerin Ophrah Shemesh. Zuspiel (Ophrah Shemesh) A: « The make-up of Amos is very complex. Amos is an Is…, born Israeli with German parents…» E: «…And then I think that when his mother brought the very modern culture to his life and his father, so it was a mix, you know.» Sprecherin Nicole Engeln Er wurde geboren, als der Staat aus der Taufe gehoben wurde, ist in Israel aufgewachsen und eng mit der Geschichte seines Landes verbunden. Und lebst du in Haifa, kannst du nicht verkennen, dass du mit Palästinensern zusammenlebst. Damals war alles noch ganz frisch. Viele Araber waren in Haifa gestrandet, als die Israelis die Macht übernahmen. Und Amos Mutter und Vater reicherten sein Leben dann mit all der modernen Kultur an, so entstand diese Mischung. Zuspiel (Amos Gitai) A: « I grew up in this atmosphere which was very open not judgemental in a racist way …» E: «… Because the Tsar, like it happened several times in Europe, directed the hate for the revolution to the Jews.» Sprecher Josef Tratnik Ich bin in dieser sehr offenen Atmosphäre aufgewachsen, ohne Vorurteile, vor allem rassistischer Art, aber auch im Einklang mit der eigenen Identität, die nicht geleugnet wurde. Meine Mutter wurde in Haifa geboren, 1909. Sie war froh, Jüdin zu sein. Sie war einfach nicht religiös. Kulturell hatte sie aber eine starke Affinität zur jüdischen Geschichte und den Bibeltexten. Ihre Eltern kamen aus Russland, sozialistische Juden, utopische Sozialisten. Sie waren nach dem Scheitern der ersten Revolution 1905 aus Russland geflohen, als es zu schweren Pogromen gegen die Juden kam. Denn der Zar lenkte den Hass gegen die Revolutionäre in einen Hass gegen die Juden um, wie es so oft in Europa geschehen ist. Zuspiel (Ophrah Shemesh) A: «Well I mean, she came from German, very educated, you know she studied psychology, She studied with, influenced by Freud …» E: «…but not in a controlling way because, I don't think that he came alone with his idea and…, you know.» Sprecherin Nicole Engeln Efratia kam aus einer sehr gebildeten deutsch-russischen Familie, studierte Psychologie, beeinflusst von Freud, hatte ein starkes Interesse an Kultur, Malerei, Musik, auch Politik, aber, ich denke, nicht so stark wie Amos. Sie zeigte ihm, dass alles, was mit Menschlichkeit und Kultur zusammenhängt, wichtig ist. Und so ist Amos: Er ist nicht nur an Politik interessiert, sondern auch an Kunst und den Menschen. Efratia vermittelte ihm, dass es immer einen Grund gibt, warum wir auf der Welt sind und das Leben nicht vergeuden sollten. Ich glaube, sie hat ihn sehr bestärkt. Nicht kontrollierend, aber seine Ideen kamen nicht allein von ihm. Zuspiel (Amos Gitai) A: « Their project of a lot of Jewish autodidactic intellectuals was to become workers…» E: «…So you see, that according to the Darwinist theory I'm made also by this very stubborn DNA of people who have a project and they go for it, despite of the obstacles.» Sprecher Josef Tratnik Sie hatten wie viele autodidaktische jüdische Intellektuelle die Idee, Arbeiter zu werden und waren wie Tolstoi beeinflusst von der großen russischen Narodniki-Bewegung, die vom «Zurück zur Natur» sprach. Sie wollten nicht nur geistig arbeiten, sondern auch körperlich. Dafür waren sie aber nicht sonderlich geeignet, denn es waren diese blassen, fragilen Menschen, auch wenn sie sehr entschlossen waren. Von dieser Generation meiner Großeltern blieben lediglich zehn Prozent in Israel. Neunzig Prozent gingen entweder zurück nach Russland und nahmen an der Revolution 1917 teil oder sie gingen nach New York. Meine Großeltern blieben hier. Ihr seht also, gemäß der darwinistischen Theorie entstamme ich der DNA dieser dickköpfigen Menschen, die trotz aller Hindernisse ein Projekt weiterverfolgen. Sprecherin Renate Fuhrmann Gitais Mutter Efratia Margalit verließ Israel für ein Jahr, als Amos 10 Jahre alt war, um in London zu studieren. Amos wurde in die Obhut eines Kibbuz gegeben, denn auch der Vater hatte keine Zeit, sich um den Sohn zu kümmern. Musik: Shauli Einav: „A Truth About Me“ Sprecherin 4 (Efratia Gitai/Amos Gitai: Storia di una famiglia ebrea, Bompianti: Mailand 2012, S. 331 ff.) London, 10. November 1960. Amos, liebster Sohn, dein langer Brief hat mich sehr gefreut. Du beschreibst so schön deine Arbeitserfahrungen im Kibbuz. Nur dass ich dir so sehr fehle, hat mich betrübt. Mein Lieber, wir wissen genau: wir beiden gehören zu den Menschen, die zu sehr lieben und zu stark von der Liebe abhängen. Natürlich ist das schön, aber ich möchte nicht, dass du genauso abhängig wirst wie ich. Dass eine Mutter ihr Kind so sehr liebt, ist nur natürlich. Aber ein Sohn muss sein Mutter weniger lieben. Du musst robuster werden, stärker, ein Mann. Denk nicht so viel an deine Mutter, sondern lieber an die Arbeit und die Schule. Achte nicht so sehr auf die anderen und mach dich nicht von ihren Reaktionen abhängig. Wer sein Herz und seine Gefühle nicht durch eine harte Haut schützt, wird von den anderen lächerlich gemacht und verletzt. Glaub mir, auch du fehlst mir sehr, aber du musst stark sein. Herzliche Küsse für dich, mein Lieber, deine Mama Efratia. Zuspiel (Amos Gitai) A: «She grew up as a secular girl, feminist…» E: «… And so when I used them in my movies, Abu Warda or Makram Khoury, I told them, "Listen, I'm innocent in this matter, I'm just following the instructions of my mother", you know.» Sprecher Josef Tratnik Efratia wuchs weltlich auf, war Feministin, kämpfte für die Frauenrechte, von denen sie bis zu ihrem Tod sprach. Sie war überzeugt davon und sagte, «Eine Gesellschaft, die die Frauen nicht respektiert, ist dem Untergang geweiht». Das war ihre Kritik an einigen benachbarten Kulturen, dass sie Frauen nicht respektieren. Dass man in vielerlei Hinsicht Empathie mit dem Leid der Araber haben kann, aber dass die Situation der Frauen erschreckend ist - einige werden zwangsbeschnitten, andere unterdrückt - und dass die Araber Probleme haben werden, solange sie die Rechte der Frauen nicht respektieren. Sie wuchs also in Haifa auf. Und Yussuf Abu Warda und Makram Khoury waren ihrer Meinung nach die besten Schauspieler Israels. Als ich beide dann in meinen Filmen einsetzte, habe ich Abu Warda und Makram gesagt, «Hört zu, ich bin unschuldig, ich befolge nur die Anweisungen meiner Mutter.» Sprecherin Renate Fuhrmann Der arabisch-israelische Schauspieler Makram Khoury. Zuspiel (Makram Khoury) A: « During the eighties mainly the friendship started with his mother…» E: «…And then it took a long time, you know, for us to work together. It started, I think, in two thousand and four.» Sprecher Volker Risch In den 80er Jahren begann meine Freundschaft mit Amos' Mutter. Ich traf sie gewöhnlich bei meinen Spaziergängen am Meer. Sie hatte mich auf der Bühne gesehen im Stadttheater von Haifa und mochte mein Schauspiel. Amos' Bruder Gideon kannte ich ebenfalls, er war ein berühmter Photojournalist für die beste arabische Tageszeitung, Al-Ittihad. In der ersten Intifada war Gideon sehr mutig und machte sehr interessante Photos in der Westbank. Die Intifada war fast wie ein Krieg. So wurden wir Freunde und sprachen über vieles. Efratia war eine großartige Intellektuelle. Und irgendwann auf einer Veranstaltung in Haifa lernte ich auch Amos kennen. Wir wollten immer zusammenarbeiten, denn mir gefielen seine Filme. Aber bis wir auch filmisch zusammenkamen, sollten noch viele Jahre vergehen, bis 2004. Musik: Omer Klein, „Each and Every Child“ Zuspiel (Amos Gitai) A: «My father comes from a very different origin. His parents where themselves observant Jews. …» E: «… "So go and learn with the neoclassical, then you come back to us, we will re-indoctrinate you". Because the Bauhaus wanted people to do craftsmanship also.» Sprecher Josef Tratnik Mein Vater hatte eine völlig andere Herkunft. Seine Eltern waren gläubige Juden. Sie haben immer Jiddisch gesprochen, niemals Hebräisch. Er wurde unweit von Lwiw geboren, in der heutigen Ukraine. Und es ist durchaus überraschend für mich, dass dieser Junge, der in diesem konservativen Umfeld dann in einer Stadt aufwuchs, die Bielitz genannt wurde und heute in Polen Bielsko-Biała heißt, im Alter von achtzehn Jahren auf die Idee kam, von dort direkt zum Bauhaus zu gehen - der damals avantgardistischsten Kunst- und Architekturschule -, um Walter Gropius um eine Zulassung als Student zu bitten. Gropius nahm ihn auf, sagte aber, «Vor dem Bauhaus musst du eine Tischlerlehre machen». Und er schickte ihn nicht auf eine moderne Schule, sondern zu den Neoklassikern. Denn Gropius meinte, «Diese Typen, mit denen wir nicht übereinstimmen, kennen sich viel besser mit Holz aus. Lerne also bei den Neoklassikern und komm dann zu uns zurück, wir werden dich schon umerziehen». Denn das Bauhaus wollte Menschen mit handwerklichen Fähigkeiten. Zuspiel (Ophrah Shemesh) A: «I don't think that people with work of art coming, you know, from an idea. The original thing it's like your pain …» E: «…You know, it was very hidden, even his father. I don't think that he related to that until recently, » Sprecherin Nicole Engeln Kunst entsteht nicht aus Ideen, sondern aus einem Schmerz, deiner Stimme, einer Reflexion und deiner Reaktion auf die Welt, das sind die Hauptelemente. Als Amos begann, war er, denke ich, sehr unbewusst. Seine ersten Kurzfilme waren stilistische Übungen über Feuer, Strukturen usw. Als er dann aber anfing, über seine Eltern zu arbeiten, hat er sich erlaubt, loszulegen, ohne Angst, zum Persönlichen vorzudringen, das immer in seinen Arbeiten versteckt war. Da kam immer alles her, aber er konnte es plötzlich direkter ausdrücken und sich darauf einlassen. Auch auf seinen Vater, auf den er sich erst in jüngster Zeit bezieht. Zuspiel (Amos Gitai) A: « So he went to the Bauhaus and the Bauhaus already was displaced from Weimar…» E: «…and they break his teeth and they throw him to jail and the Bauhaus is closed.» Sprecher Josef Tratnik So kam mein Vater zum Bauhaus, das bereits von Weimar vertrieben worden war, denn die Nazis hatten in Weimar schon die Wahlen gewonnen. Gropius zog daraufhin mit der Schule nach Dessau. Ich denke, er hatte begriffen, dass ihm nicht viel Zeit blieb, und er baute dieses unglaubliche Gebäude in Dessau, ein Meilenstein der modernen Architektur. Gropius hatte verstanden, was für Filmemacher und Künstler im Allgemeinen gilt: dass Kunstschaffen nicht nur das Umsetzen von Ideen ist, sondern genaues Timing. Er merkte, dass der Wind sich in Deutschland drehte und dass er dieses Gebäude schnell bauen musste, sonst würde es niemals gebaut werden. Kurz nachdem Hitler dann an die Macht kam und nach dem ersten Rassegesetz vom April 1933 nahmen die Nazis vier Studenten fest, einer war mein Vater. Sie schlugen ihm die Zähen ein, warfen ihn ins Gefängnis und das Bauhaus wurde geschlossen. Sprecherin Renate Fuhrmann 2011 drehte Amos Gitai «Schlaflied für meinen Vater», einen experimentellen Film über die Geschichte seines Vaters Munio Weinraub. Vermischt werden darin Auszüge aus Spielfilmen Gitais mit Zeitzeugeninterviews, dokumentarischen und doku-dramatischen Szenen. Zuspiel (Filmausschnitt «Lullaby to my father») (Torsten Ranft:) Strafsache gegen Munio Weinraub, wegen Verrates am deutschen Volke und hochverräterischer Umtriebe. Munio Weinraub wird beschuldigt, zu Frankfurt am Main im April und Mai 1933, gemeinsam handelnd, kommunistische Flugblätter mit der Überschrift "Tatsachen, die verboten sind", in denen zum Widerstand gegen die herrschende Regierung und zum Sturz derselben und zur Sabotierung des gesellschaftlichen Feiertages am 1. Mai 1933 aufgefordert wird, verteilt, bzw. zum Zwecke der Verbreitung vorrätig gehalten haben. Zuspiel (Ophrah Shemesh) A: « I never met his father, because his father died already young and I think that Amos that time was too young. …» E: «…I think that there was a big gap, because I don't remember Amos talking about him so much during all those years.» Sprecherin Nicole Engeln Ich kannte seinen Vater nicht, er ist sehr jung gestorben. Und ich glaube, Amos war damals zu jung, um seinen Vater wirklich zu begreifen. Er misst ihm erst jetzt eine Bedeutung bei und bringt verlorene Dinge zum Vorschein. Denn sein Vater war sehr bescheiden. Ihm wurde vieles verwehrt, aber er war ein sehr ernsthafter Architekt und kreativer Mensch. Als Amos jung war, konnte er damit, glaube ich, nicht umgehen. Jetzt lernt er seinen Vater über dessen Geschichte kennen. Bis dahin war das eine große Leerstelle. In all den Jahren hat er kaum von ihm gesprochen. Sprecher Josef Tratnik (Interview Richard Ingersoll - Amos Gitai, in: Munio Weinraub ׀ Amos Gitai: Architektur und Film in Israel, TU München, Edition Minerva 2009, S. 310) Die Beziehung zu meinem Vater war nicht einfach. Wie bei vielen Jungen spielte auch für mich die Beziehung zu meiner Mutter eine wichtigere Rolle. Mein Vater war nicht oft zuhause und stark mit dem beschäftigt, was er machen wollte. Er starb, als ich 20 war und er war die letzten zehn Jahre seines Lebens krank. Zudem war er sehr introvertiert und Hebräisch war nicht seine Muttersprache, was ebenfalls die Kluft zwischen uns vertiefte. Manchmal denke ich, ich habe nur deshalb sein Handwerk, also Architektur studiert, weil ich mehr über ihn wissen wollte. Zuspiel (Amos Gitai) A: «In a way, when I speak about my father, it's also to bring back some of this ideas …» E: «… they are not alone, there are many other people of this generation, and this kind of people and what we see around today already puts the question.» Sprecher Josef Tratnik Spreche ich also von meinem Vater, dann auch, um einige seiner Gedanken am Ursprung der modernen Architektur wieder ins Spiel zu bringen, die aufgegeben wurden. Die Einfachheit etwa oder die mit sozialen Aspekten verbundene Architektur. Dass Architektur nicht nur wichtig ist, um Museen, Flughäfen oder den Potsdamer Platz zu bauen, sondern auch 70 Quadratmeter Wohnungen. Und spreche ich von meiner Mutter, den Briefen dieser jungen Frau und von gewissen Werten, für die sie eintrat, geht es mir auch um diesen Frauentypus an sich. Ausgehend von meinen Eltern wird so der Abgrund deutlich zwischen dieser Art von Menschen - denn es waren ja viel mehr, eine ganze Generation - und den Menschen, die uns heute umgeben. Das allein wirft schon Fragen auf. Musik: Shauli Einav: „CIRCA 1988“ Sprecherin Renate Fuhrmann In der dritten Phase seines Schaffens nach 1995, widmet sich Gitai in sehr persönlichen und experimentellen Filmen wie «Schlaflied für meinen Vater» oder «Carmel» immer wieder Fragmenten der Biografie seines Vaters und seiner Mutter. Und er webt sie auch in seine Spielfilme ein. Sprecher Josef Tratnik (Amos Gitai: Genèses, Paris: Gallimard 2009 S. 81f.) In dieser Lebensphase fühlte ich mich stark mit dem Schicksal Israels verbunden. Diese Projekte waren intime Gespräche mit meinem Land. Meine Beziehung zu Israel ist im gewissen Sinne eng verbunden mit meiner Beziehung zu meiner Mutter, es ist das Moledet, das Mutterland, und nicht das Vaterland, wie die Deutschen sagen, das ich mehr mit Europa verbinde. Kurz nachdem wir 1995 mit den Dreharbeiten zu «Dewarim» begonnen hatten, erlitt Efratia eine Gehirnblutung, nachdem sie von einem Auto überfahren worden war. Im Gang des Krankenhauses von Haifa arbeitete ich mit meiner Frau Rivka und dem Produzenten am Aufnahmeplan für den Film, während wir darauf warteten, dass sie aus dem Koma erwachte. Efratia lebte noch neun Jahre, bevor sie 2004 an dem Tag starb, an dem die letzte Einstellung von «Gelobtes Land» gedreht wurde. Alle Filme, die ich in diesen neun Jahren gedreht habe, sind Reaktionen auf den Prozess des Verschwindens meiner Mutter, die nach und nach ihre geistigen Fähigkeiten verlor. Sie entstammen dem Bedürfnis, Efratia meine Lesart der Dinge darzulegen, mit ihr ein Gespräch fortzusetzen, bevor sie verschwindet. Atmozuspiel (Filmausschnitt «Carmel») Musik, Jeanne Moreau, Jerome Koenig und andere Schauspieler auf Französisch, Englisch, Hebräisch und Arabisch, Schreie. Sprecherin Renate Fuhrmann Die experimentellen, cineastischen Gespräche Gitais mit seiner Mutter bestehen aus zahlreichen Fragmenten. Er collagiert Erinnerungsströme, Interviews und Medienberichte mit Bibelzitaten, Briefen seiner Mutter, Gesprächen mit seinen Kindern. So entstehen große Bild- und Toncollagen, in denen sich immer mehrere Ebenen überlagern. Makram Khoury. Zuspiel (Makram Khoury) A: «One thing on top of each other and one ta ta ta ta, … you can't explain it . It's a portrait …» E: «… We discuss, we have a dialogue and we go back. This is our aim in making this kind of films.» Sprecher Volker Risch Verschiedene Dinge überlagern sich, das kann man nicht erklären. Es ist fast wie ein Portrait von Jackson Pollock. So betrachte ich es. Ein Ding über einem anderen über einem weiteren usw. Viele Einzelteile also, die zu einem großen Ganzen werden. Unser Leben ist so verdammt kompliziert, dass du einzelne Schichten abtragen musst, und noch eine und noch eine, um ein klares Bild zu gewinnen. Dann kannst du beginnen, alles neu zu zeichnen. Letztendlich ist Amos ein Künstler, du siehst ein wunderschönes Portrait. Man kann nicht alles erklären, du musst es fühlen, darüber nachdenken, so wie wir jetzt beim Sprechen. Das ist unsere Aufgabe und das Schöne an der abstrakten Kunst, Menschen zum Nachdenken zu bringen. Denkst du nach, können wir diskutieren. Haben wir einen Dialog, gehen wir in die Tiefe und zurück. Deshalb machen wir solche Filme. Zuspiel (Ophrah Shemesh) A: «I think the reason why Amos likes collages and likes free association, because I think, that he beliefs …» E: «… it's like to take a space and to overlap it and to create the intervals, to be all the time open.» Sprecherin Nicole Engeln Amos mag Collagen und freie Assoziation, weil er denkt, dass das Leben sich entwickelt. Er glaubt gleichzeitig an Schicksal und an Freidenkertum. Das ist wie ein beständiges Hin und Her beim Malen in einer offenen und geschlossenen Form, was ein sehr moderner Gedanke ist. Und Amos glaubt auch, dass das Bewusste und das Unbewusste nicht verbunden sind, sondern parallel verlaufen. Deshalb sind auch seine Arbeiten so. Alles kommt aus seinem Inneren. Aber es scheint, als ob er nichts abschließen oder festlegen möchte. Daher das Collagenartige. Collagen schaffen Tiefe, weil sich die Elemente in einem Raum überlappen und so Zwischenräume erzeugen, die immer offen sind. Sprecherin Renate Fuhrmann Die Begründer des Internationalen Forums des Jungen Films der Berlinale, Erika und Ulrich Gregor. Zuspiel (Erika und Ulrich Gregor) EG: Jeder Regisseur baut seinen eigenen Kosmos. Und manche Regisseure bauen immer sozusagen auf die gleiche Weise, aber andere sind eben sehr vielgestaltig und gehen in verschiedene… Sein Kosmos ist sehr, sehr weit und sehr, sehr groß. UG: Aber er ist verbunden mit der Geschichte seines Landes. Und diese ist irgendwie ein Teil seiner Identität. Das ist sehr zentral bei ihm, das ist eine Besonderheit. EG: Die Geschichte seines Landes, die Geschichte unseres Landes, was vermutlich eigentlich auch sein Land gewesen wäre, wenn… Und dass das alles da drin ist, das ist natürlich verständlich. UG: Bei Gitai gibt es, glaube ich, den Gedanken. Also die Welt der Gedanken ist bei ihm, der Reflexion. Hinter den Filmen arbeitet es daran, etwas herzustellen, etwas zu konstruieren, EG: Ja, das ist genau das Wort, dass es bei Gitai der Gedanke ist. Wenn du immer hin und her gezerrt wirst, ist es vielleicht mehr der Gedanke das, woran du dich klammerst, das, was du liest und was du im Kopfe hast. Sprecher Josef Tratnik (Amos Gitai - Text - Architecte de la mémoire, Paris: Gallimard 2014 S. 69) Die einzige Art, Kino zu machen, das weder belehrend ist noch naturalistisch, ist für mich, die Zutaten der Realität zu nehmen und sie mit Assoziationen und Gedanken neu anzuordnen. Die Schwierigkeit besteht dabei darin, etwas zu sagen, ohne den Zuschauer zu sehr in die Mangel zu nehmen: also genügend Raum für Deutung und Reflexion zu lassen. Man bringt verschiedene Elemente ins Spiel und lässt den Menschen wirklich die Freiheit, sie zusammenzusetzen und zu deuten. Sprecherin Renate Fuhrmann Die experimentellen, vielschichtigen Filme Gitais sind sehr persönlich und auch sehr hermetisch, für das allgemeine Publikum nur schwer zugänglich. Sein persönlicher Assistent Ilan Moscovic. Zuspiel (Ilan Moscovic) A: « I don't think that Amos thinks about it. Some of his movies…» E: «… In some of the movies that you said, I don't think that he is interested in the, in the audience, no, no. And a lot of times Amos is like that.» Sprecher Uli Auer Das ist Amos egal, darüber denkt er bei einigen seiner Filme nicht nach. Ich habe ihm das auch gesagt, «Amos, deine Geschichten sind zu hermetisch, viel zu nah.» Denn ich mag Filme, die sehr ortsgebunden oder persönlich sind, aber zugleich ungemein international, so dass auch ein Mensch aus Bangladesch sie anschauen und sagen kann, «Ich habe zwar nicht alles verstanden, aber das ist ein toller Film». Bei einigen seiner Filme interessiert Amos das Publikum überhaupt nicht. So ist er oft. Sprecherin Renate Fuhrmann Der Schauspieler Liron Levo. Zuspiel (Liron Levo) A: «He is not a mainstream artist, so some love it, some don't …» E: «… So Amos is, is in that way speaking to the world I feel also, sometimes, so.» Sprecher Volker Risch Amos ist kein Mainstream-Künstler. Einige lieben seine Filme, andere nicht. Ich denke, Amos hat Dinge zu sagen. Manchmal weiß er vielleicht nicht ganz genau, was oder wie, also führt er einen munteren Dialog mit sich selbst und findet dann Wege, daraus einen Film zu machen. Manchmal kommt er auf zahlreiche Gedanken, dann wird es also kompliziert. Manchmal findet er auch eine Antwort, aber diese Antwort bringt ihn auf zwei neue Fragen. Ich habe das Gefühl, Amos spricht auf diese Weise zur Welt. Zuspiel (Erika und Ulrich Gregor) UG: Die Schwierigkeiten, die man manchmal selber haben mag, muss man auch akzeptieren. Man muss manchmal über einen kleinen Graben springen, weil er ebenso verschiedene Elemente zusammenbringt und häufig einen hohen Grad der Stilisierung in seinen Filmen hat oder der theatralischen Inszenierung, die man vielleicht so nicht erwarten würde. Aber dann kommen großartige Momente der Erleuchtung und der Filmsprache, der Montage, gefundene Bilder. Er hat in seinen Filmen häufig Bilder, die sind geradezu einzigartig. EG: Im Kontext des Forums waren das völlig normale Filme. Die Leute haben sie gesehen und waren begeistert oder kritisch und haben darüber diskutiert. Es waren einfach interessante, spannend gemachte Filme. UG: Ja, ich glaube, unsere Zuschauer suchten solche Filme, die Grenzen überschreiten oder stilistische Linien entweder verlassen oder auf den Kopf stellen oder durcheinander bringen. Das wurde hier schon erwartet. Ob es für größere Zuschauerkreise ein Hindernis darstellt? Das ist vielleicht möglich. Aber es ist kein Grund, solche Filme nicht zu machen. Im Gegenteil, solche Filme muss man geradezu machen, um etwas zu bewegen, etwas Neues zu erzeugen und auch die Zuschauer vielleicht zu konfrontieren. Die müssen ja auch mal nachdenken, die müssen ja auch mal was erleben, was also nicht in ihr vorgefasstes Bild hinein passt. Musik: Anat Fort: “As Two/Something 'Bout Camels” Zuspiel (Gideon Levy) A: «I think it's always more powerful, if you mix between your own personal experience and the collective experience…» E: «… at least when it comes to his father, identity of an Israeli who looks at Israel from a certain distance.» Sprecher Volker Risch Die persönliche mit der gesellschaftlichen Erfahrung zu verbinden, hat eine stärkere Wirkung. Sprecherin Renate Fuhrmann Der israelische Journalist Gideon Levy. Zuspiel (Gideon Levy) A: «I think it's always more powerful, if you mix between your own personal experience and the collective experience…» E: «… at least when it comes to his father, identity of an Israeli who looks at Israel from a certain distance.» Sprecher Volker Risch Amos ist in der Lage, seine persönliche Geschichte als Israeli, der hier in einer sehr kritischen Phase aufgewachsen ist, als einen Mehrwert einzubringen. Er verfolgt ganz genau, was hier vor sich geht, auch wenn er nicht in Israel ist. Und weil er in den vergangen Jahrzehnten nicht hier gelebt hat, hat er einen anderen Blick auf die Dinge. Er kann Israel sowohl von innen heraus als auch mit Abstand betrachten, und sehen, wie das von außen aussieht. Das wirft natürlich auch Fragen nach der eigenen Identität auf, allein schon wegen seinem Vater. Amos hat die Perspektive und Identität eines Israelis, der sein Land aus einer gewissen Distanz betrachtet. Sprecherin Renate Fuhrmann Die persönlich inspirierten Filme Gitais, die nach der Erfahrung des Exils entstehen, sind auch eine Suche nach der eigenen Identität. Zuspiel (Ilan Moscovic) A: «I think, he searches about identities and all the time he creates identities …» E: «… you can see it in the movies, immediately, immediately, all the time you can see it.» Sprecher Uli Auer Ich denke, er sucht nach Identität und erzeugt beständig Identitäten. Das ist besonders deutlich in seiner späteren Schaffensperiode. 2004 ist seine Mutter Efratia gestorben, während der Dreharbeiten zu «Gelobtes Land». Dann machte er 2005 «Free Zone» und 2007 «Trennung». Und dann kommen «Carmel», «Schlaflied für meinen Vater», viele sehr kleine Filme, die von seinen Eltern und seiner Identität handeln. Bei Amos kannst du in all seinen Filmen sehen, was mit ihm los ist, was in ihm vorgeht. Du kannst sofort erkennen, was ihn beeinflusst oder beschäftigt. Sprecherin Renate Fuhrmann Die Schauspielerin Yael Abecassis. Zuspiel (Yael Abecassis) A: « Ça existe pas dans son monde mais ça existe dans le monde extérieure, alors c'est pour ça que les gens…» E: «… Le monde extérieur nous laisse pas vivre une vérité.» Sprecherin Nicole Engeln Identitäten existieren in seiner Welt nicht, aber in der Welt, die uns umgibt. Daher nehmen die Leute es so wahr, dass er Identität sucht. Aber Identitäten sind nichts Natürliches, sondern von uns Menschen erschaffen. Bei Amos hingegen gibt es eine Reinheit, eine Unschuld, während alle Welt von Identität spricht. Seine Filme sind andersartig herausfordernd. Sie enthalten eine Wahrhaftigkeit. Ich glaube, das ist es, was die Leute nicht begreifen oder begreifen wollen, denn es ist zu kompliziert. Es ist zu kompliziert, sich vorzustellen, dass es Freiheit geben könnte. Man kann sie nicht leben, weil die Außenwelt nicht zulässt, diese Wahrhaftigkeit zu leben. Musik: Anat Fort: “As Two/Something 'Bout Camels” Sprecherin Renate Fuhrmann Nach dem Tod des Vaters 1970 und seinem Militärdienst beginnt Amos Gitai, Architektur zu studieren, auch, um seinen Vater besser kennenzulernen. Mitten im Studium wird er im Oktober 1973 eingezogen zum Jom-Kippur-Krieg. Seine Mutter Efratia hatte ihm kurz zuvor eine Super-8-Kamera geschenkt. So beginnt Gitai als Mitglied einer Hubschrauberrettungseinheit im Krieg Filme zu drehen. Zuspiel (Amos Gitai) A: «I cannot even tell you why I started to make films, but I did some super-8 films. …» E: «… And then, little by little this will grow up and will structure a body of work.» Sprecher Josef Tratnik Ich kann euch nicht sagen, warum ich anfing, Filme zu drehen. Ich habe ein paar Super-8-Filme gedreht, die sehr minimalistisch waren, ohne Handlung, auch während des Kippur-Krieges. Ich experimentierte ein wenig herum, ohne besondere Ambitionen, und filmte Oberflächenstrukturen, Gesichter usw.. Das waren ästhetische Übungen. So bin ich sehr langsam zu einem Filmemacher geworden. Und ich denke, das ist gut so. Denn du brauchst eine gute Entwicklungsphase ohne irgendeinen Druck und direkte Ambitionen, in der du dich frei fühlst, nur das zu tun, was dir gefällt, mit dem du dich verbunden fühlst. Dann wird es langsam wachsen und ein strukturiertes Oeuvre bilden. Sprecherin Renate Fuhrmann Nach dem Abschluss des Architekturstudiums beschließt Gitai, kein Architekt, sondern Filmemacher zu werden, und findet 1977 Zugang zum israelischen Fernsehen, für das er erste Dokumentarfilme dreht. Seitdem sind über 60 Dokumentar- und Spielfilme entstanden. Heute ist Gitai ein Star des Autorenkinos in aller Welt, in Deutschland aber weitgehend unbekannt. Zuspiel (Ulrich Gregor) Wenn die Filme von Gitai nicht so herumgekommen sind, mag es vielleicht auch zu tun haben mit der Schwierigkeit im Umgang mit dem Thema Israel und dem Land Israel. Weil, es gibt so eine starke Befangenheit, ja auch heute noch gegenüber dem Land und dessen Politik und Kultur. Einerseits ist die Befangenheit durch Schuldgefühle. Zum anderen gibt es die ideologische Haltung gegen Israel, dass man für die Palästinenser sich einsetzen muss. Sprecherin Renate Fuhrmann Ulrich Gregor organisiert gemeinsam mit seiner Frau Erika seit 1971 einen Teil der Berlinale, das Internationale Forum des Jungen Films. In diesem Kontext lernten sie Anfang der 80er Jahre Amos Gitai und seine Filme kennen. Zuspiel (Erika und Ulrich Gregor) UG: Wir fuhren immer auch nach Frankreich, Anfang der Achtziger Jahre. Und ich glaube, dass wir ihn da getroffen haben und ins Gespräch gekommen sind. Und er erzählte von seinen Filmen. Damals gab es «Bait» und «Wadi». Und wir haben die angeguckt. Diese Filme, die haben uns ganz toll gefallen. Und wir hatten mit Gitai sofort eine sehr gute Kommunikation. Er gefiel uns so als Mensch, als Typ. EG: Ja, ich habe die Erinnerung an einen sehr jungen und sehr lebendigen Menschen, der gleich Kontakt hatte mit Leuten und der auch manchmal widersprach. Man konnte sich mit ihm auch streiten. UG: Jemand, der aus Israel kommt, aber noch relativ jung ist und voller Optimismus, voller Pläne, nicht so festgefahren in irgendwelchen Strukturen. Und das war eine wunderbare Begegnung. Atmozuspiel 17 (Filmausschnitt ««House») Gehämmer, arabische Gespräche Sprecherin Renate Fuhrmann Der Dokumentarfilm «Haus», Hebräisch Bait, von 1980 erzählt anhand der Geschichte der wechselnden Besitzer eines Hauses in Jerusalem die Geschichte Israels, von der Zeit des britischen Mandats über die Staatsgründung und Vertreibung der Palästinenser bis in die achtziger Jahre. Zuspiel (Amos Gitai) A: «You know, my film «House», which I did 35 years ago…» E: «… So, I think it still says a lot about the sources of the conflict.» Sprecher Josef Tratnik Einerseits bin ich stolz, dass der Film «Haus», den ich vor 37 Jahren gedreht habe, so aktuell ist. Andererseits deprimiert mich das völlig. Denn ich würde mir wünschen, er wäre überholt und wir würden heute in Frieden leben, den Film nicht mehr brauchen. Ich glaube, er sagt immer noch recht viel über die Ursachen des Konflikts. Zuspiel (Ulrich Gregor) Diese beiden Filme kamen aus Israel und sie hatten eine ganz, unbefangene Art des Herangehens an die Realität Israel, wo verschiedene Standpunkte, verschiedene Sichtweisen nebeneinander bestanden. Und normalerweise waren wir gewohnt, aus Israel Filme zu sehen, wo also eine Sichtweise verteidigt wird, die andere wird angegriffen. Es gibt also eigentlich immer nur eine. Hier dagegen kommt jemand, der die verschiedenen Geschichten eines Hauses, die verschiedenen Besitzer, die verschiedenen Rechtssituationen mal unter die Lupe nimmt und mit einem scharfen auch kritischen Auge, und keineswegs festgenagelt auf eine ideologische Position. Sprecherin Renate Fuhrmann Der französische Filmkritiker Jean Michel Frodon. Sprecher Volker Risch (Jean Michel Frodon: 2 x 3 x Gitai, Text aus: Amos Gitai: News from Home, Verlag der Buchhandlung Walther König 2006 (Berlinale-Katalog) S. 101f.) «Haus» zeigt den Abgrund zwischen persönlich erlebter und von außen wahrgenommener Geschichte. Der Film vermittelt über die Protagonisten zum einen die jüdische Wahrnehmung, das individuelle wie kollektive Gefühl, Sieger zu sein, das Gefühl der Befreiung, des Glücks und der Sicherheit. Zum anderen vermittelt «Haus» die Sichtweise der Palästinenser, das intime, schwer in Wort zu fassende, aber allgegenwärtige Gefühl der Niederlage, der Unterjochung und Ungewissheit. Gitai zeigt Menschen, die das Gleiche betrachten, aber etwas Unterschiedliches sehen, und der Zuschauer kann an dieser Vielfalt teilhaben. Sprecher Josef Tratnik (Amos Gitai - Text - Architecte de la mémoire, Gallimard 2014 S. 59) Die Reaktionen auf «Haus» waren sehr feindselig. Zeitungen schrieben, ich hätte den Film gemacht, um ihn an die Palästinenser zu verkaufen. Ich antwortete, «Klar, aber Arafat kauft keine Schwarz-Weiß-Filme.» Ich habe Jahre gebraucht, um zu begreifen, warum ein so ruhiger, bedächtiger und strukturierter Film ohne Stimme aus dem Off, der nur aus Biografiefragmenten der Protagonisten besteht, eine derartige Hysterie erzeugt. Und ich habe einen Grund gefunden: die sehr lyrische, poetische Weise, in der sich die Palästinenser ausdrücken, ihr schöner Umgang mit der Sprache. Das Problem ist nicht das Sujet des Films, sondern das Bild, das er entwirft. Zuspiel (Rivka Markovitzky) A: «At the time when he started, it was really very, very tough. Why? Because there was only one television …» E: «… he is brave, modest and he is very intelligent. This is the three things that I like about him, till now » Sprecherin Nicole Engeln Es war schwierig, als Amos anfing. Denn es gab nur einen Fernsehsender. Sprecherin Renate Fuhrmann Gitais Ehefrau Rivka Markovitzky. Zuspiel (Rivka Markovitzky) A: «At the time when he started, it was really very, very tough. Why? Because there was only one television …» E: «… he is brave, modest and he is very intelligent. This is the three things that I like about him, till now » Sprecherin Nicole Engeln Sagen dessen Redakteure Nein, kannst du gar nichts machen. Sie sagten Nein. Und es gefiel Amos ganz und gar nicht, nicht, was sie ihm sagten: «Du solltest drei Teile aus dem Film «Haus» herausschneiden, dann geht der Film in Ordnung.» Amos lehnte das ab. Also bekam er Drehverbot und sie ließen ihn gehen, wie man so schön sagt. Ich habe mir immer ein Leben wie in einem Western gewünscht, denn ich liebe Western. Du wachst morgens auf und weißt, wer gegen wen kämpft, jeder Tag ein Abenteuer. Deshalb habe ich Amos ermutigt, sich auf diese Abenteuer einzulassen. Denn meiner Meinung nach hat er etwas Besonderes: diese Art seiner Persönlichkeit. Sagen ihm die Leute, er solle kommerziellere Filme drehen, sagt er Nein. Schlagen sie vor, private Produzenten zu suchen, sagt er Nein. Amos ist mutig, bescheiden und äußerst intelligent, diese drei Dinge mag ich an ihm, bis heute. Atmozuspiel (Filmausschnitt «Wadi») Sprecherin Renate Fuhrmann Gitai hatte «Haus» für das israelische Fernsehen gedreht. «Haus» wurde in Israel niemals ausgestrahlt. Dasselbe Schicksal erlebten zwei Folgeprojekte, «Feldtagebuch» von 1982 über die Eskalation des Konfliktes mit den Palästinensern während des Libanonkrieges und «Wadi», ein Film über ein Tal in Haifa, in dem jüdische Überlebende des Holocausts und arabische Ureinwohner, die sich nicht haben vertreiben lassen, in einer Enklave friedlicher Koexistenz und Armut zusammenleben. Atmozuspiel (Filmauszug Wadi Grand Canyon 2001) Grillen, Hundegebell, Stimmen auf Arabisch. Sprecher Uli Auer (Serge Toubiana: Die Wadi-Trilogie, in: Munio Weinraub ׀ Amos Gitai: Architektur und Film in Israel, TU München, Edition Minerva 2009, S. 327) Es ist Nacht, Yussuf und eine alte arabische Frau sind im Licht einer Gaslampe zu sehen. Sie rauchen eine Zigarette. Die alte Frau erinnert sich stückweise an die Vergangenheit, formuliert ganz vorsichtig, damit man sie richtig versteht. Sie sagt: «Ich habe das Dorf Jissur 1948 verlassen. Neben uns war der Kibbuz Diran. Sie baten uns zu bleiben, aber wir sind gegangen. Sie haben uns nicht vertrieben, wir haben beschlossen zu gehen. Was ist schlimm daran, zusammenzuleben? Sie haben keinen vertrieben. Wir gingen von allein.» Yussuf wendet ein, «Sie dachten, es sei nur für ein paar Wochen, nicht, dass sie ein Leben lang wegbleiben müssen.» Das Licht flackert auf den Gesichtern der alten Menschen. Ein magischer Moment, als würde die Zeit stillstehen. Die Bewohner des Wadi leben in einer mythischen und friedlichen Vergangenheit, nach der sie sich zurücksehnen. Sprecherin Renate Fuhrmann Serge Toubiana Sprecher Josef Tratnik (Amos Gitai: Cinema forza di pace, a cura di Daniela Turco, Genova: Le Mani 2002, S. 118) Als ich das erste Mal das Wadi Rushmia sah, war ich dreiundzwanzig Jahre alt und völlig verwundert, einen solchen Ort mitten in Haifa zu entdecken. Keiner meiner Freunde wusste von seiner Existenz. Und die Einwohner des Wadi, diese Gruppe von Menschen, schienen wirklich vor langer, langer Zeit zu leben. Dieses Gefühl zum Wadi und zum arabischen Teil Haifas war eine große Entdeckung für mich. Und ich glaube, ich hatte schon damals innerlich beschlossen, einen Film darüber zu drehen. Atmozuspiel (Filmausschnitt «Feldtagebuch») Helikopterrotor, Musik, Salut-Schüsse. Sprecherin Nicole Engeln (Yael Munk - Amos Gitai - Blick auf die blinden Flecken israelischer Identität, in: Munio Weinraub ׀ Amos Gitai: Architektur und Film in Israel, TU München, Edition Minerva 2009, S. 236f.) Sein nächster Dokumentarfilm, «Feldtagebuch», der hauptsächlich während des Libanonkrieges im Juni 1982 aufgenommen wurde, behandelt die dramatische Verschlechterung der Lebensbedingungen der Palästinenser unter der israelischen Besetzung. Bei einer ersten Betrachtung geht es um die Eskalation der Gewalt zwischen Israelis und Palästinensern. Eigentlich aber reflektiert der Film auf radikale Weise die Macht der Kamera in Zeiten des Krieges, verstärkt durch das immer wiederkehrende Bild von Soldaten, die versuchen, das Objektiv der Kamera mit der bloßen Hand zu verdecken, wenn sie merken, dass Gitai und seine Crew kein Nachrichtenteam des israelischen Fernsehens sind und ihre Aufnahmen daher eine «andere Wahrheit» über die Besatzung der Westbank durch Israel enthüllen könnten. Dieser Film stieß auf noch stärkere Ablehnung als «Haus» und «Wadi» und führte zum endgültigen Bruch des Filmemachers mit seinem Heimatland. Gitai entschloss sich, Israel zu verlassen und nach Paris zu gehen. Sprecherin Renate Fuhrmann Die Filmwissenschaftlerin Yael Munk. Zuspiel (Amos Gitai) A: «After I did House, and Wadi, and Field Diary it was explained to me …» E: «… and our little daughter to Paris. And these view weeks became years.» Sprecher Josef Tratnik Nach «Haus», «Wadi» und «Feldtagebuch» wurde mir relativ unverblümt gesagt, es gäbe keine Arbeit mehr für mich. Der Generaldirektor des Fernsehens erteilte mir Hausverbot. Ich durfte also nicht einmal mehr das Gebäude betreten, geschweige denn Filme drehen. So hatte ich zwei Möglichkeiten: Entweder in einem schicken Cafe in Tel Aviv zu sitzen, und alle würden auf mich zeigen und sagen, «Also der hatte wirklich Talent. Jammerschade, aber er wird keinen Film mehr drehen können.» Oder aber zu sagen, «Ich spiele da nicht mit». Einige Franzosen hatten mich, Rivka und unsere kleine Tochter Karen nach Paris eingeladen, für einige Wochen. Daraus wurden viele Jahre. Sprecherin Renate Fuhrmann Nach der Wahl Yitzhak Rabins zum Ministerpräsidenten 1992 kehrt Gitai dann aus dem Exil nach Israel zurück. Unsere Interviews mit Amos Gitai entstanden bei den Dreharbeiten zu seinem zweiten Feldtagebuch, «Westlich des Jordan - Feldtagebuch neu betrachtet», seinem neuesten Dokumentarfilm, den er im Mai 2017 auf den Filmfestspielen in Cannes präsentierte. Der Film handelt vom gewaltbereiten nationalistisch religiösen Klima, das heute in Israel herrscht. Musik: Amit Poznansky: Main Theme from Rabin, The Last Day Zuspiel (Amos Gitai) A: «I consider that the justification of this country is that it is a political project, Israel, not a religious project. …» E: «….Rabbis for human rights, a lot of… I film all these people and the hostilities that are being met and so on.» Sprecher Josef Tratnik Ich denke, die Rechtfertigung für dieses Land ist diejenige, ein politisches Vorhaben zu sein, kein religiöses. Israel ist die Schlussfolgerung aus dem Leiden der Juden, den Pogromen, der Diskriminierung. Sie brauchten einen Ort. Daraus ergibt sich eine Legitimation für mich, nicht aus dem alten Land der Vorfahren und all dem. Und ich denke, überbordende religiöse Untertöne können die Rechtfertigung für die Existenz dieses Landes zerstören. Ich arbeite gerade an einem neuen Dokumentarfilm über diese Untertöne. Und ich stelle fest, es gibt eine große Feindseligkeit gegenüber Menschenrechtsgruppen, die ich für sehr mutig halte, wie B'Tselem, Breaking the Silence, oder Rabbis für Menschenrechte. Musik: Amit Poznansky: Main Theme from Rabin, The Last Day Sprecherin Renate Fuhrmann Seit Jahren sind Palästinenser, liberale Juden und Menschenrechtler in Israel extremer Gewalt extremistischer Siedler und national-religiöser Fundamentalisten ausgesetzt. Nach dem Mord an Yitzhak Rabin 1995 sind sie immer stärker geworden und mit den Regierungen Benjamin Netanyahus direkt an die Macht gelangt. Seitdem herrscht ein Hassklima, in dem die Extremisten auch vor Morden nicht zurückschrecken. Im Ausland wird diese Zerrissenheit des Landes kaum wahrgenommen. In seinem zweiten Feldtagebuch, «Westlich des Jordan», portraitiert Gitai mutige Israelis, die den Aggressionen ihrer Landsleute ausgesetzt sind, weil sie gegen die Besatzung Palästinas agieren. Wie der Journalist Gideon Levy. Zuspiel (Gideon Levy) A: «He is doing something abut the peace process and the failure of the peace process…» E: «…One house that was demolished, one guy who was injured, one guy who was interrogated and tortured, whatever.» Sprecher Volker Risch Amos dreht gerade einen Film über das Scheitern des Friedensprozesses und die endlose Besatzung. Ich fahre jede Woche in die besetzten Gebiete, um die Besatzung zu dokumentieren, und er wollte mich einen Tag mit seinem Filmteam begleiten, um eine meiner Recherchen zu filmen. Seit mehr als dreißig Jahren berichte ich über die Verbrechen der israelischen Besatzung, die - so kommt es mir vor - zum Normalzustand geworden sind. Denn ich reise mindestens einmal pro Woche in die besetzten Gebiete und sammle Geschichten darüber. Aber es sind immer kleine Mikro-Geschichten, ein Junge, der erschossen wurde, ein Haus, das zerstört wurde, ein Verletzter, ein Verhörter und Gefolterter. Zuspiel (Amos Gitai) A: «These successive wars, the Lebanon war, the Gaza war, the day to day incursions, at the same time not willing…» E: «….So when she was fired I called her and I told her, "You were fired from the theatre, but I'm going to give you the lead role in my movie, you know".» Sprecher Josef Tratnik Die fortwährenden Kriege im Libanon und in Gaza, die täglichen Übergriffe in der Westbank und die Weigerung, ernsthaft eine Lösung zu suchen, das ist eine wirklich gefährliche Politik, von der ich offen gesprochen nicht weiß, wo sie hinführen wird. Die Bürger- und Menschenrechtsgruppen, die ich gerade filme, machen die Regierung und die Rechten wahnsinnig. Aber es gibt sie nur deshalb, weil die Regierung die Rechte der Palästinenser unter israelischer Besatzung nicht wahrt. Ein paar Menschen haben hier also noch eine intakte Moral, das ist mutig und notwendig. Die Schauspielerin Einat Weizmann etwa hat gegen den Gazakrieg protestiert. Deshalb wurde sie aus dem Theater geworfen. Also rief ich sie an und sagte, «Du wurdest gefeuert, ich gebe dir eine Hauptrolle in meinem Film». Zuspiel (Einat Weizmann) A: «I was threatened in the streets, people attacked me for my views…» E: «….Also my agent told me to shut up, because I will have no work.» Sprecherin Nicole Engeln Ich wurde auf der Straße bedroht und von Menschen tätlich angegriffen, wegen meiner politischen Position. Ich weiß daher, was es heißt, in Israel seine Meinungen zu vertreten. Das war während des Gazakrieges 2014. Ich habe auf Facebook ein Foto von mir mit der palästinensischen Flagge gepostet unter der Überschrift "Freiheit für Palästina". Tausende Menschen schrieben mir, sie wollten mich töten und vergewaltigen. Da ich relativ bekannt bin, wurde ich auch auf der Straße angegriffen. Die Menschen bespuckten und verfluchten mich. Das war eine schlimme Zeit. Und dann sagte mein Agent zu mir, ich solle den Mund halten, sonst würde ich keine Rollen mehr bekommen. Musik: Shai Maestro Trio: “From One Soul To Another” Zuspiel (Gideon Levy) A: «The last war really was a turning point. It was the first time in the history of Israel…» E: «…how dangerous is the way that Israel is walking.» Sprecher Volker Risch Der Gaza-Krieg 2014 war ein Wendepunkt. Das erste Mal in der Geschichte Israels hatten Menschen Angst, zu demonstrieren. Sie hatten Angst von den Rechten angegriffen und verprügelt zu werden. Das war eine sehr harte Zeit, die gezeigt hat, wie gefährlich der Weg ist, auf dem Israel sich befindet. Zuspiel (Einat Weizmann) A: « It's a long way, that leads to the situation today …» E: «… So in this atmosphere you need to be strong in order to be dissident.» Sprecherin Nicole Engeln Es ist eine lange Entwicklung, die zur heutigen Situation geführt hat. Alle Menschen in Israel sind schuld daran, alle, die in dieser Blase in Tel Aviv leben und dem Ganzen Vorschub geleistet haben. So konnten die Extremisten immer stärker werden. Wer schweigt, kollaboriert mit den Extremisten. Jeder muss etwas in seinem Bereich tun. Aber es ist sehr schwierig, in Israel eine gegensätzliche Meinung zu vertreten. Weil es extrem unpopulär ist und du starkem Hass ausgesetzt bist. Alle, die den Zionismus kritisieren, bekommen das Kainsmal des Feindes, egal ob sie Juden oder Palästinenser sind. In solch einer Atmosphäre muss man als Andersdenkende sehr stark sein. Zuspiel (Gideon Levy) A: «Anything might happen. I feel right now quite secure, but I had bodyguards for a while…» E: «….And Amos in a way puts a mirror. Who wants to watch the mirror when the picture is quite ugly?» Sprecher Volker Risch Alles kann passieren, auch wenn ich mich im Moment recht sicher fühle. Eine zeitlang hatte ich Leibwächter, während des letzten Gaza-Krieges. Es ging nicht mehr anders. Ich hatte einen Artikel geschrieben über die Verbrechen der israelischen Piloten in Gaza. Danach wurde es dann wirklich gefährlich für mich, und sehr unangenehm. Es wird weitere politische Morde in Israel geben, da besteht kein Zweifel, all diese Hassdemonstrationen der Rechten. Israel ist heute mit Abstand die rassistischste Gesellschaft der Welt. Und ich weiss, dass es derzeit einen sehr starken Rassismus in Europa gibt. Aber nirgendwo ist Rassismus so gesellschaftsfähig wie hier. Die Regierung ist extrem nationalistisch und religiös. Das wirkt sich auf die Gesellschaft aus. Sie ist äusserst rassistisch, nationalistisch und gewaltbereit, eine gefährliche Mischung. Und Amos hält dieser Gesellschaft einen Spiegel vor. Wer schaut dort hinein, wenn das Bild so hässlich ist? Zuspiel (Amos Gitai) A: « The procedure of this government right now, both to act in a very violent and non humanistic manner …» E: «… So, you have now a very bad government changing components, basic components of the Israeli society.» Sprecher Josef Tratnik Durch ihr gewaltvolles und unmenschliches Vorgehen hat die jetzige Regierung dem Projekt Israel großen Schaden zugefügt. Ich fürchte, vieles ist nicht rückgängig zu machen, selbst wenn die Rechte die Macht verliert. Diese Regierung hinterlässt tiefe Spuren, etwa in der Bildung. Unser Erziehungsminister will Mahmoud Darwish aus dem Lehrplan streichen. Man muss Darwish lesen, um den palästinensischen Standpunkt zu begreifen. Du musst seine Texte nicht lieben, aber es ist wichtig, sie zu kennen. Auf dem letzten Jerusalem Film-Festival wurde die Kultusministerin ausgebuht. Am nächsten Tag sagte sie, wir israelische Filmschaffende seien das Trojanische Pferd des Feindes. Dann die Justizministerin, die in das Gerichtswesen eingreift, sprich: Wir haben eine wirklich schlimme Regierung, die die Grundlagen des Staates verändert. Musik: Anat Ford: “Chapter One” Sprecherin Renate Fuhrmann Nach seiner Rückkehr nach Israel und der Ermordung Yitzhak Rabins begann Amos Gitai seine dritte Schaffensperiode mit persönlich-biografischen und international gefeierten Spielfilmen zur Geschichte Israels. Es sind historische Rekonstruktionen, mit denen Gitai die Entstehung des heutigen Extremismus befragt. Davon und von seiner parallelen Suche nach der eigenen Identität erzählen wir in der dritten Stunde der Langen Nacht. Musik 3. Stunde Musik: Avishai Cohen Trio: „The Ever Evolving Etude“ Zuspiel (Amos Gitai) A: «When I started to make films more than thirty years ago, I felt that the Israeli cinema …» E: «…Et cetera. So, I felt that it deserves, because, because it's a strong story, to have a strong cinema.» Sprecher Josef Tratnik Als ich vor vierzig Jahren begann, Filme zu drehen, bestand das israelische Kino aus äußerst mittelmäßigen Komödien. Ich hatte das Gefühl, es stellt sich nicht der Herausforderung, die das Land darstellt. So hatte ich also sehr viele Themen zu bearbeiten: in «Kadosh» die Religion, in «Kippur» den Krieg, Sinnlichkeit in «Alilà», große Epen in «Kedma» oder «FreeZone», oder den Missbrauch von Frauen in «Gelobtes Land». Ich hatte das Gefühl, dieses Land verdient ein starkes Kino, weil es eine so starke Geschichte hat. Sprecherin Renate Fuhrmann Nach zwölfjährigem Exil in Frankreich kehrt Gitai 1994 nach Israel zurück und beginnt in seinen Filmen eine grundlegende Auseinandersetzung mit den kritischen Aspekten der Geschichte und Gesellschaft seines Landes: die fortwährenden Kriege, der religiöse Fundamentalismus, die Unterdrückung der Frauen und Palästinenser. Nach der Ermordung Yitzhak Rabins durch Rechtsextremisten ist sein treibendes Moment dabei die Frage nach dem Warum der ewigen Gewalt und des wachsenden Extremismus. Aber Gitai sucht weniger nach eindeutigen Gründen oder Antworten. Vielmehr zerlegt er einzelne Bestandteile verschiedener Ablagerungsschichten der Geschichte, der Geschichte seines Landes und seiner eigenen Familiengeschichte, die eng mit der Geschichte Israels verbunden ist. Sprecherin Renate Fuhrmann Der Film «Kedma» spielt in den Tagen der Staatsgründung. Gitai zeigt darin, wie Überlebende des Holocaust 1948 nach Israel kommen und direkt an die Front zur Schlacht von Latrun geschickt werden, um gegen die Palästinenser zu kämpfen und den Weg nach Jerusalem zu erobern. Der Schluss des Films ist ein fünfminütiger verzweifelter Monolog des Überlebenden Yanush, der die Diaspora verdammt, nachdem fast alle Juden im Kampf umgekommen sind. In diesem Monolog verbindet Gitai das israelische mit dem palästinensischen Narrativ. Zuspiel (Amos Gitai) A: «The end of Kedma it's actually a mixture between Mahmoud Darwish and Tawfiq Ziad …» E: «…It's not my position, but it is authentic to the period. » Sprecher Josef Tratnik Der Schluss von «Kedma» ist eine Mischung aus Mahmoud Darwish und Tawfiq Ziad, zwei palästinensischen Dichtern, mit einem jüdischen Schriftsteller, Haim Hazaz, der diese Kritik an der Diaspora übt. Ich vermenge also zwei verschiedene Narrative, das palästinensische und das israelische. Zur damaligen Zeit hatten die Menschen eine stark diaspora-kritische Position. Das ist nicht meine Position, aber es entspricht authentisch der Zeit, die ich darstellen wollte. Zuspiel (Filmausschnitt «Kedma») Es gibt viele, die meinen, dass unsere Fähigkeit, auch großes Leid zu ertragen, Heldentum wäre. Aber ich, ich sehe das anders, Heldentum dieser Art ist für die Katz. Es wächst nur aus der Verzweiflung. Leiden ist unser Leben. Wir lieben das Leiden. Dürften wir nicht leiden, käme uns doch der Sinn unseres Lebens abhanden. Gar keine Frage: das Leiden ist, was uns zu Juden macht. (...) Juden lieben die Diaspora, sie ist das Wichtigste in ihrem ganzen Leben, noch viel wichtiger als Jerusalem. Der Talmud beschreibt den Weg ins Verderben. Abermillionen von Menschen, ein Volk ergibt sich dem Wahnsinn und taucht glücklich darin ein. Schon zwei Jahrtausende leben wir so. Was für ein Volk, seltsam, ein Volk so schrecklich, bis in den nackten Irrsinn hinein. Ich weiss, dieser Irrsinn ist gewollt, von Anfang an: Der Glaube an den Messias? Ein Mythos weiter nichts! Gäbe es den Mythos nicht, wäre alles ganz anders. Sie würden sich ein Land nehmen, ob Palästina oder ein anderes, ist völlig egal. Der Staat Israel ist kein jüdischer Staat, schon in der Entstehung nicht und später dann noch weniger, das wird mit der Zeit deutlich werden, ja so ist es. Alles ist verloren, aus vorbei.» Zuspiel (Micha Brumlik) Also nach dem, was ich weiß, war das historisch getreu, da sind tatsächlich Überlebende aus den Internierungslagern in Europa im Kampf an die Front, im Krieg 47/48, geschickt worden. Sprecherin Renate Fuhrmann Micha Brumlik Zuspiel (Micha Brumlik) Ich finde das «Kedma» auch zeigt, mit welchen Hoffnungen die Holocaust-Überlebenden dann in diesen Krieg gezogen sind. Also nach all dem Grauen, nach den Traumata, den seelischen Verwundungen, bestand jetzt hier die Hoffnung, etwas Neues aufbauen zu können. Es gibt, ich glaube, in «Kedma» einen Charakter, der wird sehr eindrücklich gezeigt, der berichtet, dass alle seine Verwandten umgebracht worden sind. Und der sich dann in einer Orgie von verbaler Mordlust, also, ergeht, in der etwas kurzschlüssigen Gleichsetzung der palästinensischen Araber mit den Nationalsozialisten. Sprecherin Renate Fuhrmann Gitais Ehefrau Rivka Markovitzky Zuspiel (Rivka Markovitzky) A: «There are films, let's say Kedma, that I advised him regarding text, because actually it's the story of my parents…» E: «…And I remember that he was telling me, you know, they spoke Russian and Yiddish and, and Polish and the guy that was guiding them, he spoke Hebrew.» Sprecherin Nicole Engeln In Filmen wie «Kedma» habe ich ihn, was den Text angeht, beraten. Denn «Kedma» ist tatsächlich die Geschichte meiner Eltern. Mein Vater war bei der Schlacht von Latrun. Und meine Mutter war in Auschwitz. Die Überlebenden kamen mit dem Schiff nach Israel. Und meine Mutter kam tatsächlich mit der Kedma. Bei dem Film habe ich ihm vieles gesagt. Etwa, «Wenn du die Schlacht von Latrun drehst, musst du verschiedene Sprachen verwenden.» Denn mein Vater erzählte mir, dass er sofort nach der Ankunft per Schiff in Israel gemeinsam mit anderen direkt aufs Schlachtfeld geführt wurde. Er sagte, «Wir sprachen Russisch, Jiddisch und Polnisch und unsere Anführer sprachen Hebräisch.» Sprecherin Renate Fuhrmann Der Schauspieler Liron Levo Zuspiel (Liron Levo) A: « In Kedma I have the part that I'm explaining to the other guys how to do with the rifle …» E: «… What would another person do instead of you? A lot of questions. What should have be done, what could have done better?» Sprecher Volker Risch Ich habe meinen Großvater aus Lettland gefragt, welche russischen Worte ich einbauen soll. Denn in meiner Rolle in «Kedma» erkläre ich den gerade Angekommenen, wie sie das Gewehr benutzen sollen. Der Film handelt von Menschen, die sich ihren Weg in ein Land erkämpfen, in dem sie leben wollen, ein gescheitertes Unternehmen von Anfang an, aber wir sind immer noch hier. Die Menschen kamen aus ideologischen Gründen. Sie mussten andere Menschen umbringen. Das ist die ewige Geschichte der Kriege. Wem gehört das Land? Wer ist der Mächtigere? Was ist richtig, was ist falsch? Was hättest du getan? Also jede Menge Fragen. Was hätte getan werden sollen? Was hätte besser gemacht werden können? Musik: Shauli Einav: „Eleven Fifty Two“ Sprecherin Renate Fuhrmann In zahlreichen Filmen befragt Amos Gitai die kriegerische Geschichte seines Landes auch in Verbindung zu seiner persönlichen Geschichte. In dem collageartigen und vielschichtigen Film «Carmel» nimmt er den zweiten Libanonkrieg 2006 zum Anlass für eine Reflexion über die endlosen Kriege Israels, in Form eines persönlichen Tagebuchs. Zuspiel (Amos Gitai) A: «It's a completely real story, you know, because when the war started it was during his military service …» E: «…And said, can I, can I wait here? He said yeah, you can make you a coffee, you know. » Sprecher Josef Tratnik Die Geschichte ist wahr. Als der Libanonkrieg 2006 begann, absolvierte unser Sohn Ben seinen Wehrdienst. Das ist die Zeit, als David Grossman seinen Sohn verlor. Ich hatte eine schlimme Vorahnung, rief Ben an und sagte «Ich komme dich besuchen.» Dann sagte Rivka, «Also hör mal, ganz Galiläa ist unter Beschuss der Hisbollah, du kannst da nicht einfach hinfahren», genau wie im Film. Also fuhr ich nicht. Aber gegen 15 Uhr bekam ich so große Angst, dass ich Ben erneut anrief und sagte, «Ich komme.» Ich fuhr als einziges Zivilfahrzeug durch Galiläa mit all den Raketen um mich herum. Dann rief ich Ben an. Er sagte, «Jetzt kommst du?! Ich kann dich nicht treffen, wir steigen gerade in den Helikopter.» Ich versuchte es mit väterlichem Druck, «Hör mal, ich habe die ganze Fahrt für dich gemacht, du solltest auf mich warten.» Die Sonne ging unter und ich fand diese geöffnete Tankstelle im Norden Galiläas. Der einzige Mensch dort war dieser Palästinenser, der sehr freundlich war und mich fragte, «Was machst du hier?» Ich sagte ihm, «Ich suche meinen Sohn, der in der Armee ist. Kann ich hier auf ihn warten?» Er sagte «Klar, nimm dir einen Kaffee.» Sprecherin Renate Fuhrmann Der arabisch-israelische Schauspieler Makram Khoury Zuspiel (Makram Khoury) A: «Carmel, we had a lovely scene together, which was a completely chaotic scene …» E: «… you could see the tragedy of the middle east (Lachen).» Sprecher Volker Risch In «Carmel» gibt es eine hübsche Szene mit uns beiden, vollkommen chaotisch, vollständig improvisiert. Die Szene ist ein Dialog, aber wir hören uns nicht zu. Jeder erzählt seine Geschichte. Es gibt also keine Kommunikation. Und als Ergebnis siehst du die ganze Tragödie des Nahen Ostens. Atmozuspiel (Fimausschnitt «Carmel») Makram Khoury Lachen, Arabisch, Amos Gitai Hebräisch Zuspiel (Makram Khoury) A: «He always mixes reality with fiction. And then he had this character …» E: «…And not to jump on his line. I cherish this experience, it's crazy.» Sprecher Volker Risch Amos verbindet immer Realität und Fiktion. Er hatte diese Figur aus Jehoshuas Roman «Der Liebhaber». Darin gibt es einen arabischen Mechaniker und Amos sagte, «vielleicht nehmen wir das?!» Also habe ich mich auf diesen Monolog vorbereitet. Aber am Drehtag habe ich den Monolog gar nicht gehalten. Amos unterbrach mich mit Fragen und erzählte von sich selbst und seinen Ängsten. Ich ging dann mit meinem Monolog immer dazwischen, wusste aber nicht wo ich einsteigen sollte. Als mir dann klar wurde, dass das Ganze völlig improvisiert ist, ich meine Geschichte erzählen und an ihr dranbleiben muss und Amos seine und wir uns dabei aber nicht gegenseitig das Wort abschneiden dürfen... Also diese Erfahrung halte ich in Ehren. Sie ist verrückt. Zuspiel (Amos Gitai) A: « We have parallel narratives, you know. And when I worked on it with Makram, he was really wonderful…» E: «…I said to Ben that I want to re-enact the scene. And he was nice, he said "ok, so let's do it" you know.» Sprecher Josef Tratnik Unsere Narrative verlaufen parallel zueinander, aneinander vorbei. Es war wunderbar mit Makram daran zu arbeiten. Jeder hat seinen eigenen Erzählstrang. Aber es ist fatal, wenn wir keine gemeinsame Kommunikation finden. Nach drei Stunden kam Ben dann in einem Jeep, wie im Film. Ich sagte zu ihm, «Ich kann nicht so tun, als ob mich das nicht freut, aber ich habe das Gefühl, ich habe dir deinen Krieg verdorben». Diese Szene ist mir sehr wichtig. Darüber habe ich auch mit Grossman gesprochen. Er hatte diese große Demonstration gegen den Krieg in Tel Aviv organisiert. An einem bestimmten Punkt musst du direkt eingreifen. Genau das habe ich getan. Als ich dann den Film «Carmel» gedreht habe, der wie ein Tagebuch dieser Zeit ist, sagte ich zu Ben, «Ich möchte das nachspielen.» Und er war sehr liebenswert und sagte, «Okay, ich bin dabei.» Musik: Dalia Faitelson: „Enosh“ Zuspiel (Ilan Moscovic) Twenty years after Kippur War, he came back in 1993 and the first movie he makes it was a documentary about the event. It was six people that he goes, to the mother of the guy who died. Sprecher Uli Auer Als Amos 1994 aus Frankreich zurückkam, zwanzig Jahre nach dem Kippurkrieg, drehte er zuerst einen Dokumentarfilm über das, was ihm im Krieg geschehen war, «Kippur - Kriegserinnerungen». Er sucht die sechs Überlebenden auf und die Mutter des Soldaten, der umgekommen ist. Sprecherin Renate Fuhrmann Gitais persönlicher Assistent Ilan Moscovic. Im Dokumentarfilm «Kippur - Kriegserinnerungen» widmet sich Gitai seinem persönlichen Trauma des Helikopterabsturzes, den er als Mitglied einer Rettungseinheit im Jom-Kippur-Krieg überlebte, ein Krieg der zugleich ein Trauma für das gesamte Land war. Nach seinem Absturz 1973 begann Gitai Filme zu drehen. Zuspiel (Amos Gitai) A: «When I started to work on it, '94, very few of my even close friends knew my story about this war …» E: «…So this is the documentary I did for the Israeli television after they readmitted me, after … twelve years of absence.» Sprecher Josef Tratnik Als ich 1994 mit der Arbeit an «Kippur - Kriegserinnerungen» begann, kannten selbst meine engen Freunde meine Geschichte nicht. Denn ich wollte nicht darüber reden. Aber es begann wie ein Scherz. Tzaki, einer der Typen aus dem Helikopter, der beim Absturz ein Bein verloren hat, rief meine Mutter an, als ich noch nicht nach Israel zurückgekehrt war. Er sagte, «Amos hat Super-8-Filme im Krieg gedreht. Ist es nicht an der Zeit, dass er mir diese Filme mal zeigt?» Meine Mutter war vorsichtig - sie wusste ja nun, wie feindselig meine Filme aufgenommen worden waren - und fragte, «Was machen Sie jetzt?» Er sagte, «Ich arbeite als Privatdetektiv». Dann sagte sie, «Wenn Sie Privatdetektiv sind, finden Sie ihn», und legte auf. Und er fand mich. Ich sagte dann, «Tzaki, jetzt, wo du mich gefunden hast, folge ich dem Rat meiner Mutter: finde alle anderen, die den Absturz überlebt haben.» Und er hat es geschafft, er ist ein guter Privatdetektiv. So konnte ich den Dokumentarfilm für das israelische Fernsehen drehen, nachdem sie mich nach 12 Jahren Drehverbot wieder hineinließen. Sprecherin Renate Fuhrmann In «Kippur Kriegserinnerungen» kehrt der Regisseur die Rollen um und lässt sich von seinen ehemaligen Kameraden interviewen. So wird Gitai selbst Inhalt und Teil des Films. Er handelt von den Schwierigkeiten, mit dem Überleben klarzukommen, nach einem existentiellen Krieg, in dem Tausende Menschen starben - ein bescheidener, unsicherer Film über Grenzen und Möglichkeiten der Aufarbeitung von Erinnerungen. Genau wie der gefeierte Spielfilm «Kippur». Atmozuspiel (Filmausschnitt «Kippur») Liron Levo Hebräisch, Helikopterrotor. Zuspiel (Amos Gitai) A: «It was very moving, and I remember that one day on the Golan Heights …» E: «…No, I think the important thing is not to make it too heroic and to show really what was involved in it.» Sprecher Josef Tratnik Den Spielfilm zu drehen, war sehr bewegend. Ich erinnere mich an einen Drehtag auf den Golanhöhen. Als all die Jungs mit ihren Panzern dort waren, kam einer zu mir und fragte, «Sag mal, findest du nicht, das ist ein wenig zu teuer für eine Psychoanalyse-Behandlung?» Ich sah ihn an und antwortete, «Was soll ich deiner Meinung nach denn tun?» Ich denke, das Wichtigste ist, es nicht heroisch werden zu lassen und zu zeigen, was tatsächlich geschehen ist. Zuspiel (Micha Brumlik) Das ist ein Film, der schwer zu ertragen ist, weil er in einer außerordentlich realistischen Weise den Lärm, die Grausamkeit, aber auch die Langeweile des Krieges zum Ausdruck bringt. Der Film besteht ja zum großen Teil aus Szenen des Wartens und dann natürlich des, des Sterbens, übrigens mehr des Sterbens als des Tötens. Also, das war einer der besten Kriegsfilme, die ich je gesehen habe, gerade weil es nicht so ein Abenteuerfilm gewesen ist, sondern weil er die endlosen, langweiligen, tödlichen Routinen von Kriegen gezeigt hat. Zuspiel (Gideon Levy) A: «I think Kippur was the strongest film, because it's my generation. I was in the Kippur but not in the battlefield …» E: «…And Amos described it in a very correct and precise and fair way. So therefore it was very touching for me and very impressive.» Sprecher Volker Risch Für mich ist «Kippur» sein stärkster Film. Das ist meine Generation. Sprecherin Renate Fuhrmann Der Journalist Gideon Levy. Sprecher Volker Risch Auch ich war im Kippurkrieg, aber nicht auf dem Schlachtfeld. Ich arbeitete schon als Journalist. Alle, die diese Zeit miterlebt haben, wissen, dass dies ein wirkliches Trauma und ein Wendepunkt in der Geschichte Israels war, das Ende ihres ersten Kapitels. Das Ende des Selbstbewusstseins und der Arroganz, dass wir tun können, was wir wollen, dass unsere Armee besser sei als alle anderen. Amos hat das sehr korrekt, präzise und fair beschrieben. Deshalb hat der Film mich sehr berührt und beeindruckt. Musik: Filmmusik aus «Kadosh», Dino Saluzzi: „Silence“ Sprecherin Renate Fuhrmann «Kippur» bringt Amos Gitai im Jahr 2000 seine zweite Einladung zu den Filmfestspielen in Cannes. Ein Jahr zuvor wurde er dort bereits für «Kadosh» gefeiert, in dem er die Lebensrealität orthodoxer Juden portraitiert, ein einfühlsamer Film über die Unterdrückung der Frauen im orthodox-religiösen Milieu. Hauptdarstellerin Yael Abecassis. Zuspiel (Yael Abecassis) A: «C'est un film très dure e c'est été très dure de le tournée. …» E: «…dans toutes les religions. Et l'amour c'est pas une valeur, ou… qui existe.» Sprecherin Nicole Engeln «Kadosh» ist ein sehr harter Film und es war ungemein hart, ihn zu drehen. Denn wir haben ihn in nur 15 Tagen in Jerusalem gedreht, ohne Genehmigung. Amos wollte, dass der Film so wahrhaftig wie möglich wird. Also haben wir in einem stark religiösen Umfeld gedreht. Auch bei der Szene an der Klagemauer hatten wir keine Genehmigung. Amos ist da sehr mutig. Der Film rührt an eine Wahrheit, von der niemand bis dahin wusste oder gesprochen hatte. In dieser orthodoxen Welt ist die Frau dem Mann nicht gleichgestellt. Das ist in allen Religionen so. Und Liebe ist kein Wert, der in dieser Welt existiert. Zuspiel (Amos Gitai) A: «When in Jerusalem the film was shown in a small cinema and sometimes in the day screenings they would sneak in …» E: «…. which is about the relation of the monotheistic religion to women by large. And I think that's the way it should be looked at.» Sprecher Josef Tratnik Als «Kadosh» in einem kleinen Kino in Jerusalem gezeigt wurde, kamen einige Orthodoxe, schauten sich den Film an und sagten, «Was du da gemacht ist, ist schon sehr präzise.» Hingegen bekam ich einen sehr langen Brief von einem Rabbi aus New York, der alles aufzählte, was ihm im Film nicht gefiel, und am Schluss hinzufügte, «Ich werde ihn mir auf keinen Fall anschauen». Natürlich gibt es immer noch Menschen, die denken, der Film greife die Religion an. Aber «Kadosh» hatte auch interessante Folgen. Eine feministische Gruppe in Bangladesh hat mit ihm gearbeitet. Der Film hat gar nichts mit der moslemischen Tradition zu tun. Aber sie haben das generelle Verhältnis monotheistischer Religionen zu Frauen thematisiert. Und ich denke, genau so sollte man «Kadosh» betrachten. Musik: Dalia Faitelson: „Yona Avuda“ Sprecherin Renate Fuhrmann In fast all seinen Filmen zeigt Amos Gitai eine besondere Aufmerksamkeit für Frauen und Frauenschicksale. Frauen tragen zumeist die Hauptrollen und stechen immer hervor neben den Männern, die eher im Hintergrund bleiben. Yael Abecassis. Zuspiel (Yael Abecassis) A: «Amos adore sa mère. Il admire sa mère. Efratia pour lui c'est…» E: «….même si elles sont maltraites. Il a un regard très féministe, oui. C'est un féministe, ça c'est sûr.» Sprecherin Nicole Engeln Amos vergöttert seine Mutter, er bewundert sie. Efratia war für ihn die Größte und sie fehlt ihm. Er ist sehr sinnlich, der Geruch seiner Mutter, ihr Körper - das ist in all seinen Filmen enthalten. Amos ist ein Mann der Frauen, ein Kind der Frauen. Und die Frauen in seinen Filmen sind immer interessant, selbst wenn sie schlecht behandelt werden. Also, er hat einen sehr feministischen Blick. Amos ist ein Feminist, das ist sicher. Sprecherin Renate Fuhrmann Erika Gregor Zuspiel (Erika Gregor) Das ist mir immer aufgefallen, dass er eine besondere Art hat, Frauen zu bemerken und ihre Schwächen und ihre Stärken zu sehen, und auch ihr Leiden. Also man kann das ja nicht einen weiblichen Blick nennen, aber es ist mir immer aufgefallen, seine Sensibilität für Frauen. Und es ist in einem anderen Film, wo Jeanne Moreau eine alte Dame spielt, die mit, ich glaube, ihrem Enkel in eine Synagoge geht und ihm etwas erklärt. Das sind unbeschreibliche Szenen, so nah ist er an den Personen. Sprecherin Renate Fuhrmann Die Malerin und enge Freundin Gitais, Ophrah Shemesh. Zuspiel (Ophrah Shemesh) A: «I think that women are mayor roles in his films and they're reflecting a lot of his unconscious voice …» E: «… Because he represents them sometimes as the feminine and the strength and maybe sometime as the vulnerable and the underdog.» Sprecherin Nicole Engeln Ich denke, Frauen spiegeln seine unbewusste Stimme und tragen deshalb die Hauptrollen in seinen Filmen. Davon würde er niemals sprechen, aber es ist klar zu sehen. Es ist komplex und hat auch mit seiner Mutter, Efratia, zu tun. Denn als Efratia nach London ging und Amos im Kibbuz allein ließ, bekam er eine Vorstellung von der Verletzlichkeit und dieser weiblichen Stimme. In diesem Raum ist er sehr stark verblieben, denn vom Schock des Verlassenwerdens hat er sich, denke ich, niemals erholt. Aber die Filme zu drehen, war sicher die beste Therapie. Amos setzt die weibliche Stimme sehr symbolisch ein, als Spiegel der Gesellschaft. Denn manchmal sind Frauen bei ihm weiblich und stark, dann wieder die Verletzlichen und Unterdrückten. Zuspiel (Ulrich Gregor) Ja, Frauenfiguren sind ja in verschiedenen seiner Filme im Mittepunkt, z. B. «Kadosh». Dann aber gibt es auch einen Film «Promised Land» von 2004, wo osteuropäische Frauen in Israel ihrer Freiheit beraubt und zu Sexsklavinnen gemacht werden, kaum zu glauben. Musik:(Filmausschnitt «Kadosh», Dino Saluzzi: Silence) Atmozuspiel (Filmausschnitt «Gelobtes Land») Arabische und russische Stimmen, Grillen, Feuer. Sprecher Uli Auer (Jean-Luc Douin in: Le Monde, 12. Januar 2005) (über Atmozuspiel 24) Eine Nacht in der Wüste Sinai. Eine Gruppe von Männern und Frauen hält sich an einem Lagerfeuer im Mondschein warm. Sprecherin Renate Fuhrmann Der Filmkritiker Jean-Luc Douin. Sprecher Uli Auer Die Frauen kommen aus Osteuropa. Die Männer, die normalerweise ihre Herden in der Gegend hüten, sind Beduinen. Morgen werden sie heimlich die Grenze überschreiten. Morgen werden Diana und die anderen geschlagen, vergewaltigt und höchst bietend versteigert werden. Sie werden von einer Hand zur anderen gereicht, in Hannas Hostessen-Club verschachert, Opfer eines internationalen Netzwerks von Frauenhändlern. Gitai gelingt es, das Martyrium, die Nacktheit und den Abstieg in die Hölle dieser jungen Frauen auf exemplarische Weise darzustellen. Die Darstellung versklavter Körper, die zu Waren gemacht und verächtlich über Grenzen und Grenzkontrollen geschafft werden, wird zur Metapher dafür, wie ein menschenverachtendes Wirtschaftssystem die Welt erobert. Zuspiel (Amos Gitai) A: «I thought that at some point these two groups of people, Israelis and Palestinians, have polished their arguments …» E: «…finally they melt down, because we are exploiting people, women, from another culture which don't belong to these two disputing cultures.» Sprecher Josef Tratnik An einem gewissen Punkt haben Israelis und Palästinenser ihre Argumente so weit geschärft, dass der Andere wieder nicht mehr existiert. Im Fall von «Gelobtes Land» ist der Andere weder Jude noch Moslem, nicht Israeli oder Palästinenser, sondern es sind Frauen aus anderen Teilen der Welt. Weil sie von außerhalb kommen, beuten Palästinenser und Israelis sie gemeinsam aus. Sie sind kein Teil des Konflikts, haben keine Lobby, niemand verteidigt sie. Sie kommen aus Moldawien, aus der Armut, werden nach Ägypten geflogen, im Sinai von Beduinen vergewaltigt - das ist der reale Hintergrund - dann an der Grenze an israelische Mafiosi verkauft, und einige später an palästinensische Mafiosi weiterverkauft. All die Grenzen und sich bekriegenden Menschen, die so viel Unsinn veranstalten und uns Kopfzerbrechen bereiten, kommen plötzlich ganz einfach zusammen, weil sie Frauen einer anderen Kultur ausbeuten. Sprecherin Renate Fuhrmann Der Filmkritiker Jean Michel Frodon. Sprecher Volker Risch (Jean Michel Frodon: 2 x 3 x Gitai, Text aus: Amos Gitai: News from Home, Verlag der Buchhandlung Walther König 2006 (Berlinale-Katalog) S. 84 f.) Israel, ein großes Bordell. So hat es Gitai gesagt, aber weniger als eine Verdammung seines Landes im Gegensatz zu anderen, denn als Ausdruck des Zustandes der globalisierten Welt. Das Neue an «Gelobtes Land» ist auch die Tatsache dass der Film die immer wieder in Frage gestellte Grenze zwischen Dokumentar- und Spielfilm neu definiert. Beileibe kein Dokumentarfilm im klassischen Sinn des Wortes, wird gleichwohl für die Dauer von eineinhalb Stunden ein Abbild der Wirklichkeit mit den Mitteln des Spielfilms gezeichnet, das doch so viel präziser und aufrichtiger ist, als ein "Dokumentarfilm" je sein könnte. Sprecherin Renate Fuhrmann In Filmen wie «Gelobtes Land» oder «Kedma» zerbricht die klassische Trennung zwischen Dokumentar- und Spielfilm. Gitai vermag mit schauspielerischen und dramatischen Mitteln die Realität einzufangen, wie es in einem Dokumentarfilm kaum möglich wäre, vor allem auch durch die starke Intensität und große Nähe, die Wahrhaftigkeit, mit der die Schauspielerinnen ihre Rollen verkörpern. Hanna Schygulla spielt in «Gelobtes Land» die Puffmutter. Zuspiel (Hanna Schygulla) Gut, jede Puffmutter ist eigentlich 'ne Unternehmerin, das wollte er damit ausdrücken. Das war ja der Moment, wo unheimlich viel Russen, die waren ja plötzlich ein Drittel der Bevölkerung Israels, die ganze Immigration der Russen. Und ich habe die dann auch sehr viel mitbekommen am Set. Die haben sich auch bei mir beklagt, warum muss er uns denn plötzlich mit kaltem Wasser erschrecken, nur, damit er einen wirklichen Schrecken hat. Wir könnten das auch so bringen. Die haben sich da gedemütigt gefühlt, weil die sowieso in einer sehr fragilen Lage waren, als neue Einwanderer. Und die, die Hauptfigur war, die hat wunderbar gespielt, fand ich. Wie die sich reinfühlen konnte, wie da die Tränen kamen. Vielleicht kam da auch…. es kommt ja auch nicht immer nur Fiktion, sondern auch etwas von der Realität, die man während der Zeit erlebt, rüber. Zuspiel (Amos Gitai) A: «So I want to break again another axiomatic thing and not to fall into the politically correct…» E: «…Again another date, the last day of the shooting was the day she died… And I could not even go to the shooting day because she was just dying.» Sprecher Josef Tratnik Bei diesem Film wollte ich erneut bestimmte Gewissheiten zerstören ohne den Fehler zu begehen, politisch korrekt zu sein. Araber und Juden, beide mit ihrer Argumentation, ihrem Leid, ihrer Art der Tatsachendarstellung - die eine Gruppe vielleicht mit etwas mehr Recht als die andere - beschließen gemeinsam, sich um andere nicht zu kümmern. Das ist die Geschichte dieser Frauen. Auch, weil es Frauen sind. Das macht sie für diese Menschen noch wertloser, aufgrund des Machismo, der Industrialisierung des Sexes und all dessen. Es war hart, diesen Film zu drehen, das stimmt. Und er fiel auch mit dem Tod meiner Mutter zusammen. Sie starb am letzten Drehtag, so dass ich nicht beim Dreh war, denn sie lag im Sterben. Musik: Anat Ford: „As Two/Something 'Bout Camels“ Zuspiel (Ulrich Gregor) Interessant ist auch «FreeZone» 2005 in Cannes im Wettbewerb, wo zwei Frauen eine abenteuerliche Fahrt unternehmen im Auto zu einer sogenannten Freizone in Ostjordanien wo ein großer Automarkt ist und noch andere Dinge dort möglich sind. Also ein politisches Roadmovie. Und der Film ist so lebendig, auch humorvoll und politisch hoch interessant. Eine gewisse Hoffnung spricht da auch immer, also vielfach bei Amos Gitai. Es sind eigentlich kaum Filme der Verzweiflung, sondern Filme des Vorangehens, des Voranstürmens, des kritischen Blicks und dass es irgendwie doch weitergeht. Zuspiel (Micha Brumlik) Na ja, das ist halt die Reise einer amerikanische Jüdin, einer israelischen Jüdin und einer palästinensischen Araberin mit verschiedenen Motiven durch Israel und vor allem durchs Westjordanland. Und die streiten sich, dann singen sie aber auch wieder zusammen und reden endlos. Man könnte fast sagen manchmal - also politisch korrekt ist es nicht ganz - also es werden Frauen als schwatzhafte Wesen, die reden und reden und reden, gezeigt. Aber es ist ein sehr komischer und erheiternder Film letzten Endes. Was in dem Film so köstlich war, war die Tonspur, das ist dieses Lied vom jüdischen Pessachfest mit dem Lämmchen, also das dann gefressen wurde und aber das Tier, das es gefressen hat, wurde dann geschlachtet usw. usf., also so gewissermaßen eine Kette des Unglücks, die immer wieder von neuem losgeht. Musik: Chava Alberstein: „Chad Gadya“ Sprecherin Nicole Engeln «Für zwei Susim kaufte Vater ein Geißlein, ein Geißlein kaufte unser Vater für zwei Susim. Fangen wir von vorne an. Die Katze kam und fraß das Geißlein, das kleine weiße Geißlein. Da kam der Hund und biss die Katze, die das Geißlein fraß, das unser Vater brachte. Für zwei Susim kaufte Vater ein Geißlein, ein Geißlein. Dann kam ein großer Stock und schlug den Hund, der alle anbellte, den Hund, der die Katze biss, die das Geißlein fraß, das unser Vater brachte. Sprecherin Renate Fuhrmann Jean Michel Frodon. Sprecher Volker Risch (Jean Michel Frodon: 2 x 3 x Gitai, Text aus: Amos Gitai: News from Home, Verlag der Buchhandlung Walther König 2006 (Berlinale-Katalog) S. 93 f.) «FreeZone» bezeichnet weder eine freie Zone im wörtlichen Sinn noch eine zollfreie Zone. «FreeZone» ist vielmehr der Raum der Möglichkeiten, der sich in einer verbotenen Utopie abzeichnet. Der ideale Ort für diese freie Zone befindet sich im Wageninneren, dort wo man erst zu zweit und dann zu dritt auf engstem Raum zusammensitzt, ein Raumfragment, das sich in der Zeit und in der Geografie bewegt, mit dem Höhepunkt jener Utopie als alle drei fröhlich singend, die Köpfe schwingend zurückfahren. Damit zeigt Amos Gitai, dass er die Hoffnung behält, so hoffnungslos die reale Welt auch sein mag. Als die Fiktion ihr Limit erreicht, findet man sich schlagartig im Finale des Films wieder in der Gewalt der begrenzten Wirklichkeit, an einer militärisch bewachten Grenze. Das junge schöne Mädchen der Fiktion stiehlt sich davon, sie wirft sich im wahrsten Sinne des Wortes aus dem Auto und rennt auf der Achsengeraden aus dem Bild. Und die beiden anderen Frauen, die im Auto sitzen, sind schon wieder am Zanken und Zetern. Ende der Fiktion, Ende der Hoffnung, Endes des Films. Musik: Chava Alberstein: „Chad Gadya“ Sprecherin Nicole Engeln Für zwei Susim kaufte Vater ein Geißlein, ein Geißlein. Der Metzger schlachtete dann den Ochsen, der das Wasser trank, das das Feuer löschte, das den Stock verbrannte, der den Hund schlug, der die Katze biss, die das Geißlein fraß, das unser Vater brachte. Der Todesengel kam und tötete den Metzger, der den Ochsen schlachtete, der das Wasser trank, das das Feuer löschte, das den Stock verbrannte, der den Hund schlug, der die Katze biss, die das Geißlein fraß, das unser Vater brachte. Wie lange dauert der Kreislauf der Gewalt? Verfolger und Verfolgte, Schläger und Geschlagene, wann hört dieser Wahnsinn auf? Für zwei Susim kaufte Vater ein Geißlein, ein Geißlein kaufte unser Vater für zwei Susim. Fangen wir von vorne an.» Sprecherin Renate Fuhrmann Die Utopie eines friedlichen Zusammenlebens von Palästinensern und Israelis, die Gitai in «FreeZone» im Mikrokosmos eines Autos ansiedelt, zerbricht an der militärischen Gewalt und den streng bewachten Grenzen. Die Realität seines Landes ist durch Hass geprägt, nicht durch Verständnis und Dialog. Deutlich wird dies auch in «Trennung» - «Disengagement» - einem Film über die Räumung jüdischer Siedlungen im Gaza-Streifen unter Premier Ariel Scharon im Jahr 2005. Gitai nimmt darin auch den Gedanken der Diaspora und des zionistischen Traums wieder auf, den er in «Berlin-Jerusalem» und «Kedma» in der Zeit vor der Staatsgründung thematisiert hatte. Zuspiel (Micha Brumlik) «Disengagement» beginnt in Frankreich und handelt dann von einer Frau, deren früh weggegebene uneheliche Tochter in einer Siedlung lebt. Also da kommt die Diaspora durchaus zum Ausdruck. Es sind mehr Studien von Diasporajüdinnen, muss man sagen, die versuchen, dem zionistischen Traum in irgendeiner Weise nahe zu kommen, widersprüchlich genug, wie man an dem Film «Disengagement» sehen kann, also wo Juliette Binoche also nicht wirklich weiß, was sie dort will. Die ist schon ziemlich verstört über das, was ihr in Israel und in der Westbank begegnet. Sprecherin Renate Fuhrmann Während die französische Jüdin Anne, gespielt von Juliette Binoche, ihre Tochter in einer Siedlung findet, die gerade von der Polizei geräumt wird, beobachtet der Palästinenser Yussuf, die Räumung durch einen Zaun und kommentiert sie in einem Monolog an Anne, wieder ein Text von Mahmoud Darwish, einem palästinensischen Schriftsteller, dessen Texte die heutige Regierung Israels verbieten will, und die von Amos Gitai oft verwendet werden. Atmozuspiel (Filmausschnitt «Trennung») Helikopterrotor. (Yusuf Abu Warda) Arabisch, Stimmenmenge. Sprecher Volker Risch Bleib stehen, hör mich an. Ihr Vorübergehenden bei flüchtigen Worten, nehmt eure Namen und geht. Gebt uns unsere Zeit zurück und geht. Nehmt vom Sand der Erinnerung, was ihr wollt, nie werdet ihr wissen, dass ihr nicht wisst, wie die Steine unseres Himmels das Dach der Erde bauen. Ihr Vorübergehenden bei flüchtigen Worten, ihr habt das Schwert und wir haben das Blut. Ihr habt den Stahl, das Feuer und wir haben die Steine. Ihr habt die Bomben und wir haben den Regen. Aber der Himmel ist derselbe für euch und für uns. Nehmt euren Teil unseres Blutes und geht. Ihr Vorübergehenden bei flüchtigen Worten, es ist Zeit, fortzugehen. Lasst euch nieder wo ihr wollt, aber nicht in unsere Mitte. Geht, sterbt wo ihr wollt, aber nicht in unserer Mitte. Wir werden unser Land nutzen. Wir haben die Vergangenheit, den ersten Schrei des Lebens. Wir haben die Gegenwart und die Zukunft. Wir haben das Darunter hier und das Darüber dort. Zuspiel (Makram Khoury) A: «When you don't realize, you don't want to accept my version of the story …» E: «… "But for us, you kicked us out. You managed to make your own homeland, and we did not."» Sprecher Volker Risch Der springende Punkt ist, dass die verschiedenen Sichtweisen auf die Dinge nicht akzeptiert werden. Die Juden erzählen pausenlos ihre Version und die Palästinenser sagen, wir wollen unsere Sicht auf die Dinge erzählen, denn eine Münze hat immer zwei Seiten. Während der britischen Mandatszeit stand auf unseren Geldmünzen auf der einen Seite «Britisches Mandatsgebiet Palästina» und auf der anderen «Eretz Israel». Dieses Land ist für beide Seiten. Wir kämpfen also um unsere Sichtweisen der Geschichte. Die Juden wollen nicht anerkennen, dass es unsere palästinensische Nakba gab. Gibt es denn nur den jüdischen Holocaust? Auch wir hatten unsere Tragödie. «Hört uns doch auch an. Ihr habt uns Unrecht angetan. Nehmt das zur Kenntnis. Akzeptiert unsere Version und wir entschuldigen uns. Denn auch wir haben ja vielleicht etwas falsch gemacht. Auch wir Palästinenser sind nicht unschuldig. Wir haben uns gegenseitig furchtbare Dinge angetan. Aber ihr habt uns vertrieben. Ihr konntet euren Staat aufbauen, wir nicht.» Zuspiel (Amos Gitai) A: «After the destruction of the temple by the Romans there was a very smart guy…» E: «…Yesterday I had a lot of conversations with Palestinians and they…, and the problem is that they don't get it. They don't, they don't get this dimension.» Sprecher Josef Tratnik Nach der Zerstörung des Tempels durch die Römer gab es diesen smarten Typen, Yohanan ben Zakkai, der begriffen hatte, dass es vorbei war mit der Eigenständigkeit und dass nun also das Exil bevorstand. Er hat deshalb die agrarischen Feiertage übertragen und ist der eigentliche Begründer der Diaspora. Die jüdischen Feiertage sind ursprünglich agrarische Feiertage, die in Verbindung zu diesem Land hier stehen. Darin ist die ganze Komplexität des Problems verwurzelt, in diesen tiefen kulturellen Quellen des Konflikts, die nicht einfach zu lösen sind. Um ein einfaches Beispiel zu wählen: Es gibt den Feiertag Tu BiShvat im Februar, wenn die Mandelbäume in den Bergen um Jerusalem blühen. Zakkai hat das also übertragen und du kannst dir vorstellen, wie später am Tu BiShvat all die Juden in Polen im Februar, wenn tiefe Minusgrade herrschen - das Gegenteil von blühenden Mandelbäumen also - trockene Mandeln und Rosinen aßen, um die Erinnerung daran wach zu halten. Das ist das Komplexe: der ortsgebundene Sinn. Gestern sprach ich viele Palästinenser und das Problem ist, dass sie diese Dimension nicht erfassen. Zuspiel (Makram Khoury) A: «There is your truth and my truth and the truth. The truth belongs to no-one…» E: «… could become one big circle of the moon, which becomes the truth. So the truth is your truth and my truth.» Sprecher Volker Risch Es gibt deine Wahrheit, meine Wahrheit und die Wahrheit, sie gehört niemandem. Hast du jemals in einer Vollmondnacht gemerkt, dass es keine Dunkelheit auf Erden gibt? Deine Wahrheit und meine Wahrheit sind zwei Halbmonde, die sich gegenseitig anschauen. Manchmal, wenn du wütend bist, kehre ich dir den Rücken zu. Aber du musst die ganze Zeit zu mir sprechen, damit ich dir zuhöre, mich wieder umdrehe und näher komme und wir gemeinsam zum großen Rund des Mondes werden. Deine Wahrheit und meine Wahrheit können zu dem großen Rund des Mondes der Wahrheit werden. Denn die Wahrheit ist deine Wahrheit und meine Wahrheit. Musik: Omer Avital: „Bedouin Roots“ Sprecherin Renate Fuhrmann Gitais Freilegungen verschiedener widersprüchlicher Facetten der Geschichte seines Landes sind auch eine persönliche Spurensuche nach Heimat, Identität und Nomadentum im Spannungsfeld zwischen Diaspora und Eretz Israel. Beispielhaft zum Ausdruck kommt dies in der Anfangsszene des Films «Trennung», in der sich eine Palästinenserin und ein Israeli in einem Zug in Italien begegnen. Zuspiel (Filmausschnitt «Trennung») Hiam «Ich bin Holländerin und Palästinenserin» Uli «Ich bin Franzose und Israeli. Na ja, eigentlich bin ich türkisch, griechisch, russisch, amerikanisch-französisch und israelisch. Ja, und jüdisch natürlich!» Hiam «Ja, und der neueste Palästinenserkomplex ist übrigens das Sammeln von Ausweispapieren aus möglichst vielen verschiedenen Ländern.» Uli «Ich dachte, das ist eine uralte jüdische Strategie» Hiam «Wirklich gelebt habe ich eigentlich nie in Holland, ich habe nur den Pass von dort. Ich glaube, wir sind im Grunde doch alle Beduinen, nicht wahr?» Italienischer Schaffner: «Controllo passaporti, Passport!» Hiam «Ich denke wir gehören sowieso im Grunde woanders hin, verrückt.» Uli «Ja, ist dasselbe bei mir irgendwie. Allzu große Nähe zu Leuten mag ich nicht immer. Nur manchmal eben, weißt du, manchmal nicht, manchmal schon….» Schaffner «Sagen Sie mal was auf Holländisch.» Uli «…so wie eben alles vorübergehend ist heute, he.» Hiam «Ich kann aber nicht Holländisch. Ich hab 'nen holländischen Pass. Ich bin Palästinenserin mit 'nem holländische Pass, und?!» Schaffner «Allora lei, che cosa è precisamente? Was genau bitte sind Sie?» Hiam «Was meinen Sie mit genau?» Schaffner «Ich meine welche Nationalität Sie sind?» Hiam «Palästinenser, wie Sie wissen, gibt es seit Jahrhunderten, ist das denn für Sie nicht genau genug? Schaffner «Risponda solamente alle mie domande, va bene?» Hiam «Ich kann Sie nicht verstehen.» Schaffner «Schön, Sie werden nur auf meine Fragen antworten.» Hiam «Was meint der mit genau, was soll denn das sein, eine genaue Nationalität? Zuspiel (Liron Levo) A: « This is a train, two persons, and then in a, in a minute or two or three all this comes to our reality: who are you, what…» E: «… How much do we care about someone from where he is?» Sprecher Volker Risch Also, ein Zug, zwei Menschen und in drei Minuten wird all das zum Thema: Wer bist du? Was bist du? Definiere dich! Welches Land? Warum? - Ist das wichtig? Du nimmst jemandem aus einem Land, setzt ihn in ein anderes Land als Fremden und schaust, was geschieht. Ein Fremder und noch ein Fremder, ist das von Bedeutung? Was wäre der Unterschied, wenn ich die Araberin nicht in einem Zug, sondern hier in Hadera gleich um die Ecke getroffen hätte? Sicherlich würde kein italienischer Schaffner kommen, mich nach meinem Pass fragen und mir ein schlechtes Gefühl geben. Es gibt so viele Grenzen. Wie wichtig ist es, woher jemand kommt? Zuspiel (Amos Gita) A: « I'm pretty satisfied with nomadic existence…» E: «… it is everybody living a displaced identity. But I think this is the material of modernity, you know.» Sprecher Josef Tratnik Mir gefällt die nomadische Existenzweise ganz gut. Schon das Wort Ivrim, die Hebräer, bedeutet etwas zu durchschreiten. Dieses Wort betont also bereits den Übergang, ein nomadisches Konzept. Deshalb haben die Juden auch einen universellen Gott erfunden. Es war notwendig, da sie von Mesopotamien, dem heutigen Irak, hierher kamen und daher mit einem Gott, der an ein Territorium gebunden war, nichts anfangen konnten. Er musste universal sein. Ich halte dieses nomadische Konzept für gut. Es hat auch dazu geführt, dass die Juden in der Moderne fortbestehen konnten. Denn in der Moderne ist die gesamte Menschheit eine umgesiedelte Menschheit. Alle kohärenten indigenen Gemeinschaften sind zerstört worden, sei es durch Kriege, Flucht, ökonomischen Druck oder die Urbanisierung. Wir leben heute alle eine entwurzelte Identität. Es ist der Grundbaustein der Moderne. Sprecherin Renate Fuhrmann Nicht nur die ortsgebundene, auch die entwurzelte, nicht ortsgebundene Identität einer nomadischen Existenzweise ist geschichtlich eng mit dem Judentum verbunden, während der Jahrtausende der Diaspora, und vor dem Königreich, als die Juden Beduinen waren im Sinai. Das Nomadentum und dessen Gegenpol, das Konzept des Hauses, das im Bau des Tempels seinen höchsten Ausdruck findet, bespricht Amos Gitai in einer sechzehnteiligen Dokumentarfilmreihe über Architektur in Israel mit Historikern, Künstlern und Architekten, die er 2013 für das israelische Fernesehen dreht. In Teil 1 «Architektur und biblische Bezüge» unterhält er sich mit dem Philosophen Dov Elbaum. Zuspiel (Amos Gitai) A: «We confront two concepts of a shrine…» E: «… So when we say that the Romans destroyed the Jewish sovereignty, they destroyed the temple. » Sprecher Josef Tratnik Wir unterhalten uns über zwei Konzepte des Heiligtums in der Bibel. Zum einen das Zelt, als die Juden Nomaden im Sinai waren. Man konnte das Heiligtum zusammenfalten. Das war umweltfreundlich und hinterließ keine Spuren beim Weiterziehen. Das andere Heiligtum ist der Tempel, der, wenn du ihn gebaut hast - und das ist der große Widerspruch -, auch zerstört werden kann. Wird er zerstört, verlierst du deine Eigenständigkeit, dessen Symbol er ist. Sagen wir also, die Römer haben die jüdische Eigenständigkeit zerstört, dann weil sie den Tempel zerstört haben. Zuspiel (Filmausschnitt «Architektur in Israel» Amos Gitai im Gespräch mit Dov Elbaeum.) Amos Gitai und Dov Elbaeum Hebräisch Sprecher Josef Tratnik Die Zerstörung des Tempels» ist das große Trauma, die Zerstörung unserer Souveränität und der Beginn unseres Leidens. Sprecher Uli Auer Es ist die Zerstörung des Zuhauses im grundlegenden Sinn des Wortes. Der grundlegendste und für die Bibel wichtigste Ort ist das Zuhause. Die Bibel beginnt mit dem Buchstaben Bait - das bedeutet Haus. (…) Du solltest dir ein Zuhause wünschen und versuchen, eines zu bauen, aber dir muss klar sein, dass du niemals voll und ganz Zuhause bist. So will die Bibel dich nicht, sie will dich beständig in Bewegung, in Erneuerung. Das ist, als ob gesagt würde, «Ich möchte, dass ihr am Rand, am Abgrund lebt. Fühlt euch nicht Zuhause, es gibt kein Zuhause, Zuhause ist eine Illusion. Das Zuhause lässt dich festgefahren und kränklich werden». Und genau das ist geschehen. Das jüdische Königreich konnte nicht fortbestehen. Ich denke, die grundlegendste und klarste Botschaft des Judaismus ist: «Bleib immer wachsam, geistig und spirituell, immer sensibel. Das ist die Herausforderung und deshalb ist das Exil eine so tiefe Wunde für uns. Das heutige Problem des israelischen Judentums ist: wir leben in diesem Konflikt zwischen Zuhause und Exil. Aber statt dass der Konflikt uns nährt und stärkt, zerreißt er uns und bringt uns auseinander. (...) Aber die jüdische Kultur versucht dich nicht an einen Ort zu bringen, an dem diese Konflikte dich in Stücke reißen. Sie sagt, «Ich möchte nicht, dass du nach gewaltsamen, perversen Lösungen suchst, um deinen Schmerz zu lindern, sondern verwandle deinen Schmerz in eine Heilung». Musik: Shauli Einav: „Copenhague“ Sprecher Josef Tratnik (Amos Gitai - Text - Architecte de la mémoire, Gallimard 2014, S. 60f.) Die Erinnerung dient als Kompass, sie kann die Richtung weisen, um die Zukunft in Angriff zu nehmen. Denn man kann sich nicht damit begnügen, die Dinge in Bezug auf die Gegenwart zu interpretieren. Man muss manchmal Rückschau halten, um sich auf die Zukunft ausrichten zu können. Meine Mutter hatte zwei Bahnfahrkarten in einem Regal angebracht, von ihrer Hochzeitsreise in den Libanon: Haifa-Beirut. Da wir uns in den 50er Jahren befanden, nach der Schließung der Grenzen 1948, fragte ich sie, «Warum räumst du die Fahrkarten nicht weg? Der Libanon ist ein feindliches Land.» Sie antwortete - und daran muss ich manchmal denken -, «Das wird wieder möglich werden, eines Tages wird es wieder so sein.» Man muss ein Projekt für die Zukunft entwerfen. Sprecherin Nicole Engeln «Ich folge den Ablagerungen der Geschichte in mir» Eine Lange Nacht über den israelischen Filmemacher Amos Gitai von Heike Brunkhorst und Roman Herzog. Es sprachen: Josef Tratnik Renate Fuhrmann Volker Risch Nicole Engeln Uli Auer Ton und Technik: Christoph Bette Regie: Claudia Mützelfeldt Redaktion Monika Künzel Musik Musikliste 1. Stunde Titel: A time for Länge: 03:55 Interpret und Komponist: Simon Stockhausen Label: SACEM Best.-Nr: MPO 793537 Plattentitel: War of the sons of light against the sons of darkness Titel: Main Theme Länge: 01:40 Interpret und Komponist: Markus Stockhausen Label und Best.-Nr: keine Plattentitel: Original Soundtrack Berlin - Jerusalem Titel: Massada Länge: 00:55 Interpret und Komponist: Simon Stockhausen Label: SACEM Best.-Nr: MPO 793537 Plattentitel: War of the sons of light against the sons of darkness Titel: Josephus Länge: 00:30 Interpret und Komponist: Simon Stockhausen Label: SACEM Best.-Nr: MPO 793537 Plattentitel: War of the sons of light against the sons of darkness Titel: Jerusalem cries Länge: 00:35 Interpret und Komponist: Simon Stockhausen Label: SACEM Best.-Nr: MPO 793537 Plattentitel: War of the sons of light against the sons of darkness Titel: Bonk Länge: 00:59 Interpret: Septer Bourbon Komponist: Markus Burger Label: Lipstick Records Best.-Nr: JL11151 Plattentitel: The smile of the honeycakehorse Titel: Lament No. 3 Länge: 01:05 Interpret und Komponist: Simon Stockhausen Label: SACEM Best.-Nr: MPO 793537 Plattentitel: War of the sons of light against the sons of darkness Titel: One for Alex Länge: 06:46 Interpret und Komponist: Shauli Einav Label: rent a dog productions/rad Best.-Nr: CR218 Plattentitel: A truth about me 2. Stunde Titel: About a tree Länge: 00:53 Interpret: Avishai Cohen Komponist: Mark M. Warshavsky Label: Capitol Best.-Nr: 5099994954920 Plattentitel: Seven seas Titel: A truth about me Länge: 01:43 Interpret und Komponist: Shauli Einav Label: rent a dog productions/rad Best.-Nr: CR218 Plattentitel: A truth about me Titel: Each and Every Child Länge: 01:44 Interpret: Klein; Cohen-Milo; Bresler Komponist: Omer Klein Label: WARNER MUSIC INTERNATIONAL Best.-Nr: 190295890896 Plattentitel: Sleepwalkers Titel: Circa 1988 Länge: 00:36 Interpret und Komponist: Shauli Einav Label: rent a dog productions/rad Best.-Nr: CR218 Plattentitel: A truth about me Titel: As two / something 'bout camels Länge: 04:54 Interpret und Komponist: Anat Fort Label: ECM-Records Best.-Nr: 170141-6 Plattentitel: A long story Titel: Rabin, The Last Day, Main Theme Länge: 01:36 Interpret und Komponist: Amit Poznansky Label und Best.-Nr: keine Plattentitel: The original motion Soundtrack Titel: From one soul to another Länge: 00:21 Interpret: Shai Maestro Trio Komponist: Shai Maestro, Jorge Roeder, Ziv Ravitz Label: inVivo-records Best.-Nr: keine Plattentitel: The stone skipper Titel: Chapter one Länge: 04:17 Interpret und Komponist: Anat Fort Label: ECM-Records Best.-Nr: 170141-6 Plattentitel: A long story 3. Stunde Titel: The ever evolving etude Länge: 01:41 Interpret: Avishai Cohen Trio Komponist: Avishai Cohen Label: RAZDAZ Records Best.-Nr: RD 4607 Plattentitel: Gently disturbed Titel: Eleven fifty tow Länge: 01:19 Interpret und Komponist: Shauli Einav Label: rent a dog productions/rad Best.-Nr: CR218 Plattentitel: A truth about me Titel: Enosh Länge: 01:31 Interpret und Komponist: Dalia Faitelson Label: DOUBLE MOON RECORDS Best.-Nr: DMCHR71507 Plattentitel: Pilpel Titel: Silence Länge: 01:45 Interpret: Dino Saluzzi Komponist: Charlie Haden Label: ECM-Records Best.-Nr: 827768-2 Plattentitel: Once upon a time - far away in the south Titel: Yona avuda Länge: 00:36 Interpret und Komponist: Dalia Faitelson Label: DOUBLE MOON RECORDS Best.-Nr: DMCHR71507 Plattentitel: Pilpel Titel: Chad Gadya Länge: 02:46 Interpret: Chava Alberstein Komponist: Unbekannt Label: ELLIPSIS ARTS Best.-Nr: 0001000ELA Plattentitel: Protest - Songs of struggle and resistance from around the world Titel: Bedouin roots Länge: 00:26 Ensemble: Ensemble Komponist: Omer Avital Label: HARMONIA MUNDI FRANCE Best.-Nr: PL4568 Titel: Copenhague Länge: 07:51 Interpret und Komponist: Shauli Einav Label: rent a dog productions/rad Best.-Nr: CR218 Plattentitel: A truth about me