"Wir sind in unserer Haut gefangen" Eine Lange Nacht über die Familie Wittgenstein Autorin: Barbara Giese Redaktion: Dr. Monika Künzel Regie: Sabine Fringes SprecherInnen Susanne Flury Erzählerin Johanna Gastdorf Sprecherin Hermine, Fanny, Leopoldine und Margarethe Wittgenstein Thomas Krause Karl Wittgenstein Josef Tratnik Herrmann Wittgenstein, Zeitungskritiken, Komponisten Valentin Stroh Ludwig Wittgenstein Stefko Hanushevsky Paul Wittgenstein Sendetermine: 8. Juni 2019 Deutschlandfunk Kultur 8./9. Juni 2019 Deutschlandfunk ___________________________________________________________________________ Urheberrechtlicher Hinweis: Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Jede Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in den §§ 45 bis 63 Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. © Deutschlandradio - unkorrigiertes Exemplar - insofern zutreffend. 1. Stunde Musik Sprecherin 1: Was wir Kinder von Jugend auf stark empfanden, war eine merkwürdige Erregtheit in unserem Elternhaus, ein Mangel an Entspanntheit, der nicht allein von der Aufgeregtheit meines Vaters herrührte. Auch meine Mutter war sehr erregbar, wenn sie auch ihrem Mann und ihrer Mutter gegenüber die freundliche Ruhe nie verlor, oder wahrscheinlich gerade deshalb, denn der fortgesetzte Zwang auf der einen Seite musste ein Auslassen der Nerven auf der anderen bewirken. Sehr wichtig in diesem Zusammenhang scheint mir nun folgendes. So glücklich, ja unendlich glücklich die Ehe meiner Mutter war, so war es doch die Ehe einer ausgesprochenen zum Dulden geborenen Frau mit einem ausgesprochen zum energischen Handeln geborenen Mann. Der Handelnde wirkt aber naturgemäß auf den Duldenden ein und verändert nach und nach dessen Struktur, und ich glaube, dass meine Mutter, wie wir sie kannten, nicht völlig mehr sie selbst war, wenn ihr das auch selbstverständlich gar nicht zum Bewusstsein kam. Wir begriffen unter anderem nicht, dass sie so wenig eigenen Willen und eigene Meinung hatte, und bedachten nicht, wie unmöglich es war, neben meinem Vater eigene Meinung und Willen zu bewahren. Wir standen ihr eigentlich verständnislos gegenüber, aber auch sie hatte kein wirkliches Verständnis für die acht sonderbaren Kinder, die sie geboren hatte, ja, bei aller ihrer Menschenliebe hatte sie merkwürdigerweise kein wirkliches Verständnis für Menschen überhaupt. Musik: Erzählerin: Hermine Wittgenstein ist die Älteste der acht Geschwister und beschreibt in diesen „Familienerinnerungen“ ihre Sicht auf das Elternhaus. Die Familie Wittgenstein ist eine der reichsten Familien Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts . Die Stadt Wien verdankt ihr viele Kunstwerke und Bauten. Aber nicht das Mäzenatentum, das sich aus dem unermesslichen Reichtum speiste, macht die Familie so bemerkenswert. Faszinierend ist das Selbstbewusstsein, mit dem diese Familie ihre eigenen Werte lebte. Der Vater Karl liebte seine musikalisch begabte Frau Leopoldine. An seine Söhne hatte er eine bestimmte Erwartungshaltung und war darin autoritär. Die Töchter genossen wiederum mehr Freiheit. Alle Familienmitglieder sollten die Zeit mit sinnerfüllten Beschäftigungen nutzen. Sie tauschten Lektüren aus, schrieben Theaterstücke, beschäftigten sich mit psychologischen Spielen und musizierten auf hohem Niveau. Berühmte Künstler wie Clara Schumann, Johannes Brahms, Richard Strauss, Gustav Mahler, Arnold Schönberg und Gustav Klimt waren zu Gast. Kunst- und Musikförderung gehörte zum Haus Wittgenstein, ein hoher moralischer Anspruch ebenfalls. Bequeme Wege sollten nicht beschritten werden. Es war eine strenge Welt mit manchmal verletzender Ehrlichkeit, in der die Kinder von Leopoldine und Karl Wittgenstein aufwuchsen. Sie wurden auf unterschiedliche Weise bekannt. Die jüngste der drei Töchter Margarethe stand für Gustav Klimt Modell. Die hochgewachsene dunkelhaarige Schönheit im weißen Kleid mit flächig aufgeteiltem Hintergrund kann noch heute in der Pinakothek in München betrachtet werden. Es ist eines der bekanntesten Bilder von Gustav Klimt. Eine der Söhne machte als linkshändiger Pianist nach dem 1. Weltkrieg Karriere. Paul Wittgenstein war der Auftraggeber für viele Werke von namhaften Komponisten seiner Zeit wie Richard Strauss, Maurice Ravel, Paul Hindemith und Sergej Prokofjew. Der berühmteste Nachfahre der Familie ist sicherlich der jüngste Sohn, der namhafte Philosoph Ludwig Wittgenstein. Er ist der Verfasser der logisch-philosophischen Abhandlung „Tractatus“ und der „Philosophischen Untersuchungen“. Noch heute gilt seine „Analytische Sprachphilosophie“ als Standardwerk. Die erste Stunde der Langen Nacht stellt Ihnen die Mitglieder dieser charismatischen Familie und ihre Beziehungen untereinander bis zum Tod des Familienoberhaupts Karl Wittgenstein ein Jahr vor dem Ersten Weltkrieg vor. In der zweiten Stunde erleben wir die gravierenden Veränderungen der Familie durch den 1. Weltkrieg. Die Söhne kämpfen im Krieg überzeugt für ihr Vaterland Österreich, erleben die Grausamkeit des Krieges und beginnen mit ungeheurer Selbstdisziplin neue Wege zu beschreiten.In der dritten Stunde erfahren Sie, wie sich der komplizierte Familienzusammenhalt durch die Auswirkungen der Naziherrschaft auflöst. Musik Sprecher 2: 1864 Consilium abeundi. Hätte privat weiterstudieren sollen bis zur Matura. Im Januar 1865 von Hause durchgegangen. Von Hause mitgenommen eine Geige und 200 Gulden, die der Schwester Anna gehörten. Durch eine Zeitungsnotiz auf einen jungen Studenten aufmerksam geworden, der eine Unterstützung suchte und diesem etwas Geld dafür gegeben, dass er mir seinen Pass überließ. An der Grenze wurden den Passagieren die Pässe von Gendarmen abgenommen. Alle Passagiere wurden in einen großen Raum geführt, wurden einzeln aufgerufen und mussten vortreten, sich von zwei Beamten ansehen lassen. Zufälligerweise stimmt der fremde Pass. In Hamburg eingeschifft. April 1865 ohne Geld New York angekommen. Nach 14 Tagen eine Stelle als Violinspieler aufgenommen und jeden Abend mit einem gewissen Perathoner, einem Tiroler Schullehrer, der Klavier spielte, in öffentlichen Lokalen gespielt. Zu einer kleinen Minstrel-Truppe engagiert. Nach der Ermordung des Präsidenten Lincoln April 1865 alle Belustigungen, öffentliche Musik und so weiter untersagt, die Minstrel Truppe aufgelöst. Als Steuermann mit dem Kanalboot eine Ladung gepresstes Heu nach Washington gebracht. In Washington Barkeeper geworden. Im November frisch ausstaffiert nach New York zurück und von dort zum ersten Mal Nachricht nach Hause geschickt. Perathoner inzwischen Schullehrer und Orgelspieler in Manhattan geworden. Auf seine Empfehlung in das Christians- Brothers- College in Manhattan als Lehrer für Violine und Mathematik in deutscher Sprache. Zu jung für die Buben, keine Möglichkeit mich durchzusetzen. Auf eigenes Ansuchen 1866 provisorisch nach Westchester versetzt. Erst Nachtwächter, dann Lehrer im Asylum for destitute children in Westchester. Von dort auf Empfehlung des Direktors an das College in Rochester als Lehrer mit Gehalt und sehr gutem Essen. Sehr beschäftigt, aber angenehme Stellung. Mit dem Direktor sehr gut gestanden. Am Abend noch drei Herren in mathematischem Zeichnen unterrichtet. Dabei perspektivisches statt geometrisches Buch erwischt, um mich vorzubereiten und unrichtig gelehrt. Anfang 1867 mit Geld und neuen Kleider nach Hause. Erzählerin: Diese knappen Stichworte diktierte Karl Wittgenstein seiner ältesten Tochter Hermine. Das sogenannte Consilium abeundi war ein Schulverweis. Karl Wittgenstein war keine 18 Jahre alt, als er sein Elternhaus heimlich verließ. Der Vater Hermann war Wollhändler gewesen. Durch die Heirat mit Fanny Fidgor, einer Tochter von von Wiener Kaufleuten, war er zum Geschäftsführer von verschiedenen gepachteten Höfen in der Habsburger Monarchie geworden. Von den Gewinnen, die er erwirtschaftet hatte, hatte er Immobilien in Wien gekauft. Obwohl Fanny und Hermann Wittgenstein in einem Teil des Laxenburger Schlosses lebten, waren sie bescheiden und überschütteten ihre Kinder nicht mit Geld. Die Kinder sollten aus eigener Kraft ihren Weg machen. Der Vater Hermann galt als wortkarg und streng. Karl war ein eigensinniges Kind. Einmal hatte er seine Geige verpfändet, um eine Glasschneidemaschine zu kaufen. Dann hatte er mit seiner Schwester auf einer unerlaubten Spritztour mit der Kutsche einen Unfall gebaut. Mit 11 Jahren war er einmal für einen Tag ausgerückt und hatte seinen teuren Mantel weggegeben, damit er wie ein Gassenjunge aussah. Er war beim Betteln erwischt und schließlich von der Polizei nach Hause gebracht worden . Beim zweiten Mal schaffte er es bis Amerika. Nach 9 Monaten meldete er sich zuerst bei einem Freund, dann bei seiner Schwester Bertha: Sprecher 2: Ich habe nur einen Wunsch, du errätst ihn gewiss, mit Papa besser zu stehen. Sobald ich in einem Geschäft eingetreten sein werde, schreibe ich ihm. Die Geschäfte gehen hier sehr schlecht, und Leute sind im Überfluss vorhanden, darum musst du dich nicht wundern, wenn ich noch keine andere Beschäftigung habe. An meine Eltern kann ich nicht schreiben. Denn ebensowenig ich jetzt den Mut hätte vor sie zu treten und sie um Verzeihung zu bitten, noch weniger möchte ich es auf dem Papier tun, dass geduldig, nicht rot wird. Ich kann es erst dann tun, wenn sich mir Gelegenheit bieten wird, Ihnen meine Besserung zu zeigen. Erzählerin: Die Besserung tritt ein halbes Jahr später ein, als er eine Stelle als Lehrer erhält. Sprecher2: Ich bin jetzt seit einer Woche in Manhattanville (10 Minuten von New York) in einem College Lehrer. Es geht mir ganz gut. Ich fange an, mich von einer sechs monatlichen Diarrhoe und einer Krankheit, die ich schon zu Hause hatte, zu erholen. Ich habe nicht viel zu tun. Es bleibt mir Zeit genug, um Englisch oder irgendetwas zu lernen. Kost, Wohnung, Wäsche und so weiter habe ich alles im College frei, und mein monatlicher Gehalt, das sich leicht steigern kann, beträgt 10 $. Es ist dies noch die beste Zeit, die ich in Amerika hatte. Fürchte nicht, dass ich, weil ich jetzt eine gute Stellung gefunden habe, aufhören werde, weiter zu streben. Wenn es Papas dringender Wunsch ist, dass ich auf eine Farm gehen soll, so werde ich es natürlich tun. Sonst würde ich Buchhaltung lernen oder zeichnen. Auf jeden Fall werde ich das tun, was meine Eltern wollen. Erzählerin: Kurze Zeit später kehrt Karl Wittgenstein abgemagert und fiebrig nach Österreich zurück. Von seinen Eltern wird er zur Arbeit auf ein Gut seiner Familie geschickt. Ein Jahr nach seiner Rückkehr schreibt Karl sich an der Technischen Universität in Wien ein, geht aber nur zu den Vorlesungen, die er für wichtig hält. Nachmittags arbeitet er in der Fabrik der Staatsbahn. Ohne Abschluss verlässt er die Universität und arbeitet aushilfsweise mal als Hilfskonstrukteur bei einer Turbinenfirma, mal bei der Nordostbahn in Budapest, dann wieder bei den Stahlwerken. Bei der Planung eines neuen Walzwerks in Teplitz fällt er durch eigenständige Lösungen für technische Probleme positiv auf und erhält eine feste Anstellung. Er lernt durch seine Schwestern Leopoldine Kalmus kennen. Wie auch Karl hat Leopoldine jüdische Wurzeln, wird aber im katholischen Glauben erzogen. Leopoldine ist ungewöhnlich musikalisch und spielt sehr gut Klavier . Karl musiziert mit ihr und verliebt sich in sie. Im April 1872 fragt Karl in einem Spaßgedicht seine Schwester Clara. Sprecher 2: Herzliebes Schwesterlein Möchtest du so gut sein Fräulein Poldi zu fragen, ob es ihr würde behagen Montag abends mit mir zu spielen am Klavier. Und sagt sie Dir „Ja“ gleich schreib mir‘s Clarà denn warten tut weh Deinem Bruder Karl adie. Erzählerin: Karl verlobt sich mit Leopoldine, ohne sich das Einverständnis seiner Eltern zu holen. Als assimilierter Jude will Hermann Wittgenstein keine Schwiegerkinder mit jüdischen Wurzeln haben. Nun wird er vor vollendete Tatsachen gestellt. Er schreibt an Leopoldine: Sprecher 3: Geehrtes Fräulein! Mein Sohn Karl ist von seiner frühesten Jugend an, im Gegensatz zu seinen Geschwistern, seine eigenen Wege und schließlich nicht zu seinem besonderen Nachteil gegangen. Auch um meine Einwilligung zu seiner Verlobung mit Ihnen, geehrtes Fräulein, hat er mich erst gebeten, als er auf der Reise zu Ihnen vorgesprochen hatte. Da er so voll Ihres Lobes ist, in das auch seine Schwestern mit Wärme einstimmen, so habe ich mich nicht für berechtigt gehalten, ihm irgendwelche Schwierigkeiten zu machen und wünsche Euch von Herzen, dass Ihre und seine Wünsche und Hoffnungen auf eine glückliche Zukunft in Erfüllung gehen mögen. Dieser Ausdruck meiner aufrichtigen Gesinnungen wolle Ihnen genügen, bis mir Gelegenheit geboten sein wird, Sie persönlich kennenzulernen. Ihr ergebener Hermann Wittgenstein Erzählerin: Leopoldine und Karl heiraten 1874. Leopoldine muss schon am Anfang der Ehe ihre Ruhe und Geduld beweisen. Kurz vor der Geburt des ersten Kindes Hermine verliert Karl aufgrund von internen Streitigkeiten seine Stellung. In seinen autobiographischen Notizen heißt es nur: Sprecher2: Im Herbst 1874 meine Stellung niedergelegt wegen Streitigkeiten zwischen dem Präsidenten des Verwaltungsrates Direktor Pechar und Direktor Paul Kupelwieser. Ohne Stellung in Eichwald bei Teplitz gewohnt. Erzählerin: Die Tochter Hermine kommt im Dezember 1874 zur Welt. Karl bleibt ein Jahr lang ohne feste Anstellung. Im Sommer arbeitet er für kurze Zeit als Ingenieur in Wien. Schließlich wird er wieder bei seiner alten Firma, den Teplitzer Walzwerken, in Teplitz eingestellt. Dort holt er einen wichtigen Auftrag für seine Firma ein. Sprecher 2: Im Jahre 1878 russisch türkischer Krieg. Ich wollte die Schienenbestellung für die russische Armee, Bahnstrecke Bender, Galatz bekommen. Um diesbezüglich mit dem russischen Staatsrat Poljakow zu verhandeln, fuhr ich nach Kiew, wo ich ihn nicht mehr antraf, danach Bender, schließlich fand ich ihn in Bukarest. Er hatte dort eine Villa gemietet und war schon in Verhandlungen mit einer Menge von Vertretern anderer großer Werke wie Krupp und so weiter. Poljakow wollte schwere Schienen haben, wie sie in Russland bei den Bahnen gebräuchlich sind. Er wollte aber nur einen niedrigen Preis dafür zahlen und überhaupt nur zahlen, was zu einer ganz bestimmten Zeit in Bukarest geliefert wäre. Das Teplitzer Walzwerk hatte zu dieser Zeit eine große Menge leichter Schienen fertig gewalzt, die vom Handelsministerium für sogenannte Notstandsbauten in Schlesien bestellt worden waren. Ich hoffte vom Handelsministerium erreichen zu können, dass wir die Schienen erst zu einem späteren Termin zu liefern brauchten und dass uns inzwischen die fertigen Schienen zur Verfügung ständen. Ich ging zu Poljakow und sagte zu ihm: „Exzellenz, hier geschieht eine große Dummheit! Für Ihre Bahn, die nur 3 Monate benützt werden wird, brauchen Sie gar keine schweren Schienen, die an und für sich und durch den erschwerten Transport viel kosten. Ich kann Ihnen leichte Schienen liefern, die den Zweck ganz erfüllen und bei denen Sie viel ersparen.“ Das leuchtete ihm ein und er sagte: „Rechnen Sie mir aus, wie viel ich ersparen würde.“ Ich wurde in ein Zimmer geführt und rechnete so gut ich konnte aus, wie viel die Ersparnis ausmachen würde. Poljakow war sehr befriedigt von dem Ergebnis dieser Berechnung, und die Schienenbestellung wurde gleich perfekt gemacht. Ich hatte außerdem gemerkt, dass Poljakow noch mehr Schienen brauchte, aber selbst nicht wusste wie viel. Ich machte ihm den Vorschlag, von jetzt ab leichte Schienen für ihn walzen zu lassen, bis er telegrafieren würde, er habe genug. Er war damit einverstanden. Ich fuhr nach Teplitz, und jetzt wurden Tag und Nacht Schienen gewalzt. Diese Schienenlieferung war ein großes Glück für das Teplitzer Walzwerk, das vorher in großer Not gewesen war. Seit dieser Zeit ist es dem Werk sukzessive besser gegangen. Erzählerin: Einige Jahre später verhindert Karl den Verkauf der Aktien des Walzwerkes an Dritte, indem er selbst den Kauf in Ratenzahlung übernimmt. Er tauscht und gründet Werke in der Stahlindustrie und modernisiert Produktionsabläufe. Als die Kritik an seinen Rationalisierungsmaßnahmen immer lauter wird, geht Karl mit seiner Frau erst einmal ein Jahr lang auf Weltreise. Dann zieht er sich 1898 mit knapp 52 Jahren aus dem aktuellen Tagesgeschäft zurück. Dank seiner Ideen und Energie ist er nun so unermesslich reich, dass er die Entwicklung der Industrie nur noch als Privatier verfolgt und Artikel über ökonomische Probleme verfasst. Er legt sein Geld geschickt in Wertpapiere und Immobilien an und gibt sich privaten Vergnügungen hin. Er jagt und wandert ausgiebig, liest viel und baut eine Kunstsammlung auf. Seine Kinder lässt er nicht in österreichischen Schulen, sondern von einem Hauslehrer in ihrer von der Umwelt abgeschlossenen Welt unterrichten. Sprecher 2: Das einzige, was ein Mensch wirklich mit Anstrengung lernen muss, ist die lateinische Sprache und die Mathematik. Diese beiden Disziplinen bilden den Geist genügsam, und alles andere, wie Geographie, Geschichte usw. fliegt einem später durch Lektüre in hinreichendem Maße zu. Es hat also gar keinen Sinn, im Gymnasium oder einer anderen Schule viele Stunden des Tages zu vergeuden, viel besser ist es, spazieren zu gehen oder Sport zu betreiben. Erzählerin: Die Hausmusik nimmt dabei einen hohen Stellenwert ein. Die Interpretationen der musikalischen Werke sollen tief empfunden, voller Wärme und Leidenschaft, sein. Den engsten Kontakt zur Mutter haben die Kinder über die Musik. Leopoldine denkt sich für die Kinder musikalische Spiele aus und musiziert mit ihnen. Das Haus Wittgenstein wird zu einem Zentrum der Musikkultur. Zu den Soireen kommen unter anderen Mahler, Strauss und Brahms. Musik Johannes Brahms Violinsonate Nr. 3 D-moll op. 108 Adagio 3:34 Erzählerin: Es ist charakteristisch für die Wiener Gesellschaft des Fin de Siècle, die Kunst und Kultur einer vergangenen Zeit in familiären Hauszirkeln zu pflegen und gleichzeitig an den Fortschritt und neue Technologien zu glauben. In dieser Hinsicht ist die Familie Wittgenstein eine typische Familie ihrer Zeit. Der älteste Sohn Johannes, genannt Hans, zeigt als Kind eine phänomenale mathematische Begabung und eine beeindruckende musikalische Vorstellungskraft. Er ist eigensinnig und zieht sich gerne in seine eigene Welt zurück. Einmal weigert er sich, mit der Familie ein Streichkonzert zu besuchen, da ihn die Musik, aber nicht die Interpretation der Ausführenden interessiert. Er studiert in der Zeit das Stück lieber anhand der Partitur und spielt es anschließend auswendig am Klavier den Eltern vor. Er spielt Geige, Orgel und Klavier und wird von seinem Lehrer als musikalisches Genie gefeiert. Trotz der offenkundigen musischen Talente seiner Kinder ist es für Karl Wittgenstein selbstverständlich, dass seine Söhne einen Ingenieurberuf wie er selbst ergreifen. Also schickt er den zwanzigjährigen Hans nach Böhmen und England, damit dieser in den dortigen Fabriken die praktische Arbeit lernt. Sprecherin 1: Es war tragisch, dass unsere Eltern, trotz ihres großen sittlichen Ernstes und ihres Pflichtgefühls, mit ihren Kindern keine Einheit zu bilden vermochten, tragisch, dass mein Vater Söhne bekommen hat, die von ihm selbst so verschieden waren, als hätte er sie aus dem Findelhaus angenommen! Eine der größten Verschiedenheiten aber, und die tragischste, war der Mangel an Lebenskraft und Lebenswillen seiner Söhne in ihrer Jugend, und diesem Mangel wurde durch die unnormale Erziehung noch Vorschub geleistet. Erzählerin: Hans interessiert sich aber nicht für die technische und kaufmännische Arbeit. Er nutzt die Zeit lieber zum Musizieren. Zurück in Wien gibt es heftige Auseinandersetzungen zwischen Vater und Sohn. 1901 verschwindet Hans nach Amerika. Ein Jahr später heißt es im Neuen Wiener Tagblatt: Sprecher 3: Der Großindustrielle Karl Wittgenstein wurde von einem schweren Verluste betroffen. Sein ältester Sohn Hans, ein junger Mann von 24 Jahren, ist vor ungefähr 3 Wochen in Amerika, wo er sich auf einer Studienreise befand, während einer Kanufahrt verunglückt. Musik darüber Erzählerin: Was genau in Amerika passierte, ist nicht bekannt. Verschwand Hans überhaupt in Amerika oder in einem anderen Land? War es tatsächlich ein Unfall oder nahm er sich das Leben? Oder tauchte er einfach unter, um für seine Familie unauffindbar zu sein? Mit ungeheurer Strenge gegen sich selbst bewahren die Familienmitglieder Haltung und sprechen fortan nicht mehr über den verschwundenen Sohn und Bruder. Aber auch unerwähnt ist der so begabte Erstgeborene für die Familie immer noch anwesend, indem die Leistungen der anderen mit dem Verschollenen verglichen werden. Nun nimmt der sogenannte „Kindskopf“ Kurt, eigentlich Konrad, die Position des Ältesten ein. Konrad jagt gerne und fährt schnelle Autos. Wie die anderen ist er ein begabter Musiker. Er spielt Klavier und Cello. Und er erfüllt den Plan seines Vaters und wird Ingenieur. Der ebenfalls sehr intelligente und gebildete Rudolf Wittgenstein ist drei Jahre jünger als Konrad und studiert an der Berliner Akademie Chemie. Über ihn als Siebenjährigen soll eine Lehrerin bei einer Prüfung gesagt haben, dass er ein nervöses Kind ist, auf das man Acht geben müsse. Rudolf ist ebenfalls leidenschaftlicher Musiker und interessiert sich drüber hinaus für Theater und Fotografie. Im Jahr 1903 sucht er das „Wissenschaftlich-humanitäre Komitee“ in Berlin auf. Dieses Institut kämpft für die Abschaffung des Paragraphen 175, der besagt, dass sexuelle Handlungen zwischen Personen männlichen Geschlechts strafbar sind. Im Mai 1904 schluckt Rudolf in einem Restaurant in Berlin Zyankali und stirbt. Seinen Eltern hatte er in einem Abschiedsbrief geschrieben, dass er sich aus Trauer um den Tod eines Freundes das Leben nimmt. Die Erschütterung für die Familie ist heftig. Der Bruder Ludwig Wittgenstein philosophiert Jahre später: Sprecher 4: Ich weiß, dass der Selbstmord immer eine Schweinerei ist. Denn seine eigene Vernichtung kann man gar nicht wollen, und jeder, der sich einmal den Vorgang beim Selbstmord vorgestellt hat, weiß, dass der Selbstmord immer eine Überrumpelung seiner selbst ist. Nichts aber ist ärger, als sich selbst überrumpeln zu müssen. Erzählerin: Die jüngste Tochter Margarethe ist wie ihre Brüder eine vielseitig begabte Persönlichkeit. Sie befasst sich mit Naturwissenschaften und der Psychoanalyse. In der durch den Tod des Bruders sehr belasteten Zeit lernt sie Jerome Stonborough kennen und verliebt sich in ihn. Jeromes Vater, Herman Steinberger, war ein jüdischer Unternehmer in Amerika und hatte sich nach dem Bankrott seines Geschäftes das Leben genommen. Anschließend änderte Jerome den Namen Steinberger in Stonborough und studierte zunächst in Chicago. Nach Wien kommt er, um Medizin zu studieren. Karl Wittgenstein beauftragt Gustav Klimt, ein Bild für die Hochzeit seiner Tochter zu malen. Auf dem Bild sieht man eine schöne, große, dunkelhaarige Frau mit dunklen Augen in einem weißen Kleid. Margarethe bemängelt die Darstellung ihres Mundes und lässt einen Teil des Porträts von einem anderen Künstler übermalen. Heute hängt es in der Neuen Pinakothek in München. Margarethe hat eine persönliche Vorliebe für die sozial-kritischen Schriften von Karl Kraus. Dieser hatte 1900 in der satirischen Zeitschrift „Die Fackel“ über die vermeintlichen Wohltäter Österreichs bissig geschrieben: Sprecher 3: Immer muss erst eine Veränderung eintreten, ein Anstoß gegeben werden, damit sie die Augen öffnen. Ja, hat man bisher die Schädlichkeit der Sippe, gegen die die Kohlenarbeiter jetzt kämpfen, nicht gekannt? Oder hat man geglaubt, die Rothschild, Gutmann, Wittgenstein würden plötzlich aus der Art schlagen und Menschenwohl über Kapitalsprofit stellen? Wenn Herr Rothschild ein wohltätiges Institut mit ein paar tausend Gulden unterstützt, wenn Frau Gutmann als Patronesse in den Ballsaal einzieht, in dem zu wohltätigem Zweck getanzt wird, dann ist es an der Zeit, davon zu sprechen, dass die verbrecherische Ausbeutung von hunderttausend Menschen diesen Leuten die Mittel bietet, mit deren tausendstem Teil sie hundert Menschen zu Hilfe kommen. Wenn Herr Wittgenstein die Eintrittskarte zum Deutschen Schulvereinsfest mit tausend Kronen bezahlt, dann hat man der Öffentlichkeit zu sagen, dass der Herr, der da mit einem Lumpengeld dem Deutschtum helfen will, samt seinen auch deutschen Kumpanen durch Hungerlöhne, von denen der höherkultivierte deutsche Arbeiter nicht leben kann, die deutsche Arbeiterschaft aus angestammten Gebieten treibt, die Slawisierung Österreichs wirksamer fördert, als zehn Sprachenverordnungen vermöchten. Musik 5: Arnold Schönberg Streichquartett D-Dur Intermezzo 3:45 darüber Erzählerin: Die scharfe Kritik an ihrem Vater scheint Margarethe nicht gestört zu haben. Sie gilt in der Familie als eine durchsetzungsstarke Persönlichkeit. Helene, die Mittlere der Töchter, ist weniger kämpferisch. Sie singt und spielt Klavier Helene hatte mit 20 Jahren den Ministerialbeamten Max Salzer geheiratet. Durch die Gründung der eigenen Familie entzieht sie sich dem Druck ihrer Herkunft. Eines ihrer vier Kinder ist der bekannte Musikwissenschaftler Felix Salzer. Die älteste Tochter, Hermine, berät mit ihrem Kunstsachverstand den Vater bei dem Aufbau seiner Gemäldesammlung und schreibt seine und später ihre eigenen Lebenserinnerungen auf. Sie bleibt unverheiratet. Nach dem Verschwinden von Hans ändert sich das Verhalten des Vaters. Er bringt nun mehr Verständnis für die jüngeren Kinder auf. Die beiden jüngsten Söhne Paul und Ludwig sollen nun öffentliche Schulen besuchen, um Beziehungen zu Menschen außerhalb der Familie aufzubauen. Paul geht nun auf ein humanistisches Gymnasium in Wien. Dort widmet er sich weiterhin intensiv der Musik. Er hat Klavierunterricht bei dem blinden Komponisten und Pianisten Josef Labor. Labor ist in der Familie Wittgenstein sehr anerkannt. Pauls Klavierspiel hingegen hält beim innerfamiliären Vergleich der Musikalität mit dem ältesten Bruder nicht stand. Dennoch lässt sich Paul gegen den Willen seiner Eltern bei dem berühmten Klavierpädagogen Theodor Leschetizky als Pianist ausbilden. Ludwig hatte als Kind Geige und Klavier gelernt, sich aber dann dem musikalischen Vergleich in der Familie entzogen und lieber eine Spielzeugnähmaschine konstruiert. Er lernt nun auf der weniger akademisch geprägten Linzer Oberrealschule. Der Unterricht ist für ihn aber nicht so bedeutsam wie seine eigenen Überlegungen und Zweifel. Seine Schwester Margarethe versorgt ihn dort mit den Schriften von Karl Kraus. Musik Arnold Schönberg Streichquartett Erzählerin: Als Ludwig 1906 die Schule mit der Matura verlässt, schreibt er sich in Berlin an der Technischen Hochschule für Maschinenbau ein, Schwerpunkt Heißluftballon-Technik. Nach seinem Diplom als Ingenieur geht er 1908 nach Manchester, um zuerst mit dem Bau von Drachen zu experimentieren. Seine Erkenntnisse zur Perspektive, die das Wesentliche herausstellt, gibt er an seine älteste Schwester Hermine weiter, die sich in Wien mit Zeichnen beschäftigt: Sprecher 4: Liebe Mining! Sehr oft denke ich an Dich, und immer fällt mir dabei Deine Malerei ein! Ich komme immer wieder zur Überzeugung, dass das einzig richtige, was Du tun kannst, Dir einfache geometrische Körper anzuschaffen und diese in verschiedenen Stellungen zu studieren, indem Du Dir klar machst, warum ein Schatten gerade dort sitzt und so weiter und so weiter und wie das mit der Stellung der Lichtquelle zusammenhängt und so weiter. Wenn Du dann komplizierte Gegenstände zeichnest, so wirst du sie erst absichtlich vereinfachen und eine Skizze von diesem so vereinfachten Gegenstand machen; dann wird es Dir nicht schwer fallen, bei einer zweiten Skizze etwas mehr Details hinein zu bringen und so weiter. Dabei ist aber nötig, dass Du jede Skizze so zeichnest, dass sie Dir körperlich ganz und gar klar ist. Der Gegenstand mag dabei noch so sehr vereinfacht sein. Dabei sollst Du die Schatten zuerst nicht so zeichnen, wie sie der Baum wirklich hat, sondern etwa so, wie er sie hätte, wenn die Sonne ihn von einer bestimmten Seite beschienen, und wenn er nicht von anderen Bäumen beschattet würde. Daraus wirst Du ersehen, was an dem betreffenden Schatten wesentlich ist und so weiter und so weiter. Erzählerin: Schließlich wird Ludwig Forschungsstudent für Aeronautik. Er konstruiert eine neue Antriebstechnik, bei der die Brennkammern an den Blattspitzen des Rotors angeordnet sind. Mit dem „Wittgensteinschen Antrieb“ benötigt man kein Getriebe und keinen Heckrotor als Drehmomentausgleich und kann nach dem Prinzip leichter und billiger bauen. 1911 lässt er sich seine Verbesserung patentieren, aber die Erfindung wird vorerst nicht gebaut und vergessen. Erst Jahrzehnte später, im Zweiten Weltkrieg, wird man die Vorteile erkennen und mit dieser Technik bauen. Ludwig selbst interessiert sich mittlerweile mehr und mehr für die mathematischen Probleme. Inspiriert von Gottlob Freges „Arithmetik“ über die Zurückführung der Mathematik auf die Logik entschließt Ludwig sich, selbst ein philosophisches Buch zu dieser Fragestellung zu schreiben. Um sich Rat zu holen, besucht er Frege in Jena. Frege empfiehlt ihm, Bertrand Russell in Cambridge aufzusuchen, der zu dieser Zeit an der Principia Mathematica arbeitet. Eine fruchtbare, aber auch anstrengende Zeit mit Ludwig Wittgenstein beginnt für Bertrand Russell. Auf der Suche nach einer strengen Logik lässt Ludwig keine bequemen einfachen Lösungen zu. Sprecher 3: Mein deutscher Ingenieur war sehr streitlustig und anstrengend, er wollte nicht zugeben, dass gewiss kein Rhinozeros im Zimmer sei. Dann kam er zurück und schwallte ununterbrochen, während ich mich umkleidete. Mein deutscher Ingenieur ist vermutlich ein Narr. Er meint, nichts Empirisches sei erkennbar. Ich bedrängte ihn zuzugeben, dass kein Rhinozeros im Zimmer sein, aber er blieb stur. Mein deutscher Ingenieur vertrat wie üblich seine These, dass in der Welt nichts anderes existiere als gesicherte Aussagen, doch schließlich sagte ich ihm, das sei ein zu weites Feld. Erzählerin: Dennoch zeigt sich Russell beeindruckt, denn Ludwig hinterfragt auch immer sich selbst. Sprecher 3: Mein Deutscher schwankt zwischen Philosophie und Flugzeugbau. Heute fragte er mich, ob ich ihn philosophisch für einen Versager halte, worauf ich erwiderte, dass ich nicht diesen Eindruck habe, aber auch nicht sicher sein. Ich bat ihn, mir etwas Schriftliches zu zeigen, um besser urteilen zu können. Er ist vermögend und interessiert sich leidenschaftlich für Philosophie, meint aber, er solle ihr nicht sein Leben widmen, wenn er nichts dafür tauge. Ich spüre, dass er die Probleme lösen wird, für deren Lösung ich zu alt bin. All jene Probleme, die sich aus meinem Werk ergeben, sich aber nur einem frischen Geist und jugendlicher Kraft erschließen. Er ist der junge Mann, auf dem man hoffen kann. Erzählerin: Durch Bertrand Russell kommt Ludwig Wittgenstein sogar in die elitäre Geheimgesellschaft „Cambridge Apostles“. 1912 lernt er bei Experimenten zum Rhythmus von Sprache und Musik David Pinsent kennen, seinen ersten und einzigen Freund, wie er sagt. Musik darüber Erzählerin: Weihnachten versammelt sich die ganze Familie wieder in Wien. Das Familienoberhaupt Karl Wittgenstein hat Zungenkrebs. Nach einer Operation stirbt er am 20. Januar 1913. Sprecher 4: Mein lieber Vater starb gestern Nachmittag. Er hatte den schönsten Tod, den ich mir vorstellen kann. Völlig schmerzlos schlief er ein wie ein Kind. Nicht einen einzigen Moment lang in all diesen Stunden habe ich mich traurig gefühlt, sondern ich war voller Freude, und ich denke, dass dieser Tod ein ganzes Leben wert war. Musik darüber Erzählerin: Der Nachruf auf ihn ist euphorisch. darüber Sprecher 3: Karl Wittgenstein war ein Mann von ungewöhnlicher schöpferischer Kraft und starkem organisatorischen Talent. Ihm verdankt die österreichische Eisenindustrie, welche sich noch vor 30 Jahren in einem wenig fortgeschrittenen Stadium befand, ihre mächtige Entwicklung. Karl Wittgenstein hatte ein stürmisches Temperament und eine außerordentlich rasche Auffassung, in der Diskussion glänzende Schlagfertigkeit und einen liebenswürdigen Humor. Er war oft aufbrausend, aber nie nachtragend, stets hilfsbereit gegen seine Freunde, und seine Charaktereigenschaften wurden auch von seinen Gegnern geschätzt. Er hat im Stillen oft im größten Stil Wohltaten erwiesen, junge Talente gefördert und künstlerische Bestrebungen bereitwillig unterstützt. Musik aufblenden Erzählerin: Der hohe moralische Anspruch der Wittgensteins bringt die Geschwister dazu, von ihrem Erbe großzügige Summen zu spenden. Künstlerische und medizinische Vereinigungen, Freunde und soziale Einrichtungen werden beschenkt. Paul ist ein starker Staat wichtig. Er spendet an antianarchistische politische Organisationen. Auf Wunsch seines Vaters hatte er sich an der Technischen Hochschule eingeschrieben. Nach dem Tod des Vaters verfolgt er seine Karriere als Pianist und will in Wien als Pianist zu debütieren. Neben der musikalischen Vorbereitung plant er jede Einzelheit. Er kauft Freikarten für seine weitläufige Verwandtschaft und mietet den Großen Musikvereinssaal in Wien, damit einflussreiche Kritiker über das Konzert schreiben. Musik Darüber Erzählerin: Obwohl die Programmauswahl ungewöhnlich ist, erscheinen tatsächlich Kritiken über ihn im Wiener Tagblatt vom 6. Dezember: Sprecher 3: Ein junger Mann aus der Wiener Gesellschaft, der sich anno 1913 als Klaviervirtuose mit einem Fieldschen Konzert in der Öffentlichkeit einführt, muss entweder ein fanatischer Schwärmer oder ein sehr selbstbewusster Dilettant sein. Nun, Herr Paul Wittgenstein, denn von ihm sprechen wir, ist weder das eine noch das andere, sondern, was uns mehr gilt als beides, ein ernster Künstler. Er unternahm sein Wagnis, ohne zu wissen, dass es einst war, aus lauter Liebe zur Sache und von der ehrlichen Absicht geleitet, vor dem Publikum ebenso zuverlässige wie seltene Probe seiner eminenten Fertigkeiten abzulegen. Im Zwielicht der Gefühle bewegten sich Liebe altertümliche Gestalten vor uns her und weihten uns in die Geheimnisse einer poetischen Dämmerstunde ein. Der trockene Rechenschaftsbericht hatte sich unversehens in ein blühendes Gedicht umgewandelt. Im Körper jener tadellos sauberen Technik, die uns heute so kühl scheint wie anorganische Materie, wohnt doch eine zartempfindende Seele, und wir spürten ihren warmen Hauch. Erzählerin: Paul selbst ist sehr kritisch bei der Einordnung seines Könnens. Nur wenn er Lob als gerechtfertigt ansieht, akzeptiert er es. Jahre später erinnert sein Bruder Ludwig ihn an ein Gespräch nach dem Konzert: Sprecher 4: Ich habe dir einmal: im Volksgarten-Café- meine Meinung gesagt, nämlich dass Dich von einem reproduzierender Künstler dasselbe unterscheidet, was einen Schauspieler (natürlich auch einen guten) von einem Rezitator unterscheidet, der nichts geben will, als das Werk des Dichters; während der Schauspieler die Dichtung quasi nur als Substrat für seine eigenen und selbstherrliche Tätigkeit ansehen kann. Du willst Dich, glaube ich, nicht hingeben und hinter der Komposition zurücktreten, sondern Du willst Dich selbst darstellen. Ich weiß nun, dass auch dabei etwas herauskommt, das dafür steht gehört zu werden, und zwar meine ich nicht nur für den, der die Technik bewundert, sondern auch für mich und jeden, der einen Ausdruck einer Persönlichkeit zu schätzen weiß. Dagegen werde ich mich nicht an Dich wenden, wenn ich, wie es mir bei mir meistens der Fall ist, einen Komponisten sprechen hören möchte. Erzählerin: Ludwig beschreibt damit die künstlerische Interpretation im Sinne eines romantischen Ideals. Er hingegen bevorzugt die Schlichtheit des Ausdrucks und unterstützt mit einem großen Teil seines Erbes Künstler, die für neue Sichtweisen stehen: Oskar Kokoschka, Adolf Loos, Rainer Maria Rilke und Georg Trakl. Im Urlaub mit seinem Freund Pinsent in Norwegen äußert er das Gefühl, dass er sterben könne, bevor er in der Lage sei, seine Gedanken zu veröffentlichen. Zurückgekehrt nach Cambridge, kommt es zum Streit mit Russell. In seiner unverblümten Art schreibt Ludwig , dass sie beide nicht zueinander passen würden. Sprecher 4: DIES MEINE ICH NICHT ALS TADEL! weder für dich noch für mich. Aber es ist eine Tatsache. Wir hatten ja schon so oft ungemütliche Gespräche miteinander, wenn wir auf gewisse Themen kamen. Und die Ungemütlichkeit war nicht eine Folge von schlechter Laune auf Seiten eines von uns beiden, sondern sie war die Folge enormer Unterschiede in unserem Wesen. Ich bitte Dich inständig nicht zu glauben, ich wolle Dich irgendwie tadeln, oder Dir eine Predigt halten. Sondern ich will nur unser Verhältnis klar legen, weil ich daraus einen Schluss ziehen werde. - Unser letzter Streit war bestimmt nicht bloß die Folge Deiner Empfindlichkeit oder meiner Rücksichtslosigkeit, sondern der tiefere Grund lag darin, dass Dir jeder Brief von mir zeigen musste, wie grundverschieden unsere Auffassungen z. B. des Wertes eines wissenschaftlichen Werkes sind. Es wäre natürlich dumm von mir, Dir damals so lange über jene Sache geschrieben zu haben, denn ich hätte mir ja sagen müssen, dass sich solche wesentliche Unterschiede nicht durch einen Brief ausgleichen lassen. Und dies ist ja nur EIN Fall unter vielen. Ich werde Dir solange ich lebe von GANZEM HERZEN dankbar und zugetan sein, aber ich werde dir nicht mehr schreiben, und Du wirst mich auch nicht mehr sehen. Jetzt wo ich mich mit Dir wieder versöhnt habe, will ich in Frieden von Dir scheiden, damit wir nicht irgend einmal wieder gegeneinander gereizt werden und dann vielleicht in Feindschaft auseinander gehen. Ich wünsche Dir alles Beste und bitte dich mich nicht zu vergessen und freundlich an mich zu denken. Leb wohl. Immer Dein Ludwig Wittgenstein Erzählerin: Ludwig reist nach dem Streit erneut nach Norwegen, dieses Mal ohne David Pinsent. Er will ungestört an Gesetzen zur Logik arbeiten. Musik Johannes Brahms: Klarinettenquintett h-Moll op. 115 (1891) I. Allegro darüber Sprecher 4: Leider kann ich Dir auch diesmal wieder keine logischen Neuigkeiten berichten, denn es ist mir in den letzten Wochen fürchterlich schlecht gegangen. Ich war jeden Tag abwechselnd von schrecklicher Angst und Depression gequält, und selbst wenn diese aussetzten, so erschöpft, dass ich an ein Arbeiten gar nicht denken konnte. Die Möglichkeiten der geistigen Qual sind unsagbar entsetzlich! Erst seit zwei Tagen kann ich wieder die Stimme der Vernunft durch den Lärm der Gespenster hören und habe wieder angefangen zu arbeiten. Und vielleicht werde ich jetzt genesen und etwas Anständiges hervorbringen können. Aber ich habe nie gewusst, was es heißt, sich nur noch einen Schritt vom Wahnsinn zu fühlen. - Hoffen wir das Beste!- Erzählerin: Er macht lange Spaziergänge und zweifelt an sich selbst. Sprecher 4: Mein Tag vergeht zwischen Logik, Pfeifen, Spazierengehen und Niedergeschlagenheit. Ich wollte zu Gott, ich hätte mehr Verstand und es würde mir nun endlich alles klar; oder ich müsste nicht mehr lange leben. Am Grunde meiner Seele aber kocht es fort und fort wie am Grunde eines Geysirs. Und ich hoffe immer noch, es wäre endlich einmal ein endgültiger Ausbruch erfolgen, und ich kann ein anderer Mensch werden. Erzählerin: Der Geysir bricht nach dem Attentat von Sarajevo in Gestalt der Kriegserklärung Österreich-Ungarns an Serbien im Juli 1914 aus. Ab August 1914 befinden sich Deutschland und Österreich-Ungarn im Krieg gegen die verbündeten Entente-Staaten Frankreich, Großbritannien und Russland . Der Erste Weltkrieg hat begonnen. Alle Mitglieder der Familie sind von der Notwendigkeit des Einsatzes für das Vaterland überzeugt. Ludwig und Paul sind zur Zeit des Kriegsausbruchs in Österreich. Kurt lebt zu dem Zeitpunkt in New York. In der 2. Stunde erfahren Sie, wie der Erste Weltkrieg die Pläne der Familienmitglieder heftig erschüttern wird. Musik 2. Stunde Musik Josef Labor - Piano Quintet in E minor, Op. 3 IV. Allegro ma non troppo darüber Sprecher 4: Bessere dich selbst – das ist alles, was Du tun kannst, um die Welt zu verbessern. Musik aufblenden: Josef Labor - Piano Quintett in E minor, Op. 3 IV. Allegro ma non darüber Erzählerin: Die Familie Wittgenstein war Ende des 19. Jahrhunderts eine der reichsten Familien in Österreich. Die musikalische Leopoldine und ihr Ehemann Karl leben mit ihren acht Kindern in einer eigenen Welt. Der Vater Karl hat sich früh aus dem Geschäftsleben zurückgezogen, baute zusammen mit seiner ältesten Tochter eine große Kunstsammlung auf. Außerdem empfingen Leopoldine und Karl bedeutsame Künstler ihrer Zeit in ihrem Haus. Zu diesem speziellen Kosmos gehören auch die Kinder, die an dem kulturellen Leben teilnehmen. Eines Tages verschwindet der älteste Sohn Hans nach Amerika und gilt seither als verschollen. Ein anderer Sohn begeht Selbstmord. Der dritte Sohn Konrad hat das Stahlwerk Judenburg mit neuartigen Hochöfen aufgebaut. Es existiert heute noch. Ein Jahr nach dem Tod des Vaters ist der Erste Weltkrieg ausgebrochen. Wie für viele Menschen der damaligen Zeit ist es auch für die Wittgenstein-Familie selbstverständlich, ihr Land zu verteidigen. Leopoldine schreibt ihrem Sohn Konrad, nach Amerika, dass er versuchen solle, nach Österreich zurückzukehren, um Kriegsdienst zu leisten. Hermine drückt Mitleid für ihren Bruder in Amerika aus: Sprecherin 1: Fast am leidesten tut mir jetzt Kurt. Er wird eine böse Zeit haben, wenn jeder geleistet und gelitten hat, nur er nicht! Er wird sich fortwährend zurückgesetzt vorkommen! Immer muss ich an den armen Kurt denken und wie schrecklich es ist, dass er diese Zeit nicht miterlebt, man kann das jetzt gar nicht leben nennen, was er in Amerika tut. Erzählerin: Auch ihre Schwester Margarethe sieht den Kriegsausbruch positiv: Sprecherin 1: Da ist uns von ungeahnter Seite Hilfe gekommen. So vielen, die ich kenne wird dieser Krieg, wenn sie heil nach Hause kommen, sehr gut getan haben. Dazu zählt auch der Paul. Erzählerin: Paul hatte den Militärdienst als Unteroffizier der Reserve beendet und verteidigt nun die Habsburger Monarchie. Im ersten Kriegsjahr wird er an der galizischen Front im Norden eingesetzt, um die russischen Truppen aufzuhalten. Dort zerschmettert eine Kugel seinen Ellbogen. Ihm wird der rechte Arm amputiert. In der Zeit erobert die russische Armee die Stadt, und Paul wird in ein Gefangenenlager nach Sibirien gebracht. Musik 12 : Leós Janáček Aus einem Totenhaus Anfang Erzählerin: Da der jüngere Bruder Ludwig bis dahin noch keinen Militärdienst absolviert hat, meldet er sich nun freiwillig für zivile Aufgaben. Dabei macht er sich Gedanken um seine Familie: Sprecher 4: Erhielt heute viel Post, unter anderem die traurige Nachricht, dass Paul schwer verwundet und in russischer Gefangenschaft ist, Gott sei Dank in guter Pflege. Die arme, arme Mama. Immer wieder muss ich an den armen Paul denken, der so plötzlich um seinen Beruf gekommen ist. Wie furchtbar. Welche Philosophie würde es bedürfen, darüber hinwegzukommen. Wenn dies überhaupt anders als durch Selbstmord geschehen kann. Dein Wille geschehe. Erzählerin: Aber Ludwig wünscht sich immer noch den Einsatz an der Front, denn: Sprecher 4: Nur durch Wunder kann die Arbeit wieder gelingen. Nur dadurch, indem VON AUSSERHALB mir der Schleier von meinen Augen weggenommen wird. Ich muss mich ganz in mein Schicksal ergeben. Wie es über mich verhängt ist, so wird es werden. Ich lebe in der Hand des Schicksals. Vielleicht bringt mir die Nähe des Todes das Licht des Lebens. Möchte Gott mich erleuchten. Erzählerin: Ende März 1916 wird Ludwig in eine Kampfeinheit an der russischen Front versetzt. In seinem Tagebuch bereitet er sich seelisch darauf vor: Sprecher 4: Gott erleuchte mich! Gott erleuchte mich! Gott erleuchte meine Seele! Tu du dein Bestes! Mehr kannst du nicht tun: Und sei heiter. Lass dir andre selbst genügen. Denn andre werden dich nicht stützen, oder doch nur für kurze Zeit. (Dann wirst du diesen lästig werden.) Hilf dir selbst und hilf anderen mit deiner ganzen Kraft. Und dabei sei heiter! Aber wie viel Kraft soll man für sich, und wie viel für die anderen brauchen? Schwer ist es gut zu leben!! Aber das gute Leben ist schön. Aber nicht mein, sondern dein Wille geschehe! Jetzt bei Tag ist alles ruhig, aber in der Nacht muss es fürchterlich zugehen! Ob ich es aushalten werde??? Die heutige Nacht wird es zeigen. Gott stehe mir bei!!!In steter Lebensgefahr. Die Nacht verlief durch die Gnade Gottes gut. Von Zeit zu Zeit werde ich verzagt. Das ist die Schule der falschen Lebensauffassung!!! Der Tod gibt dem Leben erst seine Bedeutung. Erzählerin: Ludwig ist knapp 27 Jahre alt, als er dieses schreibt. Seine Schwester Hermine sorgt sich trotz ihres patriotischen Denkens um ihn: Sprecherin 1: Jetzt hat mich aber Paul auf etwas sehr Wichtiges aufmerksam gemacht und obwohl er es Dir auch schon geschrieben hat und sogar noch ein zweites Mal schreiben will, lässt es mir keine Ruhe, ich muss es erwähnen: Paul sagt nämlich, Du hast vermöge deiner Studien Anspruch auf die Freiwilligenbörteln und Offiziersausbildung, das heißt freiwilligen Schule. Du sollst dich nicht durch irgendwelche Gründe zu einem Verzicht darauf verleiten lassen, denn wenn Du auch in unserer Armee es als gemeiner Soldat eventuell aushalten kannst, so besteht doch die Gefahr dass Du gefangen werden kannst und Paul sagt, er weiß, dass es für ihn selbst den sicheren Tod bedeutet hätte, die Behandlung eines gefangenen gemeinen Soldaten erdulden zu müssen. Er hätte es einfach nicht aushalten können. Auch als Offizier ist es schon arg genug. Ich weiß ja gar nicht was jetzt mit Dir los ist, schreibe also ganz in‘s Blaue hinein, aber ich beschwöre Dich, wenn du in dieser Angelegenheit Schritte zu tun hast, sie nicht in Deiner Verbohrtheit und Weltfremdheit zu unterlassen. Vielleicht tue ich Dir auch Unrecht und Du bist gar nicht so verschroben, wie ich denke, aber ich fürchte immer, Du siehst es als ein Drücken vor Strapazen oder dergleichen an und weißt nicht, dass es sich dabei um Dein Leben handeln kann. Erzählerin: Ludwig hält das Leben an der Front und später in der Kriegsgefangenschaft aus, indem er sich strikt der Philosophie zuwendet. Er schreibt an seiner philosophisch-logischen Abhandlung, die später als „Tractatus“ erscheinen wird. Einige Monate später reflektiert er über Gott und den Zweck des Lebens und er erstellt eine Liste von gesicherten Antworten auf Fragen des Lebens: Sprecher 4: Ich weiß, dass diese Welt ist. Dass ich in ihr stehe wie mein Auge in seinem Gesichtsfeld. Dass etwas an ihr problematisch ist, was wir ihren Sinn nennen. Dass dieser Sinn nicht in ihr liegt, sondern außer ihr. Dass das Leben die Welt ist. Dass mein Wille die Welt durchdringt. Dass mein Wille gut oder böse ist. Dass also Gut und Böse mit dem Sinn der Welt irgendwie zusammenhängt. Den Sinn des Lebens, den Sinn der Welt, können wir Gott nennen. Und das Gleichnis von Gott als einem Vater daran knüpfen. Das Gebet ist der Gedanke an den Sinn des Lebens. Ich kann die Geschehnisse der Welt nicht nach meinem Willen lenken, sondern bin vollkommen machtlos. Nur so kann ich mich unabhängig von der Welt machen – und sie also doch in gewissem Sinne beherrschen – indem ich auf einen Einfluss auf die Geschehnisse verzichte. Erzählerin: Es ist bezeichnend für Ludwig Wittgensteins philosophisches Denken, dass er in seinen Aufzeichnungen aus dem Ersten Weltkrieg eine Denkbewegung für sich selbst aufschreibt. In diesen Kriegsjahren verschmilzt aber auch Persönliches und Philosophisches bei ihm. Ludwig möchte nicht nur zu Gott um Kraft bitten, sondern auch ergründen, zu welchem Gott er betet: Sprecher 4: An einen Gott glauben heißt, die Frage nach dem Sinn des Lebens verstehen. An einen Gott glauben heißt, sehen, dass es mit den Tatsachen der Welt noch nicht abgetan ist. An Gott glauben heißt sehen, dass das Leben einen Sinn hat. Die Welt ist mir gegeben, d. h. Mein Wille tritt an die Welt ganz von außen als an etwas Fertiges heran. (Was mein Wille ist, das weiß ich noch nicht.) Daher haben wir das Gefühl, dass wir von einem fremden Willen abhängig sind. Wie dem auch sei, jedenfalls sind wir in einem gewissen Sinne abhängig und das, wovon wir abhängig sind, können wir Gott nennen. Gott wäre in diesem Sinne einfach das Schicksal oder, was dasselbe ist: die- von unserem Willen unabhängige - Welt. Vom Schicksal kann ich mich nicht unabhängig machen. Es gibt zwei Gottheiten: die Welt und mein unabhängiges Ich. Wenn mein Gewissen mich aus dem Gleichgewicht bringt, so bin ich nicht in Übereinstimmung mit Etwas. Aber was ist dies? Ist es die Welt? Gewiss ist es richtig zu sagen: Das Gewissen ist die Stimme Gottes. Wie sich alles verhält, ist Gott. Gott ist, wie sich alles verhält. Erzählerin: Mit einem unerbittlichen Blick betrachtet er seine menschlichen Ängste und Bedürfnisse. Sprecher 4: Ich werde von Zeit zu Zeit zum Tier. Dann kann ich an nichts denken als an Essen, Trinken, Schlafen. Furchtbar. Und dann leide ich auch wie ein Tier, ohne die Möglichkeit innerer Rettung. Ich bin dann meinen Gelüsten und Abneigungen preisgegeben. Dann ist an ein wahres Leben nicht zu denken. Die Furcht vor dem Tode ist das beste Zeichen eines falschen, d. h. schlechten Lebens. Musik Erzählerin: Paul Wittgenstein ist in der Zeit in russischer Gefangenschaft. Erst lernt er mit einem Selbsthilfebuch für amputierte Kriegsheimkehrer, sich mit einer Hand anzuziehen, sich einarmig zu waschen und das Fleisch zu zerdrücken statt zu schneiden. Der Autor dieses Ratgebers, Graf Géza Zichy, hatte einst Franz Liszt mit seinem einarmigen Klavierspiel beeindruckt und verweist auf einen eisernen Willen, der zum Erfolg führe. Eiserner Wille ist bei allen Mitgliedern Familie Wittgenstein vorhanden. Selbstmitleid wird verachtet. Nun arbeitet Paul daran, mit einer Hand seine Virtuosität am Klavier wiederzuerlangen. Er übt auf einem verstimmten Klavier mit der verbliebenen linken Hand. Jahre später beschreibt er diese Zeit so: Sprecher 5: Es war wie der Versuch, einen Berg zu besteigen, wenn ich auf dem einen Weg den Gipfel nicht erreichen konnte, stieg ich ab und fing von der anderen Seite wieder von vorn an. Erzählerin: Im November 1915 wird Paul aus der Gefangenschaft entlassen. Leidet aber noch so stark unter Schmerzen, dass er in Wien erneut operiert werden muss. Ein Jahr später gibt er sein erstes linkshändiges Konzert. Sprecher 3: Er spielt eben mit der einen Hand nicht derart Klavier, wie man in einer Welt spielt, in der zwei Hände dazu da sind, sondern wie man in einer Welt spielen würde, in der es überhaupt nur eine gibt. So ist sein Spiel nur an diesem selbst, die Sprache seiner linken Hand nur an ihren individuellen Regeln zu messen, die ungewöhnliche Ausbildung des einhändigen Spiels sozusagen, nicht eines einhändigen Spiels zu beurteilen. Wittgensteins Spiel ist aber auch sonst, vom Technischen abgesehen, das eines Musikers von Geist und Empfindung. Drücken wir ihm nach seinem Erfolgs gekrönten Debüt die tapfere Hand, die er so glücklich zu verwenden gelernt hat. Aus dem Spiel dieser Linken klingt keineswegs die Wehmut des Künstlers heraus, keine Rechte zu besitzen. Vielmehr der Triumph, diese so leicht entbehren zu können. Erzählerin: Die Familie hört kritischer hin. Die Schwester Hermine schreibt über Pauls Üben zuhause: Sprecherin 1: Wenn ich auch fürchte, dass er jetzt noch ausschließlich Virtuose sein wird, so bin ich doch froh, dass er sich nicht ein ganz neues Feld suchen muss. Leider, wirklich zu meinem großen Leidwesen, kommt Papas Ruhelosigkeit in seinem Klavierspiel zum Vorschein, ach nicht ein Tag ist nach meinem Gewinn und Gefühl wenn ich ihn oben spielen höre, und das ist eine momentane Qual und ein nachhaltiger Kummer. Musik Johann Sebastian Bach-Brahms - Chaconne für die linke Hand allein in d-Moll darüber Erzählerin: Nach einem Konzert in Berlin meldet sich Paul erneut zum Kriegsdienst. 1917 wird er einberufen. Im gleichen Jahr steigt Amerika in den Krieg ein. Alle diplomatischen Beziehungen werden abgebrochen. Als „feindlicher Ausländer“ wird Pauls Bruder Konrad ausgewiesen und reist nach Europa und kann zum Kriegsdienst an der italienischen Front eingeteilt werden. Kurz vor Kriegsende stirbt er. Unterschiedliche Versionen kursieren zu seinem Tod. Sicher ist, dass er Suizid begangen hat, verschiedene Gründe werden genannt. War es die Kapitulation oder lag es daran, dass ihm seine Truppe nicht mehr folgte? Musik Erzählerin: Nach Konrads Tod fallen seine Anteile am Erbe den Geschwistern zu. Als ältester Sohn verwaltet nun Paul das Vermögen. Er finanziert ein Projekt für den Aufbau von Kleingärten, um die Hungersnot zu lindern. Dieser Plan scheitert aber an bürokratischen Hürden. Den größten Teil des inländischen Familienvermögens investiert Paul in Kriegsanleihen der Regierung, der mit Kriegsende dann verloren geht. Musik Erzählerin: Zum Ende des Ersten Weltkriegs hat Ludwig Wittgenstein seine philosophischen Überlegungen abgeschlossen und ist trotz seiner starken Kritik an sich selbst nun bereit, sie zu veröffentlichen. Dieses Werk wird der Grundstein zu seiner Anerkennung als neuer Denker in der Philosophie sein. Sprecher 4: Dieses Buch behandelt die philosophischen Probleme und zeigt, wie ich glaube, dass die Fragestellung dieser Probleme auf dem Missverständnis der Logik unserer Sprache beruht. Man könnte den ganzen Sinn des Buches etwa in die Worte fassen: - Was sich überhaupt sagen lässt, lässt sich klar sagen. Und wovon man nicht reden kann, darüber muss man schweigen. Das Buch will also dem Denken eine Grenze ziehen oder vielmehr nicht dem Denken, sondern dem Ausdruck der Gedanken. Denn um den Denken eine Grenze zu ziehen, müssten wir beide Seiten dieser Grenze denken können, wir müssten also denken können, was sich nicht denken lässt. Die Grenze wird also nur in der Sprache gezogen werden können, und was jenseits der Grenze liegt, wird einfach Unsinn sein. Erzählerin: Gunter Gebauer, Professor für Philosophie und Soziologie an der Freien Universität zu Berlin, erläutert in dem Hörbuch über Ludwig Wittgenstein „Im Fluss des Lebens und der Sprache“ die Gedankengänge im „Tractatus“: O-Ton1 CD Track 1 Die wahre Beschreibung der Welt – Tractatus 3:59 bei 0:51/1:11 Gunter Gebauer: Ludwig Wittgenstein, 29 Jahre, Philosoph aus Cambridge, jüngstes Kind einer äußerst wohlhabenden Wiener Familie, schreibt dies während des Kriegs-geschehens 1918 im Vorwort seines ersten Buches, das sein einziges zu seinen Lebzeiten publiziertes Werk bleiben wird. Das Tractatus logico-philosophicus. Sein Text entwirft in nummerierten kurzen Sätzen auf weniger als 100 Seiten eine Philosophie der logischen Sprache als glasklare Abbildung der Welt. Es ist die Welt, die uns in ihrer Verworrenheit und Komplexität gegenübersteht. Die uns widerfährt, In den Strukturen der idealen Sprache wird ihre innere Beschaffenheit, werden die internen Strukturen der Welt sichtbar gemacht. Alles, was es gibt, was es für uns gibt, zeigt sich hier in seiner Ordnung. Jenseits dieser Strukturen gibt es nichts. Die Probleme der Philosophie sind gelöst, wenn Strukturen von Welt und Sprache geschrieben werden. Dies geschieht mit den Tractatus. Die Philosophie ist an ihr Ende gekommen. Es ist, als habe Wittgenstein für die philosophische Erfassung der Welt eine Beschreibungsform vorgefunden, die dem System der Elemente in der Chemie entsprächen. Erzählerin: Mit der Verworrenheit der Welt muss Ludwig Wittgenstein für sich persönlich auch noch zum Ende des 1. Weltkrieges kämpfen, als sein Freund David Pinsent im Mai 1918 bei einem Flugunfall in Frankreich ums Leben kommt. Und obwohl der „Tractatus“ von den Fachleuten sowohl in Cambridge als auch in Wien gefeiert wird, kehrt Ludwig nicht an die Universität zurück, sondern lässt sich zum Volksschullehrer ausbilden. O-Ton 2 CD Track 2 Neuanfang: Hinwendung zur Praxis 6:03 Gunter Gebauer: 1921 ist der „Tractatus“ veröffentlicht, was nicht leicht war, bei diesem ungewöhnlichen Text, dessen gemeißelte Schönheit unnahbar erscheint. Auch einem gelehrten Publikum musste er unverständlich bleiben. Er lässt nicht die geringste Bereitschaft erkennen, seine Absicht mitzuteilen. Von den Fachleuten des mathematisch logischen Denkens der analytischen Philosophie wird Wittgenstein als ihr Wortführer gefeiert. Er hat die kühnste, kompromissloseste, strengste Abhandlung dieses neuen Philosophierens verfasst, den großen Wurf eleganter , philosophisch tiefer als Bertrand Russell, scharfsinniger als die Neo-Kantianer, einfallsreicher als der Wiener Kreis mit seinem Programmatiker Rudolf Carnap, der später in der Immigration die nordamerikanische Philosophie für Jahrzehnte prägen wird. 1928 befindet sich Wittgenstein in Wien. Er wird zu den Sitzungen des Wiener Kreises und Moritz Schlick eingeladen. In den Diskussionen wird sein Scharfsinn bewundert, sein rigoroses Argumentieren gefürchtet, und er wird um Erläuterung seiner Tractatus Philosophie gebeten. Wittgenstein fühlt sich von den analytischen Philosophen nicht richtig verstanden. Er ist nicht der Denker, den sich die Mitglieder des Wiener Kreises vorgestellt haben. Er ist anders oder ist ein anderer geworden. Einmal inmitten einer intensiven Diskussion steht er auf, dreht den Diskutanten den Rücken zu und liest demonstrativ in einem Gedichtband. Was ist mit ihm geschehen? Es ist eine Geschichte, die an Sokrates denken lässt. Nietzsche hat auf sie aufmerksam gemacht. In seinem Gefängnis nach seiner Verurteilung hört Sokrates nachts eine Stimme, die ihm sagt : Sokrates treibe Musik: Nietzsche deutet Platons Erzählung als Geschichte der Abkehr von dem Begriff der logischen Philosophie und der Hinwendung zu den tieferen Mächten des Lebens. Auch Wittgenstein hört im letzten Kriegsjahr einen inneren Ruf bei der Lektüre der Evangelien- Geschichten Tolstois. Unter dem Eindruck dieses Erlebnisses ändert er nach der Rückkehr aus dem Krieg sein Leben. Aus dem mondänen Millionärssohn mit herrschaftlichem Auftreten und atemberaubender Selbstsicherheit wird ein schlichter Student des Lehrerseminars in Wien; schließlich ein Volksschullehrer auf dem Lande. Er gibt das Philosophieren auf, das er noch in den Tagen an der Front kontinuierlich betrieben hat; widmet sich der Ausbildung von Bauernkindern und führt, nachdem er sein Erbe an die Geschwister verschenkt hat, ein bescheidenes, fast ärmliches Leben. In seinen späteren philosophischen Überlegungen zur Sprache, die 1953 nach seinem Tod unter dem Titel „Philosophische Untersuchungen“ veröffentlicht wurden, findet diese Hinwendung zur Alltäglichkeit und zum Gewöhnlichen einen Niederschlag 3:05 Erzählerin: Bei dieser gravierenden Entscheidung, sein Erbe an die Geschwister zu überschreiben, nimmt Ludwig allerdings seine Schwester Margarethe aus. Hermine bittet ihn, seine Entscheidung zu überdenken, da er die Schwester dabei übergeht: Sprecherin 1: Abgesehen davon, dass ich Dich gerne noch ein bisschen ordentlich für mich gehabt hätte, tut es mir jetzt auch sehr leid, dass ich nicht dabei war, als Du mit den Geschwistern Deine Vermögenshergabe besprachst. Ich verstehe nämlich nicht, warum Du Greti dabei übergehst. Das ist doch eine große Kränkung glaube ich, nicht wegen des Geldes sondern es ist kränkend „enterbt“ zu werden. Wenn Du eine Absicht dabei verfolgst, so ist das etwas anderes, jeder tut, was er für Recht hält, aber vielleicht hast du es noch gar nicht von dieser Seite angesehen. Es wäre ja, wenn Du sie nicht beteiligen willst, ganz genug, wenn Du ihr nur eine Zeile schriebest, dass Du sie nicht damit kränken willst, sondern dass Du es tust, weil wir viel von unserem Vermögen verlieren werden, was ihr nicht passieren wird. Möchtest Du das nicht? Erzählerin: Da Ludwig nun ohne Besitz ist, arbeitet er nach Abschluss der Lehrerausbildung erst als Hilfsgärtner in einem Kloster, dann an Schulen in Österreich mit bescheidenem Einkommen. Sein Bruder Paul schreibt ihm einen frotzelnden Brief: Sprecher 5: Lieber Luki bin leider um einen Tag zu spät nach Wien gekommen, um Dich noch vor Deiner Abreise nach Trattenbach sehen zu können. Nun besteht zwar die begründete Angst, dass Du dort selbst überfüttert werden wirst. Unser Land erstickt ja noch vor lauter Reichtum. Nun gar erst die Volksschullehrer! Sie schwimmen im Wohlleben, schwelgen im Überfluss, und wohlgenährt; „wie ein Volksschullehrer in einem Gebirgsdorf“ ist zum Sprichwort geworden. Ihre Einkünfte sind ins Märchenhafte gestiegen, ihre Verschwendung kennt keine Grenzen, an Geizigkeit übertreffen sie den Orient, an Luxus die Römer aus der Verfallszeit, Lukullus ist ein Waisenknabe gegen sie, mit einem Worte: sie sind Krösen, wie Tante Luise gesagt hat, und die meisten von ihnen müssen wegen Fettsucht nach Marienbad geschickt werden. Obwohl nun dem allen so ist, so wirst Du doch das kleine Paket mit Fressalien, welches gleichzeitig mit dieser Post an Dich abgeht, hoffentlich nicht allzu gar ungern annehmen. Erzählerin: Die älteste Schwester Hermine schreibt ihrem kleinen Bruder über ihre Beschäftigung mit dem Rechnen, welches sie im Widerspruch zu Ludwig nicht als Anschauung, sondern als Experiment wahrnimmt, weil sie nie wisse, was dabei herauskomme. Einige Zeit nach diesem Brief möchte sie Ludwig unbedingt besuchen. Ludwig lehnt es schroff ab. Sprecher 4: Liebe Mining ! Ich konnte Deinen Brief nicht gleich ausführlich beantworten, da ich mit Mumps im Bett lag. Dein Brief ist mir eigentlich recht unverständlich. Aber ich ersehe aus Deinem Brief, dass Du unter Umständen unter besonderem Druck, auch gegen meinen Willen mich besuchen würdest. Also gibt es einen Druck. Das ist mir freilich ganz unverständlich. Nicht dass Du etwas gegen meinen Willen tust, aber dass ein Mensch einen anderen überhaupt gegen seinen Willen „besuchen“ kann. In meinen Augen wäre so ein Besuch die denkbar gröbste Missachtung, ein Zeichen von Mangel jeden Respektes, den ein Mensch der Freiheit des anderen schuldig ist. In unserer Familie wäre mir dieser Mangel zwar nichts Neues, daher die vielen Fälle in denen einer den anderen liebevoll tyrannisiert. Aber ich hoffe Du traust mir das Zeug zu, mir eine solche Tyrannei abzuschaffen, da wäre sie an den Unrechten gekommen. Wenn ich Deinen Brief wieder durchlese so kann ich nur glauben, dass Du ihn unüberlegt geschrieben hast. Oder warst Du auch im Fieber? Nun ist es hoffentlich auch bei Dir wieder gut leb wohl Dein Bruder L. Musik darüber Erzählerin: Ludwig nimmt in seiner klaren Logik wenig Rücksicht auf die Gefühle seiner Umgebung und verletzt damit Hermine. Paul geht geschickter mit seinem Bruder um als die Schwester. Als Ludwig krank wird, wendet sich Paul an einen mit Ludwig befreundeten Volksschullehrer, der unauffällig helfen soll. Sprecher 5: Verehrter Herr Koder! Ich wende mich mit einer Bitte an Sie, durch deren Erfüllung Sie mich sehr verpflichten würden. Mein Bruder Ludwig leidet an einem Darmkatarrh. Es ist dies ein Leiden, welches, wenn man es vernachlässigt und nicht rechtzeitig behandelt, die übelsten Folgen haben kann. Auch mein Bruder sieht infolgedessen schlecht, herabgekommen und überanstrengt aus. Der Sache ist jedoch abzuhelfen, wenn mein Bruder eine bestimmte Diät befolgt. Unter anderem sollte er sich, so verlangt es der Arzt, eine Gersten- oder Haferschleimsuppe machen lassen. Dazu ist er aber nicht zu bewegen, mit der Begründung, es sei zu teuer oder es mache zu viel Arbeit. Dürfte ich Sie bitten, lieber Herr Koder, Ihren Einfluss dahingehend geltend zu machen, dass Ludwig die ihm verordnete Diät auch einhält. Sie dürften natürlich nicht sagen, dass Sie von mir dazu angestiftet worden sind. Sie müssten sich als Freund bei ihm erkundigen, was er essen soll und darf, und ihm zureden, mit Rücksicht auf die schweren Folgen eines verschleppten Leidens, beizeiten dazuzuschauen. Wenn ihm seine Hauswirtin keine Schleimsuppe machen kann, so wäre ich mit Wonne bereit, die dazu nötigen Ingredienzen an Sie, lieber Herr Koder, zu schicken. Vielleicht könnten Sie Ludwig glauben machen, dass Sie selbst ihm diese Suppe gemacht haben. Vielleicht nähme er sie dann eher. Und gar so besonders ungewöhnliche Ingredienzen werden ja wohl nicht dazugehören, um so ein einfaches Gericht herzustellen. Ich verlasse mich hier in auf ihre diplomatische Geschicklichkeit. Unserer herzlichsten Dankbarkeit können Sie versichert sein. Verzeihen Sie, dass ich Sie in dieser Angelegenheit belästige, aber ich wusste mir keinen anderen Rat. Vielleicht gelingt Ihrem Einfluss, was meine Schwester nicht durchsetzen konnte. Ich danke Ihnen im Voraus herzlichst und verbleibe Ihr stets aufrichtig ergebener Paul Wittgenstein Erzählerin: Ludwig ist ein sehr einfallsreicher Lehrer. Er berichtet seiner Schwester Hermine, wie er die Schüler zur Konstruktion von Möbeln anleitet, indem die Kinder die Perspektive anhand von Fußbodenlinien erkennen lernen. Hermine beschreibt die Vor- und Nachteile ihres Bruders so: Sprecherin 1: In vieler Beziehung ist Ludwig der geborene Lehrer. Alles interessiert ihn selbst, und er weiß aus allem das wichtigste heraus zu fassen und klarzumachen. Ich hatte selbst ein paar Mal Gelegenheit, Ludwig beim Unterrichten zu sehen, da er den Buben in meiner Knabenbeschäftigungs-Anstalt einige Nachmittage gewidmet hat. Es war uns allen ein Hochgenuss. Er trug nicht nur vor, sondern suchte die Buben durch Fragen an die richtige Lösung heranzubringen. Einmal ließ er sie eine Dampfmaschine erfinden, dann eine konstruktive Zeichnung eines Turmes auf die Tafel zeichnen, wieder einmal bewegte menschliche Figuren darstellen. Das Interesse, dass er erweckte, war ungeheuer. Selbst die Unbegabten und sonst Unaufmerksamen unter den Buben gaben erstaunlich gute Antworten, und sie krochen förmlich übereinander in ihrem Wunsch, zu antworten oder Demonstrationen herangezogen zu werden. Zu einem Volksschullehrer gehört aber nicht nur die Fähigkeit, etwas interessant vorzutragen und begabte Schüler zu fördern, ja weiter zu fördern als es der Unterrichtsplan verlangt. Es gehört dazu auch die Geduld und die Routine, die Unbegabten und Faulen, die Mädchen, die ganz andere Dinge im Kopf haben, so weit zu bringen, dass sie mit den nötigsten Kenntnissen versehen die Schule verlassen. Es gehörte dazu auch Geduld und Geschicklichkeit im Verkehr mit den oft sehr unverständigen Eltern. Diese Geduld konnte Ludwig nicht aufbringen, und an diesem Mangel scheiterte schließlich seine Tätigkeit. Meiner Meinung nach kündigte sich wohl auch schon wieder eine neue Phase seiner Entwicklung an. Erzählerin: Ludwig ist nicht nur ungeduldig, sondern gnadenlos streng bei menschlichen Fehlern, bei anderen und bei sich selbst. Er begründet die Auseinandersetzung sogar philosophisch: Sprecher 4: Wir sind aufs Glatteis geraten, wo die Reibung fehlt. Also die Bedingungen im gewissen Sinne ideal sind, aber wir eben auch nicht gehen können. Wir wollen gehen, dann brauchen wir die Reibung, zurück auf den rauhen Boden. O-Ton 3 CD Track 2 Neuanfang: Hinwendung zur Praxis 6:08 bei 4:05 Gunter Gebauer: Auch in Zukunft wird Wittgenstein die Konfrontation mit den Lebenswirklichkeiten, den rauen Boden, suchen, als er wegen - diplomatisch ausgedrückt - Konfrontationen mit den Eltern einiger Schüler den Schuldienst verlässt und orientierungslos in Wien ankommt, bietet ihm seine Schwester Margarethe eine andere Art von Praxis an. Sie schlägt ihm vor, am Bau ihres neuen Stadtpalais mitzuwirken, den ein guter Freund Wittgensteins, der Architekt Engelmann gerade begonnen hatte. Nach kurzer Zeit zieht sich der ihm ergebene Gefährte zurück und überlässt dem gelernten Maschinenbauingenieur die Baustelle. Im Schulhaus musste er sich den gegebenen Anforderungen unterordnen. Als Architekt baut er nun ein eigenes Haus. Er kann dessen Räume formen und nach eigenen Vorstellungen gestalten. In dieses Haus kann er als Schöpfer hineinschauen, und er kann in seine Räume als Handelnder eintreten. Diese doppelte Positionierung, von oben blickte als Beobachter und als Handelnder bewegt er sich in diesem Raum, kennzeichnet die Anlage von Wittgenstein zu späterer Philosophie. Als Philosoph betrachtet er die Welt sub specie aeterni, vom Blickpunkt des Ewigen, wie er mit einem Ausdrucks Spinozas sagt. Auf der anderen Seite wendet er sich dem In-der-Welt-sein, der Beteiligung des Menschen am Lebensprozess, zu. Dies ist der neue Aspekt seines Philosophierens, den er in den Jahren des Hausbaus 1926 bis 1928 findet, als Denker betrachtet er die Welt aus der Höhe. Als Mitspieler ist der mit seinem Handeln und seiner körperlichen Existenz in gesellschaftliche Prozesse eingebunden. Abstand und Beteiligung. Sprecher 4: Es könnte nichts merkwürdiger sein, als einen Menschen bei irgendeiner ganz einfachen alltäglichen Tätigkeit, wenn er sich unbeobachtet glaubt, zu sehen. Wir würden das Leben selbst sehen. Aber das sehen wir ja alle Tage, und es macht uns nicht den mindesten Eindruck. Aber wir sehen es nicht in Perspektive. Das Kunstwerk zwingt uns sozusagen zu der richtigen Perspektive, ohne die Kunst aber ist der Gegenstand ein Stück Natur wie jedes andere. Nun scheint mir aber gibt es außer der Arbeit des Künstlers noch eine andere die Welt sub specie aeterni einzufangen, es ist, glaube ich, der Weg des Gedankens, der gleichsam über die Welt hinfliege und sie so lässt, wie sie ist. Sie von oben vom Fluge aus betrachtend. Erzählerin: 1926 stirbt die Mutter Leopoldine. Im gleichen Jahr beginnt Ludwig Wittgenstein mit seiner Arbeit an dem Haus in der Kundmanngasse 19. Es ist das Jahr, in dem er während des Baus am Haus diesen anderen Blickwinkel auf die Welt entdeckt. O-Ton 4 CD Track 3 Die Welt vom Fluge aus betrachtet 4:38: bei 2:23 Gunter Gebauer: Während seines ganzen philosophischen Schaffens sucht Wittgenstein eine Betrachtungsweise, die das Leben in Analogie zum Kunstwerk erscheinen lässt. Man muss die Welt in einer solchen Perspektive wahrnehmen, dass sie wertvoll wird. Die Natur in Kunst verwandeln. Dies geschieht durch eine bestimmte Weise des Beschreibens. Durch ihre Kunst wird die wunderbare Seite der Welt erfasst. Eine solche künstlerische Sichtweise ist in der Philosophie nur auf dem Weg des Gedankens möglich. 2:50 3:25 GG: Es ist nicht nur fremdes Leben, das von oben betrachtet wird sondern auch das eigene. Wittgenstein schreibt ausdrücklich: wir sehen von außen einen Menschen, wie man sich sonst nie sehen kann. In Bezug auf die eigene Person erhält die richtige Perspektive einen tieferen Sinn für das denkende Subjekt. Sein Philosophieren schließt immer auch ein Selbstverhältnis ein. Wittgenstein stellt jedoch nie die Frage, wer bin ich. Sie wäre nicht zu beantworten. Menschen sind sich nicht durchsichtig. Ihr Inneres ist nicht wie ein Zimmer voller Gegenstände, die sie beobachten könnten. Später wird diese Überlegung der Ausgangspunkt für seine Kritik an einer privaten Sprache, die nur der Sprecher verstehen könnte. Es geht ihm um die Aktivität, die er Arbeit an einem selbst nennt. In der täglichen Arbeit des Denkens wird der Geist frei gemacht von falschen Gedanken und frei für die Anschauung des Wunderbaren der Welt. Ein solches Freisein ist dem Menschen nicht selbstverständlich gegeben. Es muss immer wieder von neuem errungen werden. Erzählerin: Das Haus seiner Schwester plant Ludwig Wittgenstein mit der gleichen strengen und konsequenten Logik wie vorher die Arbeit am „Tractatus“. Und ganz im Sinne des „Tractatus“, wo es im Satz 2,02 heißt: „Der Gegenstand ist einfach“, entwirft er beispielsweise Türklinken, die an Schlichtheit nicht zu überbieten sind. Die innere Struktur des Hauses ist durch diese geschaffen, denn, wie er im Tractatus schrieb: „Die Gegenstände bilden die Substanz der Welt“. Seinen letzten Satz des Tractatus „Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen“ setzt er um, indem er statt zu erklären seine Gedanken in der Gestaltung des Hauses ausdrückt. Nach Abschluss der Arbeiten an dem Haus seiner Schwester Margarethe in der Kundmanngasse kehrt Ludwig Wittgenstein im Januar 1929 auf Bitten von Bertrand Russell und John Maynard Keynes nach Cambridge zurück, um dort Philosophie zu lehren. Und schreibt an seiner neuen Philosophie, in der er nach Klarheit und Durchsichtigkeit strebt. Musik Erzählerin: Im Oktober 1929 kommt es zum großen Börsencrash. Jerome hatte Margarethes Geld an der New Yorker Börse angelegt und nun größtenteils verloren. Margarethe scheint unter dem finanziellen Verlust nicht zu leiden, bedauert es aber, dass sie das Haus in der Kundmanngasse nun vermieten muss. Sie wollte auch Stühle, die Ludwig entworfen hatte, von einem Tischler bauen lassen, wofür nun das Geld fehlt. Hermine will der Schwester finanziell unter die Arme greifen. Sie schreibt an Ludwig: Sprecherin 1: Als ich Dir vorgestern schrieb, wusste ich nicht, wie weit Greti ihre Geldsachen schon für sicher hält und mit Andern bespricht, nun erzählte sie mir aber, dass sie Dir schon darüber geschrieben hat und dass sie, scheint's unbedingt die Kundmanngasse aufgeben will. Ich kann Dir nicht sagen, wie traurig ich das finde, oder eigentlich finden würde, wenn ich es mir wirklich vorstellen könnte. Aber ich kann mir auch die Greti nicht anders als groß vorstellen. Natürlich kann sie, wenn sie will, auf einmal in New York in drei Zimmern hausen, aber in eine kleine Wohnung ziehen, nein das sollte nicht notwendig sein! Greti macht gar nichts daraus, sie ist überhaupt großartig! Natürlich kann ich Greti kein Geld geben, aber merkwürdig ist das doch, dass es nicht geht, wo wir doch so gut zusammen stehen! Was ist an dem Geld, dass es solche Gesetze vorschreibt? Erzählerin: Hermine will Margarethe helfen, indem sie an Margarethe die Anteile, die Ludwig ihr bei der Verteilung seines Erbes vorenthalten hat, nun überschreibt. Sie fragt Ludwig um Rat. Dieser antwortet: Sprecher 4: Vor allem bist du im Irrtum, wenn Du glaubst, dass ich Gretl darum nicht in die Teilung meines Vermögens einbezogen habe, weil ich schlecht mit ihr gestanden bin. Ich bin schlecht mit ihr gestanden, aber das hatte natürlich gar nichts damit zu tun. Gretl schien damals als Amerikanerin in sehr gesicherter Lage und meine anderen drei Geschwister durch den Krieg in unsicherer finanzieller Lage zu sein, und nur das war ausschlaggebend. Wäre Gretl damals Österreicherin und Du Amerikanerin gewesen, so hätte ich mein Geld unter Gretl, Helene und Paul verteilt, trotz meiner geringen Sympathien für Gretls damaliges Wesen. Ja, ich halt es für richtig und gut, dass Du Gretl den Teil gibst, den sie damals von dem Deinen erhalten hätte, wenn sie in der gleichen Lage gewesen wäre wie Ihr anderen, und ich glaube Gretl soll das unbedingt annehmen. Erzählerin: Ludwig interessieren die materiellen Dinge nicht so wie Fragen des familiären Zusammenlebens. Da Hermine und Paul noch in dem Elternhaus in der Alleegasse leben, regt er bei ihnen die Gestaltung des kommenden Weihnachtsfestes an. Sprecher 4: Ich will Dich und Paul um etwas bitten, was unser Weihnachtsfest, ich meine das in der Alleegasse, betrifft. Du weißt gewiss, dass es, seit Mama tot ist, nicht mehr so ganz und gar befriedigend war, und ich glaube, das ist sehr selbstverständlich. Bevor ich es aber erkläre, will ich gleich meine Bitte sagen, die ist, einige Freunde, die wir alle gern haben, dazu einzuladen. Nun, der Grund ist der, dass nicht einmal wir fünf Geschwister so geartet sind, dass wir alle zusammen und ohne die Soße der Freunde eine gute Gesellschaft geben. Du kannst mit mir oder der Grete ein Gespräch haben, aber schon schwer wir alle drei zusammen. Paul und Gretl noch viel weniger. Die Helene geht mit jedem von uns gut zusammen, aber es würde uns doch nie einfallen, zu dritt Du, Helene und ich zusammen zu kommen. Wir sind eben alle ziemlich harte und scharfkantige Brocken, die sich darum schwer aneinander schmiegen können. Dagegen geht es herrlich, wenn Freunde dabei sind, die einen leichteren Ton und noch anderes, was uns fehlt, in unsere Gesellschaft bringen. Dass es möglich ist am Sonntag die Geschwister in der Alleegasse zu haben, verdanken wir nur unseren Freunden. Ich meine natürlich nicht, dass die einzelnen Geschwister nur kommen, um ihre Freunde und nicht eigentlich nur ihre Geschwister dort zu treffen, aber zu vielen ist es nur gemütlich unter uns, wenn wir durch Freunde verdünnt sind. Unter uns taugen wir zum Gespräch, das heißt zur Geselligkeit zu zweit, aber nicht eigentlich zu Spielen und dergleichen. Und wenn man beisammen ist, muss man etwas tun. Es ist ein Unding gemütlich beisammen sein zu wollen, ohne dass alle etwas verbindet. Und die Gemütlichkeit ist an sich keine Tätigkeit. Das bloße Anschauen des Baumes und der Geschenke genügt auch nicht. Du kannst freilich sagen, dann machen wir eben unser Weihnachten sehr kurz, sodass es gerade von der Bescherung, dem Abendessen und einem kurzen Beisammensitzen ausgefüllt wird. Aber das ist erst recht ein schlimmes Prinzip. Denn dadurch wird das Ganze wie zu einer leeren Formsache. Ein Beisammensein, das man Abschneiden muss, damit es nicht ungemütlich wird, kann nie gemütlich werden. Denn was ist die Bescherung und das Abendessen, wenn nicht etwas anderes dahinter ist, was das Beisammensein wünschenswert macht. Denn ein gutes Essen kriegen alle auch sonst und Kunstgegenstände sehen und haben sie mehr als genug. Sind dagegen Freunde unter uns so, ist die Sache ganz anders, dann freuen Sie sich mit uns über unsere Geschenke und wir uns über ihre, und wir haben einen wirklichen Grund beisammen zu sein. Noch einmal, es ist nicht einzusehen, wie wir das, was wir das ganze Jahr hindurch nicht können und nicht wollen, nämlich ohne Gesellschaft von Freunden alle fünf beisammen zu sein, warum wir das an diesem einen Abend mit guten Erfolg zusammen bringen sollten. Erzählerin: Ludwig lebt nun überwiegend in Cambridge und kommt dort zu regelmäßigen Gesprächen mit dem italienischen Ökonomen Pietro Sraffa und dem Philosophen George Edward Moore zusammen und entwickelt in der Zeit seine Überlegungen weiter. Sprecherin 1: Wie merkwürdig in Deinem Leben, dass Du immer Leute brauchst, findest und wieder über sie hinaus oder fortwächst, Frege, Russell, Engelmann fallen mir nur jetzt ein. Ich finde es aber ganz begreiflich. Hoffentlich hast Du eine gute Zeit und bist befriedigt, soweit man das sein kann und soll. Ich kann nur sagen, ich hoffe Du hast, was du dir wünschest, denn das kann nur jeder selber wissen. Erzählerin: Mit seinem Bruder Paul wechselt Ludwig Wittgenstein Briefe mit viel Spott über eitle und unsinnige Ideen der Menschen in ihrer Umgebung. Beispielsweise hat die Ehefrau eines Komponisten die Idee, ein Kochbuch mit Rezepten nach den Musikern der Zeit zu erstellen. Ludwig verfasst eine mögliche Antwort. Um sich darüber lustig zu machen, schickt er den Briefentwurf an Paul: Sprecher 4: Ihre Idee eines musikalischen Kochbuchs ist köstlich. So köstlich wie gewiss die Speisen munden werden, die manche Frau dereinst nach ihren Rezepten zubereiten wird. Aber wie schade, dass nur Musiker Zutritt in die geweihten Räume dieses Buches haben sollen. Ach wär ich doch ein Musiker. Aber leider bin ich nur ein philosophierender Brummbär. Und doch ist nicht Philosophie Musik und Musik Philosophie?! Nun verzeihen Sie mir dies (bisschen) Sophistik. Aber sind nicht gerade die Kompositionen ihres Gemahls tönende Philosophie wenigstens? Nun so will ich denn versuchen, mich als Philosoph in dieses Symposium von Musikern zu drängen. Meine Lieblingsspeisen sind: Tomaten in Mayonnaise Wenn sie mich durch Aufnahme in Ihr Buch ehren wollen, bitte ich Sie meinen vollen Namen anzugeben, weil ich nicht mit dem Pianisten Paul Wittgenstein verwechselt werden möchte, der ja vielleicht auch in ihrem Werke unterkommen wird, mit dem ich aber in keinerlei Beziehung stehe. Erzählerin: Noch stehen die Brüder Paul und Ludwig in enger Beziehung zueinander. Das wird sich im weiteren Verlauf der politischen Entwicklungen nach dem Anschluss Österreichs an Deutschland unter Adolf Hitler ändern. Davon erfahren Sie in der dritten Stunde. Musik 3. Stunde Musik 19: Sergei Bortkiewicz Klavierkonzert darüber Erzählerin: Die Familie Wittgenstein lebt um 1900 in Wien. Der Vater Karl hatte mit viel Einfallsreichtum erst in der Stahlindustrie ein riesiges Vermögen erwirtschaftet und es dann in Immobilien und in ausländischen Papieren angelegt, so dass der Erste Weltkrieg den Wohlstand nicht verminderte. Mit seiner Ehefrau Leopoldine und den acht Kindern bildete Karl Wittgenstein einen kulturellen Mittelpunkt in Wien. Die Musik spielt eine tragende und verbindende Rolle zwischen den Familienmitgliedern. „Der Satz spielt gleichsam auf dem Instrument der Seele ein Thema, den Gedanken“, so notiert es einer der Söhne, der Philosoph Ludwig Wittgenstein. Ludwig Wittgenstein forscht auch am Rhythmus der Sprache, denn für ihn ist die Musik nicht Gegenstand, sondern Mittel der Erkenntnis. Die Familie Wittgenstein kommuniziert miteinander über Musik und nutzt diese als Rückzugsmöglichkeit vom Alltag. Aber der Vater wünschte für seine Söhne, dass diese einen technisch-kaufmännischen Beruf erlernten. Ludwig ist nicht der einzige, der mit seiner Hinwendung zur Philosophie dem Willen des Vaters widersteht. Sein Bruder Paul macht sogar das Hobby der Familie zum Beruf und wird Pianist. Als er im Ersten Weltkrieg seinen rechten Arm verliert, baut er sich schon ein Jahr nach der Amputation seine Karriere neu auf und wird als linkshändiger Pianist bekannt. Zuerst spielt er Kompositionen von Franz Liszt, die dieser für den einarmigen Pianisten Géza Graf Zichy transkribiert hatte. Dann erstellt er sich selbst Arrangements von Werken von Johann Sebastian Bach, Ludwig van Beethoven, Frederic Chopin, aber auch von Opernchören von Puccini. Der Komponist Josef Labor, der mit der Familie befreundet war, schreibt Werke für ihn. Als Paul Wittgenstein bei der Recherche nach Kompositionen für die linke Hand nicht fündig wird, vergibt er zwischen Dezember 1922 und Ostern 1923 Aufträge an Franz Schmidt und den polnisch-ukrainischen Komponisten Sergei Bortkiewicz. Letzterer schreibt für ihn das Klavierkonzert c-Moll, eine Konzertfantasie und das Klavierkonzert Nr. Es-Dur Musik 19 aufblenden : Sergei Bortkiewicz - Piano Concerto Erzählerin: Paul Wittgensteins Musikgeschmack orientiert sich an der späten Klassik und der frühen Romantik. Dennoch gibt er einem Komponisten der Avantgarde einen Kompositionsauftrag. Paul Hindemith komponiert für Paul Wittgenstein die „Klaviermusik mit Orchester“. Sprecher 3: Ich glaube, dass ich bis zum Ende der nächsten Woche alles fertig habe. Es würde mir leid tun, wenn Ihnen das Stück keine Freude machen würde – vielleicht ist es Ihnen anfänglich ein wenig ungewohnt zu hören – ich habe es mit großer Liebe geschrieben und habe es sehr gern. Ich hoffe, dass sich nach Durchsicht der Partitur Ihr Schrecken wieder legen wird. Es ist ein einfaches, vollkommen unproblematisches Stück, und ich glaube sicher, dass es Ihnen nach einiger Zeit Freude machen wird. (Vielleicht sind Sie am Anfang ein wenig entsetzt, aber das macht nichts) Verstehen werden Sie das Stück auf jeden Fall. Erzählerin: Tatsächlich kann Paul Wittgenstein mit der Komposition nichts anfangen. Er zahlt zwar das versprochene hohe Honorar für die exklusiven Aufführungsrechte, spielt das Werk aber nie öffentlich. Es verschwindet in der Schublade. Aber auch andere populäre Komponisten der Zeit erhalten Anfragen von Paul Wittgenstein. Der Musiker Josef Labor, schrieb für Paul Werke mit kammermusikalischer Besetzung, so dass das Klavier nicht vom Orchester abgedeckt werden konnte. Der Komponist Franz Schmidt akzeptiert die Änderungswünsche in seiner Partitur von Paul. Der junge Erich Wolfgang Korngold komponiert für Paul ein Klavierkonzert mit großem Orchester. Paul kritisiert, dass das Klavier sich gegen das große Orchester wie eine zirpende Grille anhöre und streicht einfach die Teile, die ihm nicht gefallen. Er versucht einen Kompromiss mit dem Komponisten. Sprecher 5: Lieber Herr Korngold! Beifolgend die zweite Partitur Ihres Konzertes. Was die von mir hineingeschriebene Klammern betrifft, so möchte ich Sie bitten, wenn es Ihnen auch sehr gegen den Strich geht, sie auch mit abschreiben zu lassen. Spiele ich das Werk unter Ihrer Direktion, so können Sie immer noch nach Gutdünken die eingeklammerten Stellen trotzdem spielen lassen. Und ich spiele das Werk hinter Ihrem Rücken, so lasse ich die eingeklammerten Instrumente doch fort. Erschrecken Sie nicht zu sehr über die Verwüstungen und ärgern Sie sich nicht über Ihren ergebenen Paul Wittgenstein Erzählerin: Die Kritik im Wiener Tagblatt vom Konzert mit der vollen Orchesterbesetzung lässt nichts von den Unstimmigkeiten zwischen Komponisten und Interpreten erkennen. Sprecher 3: Dem Pianisten raubte ein idiotischer Schuss im Weltkrieg den rechten Arm, man kann sagen: mehr als sein Leben; aber in künstlerischem Heroismus das Schicksal überwindend, wurde er Virtuose der ihm gebliebenen Linken und erhob seine Einseitigkeit zur Vollendung, ja zur Unerreichbarkeit. Und nun kommt ihm noch Hilfe aus der großen Bruderschaft des Künstlerherzens: Korngold widmet ihm dieses Konzert. Paul Wittgenstein spielt „sein“ Werk mit einer von der Freude beflügelten Technik: nicht hinsehend, hätte man bei den Doppelakkorden auf zwei Hände geraten. Die Heiterkeit eines Könners erfüllte uns alle, und man glaubte sich dem besten Werk des Komponisten gegenüber Künstlern der Zeit. Erzählerin: Mittlerweile ist Paul Wittgenstein ein anerkannter Pianist in ganz Europa geworden und kann auch bei dem führenden Komponisten um ein Auftragswerk anfragen. Er kennt Richard Strauss, weil dieser Gast bei der Familie Wittgenstein gewesen war. Strauss verlangt für die Umarbeitung des Materials einer Sinfonie zum Konzert mit dem Titel „Parergon zur Sinfonia Domestica“ ein Vermögen. Paul ist die Summe nicht wichtig. Er sieht Schönheiten in der Partitur, beklagt aber auch bei Strauss ein zu dominantes Orchester und bewegt diesen dazu, ein wichtiges Thema vom Orchester auf das Klavier zu übertragen und die Instrumentierung etwas zu ändern. Strauss komponiert ein Jahr später den „Panathenäenzug“ für Paul. Die Uraufführung in Berlin mit Bruno Walter als Dirigent am Pult ist ein großer Flop. Weder der Pianist noch die Komposition finden Anerkennung. Aber Paul spielt nun mit den wichtigsten Dirigenten seiner Zeit wie Erich Kleiber, Wilhelm Furtwängler und Fritz Busch. Sogar eine Amerika-Tournee wird mit ihm organisiert. In Wien wohnt er zusammen mit Hermine in seinem Elternhaus. Aber häufig ist er unterwegs. Auch auf Tournee in Polen und in Russland, obwohl er das kommunistische System ablehnt. Aus Leningrad schreibt er: Sprecher 5: Im großen Saal hängen, wie überall in öffentlichen Gebäuden, Theatern, Konzertsälen und Banken, rote Fahnen. Oft hängen sie über die ganze Länge des Raumes von der Decke, und darauf steht: „ Wir werden die kapitalistischen Länder erobern und übertreffen.“ Ich dachte, wenn man statt dieses Gerede, dieser Verschwendung von Geld und Fahnentuch, statt dieser zahllosen Büsten und Bildern von Lenin, statt alles dessen nur eine einzige saubere öffentliche Toilette bauen würde, dann wäre zum Wohl des Volkes vielmehr erreicht als dadurch, dass man die Kapitalisten erobert und übertrifft. Erzählerin: Die Forderung nach schlichten praktischen Lösungen statt verschwenderischen Äußerlichkeiten hätte in anderem Zusammenhang auch von seinem Bruder Ludwig sein können, der Ornamente in der Architektur ablehnte. In Paris verhandelt Paul mit Sergej Prokofjew und Maurice Ravel. In Ravels Klavierkonzert ärgert ihn die lange unbegleitete Kadenz. Musik 20: Maurice Ravel Klavierkonzert in D-Dur für die linke Hand 21:03 darüber Sprecher 5: Wenn ich ohne Orchester spielen wollte, hätte ich doch kein Konzert bestellt. Ich nehme an, Ravel war enttäuscht, und mir tat es leid, aber ich habe nicht gelernt, wie man in einer solchen Situation lügen kann. Erzählerin: Auch diese Komposition ändert Paul in seinem Sinne. Bei der Uraufführung in Wien ist Ravel nicht anwesend. Die Kritiken sind überwiegend positiv. Sprecher 3: Nach den ersten Augenblicken des Staunens, in denen man sich fragt, wie zum Teufel der das alles fertig bringt, stellt man fest, dass man fast vergessen hat, dass man hier einem Musiker lauscht, dessen rechter Ärmel leer herabhängt. Vielleicht ist das das größte Lob, dass man Paul Wittgenstein, dem berühmten einarmigen Pianisten, zollen kann. Man fühlte sich bereichert durch die einfühlsame Phrasierung dieses Künstlers, dessen unglaubliche Technik sich stets dem Ausdruck des musikalischen Gedankens unterordnete. Erzählerin: Und Paul ist zufrieden. Sprecher 5: Arbeiten zu müssen und außerdem Geld zu verdienen – noch dazu für einen guten Zweck -, ist das Beste, was es auf der Welt gibt. Musik aufblenden : Maurice Ravel Klavierkonzert in D-Dur für die linke Hand Erzählerin: Als aber Ravel dann sein verändertes Konzert bei einer privaten Aufführung hört, kommt es zum Streit. Ravel verlangt von Paul, das Werk nur nach der Originalkomposition zu spielen. Paul lehnt dieses ab: Sprecher 5: Was die schriftliche Erklärung betrifft, ihr Werk in Zukunft nur noch genauso zu spielen, wie es geschrieben ist. Das kommt nicht in Frage. Kein Künstler, der Achtung vor sich selbst hat, könnte so etwas akzeptieren. Alle Pianisten nehmen große oder kleine Veränderungen vor, in jedem Konzert, dass sie spielen. Eine schriftliche Erklärung, wie Sie verlangen, hätte unabsehbare Folgen. Jede unpräzise gespielt Sechszehntel und jede Viertelpause, die ich nicht eingehalten habe, könnte mir zur Last gelegt werden. Empört und ironisch schreiben Sie, ich wolle im Rampenlicht stehen. Aber selbstverständlich, lieber Maître, da haben Sie vollkommen recht. Genau das ist der Grund, warum ich Sie bat, ein Konzert für mich zu schreiben. Tatsächlich wünsche ich, im Rampenlicht zu stehen und zu spielen. Was könnte ich sonst wünschen? Daher habe ich das Recht, die notwendigen Korrekturen zu verlangen, damit ich dieses Ziel erreiche. Wie ich Ihnen schon früher schrieb, fordere ich nur, dass einige der Veränderungen durchgeführt werden, nicht alle. Das Wesentliche Ihres Werks habe ich in keiner Weise verändert. Ich habe lediglich die Instrumentierung modifiziert. Inzwischen habe ich kein weiteres Konzert in Paris gegeben, da ich unmögliche Bedingungen nicht annehmen kann. Erzählerin: Zu einer weiteren Zusammenarbeit zwischen Ravel und Paul kommt es nicht mehr. Sergej Prokofjew verhält sich da diplomatischer. Sprecher 3: Ich hoffe, das Konzert wird Sie zufriedenstellen, vom rein Pianistischen hergesehen, aber auch, was die Balance zwischen Klavier und Orchester betrifft. Es gelingt mir nicht, mir vorzustellen, was Ihr musikalischer Gesamteindruck sein wird. Ein schwieriges Problem! Sie sind ein Musiker des 19 Jahrhunderts, ich einer des 20. Ich habe versucht, es so geradlinig wie möglich anzulegen. Andererseits dürfen sie nicht zu rasch urteilen, und wenn Ihnen gewisse Passagen zunächst unverdaulich vorkommen, legen Sie sie beiseite, warten Sie ein Weilchen, bis Sie zu einem Schluss kommen. Wenn Sie Verbesserungsvorschläge haben, zögern Sie nicht, sie mir mitzuteilen. Erzählerin: Aber auch diese Komposition versteht Paul nicht: Sprecher 5: Ihr Konzert, oder mindestens einen beträchtlichen Teil davon, kann ich zwar lesen, doch es gibt einen großen Unterschied zwischen einem Gedicht, dass mir nicht gefällt, und einem Gedicht, dessen Bedeutung ich nicht gänzlich erfassen kann. Erzählerin: Neben dem beruflichen Ärger hat Paul auch noch privaten Kummer. Seine Geliebte Bassia Moscovici, eine rumänisch-jüdische Sängerin, wird von ihm ungewollt schwanger. Seine Schwester Maragrethe überredet Bassia zur Abtreibung. Als Bassia kurze Zeit danach an Krebs erkrankt, nimmt Margarethe sie in der Kundmanngasse auf und pflegt sie, obwohl sie selbst herzkrank ist. Trotz der aufopfernden Hilfe bleibt das Verhältnis zwischen Margarethe und Paul belastet. Bassia stirbt im April 1932. Musik Erzählerin: Wenn Paul nicht auf Tournee ist, unterrichtet er Privatschüler. Wie sein Bruder Ludwig ist er sehr engagiert und auch sehr ungeduldig. Als er sich am Neuen Wiener Konservatorium um einen Lehrauftrag bewirbt, weist dieses ihn zuerst ab. Nach einem Jahr bekommt er eine unbezahlte Stelle angeboten. Paul ist ein leidenschaftlicher Lehrer, der in den Ferien die Schüler zuhause weiter unterrichtet. Er verliebt sich in die dreißig Jahre jüngere Studentin Hilde Schania. Hilde ist aufgrund einer Masernerkrankung fast blind. Als Hilde schwanger wird, mietet Paul ihr eine Wohnung. Zwei Jahre später kommt die zweite Tochter zur Welt. Die Familie Wittgenstein weiß nichts von den Kindern. Aufblenden Musik Erzählerin: Nach der Machtergreifung Hitlers in Deutschland und dem Notstandgesetz von Engelbert Dollfuß in Österreich schreibt Margarethe an ihren Sohn Thomas, dass der Übergang von der Demokratie zur Diktatur schmerzlos verlaufen sei. Als der Vermögensverwalter Anton Groller der Familie empfiehlt, die Liechtensteinsche Staatsbürgerschaft anzunehmen, um das Vermögen zu retten, lehnt Paul dieses ab, weil er mit “Leib und Seele“ Österreicher sei und solch moralisch fragwürdigen Schritt allein für finanzielle Gründe nicht gehen wolle. Nach dem Februaraufstand 1934 in Österreich schreibt Hermine an ihren Bruder Ludwig: Sprecherin 1: Natürlich war in den äußeren erregten Bezirken sehr leicht die Möglichkeit, dass durch eine unbesonnene Tat eines Einzelnen großes Unglück angerichtet wird, dass weiter greift. Wenn einmal Zivilpersonen von ihrer Partei mit Waffen ausgestattet werden, dann kann man sich die Folgen vorstellen, und es ist jetzt jedem freigestellt wem er das übler vermerkt: der Regierungspartei oder der Sozialdemokratischen Partei? Die Regierung hat den Straßenschutz zum Teil von ad hoc mit Gewehren ausgestatteten Leuten versehen lassen, die dadurch mit einem größeren Teil der Bevölkerung zusammengestoßen sind. Die äußere Ruhe ist ja vollständig hergestellt, Kinos, Theater, alles funktioniert, aber eigentlich weiß doch niemand, wie es weitergehen wird. Wir haben ja doch die eine feindliche Partei nur zum Schweigen gebracht, die andere, die Nationalsozialisten, ist bissiger und feindlicher denn je. Was wird man mit dieser machen? Kann man einen Kampf aufs Messer ausfechten mit gutem Ausgang? Kann man sich noch versöhnen und irgendeinen Modus vivendi finden, nachdem die Feindseligkeiten soweit gediehen sind? Erzählerin: Dann überschlagen sich die Ereignisse: Im März 1934 wird Paul wegen seiner politischen Überzeugungen verhaftet. Im Juli 1934 fällt Dollfuß einem Attentat zum Opfer. Paul und Ludwig tauschen sich über die künstlerische Gestaltung des Nibelungen-Stoffes bei Wagner und Hebbel aus. Ludwig ordnet beim Nachdenken über Hebbels Nibelungen auch die aktuelle politische Situation ein. Sprecher 4: Ich glaube vergleichen kann man Hebbel und Wagner so wenig wie einen Blinden und einen Lahmen, außer insofern, als beide nicht recht gehen können. In Wagner ist nicht das geringste Tragische von Anfang bis zum Ende. So wenig wie in einem Märchen oder im Mythos. Das heißt es sind nirgends Zusammenstöße von Mächten, die wir als gleichberechtigt empfinden. Wo Zusammenstöße sind, da zwischen Licht und Finsternis. Das Wesentliche für Hebbel ist gerade, dass jeder recht hat. Das heißt bei Wagner ist kein Problem, während es bei Hebbel von Problemen wimmelt. Und zwar sind die Zusammenstöße bei ihm immer zwischen Typen: Kulturen, Völkern, Rassen, Zeitaltern. Erzählerin: Margarethe besitzt durch die Ehe mit Jerome die amerikanische Staatsbürgerschaft. Und obwohl sie sich ihrem Heimatland sehr verbunden fühlt, gründet sie in der Schweiz die Wistag AG und Co, um das Familienvermögen zu retten. Im März 1938 kommt es zum Anschluss Österreichs an Deutschland. Ludwig, der sich immer als Österreicher fühlte, beantragt daraufhin die britische Staatsbürgerschaft. Margarethe ist in dieser Zeit schon auf dem Weg nach New York, um die Gemäldesammlung zu verkaufen. Bei ihrer Ankunft Mitte März hat die neue Regierung die Genehmigung für den Verkauf zurückgezogen. Es werden die Nürnberger Rassegesetze auch in Österreich durchgesetzt. Für Juden gibt es kein Wahlrecht und kein Recht auf Amtsausübung. Hermine, die eine Knabenbeschäftigungsanstalt ehrenamtlich leitete, muss diese an die Hitlerjugend abgeben. Paul ist entsetzt, dass die katholischen Wittgensteins nun als Juden gelten. Ludwig schreibt im März 1938 Sprecher 4: Durch die Annexion Österreichs bin ich deutscher Staatsbürger geworden, nach den deutschen Gesetzen bin ich ein deutscher Jude, da meine Großeltern bis auf eine Großmutter erst im jugendlichen Alter getauft wurden. Erzählerin: Aber er hat dennoch Hoffnung für seine in Wien lebende Familie: Sprecher 4: Sie sind fast alle zurückgezogen lebende und sehr angesehene Leute, die immer patriotisch gefühlt und gehandelt haben. Deshalb ist es unwahrscheinlich, dass ihnen gegenwärtig irgendeine Gefahr droht. Erzählerin: Aber auch Paul verliert seine Stelle als Klavierdozent im Konservatorium, obwohl sein Vorgesetzter ihm Verdienste beglaubigt. Sprecher 3: Paul Wittgenstein wurde von mir eingeladen, am neuen Wiener Konservatorium eine Klavierdozentur zu übernehmen. Bis heute leitet er an unserem Institut mit außerordentlichem öffentlichem Erfolg die Abschlussklasse im Fach Klavier. Ein einarmiger Pianist hat mit vielen Vorurteilen zu kämpfen. Paul Wittgenstein, dem die größten lebenden Komponisten Werke für die linke Hand widmeten, hat dank seiner eminenten künstlerischen und pädagogischen Fähigkeiten und seiner großen Energie all diese Vorurteile Lügen gestraft. Wie es in einer Klasse des Konservatoriums unumgänglich ist, standen seine Fähigkeiten im Umgang mit mittelmäßig talentierten Schülern auf dem Prüfstand. Die Resultate seiner individualistischen Unterrichtsmethoden sind umso bemerkenswerter. In diesem Zusammenhang muss eine Eigenschaft Paul Wittgensteins hervorgehoben werden: sein Idealismus, eine Tugend, die in unserer Zeit rar geworden ist. Sowohl auf dem Konzertpodium wie im Klassenraum war dieser schöne Idealismus immer Paul Wittgensteins Leitstern. In der schmerzlichen Stunde des Abschieds gehorche ich nur der gebieterischen Weisung meines Herzens, wenn ich hiermit die Größe des Künstlers und die Verdienste des Menschen Paul Wittgensteins beglaubige. Erzählerin: Nun müssen die Bürger auch ihre ausländischen Anlagen offenlegen. Bei Auswanderung droht der Verlust des Vermögens. Margarethe trifft Diplomaten und NSDAP-Mitglieder, um diese von den Verdiensten der Familie Wittgenstein zu überzeugen. Dann reist sie mit Paul nach Berlin zum Leiter der „Reichsstelle für Sippenforschung“, um über vermeintlich uneheliche Verbindungen in der Vergangenheit einen Mischlingsstatus zu erhalten. Paul leidet mittlerweile so sehr unter dem Judenhass und dem Berufsverbot, dass er seine Auswanderung plant. Da er die „Reichsfluchtsteuer“ nicht zahlen will, lässt er sich mit fiktiven Verträgen einer vermeintlichen Konzertagentur zu Klavierabenden nach England einladen. Zweimal wird ihm die Genehmigung versagt. In der Zwischenzeit schmuggelt Margarethe Schmuck und Musikautographen nach London und gibt beim Reichsstatthalter ihr Ehrenwort, dass Paul keine Emigration plane. Tatsächlich kehrt Paul nach seiner Englandreise wieder nach Wien zurück. Als er aber noch nicht einmal mehr seine privaten Schüler unentgeltlich unterrichten kann und ihm die Vormundschaft für seine beiden Kinder wegen Rassenschande entzogen wird, reist er in die Schweiz. Er plant, Hilde mit den Kindern nachkommen zu lassen. Margarethe als amerikanische Staatsbürgerin nutzt die Reisefreiheit, um die emigrierten Brüder zu besuchen. Hermine will Wien und Helene will ihren kranken Mann nicht verlassen. Die beiden Schwestern kaufen sich vermeintlich echte jugoslawische Pässe über ihren Anwalt. Als die Fälschung bemerkt wird, nimmt Margarethe die Schuld auf sich. Auch dieser Schwindel fliegt auf, und alle drei Frauen, Helene, Hermine und Margarethe, werden verhaftet. Hermine und Helene kommen gegen Kaution frei. Die herzkranke Margarethe bleibt am längsten im Gefängnis, bis ihr von der amerikanischen Botschaft geholfen wird. Paul muss den Unterhalt für sich in der Schweiz und für Hilde in Deutschland finanzieren, kommt aber ohne die Unterschriften der Geschwister nicht an das Auslandsvermögen. Ein Streichquartett aus Wien bringt wertvolle Instrumente der Wittgensteins zum Gastspiel in die Schweiz mit und reist mit billigen Instrumenten zurück. Dann wird Paul endlich zum Cleveland Orchestra und für eine unbezahlte Stelle als Lehrer an die David Annes Music School eingeladen. Sprecher 5: Ich habe jetzt mein Ticket für das Schiff nach New York, aber ohne meine Gönner hätte es nie geklappt. Ich werde ganz bestimmt zurückkommen, vielleicht früher, als ich es mir jetzt vorstellen kann. Mein Plan ist, dass ich aufgrund meiner eigenen Bekanntheit und mit Hilfe meiner Freunde in Amerika nach und nach -denn alles auf einmal kann man nicht bekommen - eine längere Aufenthaltsdauer erwirken kann, später auch die Unterrichtserlaubnis. Und wenn ich das alles habe und die Umstände es erlauben, kann ich jedes Jahr einmal nach Europa reisen. Natürlich ist das jetzt noch Zukunftsmusik. Aber in der Zwischenzeit sollten wir das Beste hoffen. Erzählerin: Zwei Wochen vor seiner Abreise nach New York erhalten Hilde und die Kinder im November 1938 endlich die Einreiseerlaubnis in die Schweiz. Musik Benjamin Britten: Diversions für Klavier (linke Hand) und Orchester, op. 21 Erzählerin: Nach Pauls Flucht fehlt nun seine Unterschrift für den Zugriff auf das Familienvermögen. Hermine und Helene benötigen aber hohe Summen, um sich bei den Nazis bürgerliche Rechte zu erkaufen. Da Paul sich weigert, nach Österreich zurückzukommen, reisen Ludwig und der Familienanwalt Groller und auch der Leiter der Reichsbank-Devisenstelle Schöne und Margarethe nach New York, um mit Paul ein mögliches Abkommen zu besprechen. Bei den Gesprächen sind auch Anwälte von Paul und Margarethes Sohn Johannes dabei. Paul könnte wieder nach Österreich ein- und ausreisen, wenn er der Auslieferung des gesamtes Goldes aus dem Familienbesitz an die Nazis zustimmte. Er lehnt es aber ab, den Nazis 2,1 Millionen Schweizer Franken zu geben. Die Verhandlungen werden ergebnislos abgebrochen. Margarethe ist wütend, denn sie hatte das Vermögen ja außer Landes gebracht. Aber Paul befindet sich selbst in einer schwierigen Situation. Er schreibt an Ludwig: Sprecher 5: Die Deutschen sind Erpresser, und wenn man einem Erpresser zeigt, welche die eigenen Schwächen sind, ist man völlig verloren. Hier gibt es nur eine Möglichkeit: Man muss den Deutschen nämlich sagen, dass sie so und so viel kriegen und keinen Pfennig mehr. Und damit werden sie einverstanden sein. John Stonborough brüllte über den Tisch hinweg: Dein Geld kümmert mich einen Dreck! Man muss sich überlegen, was das bedeutet: es ging um Leben oder Verhungern. Mein deutscher Pass war praktisch abgelaufen. Da ich viel zu spät nach Amerika gekommen bin, waren alle verfügbaren Stellen längst vergeben. Einen anderen Beruf als den des Klavierlehrers kann ich nicht ergreifen, denn für alle sonstigen Stellen bin ich nicht zu gebrauchen. Welcher Idiot würde einen ungeschickten Einarmigen einstellen, wo doch hunderte von höchst qualifizierten Leuten mit zwei Armen arbeitslos durchs Land streifen? Und selbst wenn eine gut bezahlte Stelle verfügbar wäre, könnte ich mit meinem Besuchervisum sie nicht annehmen, denn als Besucher bin ich dazu verpflichtet, kein Geld zu verdienen. Ich fühle mich völlig verschaukelt. Erzählerin: Die Nationalsozialisten üben weiterhin Druck auf Paul aus. Ludwig reist im Juli 1939 noch einmal nach New York, um mit Paul zu sprechen, aber dieser schickt nun seinen Anwalt vor. Sprecher 3: Sehr geehrter Herr Professor Wittgenstein! Die Ankündigung Ihrer Amerikareise war das letzte Glied einer ganzen Kette von Anstrengungen, die unternommen worden sind, um Druck auf Ihren Bruder auszuüben und ihn dazu zu bewegen, den Forderungen der Reichsbank nachzugeben. Zweifellos aufgrund von Drohungen und Einschüchterungen haben Ihre Schwestern in Wien diese Forderungen nicht nur passiv unterstützt, sondern außerdem durch Dr. Schoene Briefe und Telegramme geschickt, die auf Einverständnis drängen und anderenfalls drohende ernste Gefahren andeuten. Ich für meinen Teil kann nicht ermessen, welches Maß an Druck auf die Wiener Schwestern ausgeübt und auf diesem Weg an Sie und Mrs. Stonborough weitergegeben worden ist. Andererseits bin ich durchaus dazu in der Lage, den Druck zu ermessen, der von allen Seiten auf Paul Wittgenstein ausgeübt wird… Erzählerin: Es kommt zu keinem Treffen zwischen den Brüdern in Amerika. Ab jetzt ist das Verhältnis zwischen beiden gestört. Auch wenn Pauls Anwalt misstrauisch gegenüber den Zusagen der Nationalsozialisten bleibt, werden im August 1939 die Mischlingszertifikate ausgestellt. Paul hat nach Abzug der Anwaltskosten ein Vermögen in Höhe von 1,2 Millionen Franken behalten können. Der Immobilienbesitz der Familie wird an Hermine und Helene überschrieben. Die beweglichen Güter wie Musikautographen und Gemälde dürfen aber entgegen der Absprache nicht außer Landes gebracht werden. Margarethe schmuggelt mit Hilfe ihres Sohnes John, wertvolle Handschriften in die Schweiz und vergräbt andere Schätze im Garten. Nachdem sie Besuch von der Gestapo erhalten hatte, emigriert sie im Februar 1940 nach New York, hofft aber, wie sie Ludwig schreibt, auf baldige Rückkehr nach Wien. Sprecherin 1: Jetzt bin ich 14 Tage hier und habe Dir noch nicht geschrieben. Von zu Hause weiß ich nichts. Telegrafieren dürfen sie nicht, die Briefe werden intercepted. Ich glaube jetzt, dass ich wieder nach Wien zurückkehren werde. Es sei denn, dass ich den Pass, der hierzu nötig ist, nicht durchsetzen kann. Hier gibt es viel zu tun und viele Sorgen. Paul sehe ich natürlich nicht, aber es scheint ihm viel besser zu gehen. Ich würde ihn mit Freude besuchen, wenn das irgendetwas nützen würde, aber ich weiß, dass ich der letzte Mensch bin, den er sehen will. Pauls Freundin mit ihren Kindern ist jetzt in Kuba, und er wird sie hierher bringen und sie heiraten, sobald er die Erlaubnis dazu bekommt. Früher habe ich immer gedacht, das wäre so ziemlich das größte Unglück, das ihm passieren kann, aber jetzt! Ich schaue Dich an und wir sagen: natürlich. Mag er Frieden finden Erzählerin: 1940 heiratet Paul Hilde in Havanna. Sie bleiben sieben Monate dort, bis sie in die USA einreisen können. Paul hatte mittlerweile wieder Kompositionsaufträge vergeben. Nun streitet er sich wieder mit den Komponisten, diesmal mit Benjamin Britten. Sprecher 5: Im Museum in Wien habe ich einmal eine schreckliche Waffe gesehen, die im Mittelalter benutzt worden ist. Es sieht aus wie ein Schaukelstuhl, aber wenn man sich hin einsetzt, klappen die beiden Seiten hoch und umschließen den Körper des Sitzenden, so dass er nicht mehr herauskommt. Das deutsche Wort dafür heißt Fangstuhl. Meine Idee war, so einen Fangstuhl bauen zu lassen, Sie dann einzuladen und darauf Platz nehmen zu lassen. Und dann würde ich Sie nicht mehr herauslassen, bis Sie sich dazu herbeilassen, die Änderungen an Ihrem Konzert vorzunehmen, die ich Ihnen vorschlage. Gegen den Lärm Ihres Orchesters an zu spielen ist ein hoffnungsloses Unterfangen, es ist ein wahres Löwengebrüll, ohrenbetäubender Radau. Keine menschliche Kraft am Klavier ist dem gleichzeitigen Lärmen von vier Hörnern, drei Trompeten, drei Posaunen und doppelt besetzten Bläsern gewachsen. Erzählerin: Britten verzweifelt an Pauls Beharrlichkeit: Sprecher 3: Ich habe eine kleine Auseinandersetzung mit Herrn von Wittgenstein wegen meiner Instrumentierung, wenn es etwas gibt, von dem ich etwas verstehe, dann ist es die Instrumentierung, also kämpfe ich. Der Mann ist wirklich ein alter Miesepeter. Erzählerin: Die Uraufführung 1942 mit dem Philadelphia Orchestra unter Eugene Ormandy ist ein großer Erfolg. In der Kritik heißt es Sprecher 3: Beim gestrigen Konzert des Philadelphia Orchestra in der Academy of Music verfolgten die Zuhörer begeistert die Darbietung eines einarmigen Pianisten, dessen rechter Ärmel leer herunterhängt, während seine Linke mit fast magischer Sicherheit über die Tasten fegte. Seine virtuose Brillanz hätte einem äußerst talentierten Künstler mit zehn Fingern zur Ehre gereicht. Musik Benjamin Britten: Diversions für Klavier (linke Hand) und Orchester, op. 21 Erzählerin: Paul hilft während des Krieges jüdischen Emigranten, gibt Benefizkonzerte und schickt Freunden Lebensmittel und Geld. Margarethe unterstützt ebenfalls andere Exilanten. Obwohl alle Familienmitglieder bis dahin immer sehr kritisch mit Pauls Spiel waren, verfolgt sie nun wohlwollend Pauls neue Entwicklung. Sie schreibt an Ludwig: Sprecherin 1: Was Du über Paul schreibst, ist richtig. Auch er führt jetzt ein etwas reduziertes, aber menschliches Leben, was ihm niemals gelungen wäre, wenn er nicht mit seiner Familie gebrochen hätte. Und obwohl unser Anteil an seinem Blut die Suppe verdorben hat, hat er immerhin seine ganz echte Liebe zur Musik geschenkt. Ich glaube, Du wirst wirklich ganz bezaubert von der Art und Weise, in der er jetzt Klavier spielt. Ich weiß zwar nicht, ob ich damit richtig liege, aber Schumanns Kinderszenen, ein paar kleine Stücke von Brahms, zwei Moments musicaux von Schubert spielt er jetzt so, dass selbst Du mit dem Kopf nicken würdest. Auch seine Programmauswahl hat sich dahingehend verändert, dass sie zu seinem eigentlichen Stil passt. Erzählerin: Paul und seine Familie erhalten ein Jahr nach dem Zweiten Weltkrieg die amerikanische Staatsbürgerschaft. Er ist als Weltrangpianist bekannt, der mit außerordentlicher technischer Virtuosität und Bühnenpräsenz glänzt und wird nun auch wieder nach Wien zu Konzerten eingeladen. Dort meidet er aber weiterhin sein Elternhaus und die Begegnung mit den Geschwistern. Selbst als Hermine schwer an Krebs erkrankt ist und er in Wien gastiert, besucht er sie nicht. Ludwig hingegen reist umgehend aus England an. Er reist aber auch noch einmal nach New York, um Paul zu besuchen, trifft diesen aber nicht an. Als dann Paul in Oxford ist, versucht die gemeinsame Bekannte Marga Deneke die Brüder zusammenzubringen, diesmal verhindert es Ludwig: Sprecher 4: Paul ist jetzt mit den Denekes in Oxford und ich erhielt neulich eine sehr seltsame, mir ekelerregende Einladung der Miss Deneke, sie dort während Pauls Anwesenheit zu besuchen. Das, und warum, ich diese Einladung weder annehmen kann, noch will, habe ich ihr geschrieben. Ich bin sicher dass die Einladung der Miss Deneke nicht in Pauls Auftrag geschrieben war. Ich glaube vielmehr, dass sie eine Zusammenkunft herbeiführen wollte, und mein Bruder ihr die Erlaubnis gab, mich einzuladen, was sie, ihrer Dummheit entsprechend, in der dümmsten Form getan hat. Erzählerin: Im Februar 1950 stirbt Hermine mit 75 Jahren. Nach Hermines Tod wird der Wittgenstein- Palais in der Alleegasse abgerissen. Für Paul ist diese Entscheidung nachvollziehbar. Sprecher 5: Dass unser Haus in der Alleegasse nicht nur verkauft ist, sondern niedergerissen werden wird, ist sehr traurig, war aber wohl unausbleiblich. Wer könnte heutzutage ein solches auf Prunk und Raum Verschwendung gedacht Palais bewohnen und erhalten? Man denke nur an das Stiegenhaus und die Salons im ersten Stock! Schon wie meine verstorbene Schwester und ich es bewohnt haben, waren die Erhaltungskosten eigentlich über unsere Verhältnisse. Erzählerin: Ein Jahr nach Hermines Tod stirbt Ludwig mit 62 Jahren an Krebs im April 1951. Er hatte vor Jahren im Tratctatus logicus-philosophicus unter Punkt 6.4311 geschrieben: Sprecher 4: Der Tod ist kein Ereignis des Lebens. Den Tod erlebt man nicht. Erzählerin: Die Beisetzung findet ohne Familienmitglieder statt. Paul, der nur sehr wenig über seine Familie spricht, schreibt zwei Jahre nach Ludwigs Tod: Sprecher 5: Ich will übrigens bei dieser Gelegenheit noch feststellen, dass ich mit meinem Bruder seit dem Jahre 1939 außer Kontakt geblieben bin; ein oder zwei Briefe, die er mir anlässlich meines Besuches in England, und weil ihn Fräulein Deneke eingeladen hatte, geschrieben hat, habe ich nicht beantwortet. Ob ich es auch dann nicht getan hätte, wenn mir bekannt gewesen wäre, dass er todkrank ist, weiß ich nicht. Erzählerin: Zu seinen Schwestern sucht Paul ebenfalls keinen Kontakt mehr. Helene, mit der er freche Briefe gewechselt hatte, hat er seit 1938 nicht mehr gesehen. Helene stirbt fünf Jahre nach ihrem jüngsten Bruder Ludwig mit 76 Jahren. Margarethe traf Paul zuletzt beim Streit um die Wistag-Auflösung und die Auszahlung des Geldes an die Nationalsozialisten. Sie stirbt zwei Jahre nach Helenes Tod an Herzversagen. Sie wurde ebenfalls 76 Jahre. Paul zieht sich im gleichen Jahr aus der Öffentlichkeit zurück. Er erhält einen Ehrendoktor und unterrichtet weiterhin private Klavierschüler, immer unentgeltlich. Bei seinem Anwalt hat er eine Erklärung hinterlassen: Sprecher 5: Das Folgende ist nicht einfach nur ein Zusatz zu meinem Testament, es richtet sich auch nicht primär an meine Kinder, sondern war viel eher für meinen Bruder gedacht, der in England lebt. Erzählerin: In der Erklärung geht er scharf mit Margarethes Rolle während der Verhandlung mit den Nationalsozialisten ins Gericht: Sprecher 5: In den Jahren 1938 und 1939 glaubte Mrs Stonborough offenbar, dass es so etwas wie eine Ehrenverpflichtung den Nazis gegenüber gäbe, dass die Nazis Leute wären, mit denen man auf der Basis von Achtung ihre Geschäfte machen konnte. Wenn wir sie mit Nachsicht betrachten, ist das Beste, was wir zu ihren Gunsten sagen können, dass sie sehr dumm gewesen ist. Erzählerin: Als Paul am 3. März 1961 als letztes der acht Wittgenstein-Geschwister in New York stirbt, erfahren nur noch seine Frau und die Kinder von dieser Erklärung. Seine Frau Hilde lebt bis zum Jahr 2001. Ein Jahr nach ihrem Tod findet man in einem Lagerhaus in New York eine Abschrift der bis dahin verschollen geglaubten Klaviermusik mit Orchester von Paul Hindemith. Am 9. Dezember 2004 wird dieses Auftragswerk von Paul Wittgenstein mit dem Pianisten Leon Fleisher und den Berliner Philharmonikern unter Simon Rattle uraufgeführt. Sprecher 3: Der schöpferische Geist läßt sich nicht durch Vorschriften regulieren. Jeder Einzelne entwickelt die ihm gemäße Haltung. Musik Paul Hindemith Klaviermusik mit Orchester, Op. 29: III. Trio: Basso ostinato Absage Musik Literatur Alexander Waugh Das Haus Wittgenstein Geschichte einer ungewöhnlichen Familie aus dem Englischen, Fischer-Verlag 2015 ISBN 9783596182282 Irene Suchy/Allan Janik/ Georg Predota (Hg.) Empty Sleeve Der Musiker und Mäzen Paul Wittgenstein, Studienverlag Innsbruck 2006 ISBN 13 9783706542968 Hermine Wittgenstein Familienerinnerungen Herausgegeben von Ilse Somavilla Haymon-Verlag Wien 2015 ISBN 9783709972007 Nicole L. Immler Das Familiengedächtnis der Wittgensteins, transcript Verlag Bielefeld 2011 ISBN 978-3-8376-1813-6 Ray Monk Wittgenstein- Das Handwerk des Genies aus dem Englischen übertragen von Hans Günter Holl, Klett Stuttgart 1992 ISBN 3-608-91361-0 Gunter Gebauer Wittgensteins anthropologisches Denken, Beck München 2009 ISBN 9783406584497 Gunter Gebauer, Alexander Grünenwald, Rüdiger Ohme Lothar Rentschler, Thomas Sperlin, Ottokar Uhl Wien Kundmanngasse 19 – Bauplanerische, morphologische und philosophische Aspekte des Wittgenstein-Hauses Fink-Verlag München 1982 ISBN 3-7705-2032-7 Gunter Gebauer Hörbuch Ludwig Wittgenstein – Im Fluss des Lebens und der Sprache; Sprecher: Ulrich Matthes und Gunter Gebauer; Deutschlandradio/onomato Verlag 2011, ISBN 9783942864077 Brian McGuiness Maria Concetta Ascher Otto Pfersmann Wittgenstein Familienbriefe Verlag Hölder-Pichler-Tempsky Wien 1996 ISBN 3-209-01220-2 Brian McGuiness Radmila Schweitzer Wittgenstein Eine Familie in Briefen Aus dem Englischen von Joachim SchulteHaymon-Verlag 2018 ISBN 978-3-7099-3445-6 Wittgenstein Biographie-Philosophie-Praxis Wiener Secession Ausstellungskatalog Band 11989 Musikliste 1. Stunde Titel: aus: Quartett für 2 Violinen, Viola und Violoncello D-Dur [WoO], 2. Satz: Intermezzo. Andantino grazioso Länge: 04:24 Ensemble: Aron-Quartett Komponist: Arnold Schönberg Label: PREISER RECORDS Best.-Nr: PR 90572 Titel: Ungarischer Tanz F-Dur WoO Nr. 7. Bearbeitet für Violine und Klavier A-Dur Länge: 02:07 Solisten: Aaron Rosand, Hugh Sung (Klavier) Komponist: Johannes Brahms Label: Biddulph Best.-Nr: LAW 003 Titel: aus: 16 Walzer für Klavier zu 4 Händen, op. 39, Walzer Nr. 7 cis-Moll (7) (attacca) Länge: 02:07 Ensemble: Duo Tal & Groethuysen Komponist: Johannes Brahms Label: Sony Classical Best.-Nr: SK 53285 Titel: aus: Quartett für 2 Violinen, Viola und Violoncello D-Dur [WoO], 3. Satz: Andante con moto Länge: 02:03 Ensemble: Aron-Quartett Komponist: Arnold Schönberg Label: PREISER RECORDS Best.-Nr: PR 90572 Titel: aus: Konzert für Klavier und Orchester Nr.3 Es-Dur,, 3.Satz: Rondo. Tempo di Polacca Länge: 02:56 Solist: Miceál O'Rourke (Klavier) Orchester: London Mozart Players Dirigent: Matthias Bamert Komponist: John Field Label: CHANDOS Best.-Nr: Chan 9495 Titel: aus: Suite für 2 Violinen, Violoncello und Klavier (linke Hand), op. 23, 4. Satz: Lied. Schlicht und innig. Nicht zu langsam Länge: 05:01 Ensemble: Fleisher, Leon (Klavier) Komponist: Erich Wolfgang Korngold Label: Sony Classical Best.-Nr: SK 48253 2. Stunde Titel: aus: Quintett für Klavier, Violine, Viola, Violoncello und Kontrabass e-Moll, op. 3, 3. Satz: Andante Länge: 07:24 Solisten: Nina Karmon (Violine), Pauline Sachse (Viola), Justus Grimm (Violoncello), Niek de Groot (Kontrabass), Oliver Triendl (Klavier) Komponist: Josef Labor Eigenproduktion Deutschlandradio Titel: Meeresstille, HS 558,5 Länge: 02:22 Solist: Paul Wittgenstein (Klavier) Komponist: Franz Liszt Label: ORION Best.-Nr: ORS 7028 Titel: Chaconne (für Violine, bearbeitet für Klavier, linke Hand) Länge: 02:45 Solist: Paul Wittgenstein (Klavier) Komponist: Johann Sebastian Bach Label: ORION Best.-Nr: ORS7028 Titel: Ländler D 618 aus: Deutscher G-Dur mit 2 Trios und 2 Ländler E-Dur für Klavier zu vier Händen, D 618 (Drei deutsche Tänze), Deutscher Tanz Nr. 1 G-Dur Länge: 00:50 Ensemble: Klavierduo Tal-Groethuysen Komponist: Franz Schubert Label: Sony Music Titel: Ländler D 814 Vier Ländler für Klavier zu vier Händen, D 814 Länge: 02:43 Solisten: Christoph Eschenbach, Justus Frantz Komponist: Franz Schubert Label: His Master's Voice Best.-Nr: CDZ 252206-2 Titel: Romanze As-dur (3) Länge: 01:57 Solist: Paul Wittgenstein (Klavier) Komponist: Max Reger Label: ORION Best.-Nr: ORS 7028 3. Stunde Titel: Piano Concerto No. 3 in C Minor Länge: 01:28 Solist: Stefan Doniga Orchester: Janacek Philharmonic Orchestra Dirigent: David Porcelijn Komponist: Sergei Bortkiewicz Label: Piano Classics Titel: Piano Concerto No. 2, Op. 28 Länge: 03:00 Solist: Stefan Doniga Orchester: Janacek Philharmonic Orchestra Dirigent: David Porcelijn Komponist: Sergei Bortkiewicz Label: Piano Classics Titel: Konzert für Klavier für die linke Hand und Orchester D-Dur Länge: 02:32 Solist: Paul Wittgenstein (Klavier) Orchester: Concertgebouw-Orchestra Amsterdam Dirigent: Bruno Walter Komponist: Maurice Ravel Label: RN Classics Best.-Nr: 97017 Titel: Konzert Nr. 4 B-Dur, op. 53 (für Klavier und Orchester, für die linke Hand), Vivace (1) Andante (2) Moderato (3) Vivace (4) Länge: 01:41 Solist: Vladimir Ashkenazy (Klavier) Orchester: London Symphony Orchestra Dirigent: André Previn Komponist: Sergej Prokofjew Label: Decca Best.-Nr: 425570-2 Titel: La fileuse Länge: 02:14 Komponist: Joachim Raff Label und Best.-Nr: keine Titel: Diversions für Klavier (linke Hand) und Orchester, op. 21 Länge: 06:00 Solist: Julius Katchen, Klavier Orchester: London Symphony Orchestra Dirigent und Komponist: Benjamin Britten Label: Decca Titel: aus: Klaviermusik mit Orchester, op. 29 [Klavier nur linke Hand], 3. Satz: Trio. Basso ostinato Länge: 06:49 Solist: Leon Fleisher (1928-)(Klavier) Orchester: Curtis Symphony Orchestra Dirigent: Christoph Eschenbach Komponist: Paul Hindemith Label: ONDINE Best.-Nr: ODE 1141-2