COPYRIGHT Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von Deutschlandradio Kultur benutzt werden. Deutschlandradio Kultur Forschung und Gesellschaft am 10. Juni 2010 Redaktion: René Aguigah Macht Liebe sehend? Ein altes Phänomen im Blick aktueller Forschung Von Andrea Marggraf ----------------------------------------------------------------------------------------------------------------- O-Ton Bohlken: Der Preis ist deshalb inhaltlich ausgeschrieben, weil wir den Wunsch haben, Nachwuchsleute zu fördern. Das ist aber auch offen für gestandenere Philosophen. Interessanter Weise haben wir dann drei Leute ausgewählt, obwohl wir das blind gemacht haben, also nur die Texte kannten, die Nachwuchswissenschaftler sind. O-Ton Oberdieck: Mir ging es in erster Linie darum, daran zu erinnern, dass Liebe nicht so rundes und schönes ist, sondern dass Liebe auch sehr viele verstörende Seiten hat. Und wenn wir fragen wollen, was Liebe uns zu sehen gibt, dann müssen wir uns auf diese Seiten einlassen und fragen, was sie uns eigentlich über die Liebe mitteilen. O-Ton Bohlken: Jannis Oberdieck ist Philosoph und Soziologe. Er hat an der Universität Bremen studiert und hat promoviert an der Universität Osnabrück mit einer Arbeit über Sorge und Begehren zu Heideggers Konzeption der Seinsfrage in Sein und Zeit. Weiter gesteckte Interessen ist zum Beispiel: Mitglied der Arbeitsgruppe Psychologie und Psychiatrie an der deutschen Ärztekammer in Bremen. Sprecher/voice over Ja, Liebe kommt in vielen verschiedenen Formen vor und ich bin ja ein Afrikaner. Mich interessiert dabei vor allem die Familie, die Liebe im Kontext der Familie. Ich habe eine Frau und ein Kind. O-Ton Bigirimana: "Yes, love comes in many various dimensions. But I am an African, so I was struck by love in the context of the family. I´ve got a wife and one child. O-Ton Bohlken: Stanislas Bigirimana kommt aus Burundi. Ist jetzt an der Universität Heidelberg tätig mit einem Promotionsprojekt. Er hat an verschiedenen Orten in Afrika studiert. Unter anderem in Ruanda und in Kinshasa. Hat sein Studium dann abgeschlossen in Simbabwe. Und hat dann dort auch längere Zeit an der Universität in Simbabwe, in Harare unterrichtet. Sprecher/voice over: Es gibt auch die romantische Liebe, wie wir sie aus Rundfunk und Fernsehen kennen. Aber es gibt auch eine Form der Liebe, die wir nicht häufig in der heutigen Welt sehen, zu Mindestens nicht in den dominierenden Medien und im Mainstreamdenken. Das ist die sich selbst verschenkende Liebe, zum Beispiel, dass man für andere Opfer bringt. O-Ton Bigirimana: There is also romantic love, as we see it a lot in broadcasting. But there is a dimension of love we don´t see a lot in the contemporary world, at least in the dominant media and in mainstream thinking. That is the love that is self-giving, for example making sacrifices for others. O-Ton Bohlken: Ja, und ist jetzt als Stipendiat des deutschen akademischen Austauschdienstes in Heidelberg tätig und arbeitet dort an einer Doktorarbeit über epistomologische Folgen der Informationsrevolution. O-Ton Piazzesi: Dann, wenn ich mir natürlich überlege, als Philosophin, als Person, die sich mit der Liebe auseinandersetzt, dass dieser Begriff noch unterdetiminiert ist und dass man ihn weiter spezialisieren sollte und man sollte sich selbstverständlich fragen, was passiert in der ersten Phase dieses leidenschaftlichen Verhältnisses und dann in einer späteren Phase und auch am Ende, was da passiert, das ist auch Liebe. O-Ton Bohlken: Den ersten Preis haben wir Frau Dr. Chiara Piazzesi zugesprochen, die zurzeit an der Ernst-Moritz Arndt Universität in Greifswald lehrt und forscht. Und dort ein Postdock Projekt bearbeitet mit dem Thema: Die Behandlung der Individualität in der Liebe. Liebe als Orientierungsform. Sie war also sehr ausgewiesen für das Thema. Sie ist 33, also Nachwuchswissenschaftlerin. Hat einen beachtlichen Hintergrund, was ihre Studien anbetrifft. Sie ist Italienerin. Hat in Pisa und Florenz studiert und war aber auch in Frankreich, in Paris an der ecolè normal superior. Sprecherin: Drei Nachwuchswissenschaftler aus drei Ländern schrieben Aufsätze zum uralten Thema Liebe. Dichter und Philosophen, Psychologen und Soziologen und in neuer Zeit Hirnforscher, haben sich in bizarrer Vielheit vor ihnen damit befasst. Ein Menschheitsthema im besten Sinne des Wortes. Die rapide Veränderung sozialer Strukturen und Werte ruft es heute immer wieder auf den Plan, lässt es regelmäßig in den Feuilletonseiten der Zeitungen auftauchen - und bewegt die Wissenschaft. O-Ton Bohlken: Mit der Konjunktur, die die Hirnforschung, die Neurophysiologie derzeit hat, eben auch viel über dieses Thema: Liebe gesprochen wird. Und der andere Punkt ist, glaube ich, eher der, dass es eben in der philosophisch/ theologischen Tradition einen großen Stellenwert hat und tatsächlich eben auch eine schöne Möglichkeit ist, philosophische Fragen eben auch mit christlicher Ausprägung zusammen zu bringen. Eike Bohlken. Bin seit zwei Jahren Assistent am Forschungsinstitut in Hannover. Sprecherin: Hinter dem zunehmenden Allgemeininteresse an naturwissenschaftlichen Ansätzen zum Thema Glück und Liebe steht das Bedürfnis nach erhellenden, wenn nicht gar orientierenden Einsichten, zu dem Phänomen der Liebe. Der leider zu früh verstorbene Neurowissenschaftler Detlef B. Linke widerspricht allerdings in seinem Buch "Hölderlin als Hirnforscher" allen zu weit gespannten Erwartungen wenn er schreibt: Zitator: Liebe auf den Begriff zu bringen, ist möglicherweise ein völlig unrealisierbares Unterfangen. Dass man sie noch nicht besitzt, wenn man sie auf den Begriff gebracht hat, ist ohnehin klar. Aber auch die adäquate Begrifflichkeit zu finden, stellt ein Unternehmen dar, welches die deutliche zeitgeschichtliche Abhängigkeit auch der Kategorisierung von Liebe zutage fördert. Die Hirnforschung ist weit davon entfernt, ein neurophysiologisches Modell der Liebe zu liefern, auch wenn auf neurochemischer Ebene einige Transmitter namhaft gemacht wurden, die bei Sexualität und Paarbeziehung eine Rolle spielen. O-Ton Bohlken: Also die Fragestellung lautet ja, macht Liebe sehend und nimmt ja direkt Bezug auf einen gegenläufigen Spruch: Liebe macht blind. Und da kann man schon mal eine Koppelung sehen von Liebe und Erkenntnis. Und Erkenntnis, Erkennen ist ja ein genuin philosophisches Geschäft. Sprecherin: Was ist es, das mit dem zeitgenössischen Vokabular aus Wissenschaft und Philosophie zu erkennen ist - und verdient beachtet zu werden? Wie gelingt die Abgrenzung von einer als möglicherweise dominant empfundenen naturwissenschaftlichen Denkweise? Diese Fragen spiegeln sich in den Arbeiten der drei ausgezeichneten Autoren. Die Attraktivität des universalen Preisthemas besteht ganz nebenbei wohl auch darin, dass jeder forschende Ansatz nicht ohne den persönlichen Erfahrungshintergrund des Schreibenden zu denken ist, auch wenn er in seinem Text nicht ausgeführt wird. O-Ton Piazzesi: Liebe bedeutet nicht, dass ich eine Situation aushalten muss, die unerträglich ist und die mein Leben zerstören würde. Das wäre in meinen Vorstellungen keine Liebe. Also Liebe muss nicht unbedingt Opfer bedeuten oder Selbstzerstörung. Aber wir haben jetzt die Erfahrung gemacht, dass diese Beständigkeit vielleicht nicht wesentlich zur Liebe gehört und ein Bestandteil der Liebe ist. Sprecherin: Sagt Chiara Piazzesi, für die ein Ausgangspunkt ihrer Überlegungen Niklas Luhmann ist: O-Ton Piazzesi: Er definiert die Form der Liebe am Ende des 20. Jahrhunderts, als er Passion der Liebe geschrieben hat, als Programm des Verstehens. Das ist hauptsächlich eine Fähigkeit, die das Paar in die Beziehung einübt, Enttäuschungen zu verarbeiten. Das bedeutet, dass ich nicht nur den anderen sehe, oder auch mich selbst durch den anderen sehen kann, wie er für die kalten anderen nicht ist, sondern dass ich auch den anderen tiefer verstehen kann, weil ich aus Liebe, oder dank der Liebe, dem anderen vielleicht gerechter werden kann. Ich kann mich bemühen, ihn oder sie zu verstehen in ihren oder seinem Weltentwurf, in seiner Welt oder in ihrer Welt. Ich kann seine oder ihre Wünsche, Vorstellungen, Erwartungen mit einbeziehen und dadurch sozusagen mein Urteil, oder meine Einschätzungen des anderen verarbeiten. Und das, glaube ich, liegt daran, dass man liebt. Daraus besteht die Liebe selbst. Die Fähigkeit nicht toleranter, oder geduldiger, sondern liebevoller zu sein. Sprecherin: Eine so erklärte Wirkung von Liebe ist allerdings schon die Umkehrung der gemeinhin zuerst unterstellten getrübten Wahrnehmung. Chiara Piazzesis Aufsatz trägt den Titel "Macht Liebe sehend? - Versuch einer Umdeutung der angeblichen ,Blindheiten' der Liebe." O-Ton Piazzesi: Die Soziologie der Liebe hat ein sehr interessantes Phänomen festgestellt. Und zwar, dass diese Blindheit eigentlich hoch funktionell wichtig ist. Wenn eine Beziehung gebildet wird, dann wird eine gemeinsame Realität erzeugt und diese Realität gilt natürlich nur für das Paar, für die Beziehung und nicht für die anderen. Die Biografie des Paares, oder auch die Mythologie, die dazu gehört, spielen in diesem Zusammenhang eine wichtige Rolle. Das gehört zur Konstruktion einer gemeinsamen Realität. Was sehr wichtig ist, wie der systemtheoretische Ansatz behauptet, weil das Intimsystem, wie ich sagte, mit der Unterscheidung arbeitet, wir zwei und der Rest der Welt. Wir zwei sind eine Realität, eine Sache, ein System und wir unterscheiden uns von allem anderen. Genau dieser Unterschied zwischen wir zwei und der Rest der Welt ist funktionell wichtig für die Beziehung. Das bringt natürlich auch mit sich, dass eine alternative besondere Realität wirklich erzeugt wird. Das heißt, das Paar erzählt und erlebt eine andere Realität, weil es diese Realität braucht und erzeugt in der Kommunikation. Sprecherin: Die konstituierende Paarbeziehung und eine besondere Kommunikationsform sind zwei Ansätze, die für die Annäherung an das Phänomen Liebe unerlässlich scheinen. Wenn sich die Liebenden dann ihre Wirklichkeit schaffen, heißt das für Chiara Piazzesi nicht, dass sie für die äußere Welt und ihre Angelegenheiten unempfindlich werden. In den Schlussbemerkungen ihres Aufsatzes schreibt sie von den Möglichkeiten, mit denen sich der Raum der Erkenntnis erweitern kann. Zitatorin: In diesem Sinn bildet die Liebe den Horizont einer alternativen Form von Gerechtigkeit, die auf das Richten, d.h. auf das Belohnen und Strafen, verzichten kann: sie kann sehen und insofern verstehen, als die liebende Disposition von dem, was sie sieht, unerschüttert bleibt. So erweitert sich aber allmählich der Raum des Erkenne ns selbst: man schafft sich durch eine liebende Disposition die Bedingungen, die Erkenntnis weiter zu ertragen und zu treiben - also mehr, weiter zu sehen. So geht es auch der eigenen Biografie gegenüber. O-Ton Piazzesi: Die Liebe ist in diesem Sinne auch die Fähigkeit mit den Grenzen umzugehen, um mit den entsprechenden Enttäuschungen auch umzugehen und selbst zu verarbeiten ohne dem anderen vorzuwerfen, dass man irgendwie ausgeschlossen wird, oder dass man eben enttäuscht wird. Dem anderen das nicht unbedingt aufzuschieben, dass man nicht unbedingt glücklich ist, mit dem was man bekommt. Sprecherin: Von den drei Autoren, die mit einen Preis bedacht wurden, geht der aus Burundi stammende Stanislas Bigirimana ausführlich auf eine naturwissenschaftliche Denkweise ein. Im Hintergrund stehen die offensichtlichen Fortschritte der Neurowissenschaft beim Verständnis von Wahrnehmungsprozessen und Emotionen, die weit über diese Disziplin hinaus faszinieren. In diesem Sog wurden Erwartungen geweckt aber auch Deutungansprüche erhoben, die bis zu einer Theorie des Geistes reichten. Gegen solche naturalistischen Erklärungsversuche wendet sich Birigimana und meldet - wie allerdings auch Hinforscher selbst - Skepsis an. Sprecher/voice over: Mein Zugang zu Erkenntnis ist anders. So wie ich die mechanistische Weltsicht beschrieben habe, ist sie vor allem mit dem modernen Rationalismus verbunden. Dem entsprechend müssen wir eine Distanz zu dem Objekt, das wir erkennen wollen, wahren. Wir müssen Objektivität und Universalität anstreben. Das heißt, unter dem Aspekt der Erkenntnis sollten wir uns die Realität anschauen, das heißt, wie die Dinge da draußen wirklich sind. Persönlich glaube ich jedoch, dass wir als Menschen nicht nur diese Art von Erkenntnis brauchen. O-Ton Bigirimana: My approach to knowledge is different. As I described, the mechanical framework is associated mainly with what you call modern rationalism. According to modern rationalism we have to be detached from the object we are trying to know. So you have to aim at objectivity and universality. So according to that aspect of knowledge we are looking at certaincy, to be certain of how things out there are. But personally I believe that as human beings that is not the only type of knowledge we need to know. Sprecherin: Der Blick des Anderen gestaltet meinen Körper in seiner Nacktheit, lässt ihn entstehen, skulptiert ihn, erzeugt ihn, wie er ist, sieht ihn, wie ich ihn nie sehen werde. Der Andere besitzt ein Geheimnis: das Geheimnis dessen, was ich bin, schreibt Jean Paul Sartre und beschreibt damit die Spiegelung des Ich durch den Blick des Anderen. So konstituiert sich das Ich erst in der Rückkopplung mit seinem Gegenüber. Im philosophisch kybernetischen Weltbild nennt man diese Rückkopplung Feedback. Für Stanislas Bigirimana, den zweiten Preisträger, ist das kybernetische Weltbild die Grundlage seines Aufsatzes. Zitator: Die Mechanik der Liebe sollte ersetzt werden durch die Kybernetik der Liebe, wo Liebe im Sinne ihrer zugrundeliegenden physiologischen und elektromechanischen Prozesse ausgedrückt wird, aber auch im Sinne ihres verdeckten und offenen logischen und symbolischen Ausdrucks. Liebe ist vor allen Dingen eine Beziehung. Deswegen sollte sie nicht auf die physiologischen und elektromechanischen Prozesse reduziert werden, die im Körper eines hypothetisch isolierten Liebenden stattfinden, sondern auf den Knotenpunkt, an dem Liebende Zeichen und Symbole ihrer Liebe teilen und austauschen. (The mechanics of love should be replaced by the cybernetics of love where love would be expressed in terms of its underlying physiological and electrochemical processes but also in terms of its covert and overt logical and symbolic expression. Love is first and most of all a relationship. Therefore, it should not be reduced to the physiological and electrochemical processes that take place in the body of a hypothetically isolated lover but at the knot where lovers intersect and exchange signs and symbols of their love.) Sprecher/voice over : Wenn wir einen Paradigmenwechsel vorschlagen vom mechanistischen zum kybernetischen Weltbild, dann haben wir eine andere Sicht. Die Kybernetik ist eine Theorie von Kontrolle und Kommunikation durch Rückkopplung. Anders als im mechanistischen Weltbild, das die Realität in den Begriffen Materie und Bewegung definiert, wird im kybernetischen Weltbild die Realität in den Begriffen Materie, Bewegung, Logik und Symbolik definiert. Zum Beispiel, wenn sich Liebende Blumen schenken, dann betrachten wir nicht den materiellen Wert von roten Rosen, da sie nicht viel kosten und es andere Dinge gibt, die vom Materiellen her viel wertvoller sind. Aber als Symbol sind rote Rosen sehr wichtig und sehr bedeutsam. Das Gleiche gilt für andere Symbole, die wir verwenden, zum Beispiel ein Ehering, der nur ein kleines Stück Metall ist, aber ein sehr wichtiges. Ihn zu verlieren, oder zurückgeben zu müssen, endet meist mit Tränen. Wir haben also diese Dimension, die wir unter der Verwendung des Vokabulars der Informationstechnologie Software nennen. O-Ton Bigirimana: But if we suggest a paradigm shift from mechanics to cybernetics, we have got a different story. Cybernetics is defined as a theory of control and communication through feedback. In that theory, unlike mechanics that defines reality in terms of matter and motion, cybernetics defines reality in terms of matter, motion, logic and symbolism. For example when lovers offer each other flowers, we are not looking at the material value of red roses. They don´t cost much. There are many other things that are more valuable in terms of materials. But as a symbol red roses are very important and very significant. It´s the same with other symbols we use like a wedding ring. It is a small piece of metal, but a very important one. Losing it or having to return it always ends in tears. So as humans we have that dimension that I shall call software, using the vocabulary from information technology. Sprecherin: Bei dem Versuch, das Physiologische und das Ideelle zu vereinen und einen eindimensionalen Erkenntnisprozess zu überwinden, ist der Rückgriff auf die Kybernetik im Sinne der Philosophie als Wissenschaft bemerkenswert. In den vierziger Jahren führte Norbert Wiener den Begriff in den wissenschaftlichen Diskurs ein. Seither machte er in den verschiedensten Fachrichtungen Furore - in der Steuerungs - und Regelungstechnik, in den Sozialwissenschaften als Management- Kybernetik oder Soziokybernetik, in den Biowissenschaften als Biokybernetik. Heute werden ihre Themen in der Systemtheorie weitergeführt. Stanislas Bigirimana unterteilt mittels des kybernetischen Weltbildes die verschiedenen Realitätsebenen, die für die Liebe relevant sind, in Hardware, das heißt, in den materiell/ mechanischen Aspekt und in Software, in den logisch/ symbolischen Aspekt. Auf diese Weise werden sie für ihn gleichrangig. Stanislas Bigirimana schreibt in seinem Aufsatz: Zitator: Liebe lässt uns sehen, weil Liebe in der Lage ist, natürliche Objekte in Artefakte und physische Prozesse in Zeichen und Symbole zu verwandeln. Aus diesem Grund ist beispielsweise der Akt zwischen Liebenden - etwa im Kontext der Ehe - nicht einfach nur ein physischer Prozess; er ist umgeben von Botschaften und Ritualen, einige explizit und andere implizit, die das bloße "Sex haben" von "Liebe machen" unter- scheiden. Diese Rituale und Botschaften sprechen ein Bedeutungsniveau an, das sich der Objektivität, die die normative Epistemologie anstrebt, widersetzt. Sie sprechen natürlich auch physische und elektromechanische Prozesse an, denn die Interaktion mit einem Liebespartner, besonders einem des anderen Geschlechts, wird begleitet von Veränderungen auf hormoneller Ebene, die sogar dann auftreten können, wenn der Liebespartner nicht körperlich anwesend ist. Einige Leute behaupten, dass sie diese hormonellen Veränderungen am Telefon oder online erleben können, und zwar so, dass sie ohne physische Interaktion Sex haben oder Liebe machen können, d.h. online oder am Telefon. Das ist möglich, denn jenseits dessen, was die Augen sehen können, lässt uns die Liebe über die Grenzen unseres sichtbaren Bereichs hinausschauen, denn Sehen ist in diesem Sinne kein objektiver Prozess wie Wahrnehmung, sondern ein intersubjektiver Kommunikationsprozess, der den anderen zu einem Teil von mir und mich zu einem Teil des anderen macht. (Love makes us see because love is capable of transforming natural objects into arti- facts and physical processes into signs and symbols. That is why, for instance, sexual intercourse between lovers, in the context of matrimony for instance, is not simply a physical process, it is surrounded by messages and rituals, some explicit and some implicit, that make the difference between just "having sex" and "making love". These rituals and messages appeal to a level of significance that defies the objectivity that normative epistemology seeks. They appeal of course to physical and electrochemical processes because interaction with a lover, especially one of the opposite sex is accompanied by changes at the hormonal level that can take place even when the lover is not physically present. Some people claim that they can experience these hormonal changes on the telephone or "online" in a way that now people claim that they can have sex or make love without physical interaction i.e. online or on the telephone. This is possible because beyond what eyes can see, love makes us see beyond the boundaries of our visual field because seeing in this sense is not an objective process like perception but an intersubjective communicative process that makes the other a part of me and me and me a part of the other.) Sprecher/ over voice: Das ist das Hauptparadox: das Kybernetikmodell, das die Wertschätzung, die Bedeutung und die Absicht einführt, bietet uns einen konzeptionellen Rahmen um über Liebe nachzudenken. O-Ton Bigirimana: So that is the main paradox: The information model, by introducing the aspect of value, meaning and purpose, offers us a conceptual framework for thinking about love. O-Ton Oberdieck: Viele Autoren vertreten, dass Liebe etwas ist, was uns heil macht, was uns glücklich macht. Dass wir genau angeben können, was wir von der Liebe erwarten und wenn wir das nicht bekommen, dann stellen wir uns häufig hin und sagen, das ist keine Liebe, das ist Abhängigkeit, das ist ein großer Irrtum. Sprecherin: Jannis Oberdieck, der dritte Preisträger, hat seinem Aufsatz den Titel gegeben "Die Philosophie der Liebe - Emotionale versus rationale Erkenntnis" O-Ton Oberdieck: Und meine Perspektive ist eher die, dass ich versuche an Erfahrungen von Liebe zu erinnern, wie wir sie vielleicht aus der Teenagerzeit kennen, wo Liebe uns in große Konflikte stürzt, wo sie uns den Boden unter den Füßen entzieht. Und ich versuche stark zu machen, dass wir einfach im Laufe der Jahre gewisse Umgangsstrategien mit der Liebe entwickeln, so dass wir nur noch die schönen Seiten versuchen zu haben. Was ja häufig nicht klappt und was vor allem dazu führt, dass wir unsere Partner mit Ansprüchen konfrontieren. Sprecherin: Die Preisfrage "Macht Liebe sehend ?" gewinnt ihren hintergründigen Reiz aus der gegenteiligen Auffassung von der vielbeschworenen Blindheit, mit der uns die Liebe vermeintlich schlägt. Diese Auffassung wird heute oft verkürzt mit einem ganzen Arsenal polarisierender Affekte gestützt, mit dem sich Psychologie und Hirnforschung befasst. Ja, man könnte meinen, diese vielseitige "Blindheit" avanciert dabei zur Domäne neurowissenschaftlicher Befunde im Zusammenhang mit dem Thema Liebe, die die Philosophie nicht tangiert. Jannis Oberdieck führt in seinem Aufsatz einen anderen Zugang zur Liebesblindheit vor. O-Ton Oberdieck: Ich habe heraus gestellt, dass diese Weisheit, dass Liebe blind macht, eigentlich aus der griechischen Antike stammt, dass wir das das erste Mal bei Platon erwähnt finden und Plutarch uns genauer erläutert , wie das damals verstanden wurde. Und zwar verstehen wir den Satz ja meistens so, dass wenn wir uns verlieben, wir geneigt sind, Fehler und Schwächen des anderen zu übersehen, uns Illusionen zu machen. Dass wir den Kontakt zu unserem Gegenüber verlieren und uns in Illusionen verlaufen. In der Antike, so Plutarch, wurde dieser Satz genau anders herum verstanden. Plutarch macht stark, dass wir in der Liebe unser Gegenüber so stark und so präzise wahrnehmen, wie nirgendwo sonst. Aber, dass, sobald wir beginnen zu lieben, wir Erwartungen aufbauen, die wir selber gar nicht kennen. Und dass die Liebe blind macht, indem sie uns zeigt, wie mächtig diese Erwartungen in uns sind und wie wenig wir von ihnen wissen. Die Blindheit der Liebe führt uns vor Augen, wie blind wir uns selbst gegenüber gewesen sind. Und genau das gibt uns die Liebe zu sehen, die alltäglich gewordene Blindheit. Sprecherin: In diesem Prozess der Erkenntnis von subjektiver Blindheit, verbindet sich für Jannis Oberdieck die Psychoanalyse mit der Philosophie, vor allem aus der Kritik gegenüber der antiken Philosophie heraus. O-Ton Oberdieck: Nun da geht es zentral darum, um die Frage, was die Liebe eigentlich will. Die Antike war sich ziemlich sicher, dass unsere Liebe eigentlich die Liebe der Vernunft ist. Wieder in die himmlische Sphäre wieder zurück zu kehren, aus der sie einst stammte, bevor sie in diesen Körper eingekerkert wurde. Das heißt, alles was eigentlich liebenswert ist, ist etwas Jenseitiges. Und entsprechend kann Liebe nicht enttäuscht werden, denn sie will ja nichts aus dieser Welt. Und da hat dann vor allem die Psychoanalyse sehr stark gemacht, dass es schon so ist, dass wir in der Liebe etwas begehren, was trügerisch ist, was illusorisch ist, was kein Mensch erfüllen kann. Aber es gilt, sich dieser Enttäuschung zu stellen und auf die Art, frei dafür zu werden, sich auch mal über unvorhergesehene Sachen freuen zu können, statt immer nur den eigenen Erwartungen zu folgen. Sprecherin: In seinem Aufsatz schreibt Jannis Oberdieck dazu: Zitator: Die Wichtigkeit der Liebe für uns bestehe jedoch darin, dass wir in ihr stets auf die Überzogenheit unserer Glückserwartungen verwiesen und solcherart momenthaft da- für frei werden können, uns auch mit simpleren und unerwarteten Freuden zufrieden zu geben. Im Fall von Liebesbeziehungen bedeutet dies, den anderen trotz aller Ent- täuschtheit immer wieder schätzen, nämlich in seiner Eigenständigkeit für kurze Mo- mente sehen zu lernen. Grundsätzlich heißt es, Liebe als ihrem Wesen nach auf Mit- menschen gehend zu verstehen und eben deswegen zwischenmenschliche Liebesbeziehungen zu jenem Bereich zu erklären, in dem wir uns mit ansonsten immer nur diffus erfahrener Enttäuschtheit konfrontieren können im Interesse einer letztlichen Steigerung unserer Lebensqualität. Durch seine Abdrängung ins Psychopathologische lebt dieser Ansatz jedoch heute in erster Linie eben in Ratgebern für gefährdete Beziehungen, Studien zur Depression etc. fort, ohne auf die in ihm beschlossen liegenden grundsätzlichen Theorien sowie die Herkunft seiner Voraussetzungen hin befragt zu werden. Wir könnten also formulieren, dass Liebe uns sehen lässt, wie uneinheimisch wir in allen ausschließlich objektiven Bezugnahmen sind und diese uns stets Mittel zum Zweck sein sollten. Sprecherin: Interviewerin: Das heißt, die Einsicht in die Blindheit macht sehend? O-Ton Oberdieck: Woraus dann die Möglichkeit erwächst, doch noch mal ein bisschen mehr auf sich zu hören und zu versuchen, sich ein bisschen besser zu verstehen. Ein geübtes Auge zu bekommen dafür. Sprecherin: Obwohl die Idee zu der Preisfrage auch aus der aktuellen Präsenz des Themas in der Hirnforschung resultiert, verläuft der Erkenntnispfad der drei jungen Philosophen in ihren preisgekrönten Arbeiten bewusst jenseits naturwissenschaftlicher Befunde und Denkweisen. In diesem Rahmen kamen die Preisträger zu interessanten Überlegungen. So meint Eike Bohlken nicht ohne Grund zur Bewältigung der Preisfrage "Macht liebe sehend?" : O-Ton Bohlken: Ja also, ich denke das ist in den Arbeiten ja auch sehr schön heraus gearbeitet worden, dass Liebe auf jeden Fall etwas sehend macht, dass sie zwar einerseits eventuell auch blind machen kann für andere Dinge, wie eine Brille, die man aufsetzt, Dinge auf einmal anders sieht. Und dieses anders sehen, kann auch unmittelbar praktische Konsequenzen haben, wie man mit anderen Menschen umgeht. Letztlich auch mit der Welt insgesamt, was man für ein Verhältnis zur Natur hat, ob man sie nun als Schöpfung betrachtet, oder einfach als Schöpfungsunabhängiges sich entwickelndes habendes Sein. Da gibt es eben auch eine emotionale Basis, die wir zu den Menschen und zu den anderen Lebewesen um uns herum haben und die ist eben auch wichtig, wie wir mit denen umgehen. Sprecherin: Soweit zur Bestärkung philosophischen Forschens. Allerdings wäre zu bedenken, ob nicht eine anhaltende Skepsis gegenüber neurowissenschaftlichen und neurophysiologischen Befunden bei der Behandlung des Themas Liebe den philosophischen Diskurs verengen könnte. Diese Skepsis existiert wie der Hinweis auf Detlef B. Linke schon andeutete auch unter Hirnforschern und würde daher wenig zur Markierung des Trennenden zwischen den Disziplinen taugen. Und sicher wird wegen der ungeheuren Dynamik der Neurowissenschaften kaum eine Disziplin auf deren Beiträge auf Dauer verzichten können. O-Ton Bohlken: Ich war vorher eigentlich ein wenig skeptisch, ob man über Liebe gut und sinnvoll philosophieren kann, bzw. was man davon als Philosoph hat, oder was man als Nichtphilosoph, als Privatmensch davon hat, wenn man das tut. Man könnte ja denken, dass zu viel Nachdenken und zu viel Reflektion über Gefühle, eher diese kaputt machen könnte. So als eine Gefahr. Und da fand ich es für mich sehr spannend zu sehen, dass es noch eine grundsätzliche Dimension gibt eben über Liebesbeziehungen hinaus. Und das passt dann auch zu etwas, was ich eigentlich vorher schon gedacht habe in wissenschaftstheoretischer Hinsicht, dass eben in vielen Bereichen, auch der Theoriebildung sogar, so etwas wie Intuition doch eine große Rolle spielt. Also welche Themen man interessant findet. Für welche Themen Für was für Theorien man sich entscheidet. Wie attraktiv man sie findet. Und das sind so Bereiche, wo auch das Emotionale eine große Rolle spielt. Ich fand das für mich auch interessant diese Gesamtdimension, die man auch als kosmologisch bezeichnen könnte, die noch einmal betont zu sehen. Sprecherin: Mit der Preisfrage hat das Forschungsinstitut Hannover gezielt die Diskussion um die Frage nach Liebe und Erkenntnis wieder beleben wollen, meinte der Religionsphilosoph Prof. Dr. Thomas M. Schmidt bei der Preisverleihung im September 2009 in seiner Laudatio. Die Veröffentlichung der drei Preisschriften im Wallstein Verlag, jetzt im Juni, kann dafür eine gute Diskussionsgrundlage sein. Eines wurde in den Arbeiten auf jeden Fall deutlich, dass die Liebe die Möglichkeit der Erkenntnis nicht einengt, sondern ihr einen besonderen Raum geben kann und damit einen Moment der Freiheit des Denkens ermöglicht. Nun ist ja, wie bereits Friedrich Nietzsche betonte, der Baum der Erkenntnis nicht der Baum des Lebens, doch kann das Wissen um die Liebe und auch die Auseinandersetzung mit dem Leiden, das sich mit ihr verbindet, der Erkenntnis zu Gute kommen, die Dinge in ihrer Einmaligkeit zu sehen, weil ja, wie wir wissen, nichts unendlich ist. Aus der Dreigroschenoper: (Lotte Lenya) Die Liebe dauert oder dauert nicht, an dem oder jenem Ort. 1