Deutschlandfunk GESICHTER EUROPAS Samstag, 29.10.2016, 11.05 - 12.00 Uhr KW 43 Letzte Ausfahrt Lissabon - Auf der Autobahn A 23 durch das ländliche Portugal Eine Sendung von Tilo Wagner Redaktion: Marcus Heumann Musikauswahl und Regie: Babette Michel Urheberrechtlicher Hinweis Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Die Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in §§ 44a bis 63a Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. (c) - unkorrigiertes Exemplar - ZITATCOLLAGE: O-Ton Der Bau der A23 war enorm wichtig für uns. Früher haben wir vier bis fünf Stunden bis Lissabon gebraucht, d.h. wir mussten mitten in der Nacht los fahren, um noch am Vormittag auf den Markthallen der Hauptstadt mit unseren Früchten einzutreffen. Heute brauchen wir nur noch knapp zwei Stunden. Ansager: Ein Obstbauer in Louriçal do Campo O-Ton Wir leben in einer eigenartigen Zeit. Wir haben so viel Geld aus Europa bekommen, und haben vieles davon in großem Maßstab ausgegeben, Straßen gebaut und uns damit verschuldet. Jetzt drückt uns die Schuldenlast und Europa zieht die Daumenschrauben an. Und hier im Landesinneren herrscht Stillstand. Ansager: Der Direktor einer Non-Profit-Organisation in Proença-a-Nova Ansage : Letzte Ausfahrt Lissabon - Auf der Autobahn A 23 durch das ländliche Portugal Eine Sendung von Tilo Wagner Er geht aus der Burg hinaus und den Abhang hinunter ins Dorf. Vor den Türen sitzen alte Männer und Frauen, so wie es in Portugal üblich ist. Sie sind Teil dieses Sinns. Ein Mann kommt dazu, ein Stein, ein Mann, ein Stein, ein Mann, wenn man nur die Zeit hätte, all das zusammenzunehmen und zu erzählen, zu hören und weiterzuerzählen, nachdem man erst die gemeinsame Sprache gelernt hat, das wesentliche Ich, das wesentliche Du, unter Tonnen von Geschichte und Kultur, sodass, wie die Knochen in der Burg, der ganze Körper Portugals zum Vorschein käme. Atmo Burgruine Der Blick über die Burgmauer von Belmonte fällt auf ein hohes Granitgebirge: Die Serra de Estrela senkt sich von einer Höhe von fast zweitausend Metern nach Osten hin in ein fruchtbares Tal hinab. Bewaldete Hügel, Felder, vereinzelte Häuser. Und mittendrin eine vierspurige Autobahn, die im Norden fast bis an die spanische Grenze reicht und über 217 Kilometern in den Südwesten in Richtung Lissabon verläuft. Im Juli 2003 wurde die A23 nach zehnjähriger Bauzeit und Kosten in Höhe von rund 600 Millionen Euro fertiggestellt - mit kräftigen Zuschüssen aus den EU-Strukturfonds. Die Autobahn führt durch eine landwirtschaftlich geprägte Region, die in besonderem Maße unter strukturellen Problemen wie Landflucht, einer überalterten Gesellschaft und wenigen beruflichen Perspektiven leidet. Eigentlich sollte die Strecke neue Chancen in der Region eröffnen, und deshalb war sie bis zum Ausbruch der Finanzkrise vor fünf Jahren auch gebührenfrei. Das hat sich nun geändert. Die A23 gehört zu den teuersten Autobahnen in Europa. Für die knapp 30 Kilometer vom Streckenbeginn in der Nähe der Provinzhauptstadt Guarda bis nach hier nach Belmonte zahlt der PkW-Fahrer 2 Euro 75. Atmo Altstadt Elisabete Manteigueiro führt zwei ältere amerikanische Ehepaare durch die engen Gassen des kleinen Städtchens. Vor einem Haus, das wie viele Gebäude hier aus dicken großen rechteckigen Granitsteinen errichtet wurde, bleibt die 37-jährige Historikerin stehen. Sie streicht mit dem Finger über eine Markierung im steinernen Türrahmen. Atmo Elisabete Belmonte sei einer der wichtigsten Orte der jüdischen Geschichte in Portugal, erklärt sie, und dieses Zeichen habe man an einigen Türen gefunden, in denen Juden lebten, die in der Zeit der Inquisition zwangsgetauft wurden. Diane Cohen hört der Portugiesin aufmerksam zu. Mit ihrem Mann und ihren Freunden ist sie in Portugal auf der Suche nach jüdischen Wurzeln. Denn das Schicksal der Sepharden, die seit dem 16. Jahrhundert auf der iberischen Halbinsel verfolgt wurden, sei eng mit ihrer eigenen jüdischen Gemeinde in den USA verbunden. O-Ton Cohen: "Wir leben in der Nähe von Charleston, South Carolina. Da gibt es eine sehr alte jüdische Gemeinde, und von Beginn an kamen sehr viele Juden aus Portugal oder Spanien, häufig nicht auf direktem Weg, sondern über die Karibik oder aus Brasilien, aber sie blieben dann bei uns in Charleston, weil sie in Amerika nicht diskriminiert wurden." Atmo Museum In Portugal war das anders. Und das kleine jüdische Museum in Belmonte, in das Elisabete Manteigueiro ihre amerikanischen Gäste führt, ist einer Gemeinde gewidmet, die in dieser bergigen, abgeschiedenen Region ihre Religion über 400 Jahre lang im Verborgenen praktizierte und sie so am Leben hielt. O-Ton Manteigueiro: "Hier in Belmonte wussten die Bewohner Anfang des 20.Jahrhunderts, dass es eine kryptojüdische Gemeinde gab, die in ihren Häusern ihre Religion praktizierte, nach außen aber als Katholiken auftrat. Doch die Welt erfuhr davon erst 1917, als ein polnischer Ingenieur per Zufall die Gemeinde entdeckte und über die letzten Kryptojuden in Portugal ein Buch schrieb. Die Gemeinde blieb zur Zeit der Salazar-Diktatur weiter im Verborgenen und öffnete sich erst nach der Nelkenrevolution nach außen hin. In den 80er Jahren wurde sie dann von Israel als jüdische Gemeinde anerkannt." Atmo Museum An einer Museumswand hängt eine Tafel mit den Namen der Juden, die der Inquisition zum Opfer fielen. In Schaukästen wird erklärt, wie die jüdische Gemeinde von Belmonte Jahrhunderte lang ihre Religion und Traditionen bewahrt hat. Atmo Elisabete Das Museum ist die touristische Hauptattraktion von Belmonte, erzählt Elisabete. Im vergangenen Jahr kamen rund 70.000 Besucher in das zweistöckige Steinhaus, dessen Gästebuch mit Grußbotschaften aus der ganzen Welt gefüllt ist: Los Angeles, Montreal, Jerusalem. Atmo Straße Zum Abschluss ihrer Stadtführung bringt Elisabete Manteigueiro die Amerikaner noch zu einem jüdischen Markt, der unterhalb der Burg aufgebaut ist. Diane Cohen und ihr Mann Thomas schlendern über das holprige Kopfsteinpflaster und genießen die ruhige Atmosphäre in der Kleinstadt. Am Morgen waren sie noch ganz im Norden am Douro-Fluss gewesen; und anschließend wollen sie mit dem Mietwagen weiter in den Süden Portugal, erzählt Thomas. Das sei Dank der guten Straßen alles kein Problem: O-Ton Thomas: "Das Autobahnnetz ist ja fantastisch hier. Es gibt so gut wie keine Autos, keine Lastwagen, keine Schlaglöcher, keine Rumpelstellen, und die Ausschilderung ist auch wirklich gut. Vom Douro-Fluss hier runter haben wir nur drei Stunden gebraucht." Atmo Markt An einem der Stände auf dem kleinen Marktplatz sitzt Pedro Diogo, der Vorsitzende der jüdischen Gemeinde von Belmonte. Wie ist es für die Juden hier? Zuerst in absoluter Verborgenheit zu leben, und jetzt im Mittelpunkt eines boomenden Tourismus zu stehen? Pedro Diogo schiebt seine dicke Brille ein Stück den Nasenrücken hoch: O-Ton Diogo: "Das macht uns nichts aus. Wir haben uns daran gewöhnt. Seitdem wir unsere Religion öffentlich ausüben, ist es mit der Geheimniskrämerei vorbei. Wir freuen uns über das allgemeine Interesse. Unsere jüdische Gemeinde hat aber ein ganz anders Problem. Es leben kaum noch junge Leute hier. Die meisten wählen die Alija, die Rückkehr ins gelobte Land. Der Staat Israel bietet ihnen einfach ein besseres Leben: Finanzielle Unterstützung, Sprachkurse und vor allem Jobs." Atmo Markt Unterdessen ist eine große Reisegruppe auf dem Markt eingetroffen und bleibt vor einem Schmuckstand stehen. Unter ihnen ist auch Tami Chayu, eine pensionierte Krankenschwester, die in Israel geboren wurde und in ihrem deutsch-jüdischen Elternhaus zweisprachig aufwuchs. O-Ton Chayu: (deutsch) "Wir sind eine israelische Gruppe und machen eine Tour in Portugal, jeden Tag irgendwo anders, sieben Tage, und ein Tag von dem ist jüdische Geschichte hier." Atmo vom Markt zur Synagoge Tami würde noch gerne länger über ihren Vater erzählen, der aus Köln vor den Nationalsozialisten fliehen musste. Viel Zeit zum Reden bleibt ihr jedoch nicht. Sie muss zu ihrer Gruppe aufschließen, die schon auf dem Weg zur Synagoge ist. Atmo vor Synagoge Als sie ihre Mitreisenden vor dem zwanzig Jahre alten Gebäude einholt, erzählt die Reiseleiterin Jala Tabenkian gerade auf Hebräisch, dass der Bau der Synagoge von einem marokkanischen Millionär finanziert wurde. Für einen Besuch in dem Gotteshaus ist es schon zu spät. Denn die Gruppe, erklärt Jala, müsse jetzt rund 60 Kilometer weiter in die nächste Kleinstadt, wo sie zum Mittagessen mit einem jüdischen Architekten eingeladen sei. Jala ist mit ihren Reisegruppen immer wieder in Portugal. Einen zeitlich so eng gesteckten Reiseplan konnte sie nur entwerfen, weil die Verkehrswege jetzt so gut ausgebaut seien: O-Ton Jala: "Portugal hat sich in dieser Hinsicht sehr gewandelt seit der Weltausstellung 1998. Die Straßen sind viel besser jetzt. Früher bin ich immer wieder auf den Landstraßen hinter Pferdewagen hängengeblieben. Das Land hat große Anstrengungen gemacht und viel in den Tourismus investiert." Atmo Weg zum Bus Mit zügigen Schritten laufen Jala, Tami und der Rest der Gruppe durch Belmonte. Auf einem großen Parkplatz an der Westseite des Städtchens hat der Busfahrer bereits den Motor angeworfen. Komm doch mit in den Norden, sagt Jala mit einem Augenzwinkern, und es bleibt unklar, ob die Einladung nur höflich oder vielleicht sogar ernst gemeint ist. Die Tür des Reisebusses schließt sich, der Bus rollt den Hügel hinunter und biegt dann auf den Zubringer zur A23. In der Jugend besaß der Reisende eine Begabung, die er später verlor: Er konnte fliegen. Da ihn aber diese Gabe grundlegend vom Rest der Menschheit unterschied, bewahrte er sie sich für die geheimen Stunden des Schlafes auf. Mitten in der Nacht flog er aus dem Fenster hinaus, über die Häuser und Gärten, und da es sich um einen Zauberflug handelte, war es trotz nächtlicher Stunde taghell, womit der einzige mögliche Nachteil dieser Art zu reisen behoben war. Im Oktober 1979 beginnt der portugiesische Schriftsteller José Saramago eine neunmonatige Reise durch sein Heimatland. Der spätere Literaturnobelpreisträger reist von der spanischen Grenze im äußersten Nordosten bis in den Süden an die Algarve-Küste. "Reise nach deinem eigenen Plan," rät Saramago seinen Lesern im Vorwort zu seinem Werk "Die portugiesische Reise". Und daran hält er sich selbst: Er folgt keinen ausgetrampelten Pfaden und auch keiner A23, die es zu diesem Zeitpunkt in Portugal noch gar nicht gab. All die Jahre musste der Reisende warten, um seine verlorene Begabung wiederzuerlangen, vielleicht für nur eine Nacht, und dann auch nur dank einer späten Wiedergutmachung [des Gebirgsgottes] Endovélicos, der, da es ihm am Tage nicht gelungen war, die Wolken zu vertreiben, dies zur großen Freude des Reisenden im Traum tat. Als er aufwachte, konnte sich der Reisende daran erinnern, über die Serra da Estrela geflogen zu sein, aber da Träume ja bekanntermaßen flüchtig sind, zieht er es vor, nicht darüber zu sprechen, was er gesehen hat, um sich die Schmach zu ersparen, wenn ihm niemand glaubt. Atmo Pumpstation Sprecher Francisco Chasqueira schiebt ein Eisentor zur Seite, tritt in einen unverputzten vierzig Quadratmeter großen Schuppen und zeigt auf ein paar große, runde Maschinen aus Metall. Das sind die Pumpen, erklärt er, die nachts das Wasser aus dem Speicher ziehen und die Obstbäume mit Flüssigkeit und Nährstoffen versorgen. Hinter dem Schuppen liegt der Wasserspeicher, fast so groß wie ein Fußballfeld. Ein paar Vögel steigen auf, als Francisco sich dem Ufer nähert. O-Ton Francisco "Wir Obstbauern müssen hier selbst die Wasserspeicher und das Bewässerungssystem anlegen. Im Winter regnet es hier viel, die Speicher füllen sich mit Wasser, das wir im Sommer unbedingt brauchen. In Portugal gibt es keine vernünftige Wasserplanung. Das ist in Spanien ganz anders. Sie nutzen jeden Tropfen, und deshalb sind sie auch eine Großmacht in der Landwirtschaft. Portugal hat Potential, aber es passiert noch zu wenig, und daran ist nicht die Regierung Schuld, sondern das ist auch eine Mentalitätsfrage. Es gibt nicht viele, die richtig investieren und etwas riskieren. Wir Bauern müssten zudem viel geschlossener zusammenarbeiten, damit wir gemeinsame Bewässerungssysteme aufbauen." Atmo Traktor Sprecher: In der Nähe der Pumpstation stehen ein paar Lagerhallen. Ein Traktor bringt einen Anhänger mit großen gelbroten Pfirsichen vom Feld, die hier zwischengelagert werden. Ein Teil des Grundstücks ist schon seit mehreren Generationen in Familienhand. Doch seit Francisco vor über 30 Jahren den Betrieb übernommen hat, ist er um ein Vielfaches gewachsen. Landwirtschaft sei schon immer seine Leidenschaft gewesen, sagt der 55-jährige, der sich rund um die Uhr um seine Plantagen kümmert. Francisco hebt die dichten Augenbrauen an und zeigt stolz über den grünen Obstbaumwald, der sich von dem Ort Louriçal do Campo den Hügel hinunter bis zu einem flachen Stausee und der Autobahn zieht. O-Ton Francisco "Im ganzen Bezirk Castelo Branco bin ich praktisch der einzige große Obstbauer. Und hier in unmittelbarer Umgebung der größte Investor. Das ganze Land war früher nur Pinienhaine und Gestrüpp, und jetzt sieht das doch gut aus hier, oder? Ein produktiver und rentabler Betrieb, der direkte und indirekte Arbeitsplätze schafft, für den Kühlräume gebaut werden, der Transportunternehmen anheuert und Kisten und Verpackungen anliefern lässt." Sprecher: Mitten in der Wirtschaftskrise der vergangenen Jahre hat Francisco fast eineinhalb Millionen Euro investiert und seine Anbaufläche um das Doppelte auf über 70 Hektar vergrößert. Die neue Plantage, auf der Kirsch- und Pfirsichbäume stehen, liegt ein paar Kilometer südwestlich, auf der anderen Seite der Autobahn. Der Obstbauer ist sich sicher: Ohne die exzellente Verkehrsanbindung, wäre sein Betrieb niemals so schnell gewachsen. O-Ton Francisco: "Der Bau der A23 war enorm wichtig für uns. Früher haben wir vier bis fünf Stunden bis Lissabon gebraucht, d.h. wir mussten mitten in der Nacht los fahren, um noch am Vormittag auf den Markthallen der Hauptstadt mit unseren Früchten einzutreffen. Heute brauchen wir nur noch knapp zwei Stunden. Das hat sowohl große Vorteile für den internen Markt, als auch für das Exportgeschäft. Und das wäre früher wäre so nicht möglich gewesen." Atmo Pflücken Ein Dutzend Pflücker steht zwischen den zwei Meter großen Pfirsichbäumen und lassen ihre Hände durch die Äste laufen. Ein paar ukrainische Gastarbeiter, ein Student, ein paar ältere Frauen aus der Umgebung. Atmo Matos Die 54-jährige Ana Matos greift flink nach den saftigen Früchten. Sie habe hier schon gearbeitet, als sie noch ledig gewesen sei, erzählt sie. Zwischendurch war sie mal kurz in der Gastronomie tätig, aber das habe ihr nicht gefallen. Leider gäbe es in den umherliegenden Dörfern jedoch kaum noch junge Leute, die in der Landwirtschaft arbeiten wollen: O-Ton Matos: "Ab und zu taucht mal ein junger Typ auf, aber eigentlich haben die meisten keine Lust mehr auf die Landwirtschaft. Das ist ihnen zu harte Arbeit: Klar, die Hitze macht einem im Sommer zu schaffen, aber man gewöhnt sich dran." Atmo Kalibrieren: In eine großen Lagerhalle laufen die frisch gepflückten Pfirsiche über eine moderne Kalibriermaschine. Die Halle steht auf dem Grundstück der neuen Obstplantage, die innerhalb von vier Jahren südöstlich der Autobahn aus dem staubigen, scheinbar unfruchtbaren Boden gestampft worden ist. Jorge André steht am Förderband und legt große Pfirsiche in eine Kiste. Der kräftige 32-jährige mit der sonnenverbrannten Nase ist einer der wenigen jüngeren Festangestellten im Betrieb. Atmo Jorge Die Landwirtschaft habe hier in der Region das Leben geprägt. Heutzutage sei das anders: Aus seiner Generation, sagt er, sei er der einzige, der noch in einem landwirtschaftlichen Betrieb arbeite: O-Ton Jorge: "Meine Freunde wollen lieber in einer Fabrik jobben oder auf dem Bau. Die Landwirtschaft ist ihnen zu hart. Sie sagen, dass man beim Arbeiten unter der brennenden Sonne schnell die Lebenslust verliert. Damit mögen sie sogar Recht haben, das passiert mir auch manchmal. Aber da muss man halt durch." Atmo Beladung LkW Etwas später stehen die Kisten mit den frischen Früchten, fest in Plastik eingewickelt, auf mehreren Paletten. Jorge fährt mit dem Gabelstapler die Pfirsiche in einen Lastwagen. Der Fahrer hat vorher schon ein paar kleinere Betriebe abgeklappert. Kirschen, Pfirsiche, Pflaumen, Brom- und Johannisbeeren, zählt er auf. Das gehe jetzt alles nach Lissabon. Atmo Wegfahrt Der Laster kurvt über den großen Platz hinter der Lagerhalle und biegt dann kurz auf die Landstraße. Nach wenigen Metern kommt schon die Auffahrt auf die A23. Atmo Laden Unterdessen holt Francisco frisches Brot aus seinem Auto, das er jeden Tag aus einer Holzofenbäckerei in einem Nachbarort mitnimmt. Neben der Lagerhalle hat der Obstbauer einen kleinen Gourmetladen mit Café und schattiger Terrasse eingerichtet, wo er nicht nur sein frisches Obst, sondern auch Wein, Honig, Schinken und Käse verkauft. Die breiten Tische und das durchgestylte Innendesign erinnern eher an einen schicken Weinladen in Lissabon, doch das gehörte für Francisco mit zum Konzept: O-Ton Francisco: "Ich hatte schon immer die Idee, mal einen Laden aufzumachen mit Produkten aus der Region. Gerade für den Schafskäse und die Wurstspezialitäten ist die Gegend hier bekannt. Aber wenn ich was anpacke, mache ich halt keine halben Sachen und deshalb wollte ich nicht irgendeinen 0815-Laden machen, sondern etwas, was heraussticht." Sprecher: Francisco Chasqueira räumt noch ein paar Sachen im Laden auf. Er lächelt und schaut durch die verdunkelte Fensterscheibe hinaus auf die Caféterrasse und die dahinter liegende Landschaft. O-Ton Francisco: "Wir sind hier nur 200 Meter von der Autobahn entfernt. Dort sind die Obstbäume und dahinter die Berge. Das ist doch ein idealer Ort, um mal auszuspannen. Das einzige, was uns noch fehlt, ist der Blick aufs Meer." Der Reisende fährt über den Meimoa und weiter nach Penamacor durch scheinbar unbewohntes Land, mit weitem Horizont, wellenförmigen Hügeln und spärlicher Vegetation. Eine melancholische Landschaft, oder vielleicht einfach indifferent, weder wilde Natur, die sich dem Menschen widersetzt, noch wohlwollende, die sich ihm längst ergeben hat. In Penamacor speist der Reisende bei Diskomusik in rustikalem Ambiente. Weder die Musik noch das Rustikale passt zu den Gästen, aber niemand stört sich daran. Der dumpfe Beat der Diskomusik scheint die Ohren der Familie aus Benquerença, die dort zu Mittag isst, nicht zu beleidigen (die beiden älteren Frauen haben verblüffend schöne Gesichter), und der Reisende ist inzwischen Lokale gewohnt, in denen noch lautere Musik gehört wird. Das Essen selbst ist weder gut noch schlecht. Atmo Parkplatz Auf einem großen, staubigen Parkplatz, wenige Meter von der Autobahnausfahrt 25 entfernt, halten an einem späten Samstagvormittag die ersten Fahrzeuge. Adriano Barbosa drückt sich etwas schwerfällig aus dem Beifahrersitz und begrüßt seine Nichte und ihre Kinder. Atmo Begrüßung Der 78-jährige pensionierte Flugzeugmechaniker ist gerade aus Lissabon angekommen, wo er fast sein ganzes Leben verbracht hat. Er blickt ironisch über die Ränder seiner großen Brille: O-Ton Adriano: "Wir feiern heute hier unser Fest mit rund 40 Verwandten. Und ich bin der Älteste an Bord. Es sind zwar noch zwei Frauen da, die älter sind als ich, aber gemäß den uralten Traditionen unseres Kulturkreises, zählen die nicht - weder in der Kirche noch anderswo. Also bin ich der Patriarch, auch wenn das außer mir keiner weiß und niemanden mehr interessiert. Heute halte ich mich zurück, delegiere und lasse die anderen das Fest schmeißen." Sprecher: Im Restaurant sitzt an einer langen Tafel bereits Adrianos Familie, unterhält sich lautstark und wartet auf die Vorspeise. Durch die großen Fensterscheiben fällt der Blick direkt auf die Autobahn, dahinter ein hoher Mittelgebirgszug. Atmo Gespräch Der Gastwirt Rui Leão hat mit seinem Vater vor über zwanzig Jahren den Gastronomiebetrieb eröffnet. Seine Stammkunden seien eigentlich die Brummifahrer, erzählt er, denn entlang der ganzen A23 gäbe es kein Restaurant, das so nah an einer Ausfahrt liegen würde. O-Ton Rui: "Wir haben hier aber auch viele Familientreffen, meistens sind das Leute aus der Umgebung. Aber es kommt auch häufig vor, dass sich hier Familien treffen, die gar nichts mit unserem Ort Lardosa zu tun haben, sondern über ganz Portugal verteilt leben und dann ein Restaurant suchen, das zentral liegt und einen guten Autobahnanschluss hat." Atmo Restaurant Adriano unterhält sich mit ein paar Cousins, kaut Schafskäse und Couriço-Wurst, nippt am Rotwein und klopft sich die Brotkrümel vom rosa Polohemd. Sonst komme er nur zur Grabpflege und zu Beerdigungen nach Lardosa, sagt er, da komme ihm ein fröhliches Fest sehr gelegen. Er nickt zu seinem Sohn hinüber, der am Tischende sitzt und seine erwachsenen Kinder diesmal nicht mitgenommen hat. O-Ton Adriano: "Schade, dass die Jugend nicht mitgefahren ist. Meine Enkeltöchter kommen nur, wenn sie müssen, da habe ich keinen Einfluss. Meine Kinder kann ich ja noch zwingen, dass sie zum Familientreffen fahren. Schließlich wiege ich 80 Kilo und bin 1 Meter 80 groß, und außerdem habe ich ihnen gesagt, wenn sie nicht mitkommen, dann enterbe ich sie." Atmo Restaurant Nach dem Hauptgericht blättern ein paar Mädchen interessiert im Stammbaum der Familie. Bis ins 16. Jahrhundert lassen sich die Vorfahren nachweisen, die in der Region Beira Baixa gelebt haben. Atmo vor Restaurant Luís Barata, der das Fest mit organisiert hat, gönnt sich eine kleine Verschnaufpause vor der Tür. Der kräftige, große Mann mit einer markanten Nase im Gesicht ist einer der wenigen, der nicht weggezogen ist. Atmo Gespräch Das Treffen habe Jahrzehnte lang in Lissabon stattgefunden, erzählt er, aber jetzt sei man ja über die Autobahn in zwei Stunden in Lardosa. Da lasse er nicht mehr die Ausrede gelten, dass es einfach zu lange dauern würde, hier in die Heimat zu kommen. Luís hat es nicht leicht gehabt. Auf eine Karriere musste er verzichten, er hat sich mit einigen Jobs durchgeschlagen, als Wächter in einem Heim für vorbestrafte Jugendliche oder als Angestellter in der Sozialversicherungsstelle in der Provinzhauptstadt Castelo Branco. O-Ton Luís: "Die Region hier bietet nur Wenigen eine Perspektive. Und viele glauben, dass sie ihren Lebensstandard nur verbessern können, wenn sie von hier weggehen. Aber das hängt von der Einstellung ab. Ich bin hier geboren, war hier immer glücklich und wollte das auch meinen Töchtern bieten. Manche, die weggezogen sind, sagen heute noch: Ach, wie war ich glücklich auf dem Land! Und welches Leben geben sie dann ihren Kindern? Eine Wohnung im 12. Stock, ohne Garten, und die Nachbarn kennt man nicht. Das ist schon ein bisschen scheinheilig." Atmo Rede im Restaurant Nach dem Nachtisch und Café hält Luís noch eine kurze Rede und bedankt sich, dass so viele aus Lissabon den Weg nach Lardosa gefunden hätten. Zum Schluss lädt er seine Verwandten noch ein, auf das Dorffest mitzukommen, das gerade auf dem Hauptplatz veranstaltet wird. Atmo Trommeln Ein großes Zelt ist über den Platz gespant, eine Trommelgruppe sorgt für Musik. Einmal im Jahr feiert Lardosa ein Fest, das einer bestimmten Bohnensorte gewidmet ist, die auf den Feldern in der Umgebung wächst. Stolz führt Luís ein Dutzend Verwandter, die noch geblieben sind, durch die Essens- und Verkaufsstände. Die Bohnen gäbe es schon seit Jahrhunderten, erklärt der 51-jährige, doch die Feierlichkeiten fänden erst seit Kurzem statt: O-Ton Luís: "Bis vor ein paar Jahren war immer das Dorffest im August das wichtigste Ereignis. Da kamen die Leute aus Lissabon oder aus dem Ausland extra nach Lardosa gefahren, und alle, die hier lebten oder die mal hier gelebt haben, trafen sich auf dem Fest. Jetzt hat das Ganze an Bedeutung verloren, denn die meisten älteren Emigranten sind zurückgekehrt und leben wieder hier, und die jungen Leute in Lissabon interessieren sich dafür nicht mehr. Deshalb ist nun dieses Bohnen-Fest zum wichtigsten kulturellen Ereignis unseres Dorfes geworden." Atmo Grundstück Adriano Barbosa ist nicht mit seinen Verwandten auf das Fest gegangen. Er hat seiner Tochter Susana ein altes Grundstück gezeigt, das seit Jahrhunderten im Familienbesitz ist. Atmo Gespräch Ein Ferienhaus wolle sie hier nicht bauen, sagt Susana, aber vielleicht Pfirsiche anpflanzen. Natürlich ökologisch, für den eigenen Verzehr. Ihr Vater schaut ein wenig melancholisch über die Ebene, die sich hier und da zu sanften Hügeln anhebt. O-Ton Adriano: "Ich bin immer in den Ferien zu meinen Großeltern nach Lardosa gekommen. Und für mich war das hier immer meine Heimat. Das lag auch daran, dass wir in Lissabon in beengten Verhältnissen gelebt haben, in einer Wohnung, die meine Eltern auch noch mit meiner Tante und meinem Onkel teilten. Wenn ich nach Lardosa kam, fühlte ich mich immer wie der König. Meine Cousins riefen: Da kommt der Junge aus Lissabon! Und alle mochten mich. Ich liebte die Freiheit hier, niemand bestimmte über mich, es gab keine Autos und ich verbrachte die ganze Zeit draußen auf den Straßen und in der Natur. Und diese Verbindung ist mir immer erhalten geblieben." Atmo Aufbruch Adriano geht zum Auto. Er muss heute noch zurück nach Lissabon. Bevor er in den Wagen steigt, hält er doch nochmal kurz inne. Seine Eltern lägen hier auf dem Friedhof begraben, sagte er. Aber da wolle er nicht enden. Er habe vor, einfach in den Äther aufzusteigen. "Meine Schwester starb mit sieben Jahren. Ich war neun. Sie war schwer krank, und es wurde immer schlimmer. Von Cidadelhe nach Pinhel sind es fünfundzwanzig Kilometer, und damals war das ein Trampelpfad, alles voller Steine. Der Arzt kam da gar nicht erst hin. Also hat sich meine Mutter einen Esel geliehen und ist mit uns über die Berge." "Und, haben Sie es geschafft?" "Wir sind nicht einmal bis zur Hälfte gekommen, da ist meine kleine Schwester gestorben. Wir sind umgekehrt, sie auf dem Esel, auf dem Schoß meiner Mutter. Und ich weinend hinterher." (...) Der Reisende sagt: "Das arme Mädchen. Zu sterben, weil keine ärztliche Hilfe in der Nähe war." "Meine Schwester starb, weil es weder einen Arzt noch eine Straße gab." Atmo Auto Paulo Lourenço zieht die Tür seines Kleintransporters zu und dreht den Zündschlüssel um. Zusammen mit einer Kollegin fährt der stämmige Krankenpfleger zuerst durch die Kleinstadt Proença-a-Nova und dann durch eine hügelige Landschaft mit dichten Kiefernwäldern. Die Gegend, rund zwanzig Kilometer nordwestlich von der Autobahn gelegen, ist die Region mit dem höchsten Anteil von Senioren in ganz Europa. Paulo ist auf dem Weg zu seinen älteren Patienten, die in den abgeschiedenen Dörfern auf seine Hilfe angewiesen sind: O-Ton Paulo: "Nach dem Bau der A23 und einer Schnellstraße haben die Regierenden entschieden, die medizinische Versorgung in ein Krankenhaus in Castelo Branco zu verlegen - und das ist 50 Kilometer von hier entfernt." Atmo Ankunft José Am Ende eines kleinen Dorfs, dort wo der Wald beginnt, liegt das Haus von José Moreira. Der 94-jährige ist alleinstehend. Auf wackeligen Beinen begrüßt er die Krankenpfleger an der Tür zu seiner schlichten Wohnküche: Ein altes durchgesessenes Sofa, ein paar nicht zueinander passende Stühle, eine Uhr an der kahlen Wand. Paulo misst den Puls und schaut sich die dunklen Flecken an, die José im Gesicht hat. Zur Behandlung muss er zu einem Spezialisten ins Krankenhaus nach Castelo Branco. Atmo Gespräch Als junger Mann, erzählt José, war er dort im Militärdienst gewesen, und einmal lief er mit seinen Kameraden im strömenden Regen die 50 Kilometer bis nach Hause. Wenn er heute ins Krankenhaus muss, dann kommt die Feuerwehr und nimmt ihn mit. O-Ton José: "Ich bin hier Mitglied in einem Verein und zahle monatlich einen Beitrag von 15 Euro. Dadurch sollte ich die Fahrten mit der Feuerwehr eigentlich nicht bezahlen müssen. Seit Neustem verlangen sie aber trotzdem noch Fahrtgeld, ich weiß auch nicht warum. Das wird dann ziemlich knapp, denn meine Rente beträgt nur 300 Euro. Und wenn ich nicht das Essen gebracht bekommen würde, dann müsste ich wahrscheinlich verhungern." Atmo Abschied Auto Die Krankenpfleger verabschieden sich. Leicht fällt es ihnen nicht, den alten Mann in seinem einsamen Haus zurückzulassen. Doch der nächste Patient wartet bereits. Atmo Begrüßung Elena Alves sitzt in einem Ohrensessel auf der überdachten Veranda vor ihrem Haus. Ihre Beine sind geschwollen, richtig laufen kann sie nicht mehr, aber sie hat zumindest genügend Geld, um sich eine Hausangestellte zu leisten. Ihre Söhne leben in Lissabon, in der Schweiz und in Kanada, einer ist noch hier geblieben und schaut regelmäßig nach seiner Mutter. Elena ist ganz in schwarz gekleidet. Ihr Mann starb vor zweieinhalb Jahren im Krankenhaus in Castelo Branco - ohne sie, ganz alleine: O-Ton Elena: "Er saß immer auf dem Stuhl hier, und eines Tages, hing er so komisch da. Er war ja auch schon alt, etwas über achtzig. Ich sagte ihm: Pass auf, du fällst gleich hin, dann habe ich das Mädchen gerufen und ihr gesagt: Guck mal, der Onkel Zé sitzt da so schief rum. Und dann sind wir ins Krankenhaus, er wollte natürlich nicht, aber wir sind trotzdem hin. Ich war dann die ersten drei Nächte noch bei ihm. Doch an einem Abend habe ich es nicht mehr geschafft, es ging einfach nicht, und in dieser Nacht ist er dann gestorben. Es war einfach Zeit für ihn." Atmo Enkel Elena hat mittlerweile Besuch bekommen: Ihr Enkel leistet ihr ein wenig Gesellschaft. Atmo Auto Für Paulo geht die Vormittagsschicht zu Ende. Er fährt zurück in die Kleinstadt. Bei seinem Job, sagt er, gehe es nicht immer nur um das körperliche Wohlbefinden, sondern auch um eine Art Seelsorge. Doch sobald seine Patienten ins Krankenhaus in Castelo Branco eingeliefert werden, bricht diese zwischenmenschliche Verbindung erst einmal weg: O-Ton Paulo: "Viele Leute von hier sind im Krankenhaus auf sich alleine gestellt. Sie kennen niemanden und sind vielleicht zum ersten Mal dort. Sie spüren die Einsamkeit. Und es gibt dort nur die medizinische Versorgung, aber keine echte soziale Betreuung. Und den Verwandten fällt es manchmal sehr schwer, die lange Strecke nach Castelo Branco zu fahren, um ihre Liebsten zu besuchen. Das ist tatsächlich ein großes Problem." Atmo Altenheim Paulo arbeitet bei Santa Casa da Misericórdia - eine Jahrhunderte alte katholische Einrichtung, die in Portugal in der Gesundheitsversorgung eine wichtige Rolle spielt. In Proença-a-Nova betreibt die Non-Profit-Organisation ein Altenheim, das im Gebäude des ehemaligen städtischen Krankhauses untergebracht ist. Atmo Gespräch José Bairrada, ein in sich ruhender Mann mit welligen grauen Haaren, leitet seit seiner Pensionierung vor acht Jahren die Institution. Konflikte schüren ist nicht seine Art, aber wenn Bairrada über eines seiner Projekte spricht, findet er klare Worte: O-Ton Bairrada: "Wir leben in einer eigenartigen Zeit. Wir haben so viel Geld aus Europa bekommen, und haben vieles davon in großem Maßstab ausgegeben, Straßen gebaut und uns damit verschuldet. Jetzt drückt uns die Schuldenlast und Europa zieht die Daumenschrauben an. Und hier im Landesinneren herrscht Stillstand. Und trotzdem geben wir nicht auf. Wir haben dieses Projekt, eine Reha-Klinik hier zu bauen. Das Vorhaben wurde bereits vor sechs Jahren vom Staat gebilligt, aber es wird nur finanziert, wenn es insgesamt mehr Gelder für unsere Region gibt. Jetzt warten wir darauf, dass wir irgendwann auch unseren Teil abbekommen." Atmo Auto Am Nachmittag übernimmt Idalina Cardoso die Fahrten in die abgeschieden Dörfer rund um Proença-a-Nova. Seit zwei Jahrzehnten liefert sie für Santa Casa Essen aus. Viele Patienten seien längst Freunde geworden, erzählt die Frau mit den wuscheligen grauschwarzen Haaren. Atmo Besuch Alice Dias Nicht weit von der Landstraße hält Idalina den Wagen an einem Hang vor einem schlichten Einfamilienhaus. Alice Dias begrüßt sie herzlich an der Tür, und schleppt ihren gekrümmten Körper dann zum Küchentisch. Ihr Mann sei gerade in Coimbra, erzählt sie, zur Dialyse. Seit 28 Jahren unterzieht er sich regelmäßig der Blutreinigung, dreimal die Woche fährt er mit der Feuerwehr in das 100 Kilometer entfernte Krankenhaus in Coimbra: O-Ton Alice: "Hier in der Region wäre eigentlich Castelo Branco zuständig, aber die haben keine Kapazität für alle Dialysepatienten. Es gibt hier wirklich viele Fälle. Deshalb werden die Patienten auf die anderen Krankenhäuser verteilt, die zwischen 70 und 110 Kilometer entfernt liegen." Atmo Gespräch Morgens verlässt Alices Mann das Haus, gegen sechs Uhr abends ist er wieder da. Alice bleibt alleine im Haus zurück. Sie erzählt: Manchmal würden zwei Wochen vergehen, in denen sie keinem Nachbar begegnet. Und die einzigen, die vorbei kommen würden, seien die Feuerwehrleute und der mobile Essensdienst. Alice würde gerne noch weiter mit Idalina reden, aber die Zeit drängt. Atmo Siedlung Das Auto hält in einer kleinen Siedlung auf einem Hügel. Die Kiefernwälder ziehen sich von hier bis zu den hohen Bergen am Horizont. Idalina ruft den Namen ihres Patienten. Das kleine, schmale Haus von Senhor Zé ist zweigeteilt. Links das Schlafzimmer, rechts die helle, rudimentär eingerichtete Wohnküche, wo der 78-jährige seine Zeit verbringt. Zé hat hier bis vor eineinhalb Monaten mit seiner Frau zusammengelebt, die nun in einem Reha- Zentrum in Figueira da Foz liegt, rund 130 Kilometer von ihrem Mann entfernt. O-Ton Zé: "Sie ist hier in der Küche gestürzt und hat sich an der Wirbelsäule verletzt. Sie war dann acht Tage im Krankenhaus in Castelo Branco. Und jetzt muss sie sich auskurieren, aber es gab keinen Platz in einem Reha-Zentrum hier in der Nähe. Einmal war ich sie besuchen, da kam mein Sohn aus Lissabon und wir sind zusammen hin gefahren. Ab und zu telefonieren wir. Jetzt muss sie sich auskurieren. Hier geht das nicht, sie muss ja gebadet werden und so, und das schaffe ich nicht mehr." Atmo Wohnküche Und wann soll seine Frau zurückkommen? Zé zuckt mit den Schultern. Ein Wecker tickt. Der Fernseher läuft stumm im Hintergrund. Wir müssen das Schicksal akzeptieren, sagt er. Aber es sei trotzdem nicht so, wie er es sich vorgestellt hätte. Denn dann wäre sein Frau längst bei ihm in der Nähe. Man könnte sagen, die Kapelle von São Miguel hat alles, was sie braucht. Man hat sie als ein Haus Gottes errichtet, und das war sie auch, solange man sie als solches behandelte, aber ihr wahres Schicksal ist dieses, vier Wände, errichtet für Regen und Sonne, für Moos und Flechten, Einsamkeit und Stille. An der Nordseite befinden sich zwei leere Nischen und auf dem Boden Sarkophage ohne Abdeckung, in denen das Wasser steht. Richtung Osten liegt der Berghang und, so weit das Auge reicht, das Tal des Rio Pônsul und die Berge von Monfortinho. Der Reisende ist glücklich. Noch nie im Leben hatte er es weniger eilig. Er setzt sich auf den Rand eines Sarkophags und streicht mit der Hand über das Wasser, das kalt und frisch ist, und für einen Moment glaubt er, alle Geheimnisse der Welt verstehen zu können. Eine Illusion, die ihn hin und wieder überkommt, das darf man ihm nicht übelnehmen. Atmo Autobahn Die 217 Kilometer von Pinhel bis Zibreira vergehen wie im Flug. Die A23 ist leer gefegt, hier und da ein Laster, ab und zu ein PKW. Bergmassive ziehen vorbei, scheinbar unberührte Wälder, Burgen, uralte Dörfer, Windräder. Doch ein Geräusch der Moderne begleitet den Autofahrer: Atmo Piepsen Insgesamt sechzehn elektronische Mautbrücken spannen sich über die Autobahn, daneben eine blaue Preistafel, und wer im Auto ein Lesegerät hat, hört ein kurzes Warnsignal, so als wolle der Staat den Bürger darauf hinweisen: Achtung, jetzt wird es teuer. Mitten in der schweren Finanzkrise hat der Staat im Dezember 2011 Mautgebühren eingeführt, und seitdem suchen die Portugiesen nach Nebenrouten, die nichts kosten. Atmo Gespräch José José Rocha kennt den kürzesten, mautfreien Weg nach Lissabon. In einer Haltebucht entlang der Nationalstraße 18 kurz vor Castelo Branco hat er eine Karte auf der Motorhaube ausgebreitet, blickt durch seine Nickelbrille und fährt mit dem Finger die Nationalstraßen entlang. Die A23 ganz zu meiden, sei manchmal gar nicht möglich, sagt der Gewerkschaftsfunktionär: O-Ton José "Die Autobahn wurde nach einem ganz bestimmten Modell gebaut: Sie sollte solange gebührenfrei sein, bis die wirtschaftsschwachen Regionen entlang der Autobahn 80 Prozent des durchschnittlichen Entwicklungsstandes in Portugal erreicht hätten. Da die Strecke auf lange Zeit kostenlos bleiben sollte, wurde sie über National- und Schnellstraßen gelegt, die vorher hier existierten. Und das heißt, es gibt Autobahnabschnitte, zu denen keine Alternative mehr existiert." Atmo Haltebucht Die Mautgebühren wurden auf der A23 eingeführt, obwohl die Unterschiede zwischen den Küstenregionen und dem Landesinneren nie wirklich beseitigt wurden. Das hat auch den Protest von José Rocha und vielen anderen Bewohner entlang der A23 bewirkt - mit Demonstrationen und langsamen Blockadefahrten auf der Autobahn. Eine Firma entwarf sogar eine App fürs Smartphone, die die Benutzer über die kostenlosen Strecken durch Portugal lotste. Die App gibt es nicht mehr, und so nützt nur die alte Landkarte, um den mautfreien Weg nach Lissabon zu finden. Atmo Autofahrt Ein Stück Autobahn vor dem kleinen Dorf Gardete ist noch gebührenfrei, dann beginnt die Tour über die Nebenstraßen. Zunächst über eine Staustufe des Tejo-Flusses, dann durch eine mondartige Landschaft bis auf ein Hochplateau, das mit dichten Eukalyptuswäldern bewachsen ist. In einem Tal wird die Straße enger, die Kurven häufiger, die Ortsnamen kurioser: "Tom" heißt ein winziges Dorf am Wegesrand, "Rosmarinfeld" ein anderes. Auf Dutzenden hölzerner Strommasten haben Störche ihre Nester gebaut. Schließlich taucht ein Ortsschild auf: Ponte de Sor - eine Kleinstadt in der nördlichen Alentejo-Region, in der fünf Nationalstraßen aus allen Himmelsrichtungen zusammenlaufen. Atmo Ortsmitte Die Ortsmitte, die entlang einer breiten Avenida liegt, wirkt wie ausgestorben: Ein leeres Café, ein Schreibwarenladen, ein Chinashop. Am Busbahnhof warten zwei ältere Damen. Im großen Park sitzen ein paar Bauarbeiter im Schatten. Atmo Gespräch Das sei nicht immer so gewesen, erzählt Sandra Lopes, die in einer Nebenstraße eine Immobilienagentur betreibt und Mitte der 80er Jahre als 15-jährige in einem Café auf der Hauptstraße ausgeholfen hatte: O-Ton Sandra: "Häufig hielten drei große Reisebusse direkt vor der Tür und alle kamen gleichzeitig ins Café. Sie bestellten belegte Brote, Milchkaffee, Fruchtsäfte. Einmal waren so viele Reisende da, dass uns das Brot ausging, und weil wir keine Zeit hatten, unsere Vorräte rechtzeitig aufzutauen, servierten wir einfach das gefrorene Brot. Die Busse hielten normalerweise eine Viertelstunde lang, und da brach hier das absolute Chaos aus. Die meisten waren auf dem Weg in den Norden, in die Berge, und hier machten sie einen Zwischenstopp. Nachdem dann die A23 gebaut wurde, kamen keine Busse mehr vorbei, und viele Cafés mussten schließen." Atmo Gespräch Der Niedergang von Ponte de Sor zog sich über ein Jahrzehnt hin - bis die Autobahngebühren kamen. O-Ton Sandra "Die Leute hier haben das nicht groß gefeiert, als die Maut eingeführt wurde. Aber sie hatten eine vage Hoffnung, dass die Autofahrer vielleicht zurück nach Ponte de Sor kommen würden, weil sie die Gebühren nicht bezahlen wollen. Und das hat sich zu einem gewissen Grad bewahrheitet. Für uns ist das gut. Denn auch wir brauchen den Tourismus hier." Atmo Weinkeller Rund 30 Kilometer südwestlich von Ponte de Sor liegt ein fünfzehn Hektar großes Weingut an einer engen Landstraße, die den Weg nach Lissabon um rund 20 Kilometer verkürzt. Vor ein paar Jahren war das Gut fast unauffindbar zwischen den Weinreben versteckt, mittlerweile ist es perfekt ausgeschildert. João Ataíde führt durch seinen Weinkeller und einen kleinen angeschlossenen Laden, in dem der junge Winzer seinen qualitativ hochwertigen Rot- und Weißwein verkauft. Der Betrieb hatte sich seit seiner Gründung vor knapp einem Jahrzehnt zunächst fast ausschließlich auf den Export konzentriert, doch João hat sein Geschäftskonzept erweitert: O-Ton João: "Die Landstraße hier hat jetzt viel mehr Verkehr. Und das heißt, wenn mehr Leute hier an unserem Weinkeller vorbeifahren, halten auch mehr an. Es kommen immer mehr Besucher, und wir haben schon ein paar neue Projekte in der Schublade. Wir sind jetzt schon Teil der Weinroute des Alentejo." Atmo Auto Zurück auf der Nationalstraße geht es durch eine breite fruchtbare Ebene, in der Reis angebaut wird. Das Zentrum der kleinen Dörfer ist die befahrene Hauptstraße, die an mancher Stelle noch mit Pflastersteinen ausgelegt ist. Atmo Dorf In Azervadinha rollt der Verkehr lautstark über das Pflaster. Luís Bispo betreibt seit dreißig Jahren ein Café direkt an der Nationalstraße. Im Gastraum geht es ruhig daher, ein paar Dorfbewohner stehen an der Theke, ein Verkäufer liefert Klopapier und Papierhandtücher für die Toiletten an. Die goldenen Zeiten seien die 90er Jahre gewesen, sagt Luís Bispo. Damals reisten die Leute mit viel Geld in den Taschen und es gab noch keine Autobahn. O-Ton Luís "Jetzt fährt ein Teil der Autofahrer über die A23, denn das geht ja viel schneller. Aber es ist auch sehr viel teurer. Und deshalb überlegen sich das die Leute zweimal. Wer es eilig hat, der fährt über die Autobahn, und wer es langsam angehen lässt, kommt hier vorbei und spart sogar noch ziemlich viel Geld. Davon kann er Benzin kaufen, entlang der Strecke irgendwo gemütlich frühstücken gehen, und er hat trotzdem noch was in der Tasche." Atmo Auto Der letzte Streckenabschnitt führt durch Korkeichenwälder und an einer großen Militärbasis vorbei. Die Nationalstraße geht nahtlos in eine Autobahn über, dann kommt die 12 Kilometer lange Brücke über den Tejo-Fluss. Auf der anderen Seite liegt Lissabon. Auszug Saramago: Der Reisende geht am Tejo entlang, [...] und nach zufriedenen Blicken auf die heute nach dem 25. April benannte Brücke [...] steigt er die Treppen am Felsen des Conde Óbidos zum Museu de Arte Antiga hinauf. Bevor er hineingeht, genießt er den Anblick der vertäuten Boote, des geordneten Durcheinanders von Schiffsrümpfen und Masten, Schornsteinen und Kränen, Winden und Wimpeln und nimmt sich vor, wenn es dunkel ist, noch einmal zurückzukommen, um die Lichter zu genießen und zu erraten, was die metallenen Geräusche bedeuten, die mit hartem Widerhall über das dunkle Wasser schallen. Atmo Auto Der Wagen fährt auf die sechsspurige Schrägseilbrücke zu, die seit der Expo von 1998 die portugiesische Hauptstadt mit dem Osten verbindet. Plötzlich kommt eine Mautstation mit einer großen Preistafel. Nach Lissabon? Zwei Euro siebzig. Nein, schießt es mir durch den Kopf, Autobahngebühren zahle ich heute nicht. Lissabon muss warten. Absage: Sie hörten: Gesichter Europas: Letzte Ausfahrt Lissabon - Auf der Autobahn A 23 durch das ländliche Portugal. Eine Sendung von Tilo Wagner. Ton und Technik: Musikauswahl und Regie: Babette Michel Redaktion: Marcus Heumann Die literarischen Texte dieser Sendung, gesprochen von Bernt Hahn, entstammen dem bei Hoffmann und Campe erschienenen Band "Die portugiesische Reise" von José Saramago.