Fluchtpunkt Amsterdam Eine Lange Nacht über deutschsprachige Exilliteratur Autorin: Kerstin Kilanowski Regie: die Autorin Redaktion: Dr. Monika Künzel SprecherInnen Christiane Nothofer (Autorin) Andreas Maier (Sprecher 2) Omar El Saeidi (Sprecher 1) Volker Risch (Sprecher 5) Daniel Berger (Sprecher 3) Bernd Reheuser (Sprecher 4) Marietta Bürger (Sprecherin 2) Camilla Renschke (Sprecherin 1) Sendetermine: 8. August 2020 Deutschlandfunk Kultur 8./9. August 2020 Deutschlandfunk __________________________________________________________________________ Urheberrechtlicher Hinweis: Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Jede Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in den §§ 45 bis 63 Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. © Deutschlandradio - unkorrigiertes Exemplar - insofern zutreffend. 1. Stunde Musik 1: Michael Riessler „En“, aus: ‚Honig und Asche“, Enja Records, Autorin: Mein Bücherregal weist unerklärliche Lücken auf. Wertvolle Raritäten oder von Autoren signierte Werke habe ich nie besessen. Nur normale Ausgaben und Taschenbücher, ein paar Exemplare aus aufgelösten Bibliotheksbeständen. Nichts, das bibliophile Diebe zu Geld machen könnten. Und trotzdem: Lücken überall. Hier fehlt Joseph Roths „Hiob“, Alfred Döblins „Alexanderplatz“ ist auch nicht mehr da. Zwischen den Buchstaben K und M gähnt mir besondere Leere entgegen: Irmgard Keuns „Kunstseidenes Mädchen“, Erich Kästner und sein „Fabian“, Erich Maria Remarques „Im Westen nichts Neues“, Egon Erwin Kisch, Klaus Mann, Heinrich Mann… alles weg. Kein Werk dieser Autoren ist mehr auffindbar. So wäre es gewesen, hätte ich 1933 gelebt. Sprecher 1 : (aus: Joseph Roth, Leben und Werk in Bildern, S. 202) „Arbeiter-Zeitung – Zentralorgan der Sozialdemokratie Deutschösterreichs“ Wien, Freitag 12. Mai 1933 „Die deutsche Literatur auf dem Scheiterhaufen!“ Mehr als 20.000 deutsche Bücher sind gestern in Berlin auf dem Opernplatz VERBRANNT worden. Möbeltransportwagen und Lastautos führten die Bücher vom Studentenhaus in der Oranienburgstraße über die Linden zum Scheiterhaufen, der auf dem Opernplatz errichtet worden war. Ein FACKELZUG von SA und Studenten in Wichs begleitete die todgeweihten Bücher, mehrere tausend Studenten und Jugendliche folgten. Vor dem Scheiterhaufen hielt der Studentenführer Gutjahr eine Ansprache, dann wanderten die Bücherpakete durch eine Kette von Händen zum Scheiterhaufen. Jedes Mal, wenn ein Paket in die Flammen flog, wurde der Name des Verfassers ausgerufen und ein Spruch gesagt. Zum Schluss hielt Reichsminister Göbbels eine Rede, in der er sagte: „Das Zeitalter des überspitzten jüdischen Intellektualismus hat sein Ende gefunden. Die Zeit ist vorbei, da sich die Bibliotheken anfüllen mit dem Unrat und dem Schmutz der jüdischen Asphaltliteratur, dass sich die Wissenschaft hinter Paragraphen verschanzt“ (…) Verbrannt wurden Werke von Remarque, Heinrich Mann, Kästner, Gläser, Freud, Friedrich Wilhelm Förster, Tucholsky, Ossietzky, Emil Ludwig, Theodor Wolff und anderen. Autorin: Hätte ich mich getraut, die verfemten Bücher, die Asphaltliteratur, den „literarischen Unrat gegen den deutschen Geist“ auf dem Speicher zu verstecken? Wenn dann die Gestapo in den grauen Morgenstunden vor der Tür steht, um die Wohnung auseinander zu nehmen? Und Männer in gegürteten Uniformen finden, was zu Asche werden muss? Sprecher 1: Frankfurt am Main, 11. Mai Um 8 Uhr abends versammelte sich die Studentenschaft der Frankfurter Universität und zog in Begleitung von SA und SS, unter Vorantritt einer Musikkapelle zum Römerberg. Dem Zuge folgten die Bücher auf einem von zwei Zugochsen gezogenen Mistwagen. Auf dem Römerberg war bereits ein großer Scheiterhaufen errichtet und Petroleumkannen bereit gestellt worden. Etwa 15.000 Zuschauer hatten sich eingefunden, um dem Autodafé beizuwohnen. Autorin: Die literarischen und soziologischen Werke von 130 Autoren standen auf jener berüchtigten „Schwarzen Liste“, die der Bibliothekar Wolfgang Herrmann in vorauseilendem Gehorsam zusammengestellt hatte. Viele Werke, die heute zum Kanon der deutschsprachigen Literatur des 20. Jahrhunderts gehören, wären gar nicht erst geschrieben worden. „Die Geschwister Oppermann“ von Lion Feuchtwanger. Der „Tarabas“ von Joseph Roth. Heinrich Manns „Die Jugend des Königs Henri Quatre“. Klaus Manns „Mephisto“. Vicki Baums „Liebe und Tod auf Bali“. Nur Dank der Entschlusskraft und politischen Überzeugung eines niederländischen Verlegers konnten 124 Bücher, die heute größtenteils zur Weltliteratur gehören, erscheinen. Emanuel Querido, Inhaber des gleichnamigen Amsterdamer Verlags ist zum Synonym für die deutsche Exilliteratur geworden. Schon im Frühjahr 1933, noch vor den öffentlichen Bücherverbrennungen in deutschen Universitätsstädten, war sich Emanuel Querido sicher, dass es in Deutschland mit der Literatur zu Ende ist. Dass die Autoren vor dem Nichts stehen und das Land besser heute als morgen verlassen sollten. Der damals 62- jährige Nachfahre eines Diamantschleifers beschließt, in seinem etablierten Verlag eine Abteilung für Exilliteratur zu gründen. Dazu braucht er allerdings einen geeigneten Geschäftspartner mit passenden Kontakten zu deutschen Schriftstellern. Fritz Landshoff, Teilhaber des links-liberalen Berliner Kiepenheuer Verlags, scheint dafür bestens geeignet. Sein Sohn Andreas Landshoff, ebenfalls in Amsterdam lebend, erinnert sich an eine typische Episode, die ihm sein Vater erzählte. O-Ton Andreas Landshoff: Aber mein Vater… im Januar 33 saß er im Café im Kranzler am Kurfürstendamm mit einem seiner besten und erfolgreichsten Autoren, Georg Kaiser, der inzwischen beinahe vergessen ist. Er war übrigens in den 20er Jahren der erfolgreichste Theaterautor in Deutschland, noch erfolgreicher als Brecht, bisschen wie Gerhard Hauptmann. Der war der König der Bühnenautoren. Aber Georg Kaiser… da saßen die zwei beim Lunch, da kam die BZ-Mittagsausgabe, da kam ein Knabe und sagte: Hitler Reichskanzler! Daraufhin hat mein Vater die Zeitung genommen, Georg Kaiser hat sie aufgeschlagen, hat auf den Titel geguckt und gesagt: „Ein Kegelverein ändert seinen Vorstand.“ und hat die Zeitung zur Seite gelegt. Es gab Leute, die haben es einfach nicht ernst genommen. (…) Es gibt das Unwahrscheinliche, das so unwahrscheinlich ist, dass man sagt, ach Gott, das geht auch wieder vorbei. (55:04)// (50:54) Dann kam natürlich hinzu, dass man dachte, es ist eigentlich nur Übergangsfrage, selbst mein kluger und sehr gut orientierter Vater – im Jahr 1933 NICHT gedacht hat, dass das so lange dauern wird. Die Weimarer Republik hat zwischen 1918-1933, 18 verschiedene Kanzler und Präsidenten gehabt, ein dauernder Wechsel, und dann kommt dieser Obergefreite aus Österreich, wie lange kann der schon bleiben??? Nach der Erfahrung der Weimarer Republik, bleibt der sechs Monate, bleibt der ein Jahr. Die meisten haben wirklich gedacht, mit dem kleinen Köfferchen, die 33 weg gingen, u.a. auch mein Vater; Naja, müssen wir jetzt mal weg aus Deutschland, vielleicht ein Jahr, 2 Jahre. Der einzige, der das sehr schnell kapiert hat, komische Geschichte, Hermann Kesten, der sich sofort entschlossen hatte: „Ich gehe ins Exil“, traf auf dem Kurfürstendamm, im Februar 33, traf er Erich Kästner, der nicht bedroht war direkt , (…)seine Existenz war nicht bedroht, er hatte Publikationsverbot erhalten, aber er war nicht jüdisch, kommunistisch oder links. (…) Den traf Kesten auf dem Kurfürstendamm und da sagte er – berühmtes Gespräch damals: Gehen Sie ins Exil, gehen Sie nicht ins Exil…? Wann und wohin… Daraufhin sagte Kesten zu Kästner: „Ja natürlich gehe ich ins Exil.“ Dann hat Kästner gesagt: Ja hören Sie mal, wie lange kann das dauern?“ Und da hat Kesten gesagt: zehn Jahre. Das nicht schlecht – das waren dann nicht 10 (lacht sarkastisch), das waren dann 12. Aber manche haben es gut eingeschätzt. (53:30) O-Ton Fritz Landshoff (23:00) (live-Gespräch mit Ralf Schnell, NDR- Produktion) Ich war absolut entschlossen, Deutschland zu verlassen, meine Freunde Kesten und Landauer hatten bereits im Februar Berlin verlassen, waren nach Paris gegangen. Querido war mir persönlich nicht bekannt, aber ich kannte seinen Verlag bereits seit vielen Jahren, und wir hatten bei Kiepenheuer eine große Anzahl von Verträgen mit diesem Verlag schon geschlossen. Übersetzungsverträge. Querido hatte einen dem Kiepenheuer Verlag in Deutschland vergleichbaren Verlag in Holland, er war Sozialist, er hatte viele junge literarische Autoren, zu einem großen Teil links gerichtete Autoren, keinesfalls alles Kommunisten, sondern viele linksbürgerliche Autoren. Es war also eine sehr naheliegende Idee für ihn, an einen solchen Verlag zu denken. O-Ton Andreas Landshoff: (8:52) Als mein Vater auf Einladung von Herrn Querido, der ein sozialistischer Verleger war, und sehr anti-Hitler (…) der hat meinen Vater durch Nico Rost, einen holländischen Journalisten in Berlin, eingeladen, um in seinem niederländischsprachigen Querido Verlag eine deutschsprachige Abteilung einzurichten. Diese Einladung erreichte meinen Vater direkt im Februar 33, und da ist mein Vater ist sofort in den Schlafwagen gestiegen, nach Amsterdam gefahren, hat sich mit Querido einen Morgen unterhalten. Und zum Mittagessen hatten sie den Verlag sozusagen schon gegründet. Autorin: Schon bei diesem ersten Treffen in Amsterdam werden sich Emanuel Querido und sein neuer Geschäftspartner einig. Von Amsterdam aus begibt sich Landshoff sofort auf eine Rundreise in die Schweiz und nach Frankreich, um ehemalige Autoren des Kiepenheuer Verlags für die Mitarbeit bei Querido zu gewinnen. Niemand von ihnen kann in Deutschland mehr publizieren, die meisten sind sogar vom Tode bedroht. Aus Fritz Landshoffs Autobiografie „Erinnerungen eines Verlegers“: Sprecher 2: (Fritz Landshoff) Der Erfolg meiner kurzen Rundreise zu den Autoren übertraf weit Queridos und meine Erwartungen. Ich hatte Feuchtwanger, Arnold Zweig, Leonhard Frank, Ernst Toller, Anna Seghers, Heinrich Mann, Emil Ludwig, Joseph Roth und andere aufgesucht, von denen ich mit Zusagen, Verträgen und sogar einigen Manuskripten nach Amsterdam zurückkehrte. Autorin: Die ersten Namen der für Herbst 1933 gewonnenen Autoren stehen damit fest. Wegweiser, in welche Richtung die literarische Reise des Exilverlags gehen wird. Hier treffen alle zusammen, die das deutsche Regime als Volksfeinde und gesellschaftlichen Abschaum definiert: Sozialisten, Juden, Pazifisten, Zionisten – und sogenannte „Asphaltliteraten“, Schriftsteller, die sich den Verwerfungen des modernen Großstadtlebens widmen. Bei seiner Rundreise trifft Landshoff in Paris auch einen jungen Autor, mit dem er bereits seit seiner Berliner Zeit bekannt ist. Im Exil werden die beiden zu innigen, lebenslangen Freunden und sich gegenseitig inspirierenden Kollegen. Sein Name: Klaus Mann. Der Sohn des weltweit gefeierten Nobelpreisträgers Thomas Mann ist begeistert, als Fritz Landshoff ihm von dem neu gegründeten Exilverlag in Amsterdam berichtet. Es passt zu seinen eigenen Plänen, weil er eine literarische Zeitschrift für Exilautoren gründen möchte. Sprecher 3 (Klaus Mann): (Klaus Mann, Der Wendepunkt, S. 407) „Mein Ehrgeiz war es, die Talente der Emigration beim europäischen Publikum einzuführen, gleichzeitig aber die Emigranten mit den geistigen Strömungen in ihren Gastländern vertraut zu machen. Dazu kam, als essenzielles Element meines redaktionellen Programms, das Politisch-Polemische. ‚Die Sammlung‘ war schöngeistig, dabei aber militant.“ Autorin: Nach seiner erfolgreichen Rundreise zu den exilierten Autoren unterbreitet Fritz Landshoff dem Amsterdamer Verleger Emanuel Querido den Vorschlag, zusammen mit Klaus Mann eine Literaturzeitschrift zu gründen. Ein finanzielles Wagnis, denn schon mit den ersten Buchveröffentlichungen betritt der Verlag neues Terrain auf einem sehr begrenzten Buchmarkt. Querido sagt trotzdem zu – die erste Ausgabe der Zeitschrift soll zum 1.September 33 erscheinen. Klaus Mann hat in der Zwischenzeit gefeierte Schriftsteller wie André Gide, Aldous Huxley und seinen Onkel Heinrich Mann als Protektoren gewinnen können. Die Autorenhonorare übernimmt die wohlhabende Schweizer Autorin und Journalistin Annemarie Schwarzenbach. Die neue Literaturzeitschrift wird „Die Sammlung“ heißen, herausgegeben von Klaus Mann. Und der zieht auf der Stelle nach Amsterdam um. Musik 2: Carillon Westertoren (Amsterdam), Spieler: Boudewijn Zwart Autorin: 25.August 33: im „Deutschen Reichsanzeiger und Preussischen Staatsanzeiger“ erscheint die erste Namensliste von ausgebürgerten Deutschen. Zu den nun Staatenlosen gehören auch vier Schriftsteller, die bei Querido in Kürze veröffentlichen werden: Lion Feuchtwanger, Ernst Toller, Alfred Kerr, Heinrich Mann. Im holländischen Verlag arbeitet man unter Hochdruck, bis zum September das erste Herbstprogramm auf die Beine zu stellen. Das heißt: Autorenverträge unter Dach und Fach bekommen, Manuskripte lektorieren, Termine mit Druckerei und Buchbinder koordinieren und vor allem Werbung für den internationalen Vertrieb zu machen. Acht Neuerscheinungen von verfemten Autoren sind in Planung. Mit Heinrich Manns Essaysammlung „Der Hass. Deutsche Zeitgeschichte“ und Ernst Tollers Autobiographie „Eine Jugend in Deutschland“ setzt der Querido Verlags gleich zu Beginn unübersehbare Pflöcke. Der Eine – Ernst Toller – wurde als politischer Gefangener nach der Zerschlagung der Münchner Räterepublik fünf Jahren eingekerkert und gefoltert. Der Andere – Heinrich Mann – entblößt in seinem Band „Der Hass“ die neuen Machthaber und das deutsche Duckmäusertum. Neben politischen Essays schickt Heinrich Mann auch eine Groteske ein mit dem Titel „Man muss sich zu helfen wissen“. Dort treffen Göring, Goebbels und mehrere Journalisten bei einem Empfang aufeinander. Ein Panoptikum von menschenverachtendem Zynismus der Nazis und opportunistische Liebedienerei jener, die hoffen, irgendwie davon zu kommen – Heinrich Mann wirkt hier wie das literarische Pendant zu George Grosz. Musik 3: Richard Strauss, „Also sprach Zarathustra“ Sprecher 4: (aus: Heinrich Mann, Der Hass, „Man muss sich zu helfen wissen“, S.169 f) Ein offizieller Empfang im Palais des Reichstagspräsidenten. Der Hausherr ist Herr Göring. Teure, nagelneue Ausstattung. Massenandrang. Der mächtige Mann lässt sich von seinen Gästen bewundern in einer Phantasieuniform. Er füllt für sich allein den Vordergrund und hält seinen Riesenleib den photographischen Apparaten hin. Göring zu den Journalisten: „Ich habe die ganze Nacht am Schreibtisch gesessen und Hinrichtungsbefehle unterschrieben. Überzeugen Sie sich selbst, dass ich frisch und munter bin!“ Goebbels, Minister für Propaganda, folgt ihm von weitem mit hasserfüllten Blicken: „Er hält sich mit Morphium aufrecht. Wie besessen ist er vor Aufdringlichkeit, und in Wirklichkeit habe doch nur ich allein sie zu dem gemacht, was sie sind, ihn wie die anderen!“ Sinsheimer, Redakteur vom ‚Berliner Tageblatt‘ : „Das sage ich immer. Sie allein sind die treibende Kraft des neuen Staates. Wir hätten ihn gar nicht, wenn nicht Ihre gesammelten Werke wären.“ Goebbels: „Davon reden wir mal! Als mein Stück gespielt wurde, hätten Sie es würdigen sollen.“ Sinsheimer, Redakteur: „Das habe ich doch getan! Für einen Kritiker, der weiß, was los ist, sind Sie gegenwärtig der deutsche Dramatiker. Unsere Literatur macht einen Höhenflug seit Ihrem Auftreten. Wer das nicht einsieht, gehört glatt ins Konzentrationslager. (…)“ Göring, zu den eifrig beflissenen Journalisten: „Merken Sie sich, was ich für eine Arbeitsfähigkeit habe und wie glänzend meine Gesundheit ist! Heute habe ich den ganzen Tag mit meinen Kollegen vom Reichskabinett beraten, alle Einzelheiten wegen der Unfruchtbarmachung der Minderwertigen. Sämtlich kommen sie dran, Juden und Marxisten. Das war meine Idee. Die nationale Regierung dauert ewig, sie braucht nur alle ihre Feinde unfruchtbar machen.“ Autorin: Diese Auszüge aus „Der Hass“ sollen als Vorabdruck in der ersten Ausgabe der literarischen Zeitschrift „Die Sammlung“ erscheinen. Der Text ist derart „anti-deutsch“, dass sogar Fritz Landshoff vor einer unredigierten Ausgabe zurückscheut. Hilfesuchend wendet er sich an seinen Freund Klaus Mann, dessen unerbittlichen Onkel zu mäßigen. Fritz Landshoff fürchtet, dass seine gerade neu gewonnenen Autoren wieder abspringen. Denn noch immer halten eine Reihe prominenter Schriftsteller an der Hoffnung fest, ihre bisherigen Werke weiter in Deutschland verlegen zu können. Sprecher 2: (Fritz Landshoff),(F. Landshoff, Erinnerungen eines Verlegers, S. 215) Amsterdam, den 29.September 1933 Lieber Klaus! Damit auch mein letzter Brief noch eine Schreckensnachricht enthält, übersende ich Dir inliegend die letzten Nazi-Szenen Deines Onkels. Lies sie sofort und sage, ob ich, wenn überhaupt noch mit einem letzten Funken von Verstand und Überlegung begabt, in der Lage bin, das Gespräch Göring-Goebbels-Sinsheimer drucken KANN. Nachdem ich Heinrich Mann, gerade nach seinem letzten Brief so unerhört dankbar bin, bin ich völlig ratlos. Kann ihn denn kein Mensch davon abbringen? Kannst Du nicht mit ihm sprechen? Natürlich kannst Du NICHT mit ihm sprechen, wirst Du ziemlich erbittert denken und hast auch ganz recht. Vielleicht aber führst Du ein so „prinzipielles“ Gespräch mit ihm, dass es möglich ist, auf die Problematik der Nazi-Szenen überhaupt hinzuweisen, die aus dem sonst doch sehr schönen Buch in dieser äußerst prekären Situation heraus bleiben müssten. (….) Zum ersten Mal scheint es mir sogar möglich, dass eine solche Publikation wirklich Folgen haben könnte, die in keinem Verhältnis zu ihrem Wert stehen. Ich fand es unsinnig und empörend, wenn gesagt wurde, die „Sammlung“ könne schuld daran sein, dass ihre Mitarbeiter in Deutschland unmöglich werden. Der Abdruck dieser Szenen könnte aber wirklich nicht nur innerhalb Deutschlands, sondern auch außerhalb fürchterlich wirken. Er könnte auch Deinen Vater ernstlich schädigen und das Buch gefährden. Wenn Du die paar Seiten liest, wirst Du derselben Ansicht sein wie ich. Gib mir nur einen Rat. Wenn Du mich anrufen willst, erreichst Du mich unter Laren 513, wo ich Sonnabend und Sonntag sein werde. Schlimmstenfalls werde ich in etwa einer Woche nach Paris fahren und versuchen, mit Heinrich Mann zu sprechen. Besten Gruß, Fritz Autorin: Trotz aller Befürchtungen, dass weniger radikale Schriftsteller von einer Mitarbeit bei Querido zurücktreten würden, nimmt Fritz Landshoff Heinrich Manns „Der Hass“ inklusive der beanstandeten Groteske in das Herbstprogramm 33 mit auf. Nicht nur politisch, sondern auch finanziell ein Wagnis für einen Verlag mit „Minderheitenprogramm“, dazu in einer Fremdsprache und ohne ausgefeiltes Vertriebsnetz. O-Ton Fritz Landshoff (live-Gespräch mit Ralf Schnell, NDR) (26:27-28:00) Es war mir klar, dass wir die Bücher, die wir herausbringen würden, nur außerhalb Deutschlands verkaufen würden (…) Ich habe Querido gesagt, dass ich fürchte, dass eine Auflage von 3.000 Exemplaren bereits ein ansehnlicher Erfolg sein würde. Ich habe mich geirrt. Insbesondere am Anfang sind verschiedene Bücher, die bei uns erschienen sind, wesentlich erfolgreicher gewesen. Eines der ersten Bücher, die wir gebracht haben, war „Der Hass“ von Heinrich Mann, ein Essay-Buch, gesammelte Aufsätze, die er in „Depeche de Toulouse“ veröffentlicht hatte, ein paar Aufsätze aus der Zeit vor 33.Ein Essaybuch ist im allgemeinen nicht besonders erfolgreich, aber dieses Buch hatte ich in 4.000 Exemplaren gedruckt und innerhalb von wenigen Monate waren die 4.000 ausverkauft und wir konnten eine 2. Auflage in der gleichen Höhe nicht nur drucken, sondern in der Tat auch verkaufen. Autorin: Spätestens mit Heinrich Manns Essayband „Der Hass“ sind die Würfel gefallen. Verlag und Autoren haben sich offen gegen das nationalsozialistische Deutschland und seine neuen Machthaber positioniert. Auch Alfred Döblin, der sich zunächst vehement gegen eine Zusammenarbeit mit Querido ausspricht, veröffentlicht schon 1933 seine Werke im niederländischen Verlag. Als Jude hat sich für ihn die Hoffnung, in Deutschland doch noch publizieren zu können, endgültig zerschlagen. Emanuel Querido und Fritz Landshoff arbeiten mit aller Kraft daran, das Herbstprogramm fertig zu bekommen und das ohne weitere Mitarbeiter. Zugleich setzt Klaus Mann Gott und die Welt in Bewegung, weitere Autoren für die Literaturzeitschrift „Die Sammlung“ zu gewinnen. Klaus Mann erinnert in seiner Autobiographie „Der Wendepunkt“ an die Anfänge der literarischen Revue. Sprecher 3: (Klaus Mann) (Klaus Mann, Der Wendepunkt, S. 406) Was mich betrifft, so gab ich mir redliche Mühe, den Herren des Dritten Reiches auf die Nerven zu gehen. Nicht genug damit, dass meine ketzerischen Verlautbarungen in der gesamten Emigrantenpresse und in anderen freiheitlich gesinnten europäischen Blättern erschienen, ich gründete auch noch meine eigene Zeitschrift, eine literarische (aber doch nicht REIN literarische!) Revue namens „Die Sammlung“, die ab September 1933 beim Querido Verlag zu Amsterdam monatlich herauskam. Zu den Mitarbeitern gehörten fast alle exilierten deutschen Dichter und Literaten, außerdem aber auch eine ziemlich stattliche Reihe nichtdeutscher Autoren von internationalem Prestige: Romain Rolland, Jean Cocteau, Carlo Sforza, Ignatio Silone, Stephen Spender und Christoper Isherwood, Ernest Hemingway, Ilja Ehrenburg und Boris Pasternak…. Mein Ehrgeiz war, die Talente der Emigration beim europäischen Publikum einzuführen, gleichzeitig aber die Emigranten mit den geistigen Strömungen in ihren Gastländern vertraut zu machen. O-Ton Fritz Landshoff, (live-Gespräch Ralf Schnell, NDR) (40:10-43:00) Die Anzahl von 150 Autoren zeigt, dass das Interesse, in der „Sammlung“ zu veröffentlichen, bei den Autoren sehr groß war. Klaus Mann war ein ausgezeichneter Redakteur, ungeheuer gewissenhaft und fleißig. Er hat die ganze redaktionelle Arbeit alleine bewältigt, er hatte nicht mal eine Sekretärin, er schrieb jeden Brief selbst und hat die Korrespondenz mit sicherlich 200 Autoren gehabt, um dann schließlich ungefähr 150 zu veröffentlichen. (..)(40:49) Das Verhältnis zwischen Klaus und mir, das nicht sehr eng war, solange wir in Deutschland lebten, hat sich in Holland sehr schnell entwickelt, wir haben in der gleichen Pension gewohnt und haben einen großen Teil unserer Zeit zusammen verbracht. Klaus Mann war niemals ein Angestellter des Querido Verlags, er hat in unschätzbarer Weise beraten, hat mir geholfen bei der Lektüre der Manuskripte, in wichtigen Fragen habe ich seine Meinung unzählige Male zu Rate gezogen, und zu meiner Freude hat er in der Redaktion der Zeitschrift Fragen mit mir sehr eingehend besprochen. Klaus Mann ist in seinem Leben ungeheuer viel gereist, hat nie eine Wohnung gehabt, er lebte in Hotels (…), und hat in den ersten Jahren der Emigration mehr als die Hälfte des Jahres in Adam zugebracht, war aber auch über Monate nicht anwesend. Eine Zeitschrift erfordert natürlich jemanden, der anwesend ist, der Entscheidungen treffen kann, so dass Klaus in gewisser Weise auf meine Mitarbeit in der Redaktion angewiesen war, war mir eine große Freude, für ihn arbeiten zu können, nachdem er mir selber so ungeheure Hilfe geleistet hat. (43:02) Musik 4: Port du Amsterdam, instrumental, Interpret: Jerome Richard Komp. Jacques Brel, Arrangment: Jerome Richard Autorin: Die Brouwersgracht gehört zum einstmals volkstümlichen Amsterdamer Viertel Jordaan. Ein typischer, baumbeschatteter Kanal, an dem sich ehemalige Lagerhäuser entlang reihen. Über das Kopfsteinpflaster rumpeln Fahrradfahrer. Die Brouwersgracht Nummer 4 ist weit über die Grenzen der Niederlande bekannt. Welche Schätze sich im Erdgeschoss des schmalen Giebelhauses verbergen, lässt sich auf den ersten Blick nicht erahnen. Keine aufregende Leuchtreklame, kein schicker Lounge-Bereich. Auf der verglasten Eingangstür ein Hinweis auf den Namen „Die Schmiede“ und die Öffnungszeiten: Dienstag bis Freitag von 10 bis 17.30 Uhr. Als ich das Geschäft betrete, bimmelt ein altertümliches Türglöckchen. Der Holzfußboden knarrt. Es umweht mich der typische Geruch von historischen Archiven. Da stehen sie, dicht gedrängt, Seite an Seite, mit in Jahrzehnten erworbener Patina – vom Fußboden bis unter die Decke – Bücher. Bücher, die in den „schlechten, alten Zeiten“ dem Untergang geweiht waren. Bücher aus Nachlässen, Sammlungen, aufgelösten Privatbibliotheken. Bücher, die auch der Afficionado kaum sonst noch wo findet. Das deutsch-niederländische Ehepaar Gerhard und Annemieke Leyerzapf gründete das Antiquariat „Die Schmiede“ vor über 30 Jahren. Hinter dem Schreibtisch, der zugleich Ladentheken und Treffpunkt für kluge Gespräche ist, ordnet der Inhaber Gerhard Leyerzapf seine Unterlagen. O-Ton Gerhard Leyerzapf: Wir haben diese Laden, das Antiquariat „Die Schmiede“ seit 1984 und haben uns von Anfang an auf deutsche Literatur spezialisiert, da gehört die Exilliteratur auch dazu. Das sind oft nichts anders als Erstausgaben, das ist einer der Kernpunkte der Exilliteratur, dass diese Auflagen teilweise verschwindend klein waren im Grunde. Wenn man früher sich vorstellte, in den 20er Jahren Kiepenheuer – 3 bis 4000, das war normal. Das hat Querido kaum erreicht, es gab ein paar Titel, die gut verkäuflich waren. Feuchtwanger ging gut…. Döblin glaube ich auch, obwohl – Feuchtwanger war schon einer der Bestseller bei denen. Da gibt es mehrere Auflagen seiner Bücher. Aber die meisten Bücher sind über 3-400 Exemplare nicht rausgekommen, das ist heute gesehen lächerlich wenig. Mit anderen Worten: das sind oft nur Erstausgaben. Von Thomas Mann der Felix Krull, der hier erschienen ist, die erweiterte Ausgabe gab es ja vorher auch schon. Das ist im Übrigen das Einzige, was bei Querido erschienen ist, da hat er sich ein bisschen schwer getan mit dem Verlagswechsel. Klaus Mann war ein Autor, da war Landshoff gut mit befreundet, „Das vergitterte Fenster“ z.B., auch die großen Romane wie „Mephisto“, die berühmte Geschichte und „Der Vulkan“, eines der besten Bücher über das Exil im Ausland, ist bei Querido erschienen. Joseph Roth natürlich, der versucht hat, die beiden Verleger de Lange und Querido gegeneinander auszuspielen, von dem gibt es „Leviathan“, das letzte, was nach seinem Tod erschienen ist. Autorin: Ob Gerhard Leyerzapf auch Exemplare der von Klaus Mann herausgegebenen Zeitschrift „Die Sammlung“ in seinem Bestand hat? O-Ton Gerhard Leyerzapf (36:47) Das ist das erste Heft von der „Sammlung“, September 1933, mit Stempel Gratis-Proof-Nummer. Da ist das Vorwort drin, wo sich Thomas Mann ziemlich drüber aufgeregt hat. „Ja, du willst aber doch … das ist mir viel zu politisch explizit, du willst doch eine pol Zeitschrift machen und da kann ich leider nicht dran mitarbeiten!“Worüber er jetzt genau gefallen ist, kann ich nicht…. Hier steht zum Beispiel: Sprecher 3 (Klaus Mann): (aus: Vorwort „Die Sammlung“, Heft 1, Jg 1) „Diese Zeitschrift wird der Literatur dienen; das heißt: jener hohen Angelegenheit, die nicht nur ein Volk betrifft, sondern alle Völker der Erde. Einige Völker aber sind so weit in der Verirrung gekommen, dass sie ihre Besten schmähen, sich seiner schämen und es im eigenen Lande nicht mehr dulden wollen. In solchen Ländern wird die Literatur vergewaltigt; um sich der Vergewaltigung zu entziehen, flieht sie ein solches Land.“ Autorin: Zu meiner großen Freude wuchtet Gerhard Leyerzapf zwei schwere Bände auf seinen Schreibtisch, eine komplette, gebundene Ausgabe der beiden Jahrgänge mit 24 Heften der „Sammlung“, herausgegeben zwischen September 1933 und August 35. Wie diese Rarität ihren Weg ins Amsterdamer Antiquariat „Die Schmiede“ fand, ist eine eigene Geschichte. Der ursprüngliche Besitzer, Hein Kohn, hieß eigentlich HEINZ Kohn, war Buchhändler in Hamburg und flüchtete wenige Tage vor den Bücherverbrennungen in die Niederlande. O-Ton Gerhard Leyerzapf: (33:38) In Hilversum hat der gewohnt –er hat aber daneben über seine guten Kontakte, die er hatte über Ernst Busch eben auch mit Brecht, mit Anna Seghers, mit beinahe allen bekannten Exil-Schriftstellern Kontakte gehabt oder sie gesucht, auch gefragt um Exemplare ihrer Bücher und dann auch signieren, oder dazu schreiben, wie das Buch entstanden ist. Der hatte eine riesige Sammlung. Da haben wir ein paar Mal … das meiste haben wir bekommen. Das war jedes Mal, wenn ich nach Hilversum gegangen bin, war das wirklich ein Schatz, das stimmt. Da waren also wirklich die TOLLSTEN Sachen mit dabei. Naja, was soll ich sagen…. Also du schlägst einfach ein Buch auf und dann steht da eine lange Widmung von Bert Brecht drin an ihn! Das war ein ganz wahnsinniger Sammler, ein richtiger Maniac war das. Der konnte nix liegen lassen (lacht). Das war so eine Schatztruhe, das war auch ein Emigrant, der war Buchhändler, ist dann nach Holland gegangen, weil ihm klar war, dass da nichts mehr läuft, er war zu dem Zeitpunkt in Berlin… hat das gesehen, dass das nicht funktioniert. Und hat vor allen Dingen dann auch als Buchhändler gemerkt, dass er besser ins Ausland gehen kann und ist am Anfang zusammen mit Ernst Busch gereist. Autorin: Ernst Busch, Schauspieler, Sänger, Kommunist, entgeht nur knapp einer SA-Razzia. Er flieht in die Niederlande, denn der sozialistische Radiosender VARA aus Hilversum hat den deutschen Genossen eingeladen, kämpferische Musikprogramme zu gestalten, unter anderem mit Liedern von Hanns Eisler und Bertolt Brecht. Ernst Busch lernt dazu Niederländisch. Klaus Mann hörte seine Stimme über das Radio. Sprecher 3 (Klaus Mann) (aus: Der Wendepunkt, S. 526) „Wir lauschen auf die scharfe, geschulte, metallisch helle Stimme eines deutschen Sängers, der die Lieder der Internationalen Brigade sehr wirkungsvoll, sehr gekonnt zum Vortrag bringt.“ Musik 5: Ernst Busch, „Solidaritätslied“ (flämisch), aus „Der Rote Orpheus – in Originalaufnahmen aus den dreißiger Jahren“, Edition Barbarossa, LC 4022 Komp. :Hanns Eisler, Text: Bert Brecht Autorin: Monate nach meinem Besuch in Leyerzapfs „Die Schmiede“ erstehe ich in einem Leipziger Antiquariat eine der selten gewordenen Einzelausgaben der „Sammlung“ zu einem unfassbar günstigen Preis. Vergessen, unentdeckt, ein 85 Jahre altes Exemplar von „Die Sammlung - literarische Monatszeitschrift“. 1. Jahrgang, Heft Nr. 3, November 1933. 54 Seiten, der Umschlag ein bisschen vergilbt, mit ein paar Eselsohren. Ich kann mein Glück kaum fassen, eines der seltenen Originale der wichtigsten deutschen Exilzeitschrift mein Eigen zu nennen. Mit Beiträgen von Max Brod, André Gide, Lion Feuchtwanger. Es kommt noch besser: meinem Fundstück liegt ein maschinengetippter, hektografierter Zettel bei. Sprecher 3: „ ABONNIERT ‚DIE SAMMLUNG“ Wir wenden uns an ALLE Freunde einer freien Geistigkeit, die gute Traditionen verbinden will mit Gegenwart und Zukunft. Durch dichterische Gestaltung, durch wissenschaftliche Analyse, durch das Lied, durch die Chronik, die Reportage und das Gedicht. Durch die Darstellung des Großen, Schweren, Schönen und Gefährlichen in unserer Zeit wird DIE SAMMLUNG weiter das Forum des vertriebenen deutschen Schrifttums sein. In unserem nächsten Heft werden von großen Autoren vieler Nationen die zentralen geistespolitischen Probleme der Zeit erörtert und neu beleuchtet werden. Ein großes, förderndes Geistesgespräch hat eingesetzt in dieser furchtbaren Zeit: Es muss in Gang bleiben. Helft dazu, indem ihr abonniert! Die Redaktion der Sammlung, Amsterdam, Keizersgracht 333 Einzelheft: Schweizer Francs 1.50 “ Autorin: Der beigefügte Werbezettel ist mit einem Stempel versehen: „Bücherstube und Versandbuchhandlung Dr. Oprecht + Helbing“, Zürich. Emil und Emmie Oprecht betrieben einen Verlag und eine engagierte Buchhandlung im Zentrum von Zürich. Als Reaktion auf die Bücherverbrennungen stellten sie im Schaufenster ihres Buchladens einen „Scheiterhaufen“ mit den Titeln der verbrannten Bücher aus. Für viele ins Exil getriebene Autoren war das Ehepaar Oprecht die letzte Rettung, denn sie beherbergten Geflüchtete, besorgten Visa, gaben finanzielle Unterstützung. Ein Großteil des Verlagsprogramms deckten sozialistische und soziologische Schriften ab, aber auch literarische Werke von Else Lasker-Schüler, Ignazio Silone, Bernard von Brentano. Offensichtlich vertrieb Emil Oprecht in der Schweiz auch Klaus Manns „Die Sammlung“. Sprecher 2 (Fritz Landshoff) (aus: F.Landshoff, Erinnerungen eines Verlegers, S. 208 f) Amsterdam, den 7.September 1933 Lieber Klaus! Mit der „Sammlung“ sieht es nicht übel aus. Es ist sogar noch einmal nachgedruckt worden. Wir haben fast keine Exemplare mehr. Es werden wie verrückt Probehefte und ähnliches bestellt, und es ist so unübersichtlich wie nur möglich. Ich bin übrigens fest entschlossen und habe bereits alle Vorbereitungen getroffen, nächsten Mittwoch den tausendsten Abonnenten zu feiern und dieses auch allen meinen Leuten mitzuteilen. Oprecht & Helbling schrieb ich heute nochmals sehr dringend und sagte ihm, dass die 700 Abonnenten, die Holland bis jetzt aufgebracht hätte, doch zweifellos auch von ihm schnell erreicht würden. Autorin: Im nationalsozialistischen Deutschland beobachtet man die Aktivitäten der exilierten Schriftsteller sehr genau. Auch Klaus Manns „Die Sammlung“ gerät ins Fadenkreuz. Erhalten ist der Brief vom Intendanten des Berliner Staatstheaters, Hanns Johst, bis 1945 Präsident der Reichsschrifttumskammer unter Goebbels und Parteimitglied schon 1932. Den folgenden Brief richtete der Intendant und Theaterautor Hanns Johst an seinen hochverehrten Freund und Kampfgenossen „Heini“. Sprecher 4: (aus: Nachdruck von „Die Sammlung“, Bd. 1, Vorwort, S. VII) 10.Oktober 1933, Mein lieber Heinrich Himmler! In Amsterdam erscheint das derzeit unflätigste Emigrantenblatt, „Die Sammlung“. Sie werden sich ja jederzeit Belegexemplare verschaffen, können, sonst übersende ich Ihnen auch gern ein Exemplar dieses Schmutzes. Als Herausgeber zeichnet der hoffnungsvolle Spross des Herrn Thomas Mann, Klaus Mann. Da dieser Halbjude schwerlich zu uns herüber wechselt, wir ihn also nicht aufs Stühlchen setzen können, würde ich in dieser wichtigen Angelegenheit doch das Geiselverfahren vorschlagen. Könnte man nicht vielleicht Herrn Thomas Mann, München, für seinen Sohn ein bisschen inhaftieren? Seine geistige Produktion würde ja durch eine Herbstfrische in Dachau nicht leiden, denn wir wissen ja aus unseren eigenen Reihen, welches famose Schrifttum gerade von nationalsozialistischen Häftlingen zur glücklichen Niederschrift kam.. Mit Handkuss für Ihre Gattin und Handschlag für Sie, immer Ihr getreuer Hanns Johst Autorin: Etliche deutschsprachige Autoren, deren Werke bereits den Bücherverbrennungen zum Opfer gefallen sind, haben 1933 noch immer Hoffnung. Hoffnung, dass „der Spuk bald wieder vorbei sein wird“. Sich lieber nicht zu offensichtlich gegen das Regime auflehnen, sich lieber irgendwie arrangieren und die Zusammenarbeit mit linksliberalen oder gar sozialistischen Verlagen vorsichtshalber vermeiden. Folglich erscheinen der kompromisslose Querido Verlag mit Klaus Manns „Die Sammlung“ manchem Autor von Rang und Namen zu oppositionell. O-Ton Gerhard Leyerzapf( 30:00) Er hatte schon Ambitionen, er wollte wirklich eine anständige Literaturzeitschrift bringen, die deutlich macht, dass es keine Grenzen gibt unter den Schriftstellern, politische Querelen wollte er nicht haben, aber er wollte schon, dass sie damit dokumentieren, dass sie Abstand nehmen von den Nazis. Das war ja sein großes Problem, dass sein Vater und ein paar von seinen Spezis von Fischer eben doch sich jedenfalls am Anfang sehr zurückgehalten haben, weil sie dachten… ja, zu links, das gilt sicher für seinen Vater (lacht), der hat mit dieser Meinung auch nicht zurückgehalten, aber für die andren und für ihn auch, galt mehr, dass sie die Leser nicht verschrecken wollten bzw. die deutschen Behörden nicht zu sehr irritieren wollten , weil sie immer noch dachten – und das gilt für Thomas Mann auch – bis 35 sind seine Sachen ja noch in Deutschland erschienen. Und er wollte Rücksicht darauf nehmen. Aber (Rene) Schickele und Döblin haben das auch gemacht. Es gibt ja diese berühmte Erklärung im Börsenblatt, wo die sich von Querido distanzieren. Da gehörte Schickele dazu, Döblin, Thomas Mann – vier, fünf Leute waren das. Die wollten es nicht wahrhaben. Das hat nicht lange gedauert, bis denen klar war, wie in Deutschland der Hase läuft. Autorin: Als Klaus Mann für die sechste Ausgabe von „Die Sammlung“ die Ode „Amsterdam“ über seine neue Heimatstadt schreibt, lebt er noch keine zwölf Monate in den Niederlanden. Seine Freundschaften mit Fritz Landshoff und Hermann Kesten, dem früheren Kollegen von Kiepenheuer, geben Halt. Man teilt sich eine Wohnung, verbringt freie Zeit miteinander, pflegt anregende Gespräche über literarische und politische Entwicklungen mit anderen Exilschriftstellern. Die intensive Arbeit an der anspruchsvollen, widerständigen Zeitschrift „Die Sammlung“, der Austausch mit fortschrittlichen Autoren aus aller Welt, das eigene literarische Schaffen– noch hat das verstörende Wissen über „Ich kann nicht mehr zurück!“ den Lebensmut nicht überschattet. Sprecher 3 (Klaus Mann) (aus: „Die Sammlung“, 1. Jahrgang, Heft 6 (Februar 1934), S. 326 ff) Amsterdam: was für eine schöne, unverwechselbare Stadt! Wenn wir früher ihren Namen nannten oder hörten, kam eine Vision von Patrizierhaus und Hafen, in dem indisches Gewürz verladen wird; Rembrandt-Licht, Ghetto – und der Name Spinozas spielte irgendwie in diese ungenauen, übrigens ziemlich großartigen Vorstellungen. Damals wussten wir nicht, was diese Stadt einmal für uns werden und bedeuten sollte, welchen großen Dank wir ihr schuldig sein würden. Sie wurde zur Zuflucht, sie lässt uns arbeiten; und da sahen wir sie nicht mehr kritisch, vergleichend, geschmäcklerisch an; da wurde sie uns zur großen, schönen, mächtigen Realität. Da lernten wir ihre tausend kleinen Eigenheiten kennen, und gewannen sie lieb; sie gehörten zu ihrer Realität. Wir gingen ihre Grachten entlang und wir fanden sie am schönsten im Sommer, in den warmen Nächten, und den sonderbarsten Reiz hatten sie in dem engen Viertel hinter dem Hafen, wo die Freudenmädchen, stattlich, meist recht betagt, an den Fenstern ihrer sauberen Stuben bei einem Blumenstrauß und einer Lampe sitzen, und ein fauliger Geruch liegt über dem trägen Wasser, Musik von den Orchestrions kommt aus den offenen Kneipen; der Singsang der Leierkästen vermischt sich mit ihr. Wir sahen die Grachten im Herbst, wenn die gefallenen Blätter auf dem Wasser schwimmen; und im Winter, wenn phantastischer Weise die halbe Bevölkerung auf diesen zugefrorenen Wasserstraßen – der Prinsengracht, Keizersgracht, Heerengracht – Schlittschuh läuft; die Stadt wimmelt dann von Schlittschuhläufern, wie sie stetes von den Radfahrern wimmelt, vor deren Rudeln wir über den Leidschen Plein und den Rembrandt Plein flohen. Wir bewunderten die vornehme, etwas fröstelnde, sehr reservierte Schmalheit der alten Häuser und die gute Architektur der modernen. Wir gewöhnten uns an die merkwürdig steilen Stiegen der älteren Häuser, freuten uns an den Blumen, von denen diese ernste Stadt überschüttet scheint – in den schönsten Läden und an allen Straßenecken werden sie feilgeboten - ; fanden Geschmack an der ausgiebigen, soliden Küche , und erst recht an dem Schnaps Bols. Wir hörten in den holländischen Theatern, wie man mit diesem niederdeutschen, etwas kehligen Idiom, in das sich so viele gewichtige, altdeutsche Vokabeln drollig mischen, eine elegante Konversation machen kann; und im Concert-Gebouw – wo Mengelberg als eine Art von selten sichtbarem Nationalheiligem regiert – waren wir dankbare Zuhörer. (…) Und welche Vorräte an Kostbarstem und Bestem sind dann noch bei den großen Kunsthändlern zu sehen und in vielen Privathäusern. Wer aus dem Berlin kommt, das sich seine wilhelminische Prunksucht auch in der Republik nicht abgewöhnen wollte, ist doppelt empfänglich für die bescheidene Gediegenheit, mit der hier Gutes geboten wird. (…) Die großen literarischen Verlage beweisen eine Unternehmungslust, die sich eben jetzt gegenüber den vertriebenen deutschen Autoren bewährt, von denen viele nicht weiterarbeiten könnten ohne die bedeutende Hilfe aus Amsterdam. (…) Was Amsterdam an sogenanntem „Bohème“-Leben aufzuweisen hat, ist bescheiden: es beschränkt sich auf ein paar kleine Künstler-Clubs und etwas auf das Café Américain, das, auf eine zurückhaltende und biedere Weise, die Rolle des Romanischen Cafés und des Café du Dome spielt. Reiz entsteht da, wo sich Stimmungen mischen. In Amsterdam mischt sich die Stimmung von Patriziertum mit der des Hafens; beide sind längst zur lebendigen Einheit geworden. Zu der Luft von Behaglichkeit und Solidität kommt die von Abenteuer. (…) Wie Afrika in die Atmosphäre von Paris hinein spielt, so der Ferne Osten in die von Amsterdam. Es liegt nicht nur daran, dass es hier Gassen gibt, in denen alles chinesisch ist, und dass Malaien ihre Nüsse und Süßigkeiten an den Straßenecken anbieten. (…) Und diese geschichtsbeladene und lebensvolle, diese starke und schöne, gelassene und bewegte Stadt hat die Kraft, uns hoffnungsvoller zu machen. Musik 6: Aan de Amsterdamse Grachten (Prinzengrachtconcert 2014) Solistin: Lisa Batiashvili (live-Konzert) geblendet mit: Musik 7: Aan de Amsterdamse Grachten, Interpret: André Rieu, arrang. André Rieu, aus: „Die schönsten Walzer“, Polydor ,Bestellnummer: 3481843, LC 00309,, Komp.; Pieter Goemans 2. Stunde Musik 8: Dreamers‘ Circus, „When Harlequin Sleeps“, aus: „A Little Symphony“, Komp. Nikolaj Busk, Label: Go‘ Danish Folk Music, GO 0913, LC 09240 Autorin: Noch ist für Klaus Mann das Leben im Exil ein energiegeladener Kampf gegen den nationalsozialistischen Ungeist. Noch erlebt er im Sommer mit seinen Freunden und Autoren beglückende Stunden in Zandvoort. Auf einem Foto sieht man ihn zusammen mit seinem brüderlichen Freund Fritz Landshoff in Bademänteln mit strahlendem Lächeln, hinter sich der Nordseestrand. Die Verlagsgeschäfte bei Querido laufen gut, die wichtigsten Autoren – sowohl deutsche als internationale – schicken ihre Manuskripte zur Veröffentlichung an „Die Sammlung“. Klaus Manns geliebte Schwester Erika kann sich mit dem Programm ihres Kabaretts „Pfeffermühle“ vor Engagements kaum retten. Die bleierne Zeit des Exils, die Gewissheit, dass es keine Gewissheit mehr gibt, das zunehmende Misstrauen der Holländer gegenüber Exilierten ist noch nicht angebrochen. Diese bleierne Zeit wird erst noch kommen. Sprecher 2 (Fritz Landshoff) (aus: F.Landshoff, Erinnerungen eines Verlegers, S.121 Das Exil seit 1933 hat Klaus Manns Entwicklung entscheidend beeinflusst. Aus dem spielerischem, weder sich selbst noch die Welt allzu ernst nehmenden Jüngling wurde eine verantwortungsbewusste, selbstkritische Persönlichkeit, die höchste Forderungen an sich stellte und die, durchaus bereit, ihre Aufgabe auch in der Nachkriegszeit zu erfüllen, tief enttäuscht war, dass diese Zeit sich ihm verschloss. Klaus war ein treuer und zuverlässiger Freund. Er war nicht egozentrisch, sondern offen für die Probleme und Sorgen seiner Freunde. Es war ihm wichtig, seine Freundschaft zu bekunden, und er machte sich gern manche Mühe, sie zu beweisen. Klaus und ich suchten uns ein Quartier in der Nähe des Verlages. Nachdem wir eine Anzahl Zimmer in Pensionen angesehen hatten, entschieden wir uns für zwei Räume in der Van Eeghenstraat, einer ruhigen Straße am Vondelpark, der schönen Grünfläche im Herzen von Amsterdam. Wir bezahlten für diese zwei Zimmer und drei redliche und reichliche Mahlzeiten je zwei Gulden pro Tag, einen Betrag, der auch zu dieser Zeit durchaus mäßig war. Der Weg zum Verlag war ein schöner Spaziergang von ungefähr 15 Minuten, es sei denn, dass zu garstiges Wetter, das in Holland keine Seltenheit ist, uns zwang, mit der Straßenbahn zu fahren. Autorin: Die Van Eeghenstraat, in der die Freunde und Kollegen zur Untermiete wohnten, war schon damals ein exklusives Viertel mit Blick auf den Vondelpark. Herrschaftliche Art-Deco-Villen mit privaten Gärten, Zugang zum Park auf der einen Seite. Die andere Seite, auf der Landshoff und Mann Logis bezogen hatten, ist flankiert von schmalen Mehrfamilienhäusern, Wand an Wand mit steilen Treppenaufgängen. Das eher kleinbürgerliche Haus Nr. 181, ehemalige Pension der beiden Freunde, steht heute zum Verkauf an, für geschätzte 3,5 Millionen Euro. Das weltberühmte Amsterdamer Konzerthaus, das Reichsmuseum, das Konservatorium – Magneten für die Kunstwelt, sind damals wie heute nur ein paar Fußminuten entfernt. O-Ton Andreas Landshoff (31:32) In Amsterdam – sie lebten zusammen – sie gingen ein paar Mal in der Woche ins Concertgebouw in Konzerte, sie aßen zusammen, sie beredeten ihre persönlichen Probleme… durch Klaus und Erika Mann ist mein Vater dann einige Jahre drogenabhängig geworden… also auch das teilten sie – auch die schwierigen Dinge im Leben. Wirklich brüderliche Freunde. Klaus Mann hat es selber auch ausgedrückt in einem Interview und in der Literatur, dass seine wichtigste persönliche Beziehung in den furchtbaren Exiljahren Fritz Landshoff gewesen ist. Das hat meinen Vater natürlich sehr gefreut, dass er das gesagt hat. Sprecher 3 (Klaus Mann) (aus: Der Wendepunkt, S. 420) Die schönste und menschlichste Beziehung, die ich diesen ersten Jahren des Exils verdanke, ist die zu dem Verleger Fritz Landshoff. Seit 1933 ist er mein brüderlicher Freund. Bündnisse solcher Art werden meist nur zwischen sehr jungen Menschen geschlossen; um so größer der Glücksfall einer relativ späten Begegnung. Nicht, als ob ich damals alt gewesen wäre! Mit 27 mag man fast noch als Jüngling passieren. Aber ich war doch schon ein ziemlich erfahrener, umgetriebener Jüngling; ich hatte früh angefangen mit allem, auch mit der Freundschaft. Nach Rickis Tod durfte ich kaum noch hoffen, solche Gleichgestimmtheit und eine solche Treue jemals wiederzufinden. Nun gab es dies noch einmal. Autorin: Wie intensiv sich die beiden Freunde austauschten, wie sehr sie auch ihr Privatleben miteinander teilten, erzählen Klaus Manns Tagebucheintragungen. Fast täglich unternehmen sie Spaziergänge, besuchen Theater, Konzerte, Kinos, treiben sich in eleganten Restaurants und Hafenspelunken rum. Sprechen über Drogen, Selbstmord, Sexualität – und natürlich über zeitgenössische literarische Strömungen. Sprecher 3 (Klaus Mann): (aus: Tagebücher 1934-35, S. 9) Mit Fritz im Städtischen Museum. Sehr starker Eindruck von den Van Goghs. Enormes Lunch im „Astoria“ mit Fritz und Landauer. Mit Fritz ins „Américain“, prächtig Hummer gegessen. Mit Fritz ins Kino am Rembrandsplein. Im „Astoria“ Christopher Isherwood getroffen. Hier mit Fritz lange Unterhaltung über Eifersucht, Problem der Treue, des Besitzes und so weiter…. Sprecher 2: (Fritz Landshoff): Fast jeden Nachmittag holte mich Klaus gegen fünf Uhr aus dem Verlag ab, wir gingen zusammen durch die Stadt, die für uns neu war, die wir beide insbesondere wegen der Schönheit der Grachten und der alten Gebäude bewunderten und der wir uns schnell zu Hause fühlten. Die Abende verbrachten wir vielfach zu Hause, nur Konzerte besuchten wir häufig – insbesondere die des Concertgebouw Orchesters, das unter der Leitung von Willem Mengelberg stand, mit Bruno Walter als ständigem zweiten Dirigenten. Die Konzerte fanden in der Saison fast jeden zweiten Donnerstag statt, und ihnen verdankten wir großen Genuss. Da die Familien Mann und Walter – Eltern und Kinder – bereits in den Münchner Tagen Nachbarn und Freunde waren, erwies sich die regelmäßige Anwesenheit des Ehepaars Walter für Klaus auch gesellschaftlich als eine erwünschte Bereicherung. Autorin: Bruno Walter, einer der bedeutendsten Dirigenten des 20. Jahrhundert, waren buchstäblich über Nacht die deutschen Konzertsäle verschlossen. Walter, Leiter und Chefdirigent des Leipziger Gewandhauses, wird im März 33 vom örtlichen Polizeipräsidenten gezwungen, Hals über Kopf seine Konzerte abzusagen und von seinem Posten zurückzutreten. In der Berliner Philharmonie dieselbe erschütternde Erfahrung, mit einer kleinen Variation. Zitat des Propagandaministeriums: Sprecher 4: „Wenn Sie das Konzert abhalten, dann können Sie sicher sein, dass alles im Saal kurz und klein geschlagen wird.“ Autorin: Bruno Walter, mit nur 25 Jahren von Gustav Mahler an die Wiener Hofoper gerufen, Dirigent an der Londoner Covent Garden Oper, der Berliner Philharmoniker, muss abtreten. Ohne Not übernimmt den Dirigentenstab stattdessen der reinrassig-arische Richard Strauss. Nur wenige Tage später erhält der in seiner Heimat als Jude von jeder künstlerischen Tätigkeit ausgeschlossene Bruno Walter eine Einladung vom renommierten Amsterdamer Concertgebouw Orchester. Er soll den erkrankten Chefdirigenten ersetzen. In Amsterdam hatte man bereits von Bruno Walters skandalöser Entlassung erfahren. In seiner Autobiographie „Thema und Variationen“ beschreibt der vertriebene Dirigent den ungeheuren Empfang in Amsterdam. Sprecher 5: Bruno Walter, (aus: Bruno Walter, Thema + Variationen“, S. 445) Ich sagte zu und fuhr über die Schweiz, Frankreich und Belgien – also im Bogen um Deutschland herum – nach Holland. An der holländischen Grenze stiegen mehrere Journalisten zu mir in den Wagen. Die holländischen Zeitungen hatten zwar ausführlich darüber berichtet, was sich mit mir in Deutschland ereignet hatte, aber sie wünschten nun auch ihren Lesern von meiner persönlichen Einstellung zu dem Erlebnis Kenntnis zu geben. Meine Antworten mussten jedoch so vorsichtig ausfallen, wie es die Sorge um meine Familie verlangte. Denn schon hatte es sich ereignet, dass gegnerische Äußerungen von Antinazis im Ausland an deren Angehörigen in Deutschland grausam gerächt worden waren. Ich traf in Amsterdam ein, wo mich Rudolf Mengelberg am Zug erwartete. Mir stand eine Überraschung und eine kaum tragbare Erschütterung bevor. Als ich aus dem Bahnhofsgebäude hinaustrat, sah ich den riesigen Platz davor schwarz von Menschen. Sie waren gekommen, um ihre Sympathie einem Musiker zu bezeugen, dessen Name und Wirken in Holland bekannt war und der ein schweres Unrecht erlitten hatte; sie wollten auf diese Weise gegen das Unrecht und gegen die Gesinnung, die es begangen, demonstrieren. Und plötzlich begannen sie zu singen; es war ein altes niederländisches Freiheitslied, das sie anstimmten, und der schöne, feierliche Klang, der über den weiten Platz und das Wasser in die Abenddämmerung hinaus drang, verklärte die Antinazi-Demonstration der Amsterdamer Sozialdemokraten zu einer Bekundung menschlicher Verbundenheit. Von Holland und den schönen Konzerten mit dem Orchester des Amsterdamer Concertgebouw kehrte ich nach Wien zurück. Meine Frau traf dort am Morgen nach dem Tage des von der deutschen Regierung angeordneten Judenboykotts ein. Sie, die kaum Tränen kannte, fiel mir weinend um den Hals, als sie aus dem Zuge stieg – der Anblick des entfesselten uniformierten Pöbels mit dem Abzeichen des Hakenkreuzes, der misshandelten Menschen auf den Berliner Straßen, der zertrümmerten Verkaufsläden, dieser ganze Zustand von Angst und Qual der Wehrlosen und gröhlenden Lust der Verfolger hatte sie völlig aus der Fassung gebracht und wirkte noch lange in ihr nach. Autorin: Der in Deutschland seiner Karriere beraubte Dirigent wird im renommierten Amsterdamer Konzerthaus auf Jahre ein regelmäßiger Gast sein. Am 26.März 1933 dirigiert Bruno Walter im Amsterdamer Concertgebouw unter anderem Mozarts Klavierkonzert Nr. 19, Carl Maria von Webers Oberon-Ouvertüre und die Fünfte Symphonie von Gustav Mahler. Musik 9: Gustav Mahler, Symphony No 5, 3. Satz (Scherzo) Dirigent: Bruno Walter, Philharmonic Orchestra of New York (1947),Label: Naxos 8.110896, LC 05537 Autorin: Amsterdam und der Querido Verlag werden zu einem Zufluchtsort für aus Deutschland geflohene Schriftsteller. Viele Intellektuelle glauben allerdings zu diesem Zeitpunkt, dass es schon „nicht so schlimm werden wird“. Fritz Landshoff erinnert sich in einem Rundfunk-Interview Jahrzehnte später an jenen Tag, der alles verändern würde. O-Ton Fritz Landshoff, (live-Gespräch mit Ralf Schnell, NDR) Es gehört zu den Dingen, die mir heute noch unbegreiflich sind, über die ich täglich nachdenke, wie war es möglich, dass nicht jeder erkannt hat, dass die Machtübernahme durch Hitler das Ende des freien Verlegens bedeutet. Wir bei Kiepenheuer haben das viel zu spät erkannt, aber ich kann wenigstens sagen, dass es uns am 30.1. 33 klar war, dass der Verlag überhaupt nicht die Möglichkeit hatte zu überleben. Wir wussten, wir haben zu liquidieren. 80 % unserer Autoren waren unannehmbar für das neue Regime. Die Autoren standen auf den Listen, die unmittelbar publiziert wurden, erst unregelmäßig, aber sehr schnell kamen diese Listen regelmäßig heraus, und unsere Autoren nahmen stets eine prominente Stellung auf diesen Listen ein. Autorin: Etliche der Autoren verbringen in der alten Grachtenstadt auch einen Teil ihres Lebens. Fritz Landshoff wird zum Berater, Verleger, Freund – und manchmal auch zum symbolischen Hackklotz für die Frustrationen und die Not der vertriebenen Schriftsteller. Einer der erfolgreichsten Autoren jener Zeit ist Joseph Roth, ein knorziger Österreicher, dessen Romane im deutschsprachigen Raum sensationelle Auflagen hatten. Ein großartiger Schriftsteller – und ein schwieriger Mensch. Am Tag nach der sogenannten Machtübernahme verlässt Roth Deutschland für immer, lebt zunächst in der Schweiz, dann in Frankreich, für mehrere Jahre auch in Amsterdam. Mit Fritz Landshoff war Joseph Roth schon in Berlin durch den Kiepenheuer Verlag bekannt. Roth hat keine Scheu, bei dem oppositionellen Querido Verlag zu publizieren, aber auch bei der Amsterdamer Konkurrenz Allert de Lange. Beide Verlage setzt er mit ständigen Briefen, mal drohend, mal bittend, unter Druck. Finanzieller Mangel ist ein Dauerthema, den anspruchsvollen Lebensstil ändert Joseph Roth deshalb keinesfalls. Er weiß, was er sich selbst und seinem literarischen Erfolg wert ist. In den Niederlanden ist Roth keinesfalls ein Nobody. Sein Roman „Hiob“ erscheint 1931 in niederländischer Übersetzung. Mit dem „Radetzky Marsch“ gelingt ihm auch in den Niederlanden der Durchbruch. Querido veröffentlicht 1934 den ersten im Exil geschriebene Roman „Tarabas“. Auflage: 6.000 Stück. Der erfolgsgekrönte Roth ist andere Zahlen gewohnt. O-Ton Andreas Landshoff: (17:35)) Joseph Roth war schon Autor vom Gustav-Kiepenheuer-Verlag in Berlin. Joseph Roth war sehr erfolgreich, zu Recht. 1930 erschien sein erfolgreichstes Buch, „Radetzkymarsch“, und da wurden in Deutschland in der Zeit – ich glaube, die Auflage war dann sehr schnell 50-60.000 Exemplare, das war ein wirklicher Erfolg, und natürlich „Hiob“, was ein schmaleres, dünneres Buch, das war auch sehr erfolgreich. Also er war ein Erfolgsautor in Deutschland, bevor er ins Exil ging. Außerdem war er Kolumnist für die Frankfurter Zeitung, reiste in der Zeit schon sehr viel, war auch viel im Ausland, schrieb Essays und Kolumnen für Frankfurter, war deren Korrespondent, war sehr gut bezahlt. Er hatte sehr hohes Einkommen, aber er hatte auch sehr hohe Kosten. Er hatte eine sehr kranke Frau, die in einer Nervenklinik aufgenommen war. Das hat er alles zahlen müssen bis zu ihrem Tod. Dann hatte er eine Freundin, mit der er zusammen lebte mit 2 Kindern, das war sein Zirkus. (…) Er zog mit diesem Wanderzirkus durch die Welt, lebte nur in sehr guten Hotels, aß in sehr guten Restaurants – er hatte ein sehr teures Leben, war sehr verwöhnt. Jetzt kam das Exil – er war nicht ein Mensch, der sich sehr um materielle Dinge kümmerte, das musste einfach da sein – jetzt war alles verkleinert. (…) Es war alles reduziert, aber das hat ihn nicht interessiert. Er lebte und arbeitete nur in Cafés, ging schon am Morgen ins Cafe, da trank er nicht nur Kaffee, sondern da kam schon die Flasche auf den Tisch. Er war ja ein schwerer Alkoholiker. Dieses Leben wollte er einfach weiter führen, auch wenn er hier in Holland war. Mein Vater hat manchmal in seiner Pension, wo mein Vater wohnte, nachts Anrufe bekommen: „Hier ist ein Herr, der hat eine ziemlich große Zeche, weil er hat dauernd alle Leute eingeladen für noch ein Gläschen und noch ein Gläschen. Er kann die Zeche nicht zahlen und hat uns Ihre Telefonnummer gegeben.“ Dann musste mein Vater in die Kneipe gehen und ihn auslösen. Die Pension Hirsch, hinterm Concertgebouw hatte zwei Eingänge und Hausnummern. In der einen Hausnummer wohnten Kesten und Landauer, im anderen wohnten Klaus Mann und mein Vater. Morgens frühstückte man zusammen – natürlich wurde ausgetauscht. Im Falle Joseph Roth war es so, die Vorschüsse, die Roth haben wollte und auch haben musste, um seine Kosten zu bezahlen – die Vorschüsse waren so, dass die Herren Allert de Lange und Querido sich das mit runzelnder Stirn anguckten und sagten… hörnse mal zu, kann das denn jemals wieder zurück verdient werden???? Die Herren der deutschsprachigen Verlage mussten untereinander verabreden, wer zahlt jetzt wieder den nächsten Vorschuss , wo ist ein Buch besser verkauft, bei welchem Verlag, so dass man es verantworten kann, dass Roth wieder einen Vorschuss bekam. Aber Roth (…) – der interessierte sich nicht - die Kasse musste stimmen, das Geld musste bezahlt werden. Und er hat sich zum Teil sehr unangenehm geäußert, nannte z.B. die Leute, denen er alles verdankte, den geschäftlichen Erfolg, Kesten, Landauer, das waren die „reichen Juden von Kurfürstendamm“. Das ist eine antisemitische Bemerkung, und das konnte Roth als galizischer Jude sich erlauben und konnte das sagen, ohne dass er Antisemit war. Aber das war seine Einstellung! Die Herren müssen mal zahlen, dafür sind sie da!!!! Es ist ja sehr oft so, dass Autoren ihre Verleger beschauen nicht nur als ihren Psychiater, sondern auch als ihren Bankier. Er hat auch sehr unangenehm in Briefen geschrieben: „Ja, der Landshoff, der will wieder nicht zahlen!“ Es war nicht so erfreulich. Mein Vater hat ihn als Schriftsteller sehr verehrt, aber als Person… mein Vater hat einen Brief, in einem Buch von J.Roth….. er hatte eine sehr kleine Handschrift, da steht dann drin: „Ich erwarte, dass Sie mir bis Ende der Woche 200 Gulden überwiesen haben, sonst muss ich mich leider anderweitig umsehen.“ Hat die Verlage gegeneinander ausgespielt. Er war ein genialer Schriftsteller, ich kann immer wieder in seine Bücher schauen, ein wunderbarer Stilist, einer der wichtigsten deutschsprachigen Autoren des frühen 20. Jahrhunderts. Aber er war ein unangenehmer Mensch. Autorin: Nach einem der vielen fordernden und herrisch formulierten Briefe Joseph Roths an den Querido-Verlag, platzt sogar dem ausnehmend höflichen Fritz Landshoff der Kragen. Sprecher 2 (Fritz Landshoff) (aus: Joseph Roth, Geschäft ist Geschäft, Briefwechsel zwischen J.Roth und den Exilverlagen Allert de Lange und Querido, S. 146) Amsterdam, 27. Juli 1934 Was veranlasst Sie eigentlich, nachdem Sie jahrelang über jeden Vertrag hinaus alles nur irgend auftreibbare Geld von uns erhalten haben, jetzt sich streng wie ein Unteroffizier zu benehmen, weshalb Sie übrigens keinen roten Heller mehr bekommen als wenn Sie sich etwas freundschaftlicher stellen würden. Mich INTERESSIERT die Beantwortung dieser freundschaftlichen Frage. Vergessen Sie nicht, mir zu schreiben! Die Post ist eine Abwechslung in meinem sehr beschissenen Leben. Ihr Fritz Landshoff Autorin: Auch Klaus Mann hat so seine speziellen Erinnerungen an die anstrengenden, aber auch inspirierenden Begegnungen mit Joseph Roth: Sprecher 3 (aus: Klaus Mann: Wendepunkt, S. 424) Die Visiten des österreichischen Dichters Joseph Roth brachten mancherlei Aufregung. Er bestand auf exorbitanten Vorschüssen und befremdete die Herren von der Presse durch bizarre politische Theorien, die er mit großer Beredsamkeit und Insistenz vertrat. (….) Während der Dichter dergleichen auseinandersetzte, konsumierte er erstaunliche Mengen äußerst konzentrierten Alkohols; in meiner Erinnerung waren es meist Getränke von ungewöhnlich dunkler, bräunlicher Färbung und geradezu diabolischer Intensität, die unser Freund aus kleinen Gläsern schlürfte. Wo er sich auch gerade aufhalten mochte, immer wurde sein Tisch zum Zentrum. (…) Kollegen und Bewunderer umgaben ihn, während er mit einer nicht ganz geheuren, vielleicht verzweifelt scherzhaft gemeinten Begeisterung vom kaiserlichen Gedanken schwärmte und dabei ein dunkles Gläschen nach dem anderen kippte. Die Mischungen, an denen er sich erlabte, sahen wie Medizinen aus, waren aber furchtbar unbekömmlich: Der Dichter Roth beging langsamen Selbstmord, trank sich allmählich zu Tod, inmitten Bewunderer und Kollegen. Autorin: Einige der Cafés, in denen Joseph Roth mit winziger Schrift seine Manuskripte verfasste, existieren noch heute. Das Café Reynders am Leidseplein - ein touristischer Treffpunkt am Drehkreuz der Amsterdamer Tram, mit Tischen und Stühlen vollgestellte Terrassencafés. Dazwischen Menschenmassen mit Rollkoffern und Rucksäcken…Wechselstuben für Währungen aus aller Welt. Nichts erinnert mehr daran, dass hier einst ein gefeierter Schriftsteller ungezählte Flaschen leerte und ebenso viele Seiten vollschrieb. Sein anderes Stammlokal, das Café Scheltema, hat sich zum Glück jeder Gentrifizierung verweigert. In die Jahre gekommene, wacklige Stühle, verschnörkelte Spiegel an den braunen Wänden, rohe Holzbohlen. Über einer der robusten Sitzbänke hängt ein Messingschild mit ironischem Selbstzitat des Schriftstellers: „Joseph Roth. Das bin ich wirklich. Böse, besoffen, aber gescheit..“ Musik 10: Jeroen Willems „Amsterdam“ aus: Jeroen Willems zingt Jacques Brel Text: Peer Wittenbols, Komp. Jacques Brel, Concerto Records CRLP 5049 Autorin: Zusammen mit Joseph Roth schreibt und trinkt in den Amsterdamer Kneipen eine junge Schriftstellerin, die ebenfalls aus Deutschland geflohen ist. Die Kölnerin Irmgard Keun hatte mit ihren Romanen „Gilgi, eine von uns“ und „Das kunstseidene Mädchen“ noch vor Machtergreifung der Nationalsozialisten einen Überraschungserfolg, weil sie mit frechem Tonfall das Lebensgefühl der jungen, großstädtischen Generation traf. Wie sich junge Frauen nicht mehr um moralinsaure Vorschriften kümmern, sondern ihr eigenes Geld verdienen, in modischen Kleidern die Nacht zum Tag machen und den Männern eine Nase drehen – oder Liebschaften aus finanzieller Not eingehen. 1933 werfen die völkischen Studenten Irmgard Keuns „Asphaltliteratur“ ins Feuer. Erst drei Jahre später verlässt die Autorin Deutschland. Der Lektor und Schriftsteller Hermann Kesten, eng befreundet und in einer Hausgemeinschaft mit Klaus Mann und Fritz Landshoff lebend, erinnert sich an die erste Begegnung mit der Autorin in Brüssel. Sprecher 4: (Hermann Kesten): (aus: Albert Debrunner, Zu Hause im 20 Jh, Kesten, S. 141) In der Halle des Hotels Metropole fand ich ein hübsches, junges Mädchen, blond und blauäugig, in einer weißen Bluse, das lieb lächelte und wie ein Fräulein aussah, mit dem man gleich tanzen gehen möchte. Aber wir saßen noch nicht am Tisch, bei einer Tasse Kaffee und einem Glas Wein, da sprach sie schon von Deutschland, mit blitzenden Augen und roten, witzigen Lippen. Sie erzählte vom neuen exotischen Germanien mit vorsichtig gesenkter Stimme und in tollkühnen Wendungen und Bildern. Ihre weiße, seidene Bluse und ihre blonden Haare flatterten wie in einem wilden Wind, ihre Augen und Hände schienen mitzusprechen, und es sprachen ihr Verstand und ihr Herz. Sie war naiv und brillant, witzig und verzweifelt, volkstümlich und feurig, und kein Fräulein mehr, sondern eine Tochter, die sich ihrer Väter und Brüder schämt, eine Prophetin, die anklagt, ein Prediger, der schilt, ein politischer Mensch, der eine ganze Zivilisation sich verschlämmen sah. Alles an ihr sprach und lachte und höhnte und trauerte. Sie war ganz Schmerz, ganz Empörung, ganz Leidenschaft, ganz Humor. Als ich schließlich durch die hallenden Straßen des nachtdunklen Brüssel in mein Hotel ging, schien mir, Deutschland könne nicht ganz untergehen, wenn es solche mutigen satirischen Dichterinnen habe. Autorin: Hermann Kesten, alter Freund und Kollege aus den Berliner Zeiten bei Kiepenheuer, ist zu dem Zeitpunkt Lektor beim Amsterdamer Verlag Allert de Lange. De Lange hat ebenfalls eine deutschsprachige Abteilung für Exillautoren gegründet und veröffentlicht Irmgard Keuns Roman „Das Mädchen, mit dem die Kinder nicht verkehren durften“. Er wird zum Bestseller des Jahres 1936. Weitere Manuskripte der jungen, talentierten Schriftstellerin lehnt der Verlag Allert de Lange allerdings ab. Sie seien „zu politisch“ und vor allem zu „anti-deutsch“. Und so übernimmt der fortschrittlichere und mutigere Querido Verlag alle weiteren Manuskripte von Irmgard Keun. 1937 erscheint „Nach Mitternacht“, das Fritz Landshoff als „eines der besten Bücher, die den Beginn des Hitlerregimes behandeln“ bezeichnet. „ Da sie die ersten Jahre des Dritten Reichs noch in Deutschland mitgemacht hatte, ist es wie kaum ein anderes ein legitimes Produkt der Zeit.“ Sprecher 2: (Fritz Landshoff) (aus: F.Landshoff, Erinnerungen, S. 105) Auch Irmgard Keun verbrachte den größten Teil des Tages schreibend in Cafés. Sie hatte Deutschland ohne Mittel verlassen und wurde durch bescheidene Rentenzahlungen bald von dem einen, bald von dem anderen Verlag unterhalten. Oft rief sie mich vom Café Americain oder Trianon oder Keizer an und wollte am frühen Nachmittag abgeholt oder „ausgelöst“ werden. Da ich nicht immer abkömmlich war, musste sie manchmal Stunden warten. Wir hatten ein sehr freundschaftliches Verhältnis, das durch solche Zwischenfälle in keiner Weise gestört wurde. Autorin: Irmgard Keuns „Kind aller Länder“ ist der zweite Roman, der bei Querido erscheint. Er erzählt aus dem scheinbar naiven Blickwinkel des Mädchens Kully die Flucht aus Deutschland nach Amsterdam. Querido bringt den scheinbar so leichtfüßig verfassten Roman 1938 raus. „Kind aller Länder“ gehört zu den „Herbstnovitäten“ von 1938. Keuns eigene Exil-Erfahrungen spiegeln sich in der Geschichte der Romanfigur Kully, einem 10-jährigen Mädchen aus Deutschland, zusammen mit der Mutter nach Amsterdam ins Exil getrieben. Kullys Vater ist Schriftsteller und wird mit seinem Roman nicht fertig, während sein Amsterdamer Verlag schon händeringend auf die Endfassung wartet. Vermutlich ist die Figur des Verlegers „Herr Krabbe“ ein Abbild von Emanuel Querido. Sprecherin 1 (Kully) (aus I. Keun, Kind aller Länder S. 63ff ) Wir sind in Amsterdam, seit drei Tagen. Als wir ankamen, war die Stadt mit orangefarbenen Fähnchen geschmückt, aber nicht für uns. Meine Mutter und ich sitzen in einem Lokal am Bahnhof, das auf schwarzem Wasser schwimmt. Die Sonne scheint, Schiffe fahren vorbei, Motorboote legen vor unsren Füßen an. Wir warten auf Herrn Krabbe. Vielleicht lässt er mich einmal in so einem Motorboot fahren. Er ist manchmal sehr nett, aber manchmal sieht er mich auch mit so düsteren Blicken an, als solle ich nicht auf der Welt sein. Er wollte auch gestern nicht die Möwen mit mir füttern. Ich darf mit meiner Mutter nicht sprechen. Sie hat eine angestrengte Stirn. Wahrscheinlich überlegt sie, wie sie Herrn Krabbe erklären soll, dass sie das Roman-Manuskript von meinem Vater wieder nicht mitgebracht hat. Das Hotel, in dem wir wohnen, ist so schön und vornehm, dass wir ängstlich atmen, wenn wir durch die Halle gehen müssen. Meine Mutter findet, dass wir überhaupt nicht mehr wie Gäste aussehen, sondern wie Frauen, die den Gästen Wäsche bringen oder Kleider zum Reinigen und Aufbügeln abholen. Als meine Mutter und ich vor ein paar Tagen in Amsterdam angekommen sind, haben wir zuerst geschlafen. Dann hat mir meine Mutter das weiße Kleid angezogen: wir sind in das Büro von Herrn Krabbe gegangen. (…)So stand meine Mutter mit mir vor Herrn Krabbe und bat ihn, meinem Vater Geld zu schicken. Herr Krabbe hielt ein Telegramm von meinem Vater in seinen Händen, in dem stand: „Erbitte Ihren Schutz für hilflose Frau und Kind“. Damit waren meine Mutter und ich gemeint. Herr Krabbe hat sich mit den Händen seinen Kopf und die Haare zusammengedrückt. Er hat meiner Mutter Bücher gezeigt, in denen sich Zahlen befinden, die unterm Strich eine Abrechnung sind. Er hat gesagt, dass mein Vater bereits seit einem halben Jahr seinen neuen Roman hätte abliefern müssen. Immerzu habe er das fertige Manuskript angekündigt, und dafür schon furchtbar viel Geld im Voraus erhalten. Meine Mutter hat gesagt: „Der Roman ist fertig. Ich habe ihn im Hotel.“ (…) Jetzt sitzen wir hier am Wasser und warten wieder auf Herrn krabbe. Vielleicht kommt er mit seinem Fahrrad, dann versuche ich mal, drauf zu fahren. Alle Menschen fahren hier mit Fahrrädern und sind fröhliche Radfahrer. Nur Herr Krabbe ist ein ernster Radfahrer, er singt nie beim Fahren vor sich hin. Er fährt auch nicht freihändig. Hoffentlich kommt bald mein Vater zurück. Wir sind schon wieder in größter Sorge wegen des Hotels. Meine Mutter wagt gar nicht zu fragen, was das Zimmer kostet. Wir wohnen im Hotel zusammen mit lauter Maharadschas, das sind die reichsten Männer der Welt. Herr Krabbe ist endlich in unser Lokal am Wasser gekommen. Er sieht dunkelböse aus, wie ein Menschenfresser. Es sind weitere Dichter in Amsterdam eingetroffen, die wachsen Herrn Krabbe über den Kopf, weil sie alle Geld von ihm wollen. Jetzt gehe ich zur Hauptpost, ich kenne den Weg. So viele Menschen stehen überall, weil die Königin herumfährt. Ich möchte sie gern sehen, vielleicht hat sie eine große Krone auf. Aber ich habe keine Zeit. Auf der Straße liegt ein großer Schäferhund mit einem Bettler. Dem Schäferhund ist das Bild von der Königin auf den Rücken geschnallt. Sie trägt eine Krone. (…) Ich darf das Geld für das Telegramm nicht verlieren. Überall sind Stände mit Trauben, Pfirsichen, Orangen und Kuchen. Ich möchte so furchtbar gern was kaufen. Viele Menschen betteln, weil sie auch kein Geld haben. Musik 11: Orchestrion, live-Aufnahme „Aan de Amsterdamse Grachten“ Am Damrak steht ein roter kleiner Kasten, da wippen Puppen hin und her und sprechen, das ist ein Theaterstück. Weit fort rufen und schreien Menschen, da fährt jetzt die Königin. Kleine Pferde ziehen Wagen mit großen Schränken aus Gold und Edelsteinen. Daraus kommt Musik. Überall ist Musik. Am schönsten sind die braunen Pferde, die gegenüber von der Post stehen. Sie gehören den Soldaten. (…) Ein Telegramm ist von meinem Vater gekommen, er ist fast schon in Holland. Er ist in Belgien. Die Holländer lassen ihn nicht rein, weil er keine hohen Geldsummen vorweisen kann. Überhaupt wollen sie keine geflüchteten Leute mehr haben. Meine Mutter und ich dürfen auch nicht mehr hier sein. Wir können aber auch nicht nach Belgien zu meinem Vater, weil wir kein belgisches Visum haben. Mein Vater hat auch einen ganzen Haufen Leute aus Prag und aus Polen mitgebracht, weil die Leute dort in Angst leben. Die Angst ist auch hier bei uns. Ich wünschte, wir hätten meinen Vater wieder. Wenn mein Vater in Belgien bis zur Grenze fahren würde, und wenn wir hier in Holland bis zur Grenze fahren würden, dann könnten wir uns doch vielleicht mal sehen und winken? Herr Krabbe sagt, wenn jetzt ein Krieg komm, werden wir alle eingesperrt und totgeschossen. Viele Menschen kommen zu uns in die Hotelhalle. Wir haben sie in Österreich kennengelernt, in Prag, in Polen. Auf einmal sind sie fast alle hier in Amsterdam und weinen manchmal und sagen: „Ihr habt es gut.“ Dann fängt auch meine Mutter an zu weinen. Vor dem Hotel ist das große Café, da sitzen die Menschen im Freien auf blonden Stühlen und trinken Kaffee. Der Rasen ist so grün, alles leuchtet. Straßenbahnen unterhalten sich mit Autos, glänzen und tuten und klingeln. Es ist so warm geworden, wir brauchen keine Decken und Mäntel. Alle Menschen schwitzen. Wenn man einem die Hand gibt, klebt man an ihm fest. Aber bald wird es wieder kalt. Manchmal telefoniert mein Vater aus Brüssel, dann sagt er: „Ruhe, Kinder, Ruhe.“ Mein Vater weint nie. Es ist warm und wir haben Hunger. Wir können nicht abreisen, weil wir das Hotel nicht bezahlen können. Wir können in kein anderes Land, aber wir dürfen auch nicht hierbleiben. Vielleicht kommen wir ins Gefängnis, dann werden wir verpflegt. Musik 12: Aquabella „Dortn iz mayn rueplats“ aus: Jubilee live Komp. Morris Rosenfeld, Text: traditionell, JaRo 4340-2 LC 8648 Autorin: Das Verlagsgebäude von Emanuel Querido an der Keizersgracht 333 ist heute ein privates Wohnhaus, damals wie heute ein herrschaftliches Gebäude, vier Etagen mit hohen Räumen und Blick auf die elegante Keizersgracht. Einer, der die Atmosphäre im Querido Verlag literarisch verarbeitet hat, ist Bruno Frank. Seine überaus erfolgreichen Theaterstücke wurden in den zwanziger Jahren an dutzenden von Bühnen aufgeführt. Bruno Frank und seine Frau Liesl waren gute Freunde und Hausnachbarn der Familie Thomas Mann in München. Als der Reichstag brennt, flieht das jüdische Ehepaar am nächsten Morgen in die Schweiz. Fritz Landshoff gewinnt den als äußerst liebenswürdig, gebildet und herzlich geschilderten Schriftsteller gleich zu Beginn der verlegerischen Arbeit bei Querido. Sprecher 2: (Fritz Landshoff) (aus: F.Landshoff, Erinnerungen eines Verlegers, S. 111) Schon nach kurzer Frist erhielt ich einen zweiten Brief von Bruno Frank, in dem er mir schrieb, er schäme sich, vor einigen Wochen noch Zweifel geäußert zu haben, ob er außerhalb Deutschlands erscheinen wolle. Er drückte mit voller Klarheit aus, dass er zu der endgültigen Entscheidung gekommen sei, sich von den reichsdeutschen Partnern zu trennen. Er gedenke in Zukunft nur im antifaschistischen Lager zu veröffentlichen. (….) Das wurde der Beginn einer verlegerischen Verbindung, die bis zu seinem allzu frühen Tod in enger persönlicher Freundschaft währte. Autorin: Bruno Frank veröffentlicht bei Querido vier Romane. Seinen fünften Exilroman „Die Tochter“ kann Frank 1943 nach dem Überfall der Deutschen auf die Niederlande nur noch im mexikanischen Exilverlag „El Libro Libre“ veröffentlichen. „Die Tochter“ in Gestalt der Protagonistin Elisabeth ist Inhaberin einer Buchhandlung in Polen. Ihr anspruchsvolles Literatursortiment bezieht sie von einem Amsterdamer Verlag, den sie persönlich aufsucht. Die folgende Szene aus „Die Tochter“ ist Bruno Franks persönliche Hommage an den Querido Verlag, an den langjährigen Freund Fritz Landshoff in Gestalt der Romanfigur Auerbach – und an die Stadt Amsterdam mit den Kunstschätzen des Goldenen Zeitalters, geschrieben aus der Sicht der Buchhändlerin Elisabeth. Sprecherin 2:(Elisabeth) (Bruno Frank, Die Tochter, S. 313) Aus Amsterdam gelangte die gehetzte Literatur auf Elisabeths Regalen am Ringplatz. Sie setzte ihren Ehrgeiz darein, dass nichts davon fehlte. Aber die Bücher verkauften sich schwer. Dieselbe Welt, die sich die Augen zuhielt vor der deutschen Gefahr – sie begann sich die Ohren zuzuhalten vor der deutschen Sprache, auch dort, wo diese Sprache ein Instrument des Grams und der Auflehnung war. Der Versand der Bücher aus Holland nach Polen war keineswegs einfach. Immer neue Umwege mussten ersonnen werden. Zahlungen zu bewerkstelligen, war ein Problem. Das machte Briefaustausch nötig, besonders mit einer dieser Verlagsfirmen – der, die am meisten wagte und galt. Angenehme Äußerungen kamen von dort, frei und humoristisch im Ton. Der Mann, der sie zeichnete, hieß Auerbach. Es wäre nützlich und anregend, dachte Elisabeth, da einmal persönlich Kontakt zu suchen. Und die Reise war kurz. Man bestieg in Warschau das Flugzeug und war nicht genötigt, unterwegs seinen Fuß auf deutschen Boden zu setzen. Das Haus, ein hundertjähriger, feiner Ziegelbau, blickte mit seiner hohen und schmalen Front nach der Gracht. Ulmen spiegelten ihr gezahntes Blattwerk im lautlosen Wasser. Droben das Zimmer im dritten Stock, zu dem man Elisabeth wies, schallte vor Tätigkeit. Die Arbeitenden waren beengt von Bücherstapeln und versandbereiten Paketen. Jemand diktierte. Zwei Schreibmaschinen klapperten durch die offenen Fenster in die Stille hinaus. Herr Auerbach kam aus seinem Privatkontor und streckte ihr die Hände entgegen. Dieses Kontor war ein Kämmerchen; ein Schreibtisch hätte nicht Platz gefunden. Stattdessen sah man neben dem Fenster ein altmodisches Stehpult, wirr mit Papieren bedeckt. Zwischen den Regalen und Büchertürmen blieb gerade Raum für zwei Stühle. Sie saßen kaum, so strömte schon das Gespräch ohne Hindernis. Sie hatten nicht nötig, erst gemeinsamen Boden zu suchen. Wer bei Herrn Auerbach eintrat, war ein Verbündeter. Er wirkte unmittelbar angenehm, durchaus nicht enttäuschend nach seinen Briefen. Seine sehr dunklen Augen im mittelmeerbraunen Gesicht, unter einem wahren Helm von nachtschwarzem Haar, leuchteten klug. Und er lachte gern, mit Genuss. Es war ein freies und tapferes Lachen „trotzdem“. Ja, in diesen zwei Stuben hatte die verjagte Literatur im Unwetter ihr Obdach gefunden, wie Lear auf der Heide. Man hatte dem Eigner des Hauses, einem eingesessenen Verleger, dankbar zu sein für den Unterstand. Dankbar auch für jeden einzelnen Gulden seines scharf kalkulierten Leihkapitals. Ein bemerkenswerter Charakter, dieser alte van Lennep, mit seinem geschäftlich gezügelten Enthusiasmus – die Besucherin musste ihn unbedingt kennen lernen. Vierzig Publikationen waren, im vergangenen Jahr allein, aus den zwei Stuben hervor gegangen. Es gab immer noch ein Echo. Um das ummauerte Deutschland, das stumm und ertaubt lag, wohnten verstreut noch Menschen, die Deutsch lasen: in Holland, der Schweiz, der tschechoslowakischen Republik, den skandinavischen Ländern, und neuerdings ja – er lachte fröhlich – etwas mehr auch in Polen. Freilich, die Auflagen waren gering, und viele Autoren begriffen das nicht. Sehr berühmte waren darunter, gewöhnt an ein begieriges Publikum und an gesicherte Einnahmen. Da war oft Geduld nötig – „die Geduld einer Krankenschwester“ formulierte Herr Auerbach, du sein Lachen klang jetzt eher betrübt. Er durfte zum Beispiel diesen Enttäuschten nicht antworten, dass er seinen Laden längst hätte zusperren müssen, hätte nicht mitunter die Übersetzung eines international bekannt gewordenen Werks Geld in die trockene Kasse geleitet. Elisabeth machte sich wieder auf. Der Julinachmittag strahlte, temperiert von der Meeresbrise. Sie durchquerte den Kern der schönen, gelassen geschäftigen Stadt, stand eine Weile vor dem Palais der Königin, an dessen zurückhaltender Fassade die vielen Fenster sorgsam verhängt waren, und kehrte in weitem Halbkreis, an einem Wasser entlang, in der Richtung nach ihrem Ausgang zurück. Vernünftig wäre es gewesen, im Hotel jetzt ein wenig auszuruhen. (…) Sie entsann sich der berühmten Gemäldesammlung der Stadt und fand ihren Weg. Das war ein fragwürdiger Notbehelf. Sie verlor sich in den Sälen und Gängen voller Portraits, Stillleben, Meerbilder, Schützengruppen, Regentenstücken. Elisabeth liebte Museen nicht besonders. Solch ein Repräsentationsbild war für einen Ratssaal gemalt, so ein Seestück für das Empfangszimmer bei einem Admiral, dieses intime Frauenportrait für einen patrizischen Gatten. Hier hing das nebeneinander wie im Leichenschauhaus. Natürlich, es lag an ihr. Sie „verstand“ nichts von Malerei. (…) Diese endlosen Bilderfluchten verschüchtern sie. Welch bedrängender Überfluss; welche meisterhafte und geisterhafte Routine. (…) Als sie sich umdrehte, sah sie sich einem Bild gegenüber, das unterhalb ihrer Augenhöhe hing. Den Namen des Malers hatte Elisabeth niemals gehört, was übrigens nicht viel besagte. Aber es war das erste Bild, das sie in all der Überfülle wirklich sah. Sie rückte sich aus der Fensternische den Schemel heran. Es war die typische holländische Flachlandschaft, gemalt in einem eigentümlichen Ton zwischen Herbstbraun und Silber. Irgendwo seitlich die Windmühle. Vorn ein gerader Kanal, den Widerschein der spätesten Tagesröte auf seinem moorigen Wasser. Und diesem vergehenden Rot antwortete ein anderes, ein stärkeres, warmes, aus den Fenstern eines Hauses im Hintergrund, dessen niedriger Umriss verschwamm. Nirgends eine Bewegung, keine Menschenfigur. Aber dies Lampenrot wartete auf einen Mann, der jetzt gleich in den Feldweg einbiegen würde, um nach Hause zu kehren. Alles war schon darin: die gute Müdigkeit nach anständigem Tagwerk, Dampf der Abendsuppe, stockendes Gespräch um den Tisch, und die vorausgespürte traumlose Nachtrast. Mehr wird keinem gegeben, sagte das Bild, mehr kann dem Menschen nicht werden, als sein Friede nach einem redlichen Tag. Musik 13: Jazz Trio Earforce „De Old Burger Tune“, Komp.: Reinder van Zalk, arrang. Tymen Geurts, Earforce Records 3. Stunde Musik 14: Angela Winkler, „Eine Zigarette lang“, aus: ‚Ich liebe Dich kann ich nicht sagen‘, Komp: Rudolf Nelson, Text: Emmerich Bernauer Trocadero, LC 02706Vverlag: Europaton Music Edition  Autorin: Klaus Mann verbringt in den dreißiger Jahren meistens sechs Monate in Amsterdam. Nach Deutschland kann und will er nicht zurück. Zwar geht es ihm durch seine Freundschaften, die Verlagsarbeit und die eigene schriftstellerische Arbeit vergleichsweise gut. Aber die ungewisse Zukunft, der Suizid seines geliebten Partners, die immer massivere Drogenabhängigkeit – Eukodal, Heroin, Kokain, Morphium - sind die versteckten Schattenseiten eines nach außen hin so ungetrübten Lebens. Seine Tagebuchnotizen verraten, wie sehr sich Klaus Mann mit Ende Zwanzig bereits den Tod wünscht. Und wie er sich – vielleicht als Antidot - täglich, nächtlich in einen geradezu manischen Strudel von kulturellen Unternehmungen, Verabredungen mit Literaten und Künstlern wirft, flüchtige sexuelle Begegnungen genauso sucht wie die eine wahre Große Liebe. Sein mit leidenschaftlichem Engagement lanciertes Projekt „Die Sammlung“ ist nach zwei Jahren finanziell am Ende. Trotz dieser seelischen Erschütterungen, der Rastlosigkeit ist Klaus Mann äußerst produktiv. Im Querido Verlag erscheinen in den Exiljahren seine großen Romane, die „Symphonie Pathéthique“, der umstrittene „Mephisto“ und „Der Vulkan. Roman unter Emigranten.“ „Der Vulkan“ erscheint 1939, Klaus Mann ist zu diesem Zeitpunkt bereits in die USA emigriert. Der Protagonist des Romans Benjamin Abel war ein renommierter Germanistikprofessor in Bonn. Nach der Machtergreifung der Nazis verschlägt es ihn nach Amsterdam ins Exil. Die Gemütslage des exilierten Professors mag in vielen Aspekten jener von Klaus Mann geähnelt haben, auch wenn der Autor – anders als seine Romanfigur – keine finanzielle Not hatte. Sprecher 5: (Prof. Abel) (aus: Klaus Mann, Der Vulkan, S. 117) Professor Abel kannte in Amsterdam keinen Menschen. (…)Er ging herum wie in einem schlimmen Traum, und was er dachte, war immer nur: Was soll ich hier? Warum bin ich eigentlich in dieser fremden Stadt? Leider bin ich doch gar kein Holländer – warum gehe ich also in den Straßen von Amsterdam spazieren? Freilich, freilich -erinnerte er sich, wirr und betrübt – man hat mich aus Deutschland hinausgeschmissen, ich dufte dort nicht mehr bleiben, Geheimrat von Besenkolb hat mich als einen ‚geistigen Vaterlandsverräter‘, als einen ‚Schädling an der deutschen Kultur‘ gebrandmarkt…(S. 118) Er saß im Freien, vor einem Café am Leidschen Plein. Es war angenehm, draußen zu sitzen; nach einem Junitag, der hochsommerlich heiß gewesen war, brachte die abendliche Stunde willkommene Kühle. Musik 15: Wolfgang Amadeus Mozart „ Die Hochzeit des Figaro“, Ouvertüre, Radio-Symphonieorchester Berlin, Ltg. Roberto Paternostro, aus: Von seinem Platz aus konnte Abel sehen, wie vor der ‚Stadsschouwburg‘ die schweren Automobile hielten und wie die Damen in Abendmänteln, die Herren mit den gestärkten weißen Hemdbrüsten sich am Portal drängten. Es gab eine festliche Opernaufführung. Mozart, Abel hatte Lust gehabt, hineinzugehen. Es wäre hübsch gewesen, den ‚Figaro‘ einmal wieder zu hören, warum habe ich mir eigentlich kein Billet besorgt, dachte er. Aber dann: nein, ich muss sparen: Gala-Abende in der Oper zu frequentieren, das entspricht keineswegs meinen Verhältnissen. – Es lag ihm daran, sich selber glauben zu machen, dass er nur aus Gründen der Ökonomie auf den Mozart verzichtet habe. In Wirklichkeit hinderten ihn andere Gefühle an einem Theaterbesuch, wie an jeder geselligen Veranstaltung. Er wagte sich nicht unter Menschen. Die Idee, sich unter festlich geputzten Leuten bewegen zu müssen, war ihm unerträglich. „Ich passe nicht in diese Gesellschaft, die reich, fröhlich und sorglos ist“, empfand er gramvoll. „Ich bin gezeichnet, ich trage das Mal. Man hat mich nicht haben wollen in meiner Heimat, hat mich zum Paria degradiert. Ich bin kein Vergnügungsreisender, sondern ein Flüchtling. Es wäre taktlos, eine grobe Taktlosigkeit wäre es, in meiner Situation an Festlichkeiten der Fremden teilzunehmen.“ Vor der Stadsschouwburg war es still geworden. Wie gerne wäre Abel dabei. Figaro war seine Lieblingsoper….. Musik 16 „Voi che sapete“, aus: Die Hochzeit des Figaro Interpretin Agnes Baltsa, Academy of St. Martin’s in the Fields, Ltg. Sir Neville Marriner Der einsame Professor bestellte sich noch einen Bols – anfangs hatte er den klaren, scharfen holländischen Schnaps nicht ausstehen können; jetzt aber fand er schon, dass er eigentlich ganz gut schmeckte, besonders, wenn man ihn mit ein paar Tropfen von brauner Essenz würzte. Einen Augenblick überlegte Benjamin sich sogar, ob er dem Mädchen, das mit bunten Tulpen zwischen den Tischen umherging, ein paar Blumen abkaufen sollte, eine rote, eine gelbe und eine weiße Tulpe; er könnte sie vor sich hin in ein Wasserglas stellen, sie würden ein schönes Leuchten haben im milden Dämmerlicht der frühen Abendstunde. Aber dann fand er, dass dies doch wohl zu extravagant und übermütig wäre. Er beschloss, dass er, nach dem Genuss diesen zweiten Bols, bezahlen, aufstehen und den Leidsche Plein überqueren wollte. Gegenüber von dem Hotel, auf dessen Caféterrasse er saß, gab es ein Blumengeschäft, das stets bemerkenswert schöne Orchideen, zart getönte, lieblich und überraschend geformte Blüten, sowie die ausgewähltesten Rosen, Nelken und Tulpen in seinem Schaufenster zeigte. Abel vergnügte sich oft mehrere Minuten damit, vor dieser Etalage zu stehen und sich die bizarren, beinah unzüchtigen Bildungen der kostbaren Treibhauspflanzen zu betrachten. Er fand es merkwürdig und sehr auffallend, welchen Luxus diese ernste und gediegene Stadt Amsterdam mit Blumen sich leistete. Oft kam es vor, dass nachts, in einem Lokal, Orchideen angeboten wurden, wie in den Lokalen anderer Städte Veilchen oder Maiglöckchen. (….) Über den Leidsche Plein wimmelten die Radfahrer: junge Mädchen, Greise, pfeifende Burschen, alles durcheinander, alles eifrig die Pedale tretend. Abel wunderte sich jeden Tag auf neue darüber, wieviel Fahrräder es in dieser Stadt gab; das öffentlich wie das private Leben schien sich hier zum großen Teil auf dem Zweirad abzuspielen. Benjamin argwöhnte oft, dass auch der Austausch von Zärtlichkeiten zwischen jungen Paaren auf diesen wendigen kleinen Fortbewegungsmaschinen erledigt wurde. Übrigens fürchtete Professor Abel sich sehr vor diesen „Fietsern“, wie sie hier hießen; durch ihre massenhafte Existenz wurde jede Überquerung der Straße zum riskanten Abenteuer. Nun hatten sie schon ihre kleinen Laternen an den Lenkstangen angesteckt, obwohl es am glasig grün-blauen Himmel noch ein wenig Helligkeit gab. Auf der Brücke, die über die Singelgracht führt, stieg eine kleine Gesellschaft junger Leute von den Rädern, um über das Brückengeländer ins träge, stehende Wasser zu schauen und recht nach Herzenslust sentimental zu sein. Sie stellten ihre Räder an die steinerne Brüstung, gegen die sich selber lehnten; sie legten einander die Arme um die Schultern, und nun sangen sie. Aus dem Wasser hoben sich Nebel. Allmählich wurde es kühl. An einem Tisch in Benjamins Nähe sprachen zwei beleibte Herren deutsch miteinander. Abel war empfindlich gegen den Klang der deutschen Sprache geworden; er fuhr immer ein wenig zusammen, wenn er sie unvermutet neben sich gesprochen hörte. Das Mädchen mit den Tulpen hatte sich zurückgezogen; sie ging wohl jetzt gegenüber, vorm Café „Trianon“ oder dem „Lido“, mit ihrem bunten Körbchen herum. In einer Bar am Rembrandt-Plein, im Zentrum der Stadt, wo Benjamin gelegentlich spät nachts noch einen Bols getrunken hatte, saß hinter der Theke ein geschminktes, hochblondes, üppiges, dummes und freundliches deutsches Mädchen. Sie war recht beliebt bei den holländischen Stammgästen. Eines Nachts kam Benjamin dazu, als ein wohlbeleibter und rotgesichtiger, gut gelaunter, ziemlich stark alkoholisierter Amsterdamer Geschäftsmann mit der kessen und gutmütigen Berlinerin scherzte. Den Hut keck im Nacken, den Paletot aufgeknöpft, die dicke Zigarre im Mund, saß der muntere Bürger auf dem hohen Barstuhl und versuchte, einen Berliner Witz zu erzählen. Benjamin nahm neben ihm Platz und wechselte seinerseits ein paar deutsche Worte mit dem Mädchen, das er nicht zum ersten Mal sah. Daraufhin verstummte der Holländer und sah ihn misstrauisch an. Nach einer etwas bedrohlichen Pause fragte er, die Augen böse zusammengekniffen: „Auch Deutscher?“ Benjamin musste bejahen. Der Holländer schnalzte mit der Zunge, schüttelte den Kopf, zuckte die Achseln; es war eine ganze Pantomime der Ratlosigkeit und des Bedauerns, die er aufführte. Endlich schrie er, sehr laut, aber mehr verzweifelt als zornig: „Auch ein Deutscher!! Nun möchte ich aber doch wissen: Warum sind alle diese Leute hier?! Warum“!“ rief er immer wieder, empört und jammernd, als wäre ein Heuschreckenschwarm in sein Land eingebrochen und träfe Anstalten, es zu verwüsten. Musik 17: Willy Walden „Als op het Leidseplein de lichtjes weer ens branden gaan…“ (1943) aus: „De Jaren Viftig, Vol 31“ AMR 3401,Text: Jacques van Tol, Komp. Cor Steyn Autorin: Der „Spuk“ ist nicht „bald wieder vorbei“, wie so manche gehofft hatten. Es ist auch nicht „ein Kegelverein, der seinen Vorstand gewechselt hat“. Erst recht ist das Exil keine Sache von ein paar Monaten. Die Machthaber von 1933 haben ihre Herrschaft fest etabliert. An eine Rückkehr ist nicht mehr zu denken. Die bleierne Zeit des auf Dauer Vertriebenen hat begonnen. Eine Zeit ohne Horizont und ohne Perspektive. Der holländische Otto-Normalbürger hegt Misstrauen gegen „zu viele“ exilierte Deutsche. Die Weltwirtschaftskrise hatte bis weit in die dreißiger Jahre auch in den Niederlanden eine Massenarbeitslosigkeit verursacht. Die Kleinen Leute, Arbeiter, Händler, Handwerker wussten kaum, wie sie sich und ihre kinderreichen Familien über Wasser halten sollten. Da konnte man die „Moffen“ aus Nazi-Deutschland erst recht nicht brauchen. Mitte der dreißiger Jahre wird auch in den noch freien Ländern die Luft kälter und schärfer. Aufnahmestopp für Emigranten, Fremdenpolizei, Pässe nur auf Zeit. Einsamkeit, Armut, keine feste Wohnung sind ständige Begleiter für Menschen ohne prominente, unterstützende Kontakte. Leute wie Konrad Merz, der eigentlich Kurt Lehmann hieß. Ein Berliner Jude aus kleinen Verhältnissen, der sich ein Jura-Studium erarbeitet hatte und 1934 nach Holland fliehen musste. Auch wenn Merz von Haus aus kein Schriftsteller war, veröffentlichte der Querido Verlag 1936 den autobiographischen Roman „Ein Mensch fällt aus Deutschland“ . Der Amsterdamer Antiquar Gerhard Leyerzapf erinnert sich an seine persönlichen Begegnungen mit Konrad Merz im Berlin der achtziger Jahre. O-Ton Gerhard Leyerzapf (8:00) Ich habe ihn kennengelernt in der Zeit, als ich bei Erasmus gearbeitet habe, da kam er auch häufiger – ein richtiger waschechter Berliner…. Ich fand ihn ein bisschen laut (lacht leise), wie die Berliner eben manchmal sind… aber er war sehr nett. Er hat außer diesem einen Buch praktisch nichts geschrieben. Es gibt noch nach dem Krieg so Erzählungen… aber es war eine interessante Figur, der sich nachher aus dem Migrantenmilieu in Amsterdam ganz zurückgezogen hat. Das beschreibt er in dem Buch, wie es zuging, dass der Eine den Anderen anpumpt, dass man ständig die Wohnung wechseln muss, weil man finanziell nicht auf die Beine kommt. Irgendwann hat ihm das gestunken, dann ist er nach Nordholland und hat beim Bauern gearbeitet. Das beschreibt er in dem Buch auch, jedenfalls ist er da hängengeblieben und hat sich auch ein bisschen abseits gehalten von dieser Emigrantenclique, die hier in Amsterdam entstanden ist. Da wollte er nichts mit zu tun haben. Konrad Merz – das ist in Holland ein berühmtes Exilbuch, weil sich Kontroverse dran geknüpft hat von einigen holländischen Schriftstellern, die bemängelt haben bei der deutschen Exilliteratur, dass die immer so rückwärtsgewandt war – und nicht die neue Situation beschrieben haben, die neue Exilsituation, was es für Veränderungen mit sich bringt, wie man darauf reagieren kann. Einer , der Schriftsteller, die das gemacht hat, war K. Merz, ein junger Berliner, der einfach beschreibt in dem Buch, was da passiert ist mit seinem Exil. Er ging ohne Koffer und ohne Familie und alles nach Holland, Ok, was machste jetzt? Er hatte irgendwann mal jemanden kennengelernt und wusste noch so halb die Adresse, hat da angeklingelt und sich vorgestellt: Hier bin ich. Und er beschreibt eben dieses Emigrantendasein sehr gut, und das macht den Wert dieses Buches aus. Sprecher 1: (Konrad Merz, Ein Mensch fällt aus Deutschland, S. 39) Autohupen, Fietsgeklingel, Motorgeratter, Schiffssirenen. „Mooie Blomen!“, Frauenlachen, „Sinaasapelen!“ „De Telegraaf!“ – „Haringe!“ – „Het Volk!“ Ein Vreemdeling steht in Amsterdam: wohin! Centraalstation. Wasser, Wasser und Wellen.Menschenleiber, Frauenstrümpfe, Hosen mit Bügelfalten und Hosen mit ohne. Wohin!!! Dam. Palais. Rokin. Kalverstraat. Carlton-Hotel. Wohin! Wohin! Kein Mensch sieht mich an, kein Leib dreht sich um, alles läuft und jagt. Jeder von diesen hat sein Bett und seine Selbstverständlichkeit, auf jeden wartet ein Mund oder ein Mittagessen oder ein Lachen. Was wartet auf mich? Da steht eine Bank. Meine Sohlen laufen hierhin, dorthin, hierhin, krumm und quer durch das Unbekannte. Wolken brechen, es regnet. Meine Beine sind nass, meine Seele friert, mein Körper ist 25 Pfund Pflaumenmus. Ich kann nicht mehr. Über den Augen klappt es zu wie Sargdeckel. Ich bin am Ende. Weites Silberband. Die Amstel. Wasser, Wellen, Glitzern. Ein Kopf hängt über Wasser, abgelegte Hoffnungen kreisen um ein Hirn. Knochen sinken ins Schwarze. Was ist denn mit Ihnen? Gehört der Kopf dort unten zufällig Ihnen, mein Herr? Meine Hacken sind bereits schief, da aber die Grachten hier auch schief liegen, sieht es aus wie nach Maß. Ich habe also in einem Hotel Wohnung genommen (wenn man diesen steingewordenen Irrtum Hotel nennen darf, ohne die Rasse der Hotels zu beleidigen.) Ich wohne unter Gallensteins Bett. Wenn man in diesem Hotel ein holländisches Wort hört, so ist es die Frau Wirtin. Alle anderen Worte sind deutsch. Und deren Hersteller sämtliche Emigranten. Die stellen mancherlei her. Der eine Seidenschals, der andere Wirkwaren, der dritte schlechte Witze, womit er Zahnpasta verkauft. (…)Links von uns wohnt der Sohn eines Landgerichtsrats aus Breslau. Vorhin nähte er sich das Loch in seiner Hose zu. Als er glücklich fertig war, bemerkte er auf der anderen Seite ein viel größeres Loch. (…) Er nähte auch das neue Loch zu. Als er fertig war, entdeckte er es endlich: er hatte sein Hosenbein zugenäht. In diesem Haus wohnen die Ausgestoßenen. Ob sie im Bett schlafen oder unterm Bett oder gar nicht, sie haben fast alle den schrägen Blick jenes Armen, und für die meisten von ihnen ist ihr Hosenbein nur ein riesiges Loch. Centraalstration. Zwischen staubigen Schildern, Lampen und runzligem Stullenpapier stand ich. Ich bin kein Schild und keine Lampe und auch zum Stullen einwickeln kann man mich nicht… ihr seid wenigstens ein bisschen nützlich, aber ich? Hoppla, ab ist! Ich werde mal versuchen… einem Herrn ist der Koffer runtergefallen, Griff ab. Augenblick… Augenblickchen! Ich trug den Koffer zur Tram. Donnerwetter…. Einen ganzen Gulden! Ich habe einen Gulden! Meine Kniekehlen jucken, mir ist nach Walzer. Einen Gulden! Jetzt will ich mich mal ordentlich… und dann gehe ich wieder hin und warte, bis hoffentlich bald wieder jemandem der Griff abgeht vom Koffer. Aber erst an Ilse schreiben. Meine Ilse, ich bin so froh und darum schreibe ich Dir. Ich haben eben so viel verdient, ich dann dafür im Automatenrestaurant 8 (in Worten: acht!) Brötchen mit acht Eiern erwerben. Gestern warst Du in Amsterdam, weißt Du das? Bei mir unter Gallensteins Bett warst Du. In meinem Traum warst Du. Ich nahm die Spange aus Deinem Haar – Du sollst doch keine Spange, Ilse! – und strich Deine widerspenstigen Locken nach hinten, und dann wurdest Du schmal und ein leises Lächeln aus Deinem Grunde und dann ----- „Und dann“, schrieb ich gerade an Ilse, und dann beugte sich ein Hut über meinen Brief und sagte: „Fremdenpolizei, kann ich Ihren Pass sehen?“ – Wie bitte? – „Fremdenpolizei! – Ihren Pass bitte.“ Meine Blicke stolperten an ihm empor: „Ich habe keinen Pass.“ „Dann müssen Sie mitkommen.“ Mitkommen! Die Straßen durch. Abgeführt. Aus den Fenstern kamen Augen. Schossen nach mir. Herablächeln. Jeder kannte ihn. Auf mir blieben die Blicke kleben. Mir ist, als ob ich einen Mord… als ob ich noch Blut am Anzug.. jeder neugierige Waschtopf blickt mich an: „Wieder mal so einer!“ Er stellte liebenswürdige Fragen. Und Fallen. „Machen Sie mal Ihre Taschen leer.“ Meine Finger kratzten an meinem Leib vorbei. Ich bin ja schon so leer. Wollen Sie mich noch leerer? Ein trauriges Taschentuch, ein pensionierter Füllfederhalter „Almamater“, noch von der Universität, ein ganzer Gulden, ein Brief von Ilse. Den liest er durch. Muss er das? Er muss. Gegenüber saß ein Mann in Uniform. Der schlitzte mir tausend Fragen auf. Die üblichen. Ob ich geboren bin. Ob von einer Mutter. Ob in einem Ort. Ob ich ein Punkt gewesen bin oder ein Komma oder ein Ausrufungszeichen. Und wo und wie lange und wann. „Sind Ihre Taschen leer?“ – „Ja, sehr.“ Mein Entdecker tastete mich ab. Er fand noch etwas. Vor meiner Brust – das Bild von Ilse. Meine Augen schlugen zu. „Ja“, sagte er, „mein Beruf ist, nichts zu glauben.“ Mir fehlt ein Stück Papier. Ein Stempel. Aber hier: wollen Sie vielleicht – eine Taschenlampe ließ ich durch meine Verpackung leuchten – darf ich Ihnen meine Lunge, hier meinen Stolz, hier mein Gehirn, hier mein Herz, hier… Er verstand mich nicht, er wollte nur ein Stück Papier. (….) Ich hatte mich hingesetzt, wo die Beamten zu sitzen haben. Du bist nun auf der anderen Seite, Angeklagter, Lump, Verbrecher. Kleiner Tisch. Kahl. Wie die Wand und die Luft und meine Aussicht.“ Musik 18: Jaroen Willems „Laat me niet aleen“ , aus: Jeroen Willems zingt Jacques Brel Autorin: Armut, Einsamkeit, Zweifel am Sinn des Lebens sind für viele Exilierte ständige Begleiter. Aber es kommt noch schlimmer. Am 10. Mai 1940 besetzen die Deutschen die politisch neutralen Niederlande. Fünf Tage später rücken deutsche Truppen in Amsterdam ein. Sie finden bereitwillige Verbündete in der niederländischen NSB „Nationaal-Sozialistische Beweging“. Die sieht ihre Stunde gekommen, überfällt jüdische Kulturstätten, zeigt sich in martialischen Aufmärschen, prügelt Juden aus der Straßenbahn. Amsterdam gilt mit seiner Bevölkerung von 80.000 Juden als Klein Jerusalem. Aber es gibt auch organisierte militante Gegenwehr aus dem Untergrund. Die „Kommunistische Partei Holland“ ruft im Februar 41 zu einem Proteststreik auf: „Fordert die sofortige Freilassung der verhafteten Juden“, „Entzieht die jüdischen Kinder der Nazi-Gewalt!“, „Seid solidarisch! Seid mutig!“ Tausende Menschen, von den Straßenbahnern zu Industrie- und Werftarbeitern stehen vor den Werktoren, um mit ihrem Streik die jüdische Bevölkerung Amsterdams zu schützen. SS und deutsche Polizeibataillone haben nach zwei Tagen die Stadt wieder unter Kontrolle, vier Streikende wurden erschossen und 22 zu Zuchthausstrafen verurteilt. Wenige Monate später zieht sich die Schlinge weiter zu. Jüdische Kinder werden von den Schulen verwiesen, Juden wird verboten, an kulturellen Veranstaltungen teilzunehmen, Kneipen, Märkte, Museen dürfen sie nur besuchen, wenn sie ausschließlich von und für Juden betrieben werden. Januar 42: Juden aus der Provinz müssen sich in Amsterdam in speziellen Sammelunterkünften einfinden. Der Judenstern ist ab Ende April Pflicht und muss für 4 Cent das Stück erworben werden. Innerhalb von 18 Monaten treiben SS und Gestapo landesweit über einhunderttausend Juden zusammen, verschleppen sie zunächst nach Nordholland in das Durchgangslager Westerbork. Von dort fahren dann die Züge Richtung Osten – in die Vernichtungslager von Buchenwald, Auschwitz, Sobibor. Konrad Merz, Autor des im Querido Verlag erschienen Romans „Ein Mensch fällt aus Deutschland“ ist nun ebenfalls seines Lebens nicht mehr sicher. Nur durch die Warnung von Fritz Landshoffs langjährige Sekretärin Jetty Weintraub kann er sich als Jude in Sicherheit bringen. O-Ton Konrad Merz(aus DLF-Sendung „Emigration ist immer schwierig“) Da habe ich also auf dem Albert-Cuyp-Markt die Sekretärin vom Querido…. die sah mich an, als ob sie eine Leiche vor sich sah und sagte: „Kommse mit!“ Und man ging dann immer mit einem Fietse, einem Fahrrad, und unterwegs sagte sie: „Sie müssen sofort verschwinden. Die Gestapo hat die ganze Nacht nach Ihnen gefragt. Ich habe Ihre Identität nicht preisgegeben, nicht um Sie zu retten, sondern um mich zu retten. Denn ich dachte, Sie wären in Amerika.“ Dann bin ich also verschwunden. Sehen Sie, in Holland ist es so, dass das Beste immer nur von einzelnen Menschen gemacht worden ist. Vielleicht in den meisten anderen Ländern auch, und man kann sogar sagen, dass überhaupt nur Individuen wirklich Leistung vollbracht haben. Dass nur das Individuum wirklich produktiv ist. Und so ist es auch mir ergangen, dass nur einzelne Menschen, der einzelne Gärtner, der mir da die Möglichkeit gegeben hat, bei ihm zu leben, seine Kühe zu rasieren, das war auch eine Freundlichkeit – ich habe nichts eingebracht – und das merkwürdige war, dass ich in der Hitlerzeit untergetaucht war bei seiner Witwe – er ist nämlich gestorben. Und die Witwe war genauso alt wie ich, und bei der bin ich untergetaucht ohne dass ich Geld hatte. Das ist nämlich so, die meisten Leute, die untergetaucht waren, kamen mit viel Geld und das war also ein geschäftliches Unternehmen. Bei mir war es einfach ein menschliches Unternehmen, dass ein Mensch sagt: „Du bist in Not, komm zu mir, wir werden schon was zu fressen kriegen.“ Autorin: Auch Grete Weil, Fotografin und Autorin, deutsche Jüdin, fand im letzten Moment in einem Amsterdamer Privathaus ein lebensrettendes Versteck. Sie und ihr Ehemann Edgar hatten bereits ein Visum nach Kuba in der Tasche, aber der Gatte wird einen Tag vor der Ausreise verhaftet und wenige Monate später im KZ Mauthausen ermordet. Grete Weil hat ihre Erinnerung über den nationalsozialistischen Terror erst nach der Befreiung in den Romanen „Ans Ende der Welt“ und „Tramhalte Beethovenstraat“ literarisch verarbeiten können. Eine Veröffentlichung im Querido Verlag war zu dem Zeitpunkt längst nicht mehr möglich. Als Fotografin betrieb sie ein Studio in genau jener Straße, nach der auch ihr bekanntester Roman benannt ist. Der Protagonist des Romans „Tramhalte Beethovenstraat“ ist ein deutscher Korrespondent, der in Amsterdam zur Untermiete wohnt. Man schreibt das Jahr 1942.Nacht für Nacht hört er in seinem Zimmer, wie vor dem Haus in der Beethovenstraat Straßenbahnen anrollen, halten, wieder abfahren. Zunächst glaubt Andreas, es seien Albträume, die ihn plagen. Musik 19: Pauline Oliveros/Stuart Dempster/Panaiotis, „Lear“ aus: „Deep Listening“, New Albion Records, NA 022 Sprecher 4: (aus: Grete Weil, Tramhalte Beethovenstraat, S. 30) In tiefem Schlaf der Schlag aufs Herz – die Geräusche. Diesmal schrie Andreas nicht, knipste das Licht an, sah auf die Uhr, es war Punkt zwei; er machte das Licht aus, lief zum Fenster und riss es auf. Unten standen vier Trambahnen mit je einem Anhänger, dahinter bewegte sich eine dunkle Masse, einige hundert Menschen mussten es sein: fahle Gesichter im Schein der blauen Taschenlampen, die von Jungen mit weißen Armbinden gehalten wurden. An den Flanken standen ein paar Uniformierte (Soldaten? Polizisten?) mit großen Schäferhunden an kurzen Leinen. Halblaute Kommandos: „Schnell, schnell, schneller. Wagen eins, eins a, zwei, zwei a, drei.“ Die Jungen mit den Armbinden schleppten Koffer, Rucksäcke, führten alte Leute. Ein Kind plärrte, eine Frau gab ihm einen Klaps und rief: „Sei nicht so ungezogen.“ Sie drängelten in die Wagen, in fürchterlicher Eile, Hühner, die gackernd zum Futternapf rennen, stießen sich gegenseitig mit Ellenbogen fort, voll Angst, nicht mitzukommen, stolperten die Trittbretter hinauf, ein Mann fiel zu Boden, die anderen stiegen über ihn hinweg, konnten es nicht erwarten, drinnen zu sein, einen Sitzplatz zu ergattern, es sich bequem zu machen. Immer wieder schlugen Hunde an, von ihren Führern durch einen leichten Schlag mit der Leine dazu angehalten. Dann waren alle eingestiegen, in verblüffend kurzer Zeit, eine Taschenlampe wurde geschwenkt, die Trambahnen rollten fort; nur die Uniformierten und die Jungen mit den Armbinden waren zurück geblieben, standen streng in zwei Gruppen geteilt und gingen schließlich grußlos in verschiedene Richtungen davon. Die Straße war leer, der Wind wehte, nach langer Zeit fuhr ein Auto vorbei. Musik Pauliveros hoch Sprecher 4: (aus: Grete Weil, Tramhalte Beethovenstraat, S. 92) Die Trambahnen kamen nicht mehr, doch die Deportationen gingen weiter. Man hatte sich etwas Neues einfallen lassen, brachte die Juden zu einer Sammelstelle, einem alten, heruntergekommenen Theater und schickte sie, wenn man genug zusammen hatte, in Polizeiwagen zu einer Verladerampe weit vor der Stadt. In der Beethovenstraat waren die Nächte still. Ab und zu fuhr ein Auto vorbei, manchmal hörte man Schritte und lauschte. Waren es Tritte von Schaftstiefeln, verharrte man, ohne sich zu bewegen, vor Angst erstarrt. Oft gab es Luftalarm, die Flak schoss, die Maschinen, die nach Deutschland flogen, summten in großer Höhe. Dann wieder Sirenen und Stille. Andreas wartete auf das, was kommen würde, die Zeit war über ihn hereingebrochen, er war wieder dazu verurteilt, Zeuge zu sein. Vor der Hollandschen Schouwburg, der Sammelstelle im Judenviertel, hielt ein SS-Mann Wache. Autorin: Die Hollandsche Schouwburg war ein prächtig ausgestattetes Theater im jüdischen Viertel, beliebt für seine Operetten und Revues. 1941 verfügen die Nationalsozialisten, dass das Theater nur noch für Juden offen ist und benennen es um in „Joodse“, also „jüdische“ Schouwburg“. Wenige Monate später ist aus der ehemaligen Kulturstätte ein improvisiertes Sammellager für Amsterdams jüdische Bevölkerung geworden. Zwischen 60- und 70.000 Menschen werden durch die Joodse Schouwburg geschleust und nach ein paar Tagen in die Konzentrationslager deportiert. Heute ist das restaurierte Gebäude aus dem 19. Jahrhundert eine nationale Gedenkstätte. Die folgende Szene stammt aus Grete Weils „Am Ende der Welt“ von 1949, in der eine jüdische Familie in die „Joodse Schouwburg“ verbracht wird. Sprecher 4: (aus: Grete Weil, Ans Ende der Welt, S. 10) Es erwies sich, dass man der Familie Professor Waterdrager tatsächlich eine Ausnahmestellung zugebilligt hatte, insofern nämlich, als man sie in einer eleganten Limousine zur Sammelstelle beförderte und nicht in einem der großen Überfallwagen, die sonst zum Judenholen gebraucht wurden. Sie saßen zusammengedrückt im Fond, vor sich den rauchenden Offizier. (…) Sie starrten in die undurchdringliche Schwärze der Straßen und wussten nicht, wo sie sich befanden. Es war seit fast einem Jahr das erste Mal, dass sie nach acht Uhr ihr Haus verlassen durften. „Ich hätte nichts dagegen, wenn er in eine Gracht fahren würde“, entgegnete Salomon bitter und seufzte leise: „Mein Amsterdam.“ (…) Übrigens dauerte die Fahrt nicht lange; der Deutsche hatte seine Zigarette noch nicht zu Ende geraucht, als der Wagen stillstand und sie aussteigen mussten. Sie konnten nichts sehen als ein regennasses Pflaster, auf das der schmale Lichtschein einer halbgeöffneten Tür fiel. Aber jetzt wussten sie genau, wo sie waren: inmitten des alten Judenviertels, jenes Gettos, das, voll von Schmutz und Gestank und heimlichen Glanzes, bis vor kurzem noch geblüht hatte wie zu Rembrandts Zeiten, und das jetzt, seit einem langen, mörderischen Jahr im Sterben lag. Das Ziel ihrer Fahrt, das Ziel aller Juden, war ein altes, heruntergekommenes Theater, in das die Waterdragers niemals ihren Fuß gesetzt hatten. „Nun“, sagte Professor Waterdrager und nahm die Schultern zurück, „wir sind versammelt. Das Stück kann beginnen.“ Henny sah ihn bewundernd an. Der Gute, noch in diesem Augenblick vermochte er zu scherzen (…) und ging auf seinen Ton ein: „Es hat schon angefangen“, sagte sie und deutete auf die Bühne, wo hohe Bretterstellagen zum Aufbewahren von Koffern und Rucksäcken dienten. In der Tat waren dies sehr wirksame, sehr moderne und sehr brutale Kulissen, und die Jungen, die dort unten im blauen Overall standen, mit weißer Binde um den Arm und gelbem Judenstern auf der Brust, hätten ohne weiteres einer von jenen Truppen angehören können, die seit zehn oder zwanzig Jahren allenthalben auf der Welt extreme politische Anschauungen, teils von links und teils von rechts, in Sprechchören zum besten gaben. „Es will mich dünken, dass wir hier selbst die Akteure sind“, sagte Salomon und fuhr dozierend fort: „Ich habe immer viel übrig gehabt für gutes Theater; denn diese so merkwürdig laszive und fast anstößige Kunst der Verwandlung und Maske ist doch zu gleicher Zeit ein schönes und angenehmes Mittel der Bildung. Und doch hätte ich es mir nicht träumen lassen, dass ich selbst einmal gezwungen würde, mitzutun.“ Autorin: Auch für den Querido Verlag hat sich die Schlinge zugezogen. Der 69-jährige Emanuel Querido und seine Frau Jane müssen den Verlag 1940 bei Einmarsch der Deutschen sofort schließen. Jetty Weintraub, die Sekretärin, vernichtet noch in derselben Nacht sämtliche Geschäftsunterlagen, um die Autoren des Verlags zu schützen. Fritz Landshoff ist zufällig auf Geschäftsreise in England. Seine Rückreise nach Amsterdam war für den 10.Mai 1940 geplant. O-Ton Andreas Landshoff (59:45) Am Tage, wo er zurückkommen sollte nach Holland, kommt morgens ins Hotel das Dienstmädchen, bringt das Frühstück, da liegt auch die Times, da steht der große Titel: Holland besetzt durch die Deutschen. Mein Vater wusste: Ich kann nicht mehr zurück, er stand ganz oben auf der Liste der ersten Verhaftungen, weil Goebbels war rasend, wenn das Wort Querido oder Landshoff nur fiel, weil das fand er anti-nationalsozialistische Propaganda, die im Ausland als Hetze gegen uns veröffentlicht wird. Das stimmte zum Teil nicht, weil Literatur nicht immer politischen Inhalt hat oder haben muss oder soll. Aber natürlich hat ein großer Teil der Autoren Zeitungsartikel, die kritisch gegenüber Deutschland waren, veröffentlicht in der internationalen Presse. Da stand Goebbels, der immerhin Propagandaminister war, der Landshoff sehr im Wege, der musste sofort verhaftet werden. Autorin: Am 14.Mai 1940 zerbombt die deutsche Luftwaffe die alte Hafenstadt Rotterdam. Über 800 Menschen sterben, die Innenstadt liegt in Trümmern. Der Querido-Verlag hatte in Rotterdam sein zentrales Bücherlager untergebracht. Es verbrennt komplett. Die Autoren und Mitarbeiter sind nun in alle Himmelsrichtungen verstreut. Einige haben den Lebenskampf für immer aufgegeben. Ernst Toller hatte sich schon 1939 in einem New Yorker Hotel in einem Anfall von Depressionen erhängt. Wenige Tage später trinkt sich sein enger Freund Joseph Roth aus Kummer über Tollers Suizid selber zu Tode. Stefan Zweig und seine Frau nehmen sich 1942 im brasilianischen Exil mit einer Überdosis Veronal das Leben. Klaus Mann wird noch bis 1949 durchhalten. Sein Drogenkonsum steigt fatal. In Cannes zieht er mit Schlaftabletten den Schlussstrich. Das Ehepaar Querido hatte sich nach dem Einmarsch der Deutschen auf seinen Landsitz zurückgezogen. Dann tauchten sie für mehrere Monate in einem Dorf unter. Wenige Wochen nach Kriegsende 1945 schreibt Jetty Weintraub, die mutige Sekretärin von Fritz Landshoff, einen Brief an ihren früheren Chef ins New Yorker Exil. Sprecherin 2: (Jetty Weintraub): (aus: F.Landshoff, Erinnerungen, S. 373) Amsterdam, 9. Juni 45 Lieber Doktor Landshoff, wir versuchen auf verschiedene Weise, Sie zu erreichen. Durch das Telegramm von Alice haben Sie wohl inzwischen gehört, dass wir noch leben und hier in Holland sind. Nach drei Jahren Illegalität und den üblichen Erlebnissen von Untertauchern und einem fürchterlichen Winter begreifen wir noch immer nicht richtig, was es bedeutet, wieder ziemlich frei zu sein. Unsere Eltern sind leider nach Polen deportiert worden. Über Walter Landauer ist bis jetzt noch keine Nachricht gekommen. Er war zuletzt im Lager Bergen-Belsen. Herr Querido ist im Juli 1943 mit Frau verhaftet worden, und wir fürchten, dass er nicht mehr lebt. Aber wir wissen von diesen Ereignissen hier vielleicht noch weniger als Sie da drüben. Herzlich, Jetty Weintraub Autorin: Walter Landauer war Studienfreund und Kollege im Kiepenheuer Verlag, teilte sich mit Fritz Landshoff und Klaus Mann in den ersten Amsterdamer Jahren eine Wohnung. Vertrauter in verlegerischen Fragen. Sprecher 2: (Fritz Landshoff) (aus: F. Landshoff, Erinnerungen eines Verlegers, S. 496) Liebe Jetty, vor wenigen Minuten erhielt ich eure Adresse durch euren Bruder. Ich kann euch gar nicht sagen, wie glücklich ich bin, zu erfahren, dass es euch gelungen ist, all das Elend der letzten Jahre zu überleben. Die Deportation eurer Eltern muss ein furchtbarer Schock für euch gewesen sein. Indirekte Nachrichten habe ich über Herrn und Frau Querido. Man sagte mir, dass sie 1943 deportiert wurden. Durch Friedrich Sussmann erfuhr ich, dass Walter Landauer, der zugleich mit Sussmann ausgetauscht werden sollte, im Dezember 1944 in Bergen-Belsen an Hunger gestorben ist. Ich schreibe euch sehr bald wieder. Meine allerbesten Grüße, euer Fritz Heinrich Landshoff Autorin: Emanuel und Jane Querido, beide weit über 70 Jahre alt, gehen denselben Weg wie die Menschen aus Grete Weils Roman „Ans Ende der Welt“. Zuerst in das missbrauchte Theater „Joodse Schouwburg“, dann weiter in das Sammellager Westerbork. Von dort in die Gaskammern nach Sobibor. Hinter dem Ewigen Licht in der heutigen Gedenkstätte „Hollandse Schouwburg“ halten schwarze Tafeln die Namen von Tausenden ermordeter Juden fest. Einer davon lautet Querido. Wer das Versteck des mutigen Verlegers an die Deutschen verraten hat, ist nicht bekannt. Musik 20: Hanns Eisler, „Winterschlacht-Suite“, 3. Satz „Schnee“/Andante (1:39)Edel/Berlin Classics 0092332 BC, LC 6203 Absage „Fluchtpunkt Amsterdam – eine Lange Nacht über deutschsprachige Exilliteratur“ von Kerstin Kilanowski Es sprachen: Daniel Berger, Marietta Bürger, Omar Elsaeidi, Andreas Laurenz Maier, Christiane Nothofer, Bernd Reheuser, Camilla Renschke und Volker Risch Ton und Technik: Hendrik Manook Regie: Kerstin Kilanowski Redaktion: Monika Künzel Musik 21: John Surman „Not Love Perhaps“, aus: „Private City“, (3:45) Label ECM 1366835780-2, LC2516 Musikliste 1. Stunde Titel: En Länge: 01:46 Interpret und Komponist: Michael Riessler Label: Enja Records Best.-Nr: ENJ 9303-2 Plattentitel: Honig und Asche - Honey and ash Titel: Carillon der Westerkerk, Amsterdam Länge: 00:24 Solist: Boudewijn Zwart (Carillon) Komponist: unbekannt Label und Best.-Nr: keine Titel: Also sprach Zarathustra, op. 30, TrV 176 (Tondichtung frei nach Friedrich Nietzsche für großes Orchester) Länge: 00:33 Ensemble: Berliner Symphoniker Dirigent: Georg Solti Komponist: Richard Strauss Label: Decca Best.-Nr: 5006899 Titel: Port d´Amsterdam Länge: 00:50 Interpret: Jerome Richard, Akkordeon Komponist: Jacques Brel Label und Best.-Nr: keine Titel: Solidaritätslied (flämisch) Länge: 01:47 Interpret: Ernst Busch Komponist: Hanns Eisler Label: Barbarossa Plattentitel: aus: Der Rote Orpheus - in Originalaufnahmen aus den Dreißiger Jahren Titel: Aan de Amsterdamse Grachten Länge: 01:20 Interpret: Lisa Batiashvili Komponist: Pieter Goemans Label und Best.-Nr: keine Plattentitel: Prinzengrachtconcert 2014 Titel: Aan de Amsterdamse Grachten Länge: 05:41 Interpret: Rieu, André Komponist: Peter Shott Label: Polydor Best.-Nr: 2766271 Plattentitel: Die schönsten Walzer von André Rieu 2. Stunde Titel: When harlequin sleeps remix Länge: 01:30 Interpret: Dreamer's Circus Komponist: Ale Carr, Rune Tonsgaard Sørensen, Nikolaj Busk Plattentitel: Dreamer's Circus. Konzert vom 23.04.2016 in der Zehntscheuer Ravensburg Titel: 3. Satz: Scherzo Länge: 02:49 Orchester: New York Philharmonic Orchestra Dirigent: Bruno Walter Komponist: Gustav Mahler Label: Philips Best.-Nr: 09408 LL Titel: Amsterdam Länge: 02:52 Interpret: Jeroen Willems Komponist: Jacques Brel Label: Concerto Records Best.-Nr: CRLP 5049 Plattentitel: Jerome Willems zingt Jacques Brel Titel: Aan de Amsterdamse Grachten Länge: 01:00 Interpret: Orchestrion, unbekannter Spieler Komponist: Pieter Goemans Label und Best.-Nr: keine Titel: Dortn iz mayn rueplats Länge: 01:48 Interpret: Aquabella Komponist: Morris Rosenfeld Label: JARO RECORDS Best.-Nr: 4340-2 Titel: De Old Burger Tune Länge: 02:58 Interpret: Jazz Trio Earforce Komponist: Reinder van Zalk Label: EARFORCE RECORDS 3. Stunde Titel: Eine Zigarette lang Länge: 02:04 Interpret: Angela Winkler Komponist: Rudolf Nelson Label: TROCADERO RECORDS Best.-Nr: 956752 Plattentitel: Ich liebe dich, kann ich nicht sagen Titel: Le nozze di Figaro (Ouvertüre) Länge: 01:22 Orchester: Radio-Symphonie-Orchester Berlin Dirigent: Roberto Paternostro Komponist: Wolfgang Amadeus Mozart Label: CAPRICCIO Best.-Nr: 10235/36 Titel: Voi che sapete che cosa è amor. Arie des Cherubino, 2. Akt (Sagt, holde Frauen, die ihr sie kennt) Länge: 01:12 Solist: Agnes Baltsa (Mezzosopran) Orchester: Academy of St. Martin in the Fields Dirigent: Neville Marriner Komponist: Wolfgang Amadeus Mozart Label: Philips Best.-Nr: 456215-2 Titel: Als op het Leidseplein de lichtjes weer ens branden gaan Länge: 02:52 Interpret: Willy Walden Komponist: Cor Steyn Best.-Nr: AMR 3401 Plattentitel: De Jaren Viftig, Vol 31 Titel: Laat me niet aleen Länge: 03:42 Interpret: Jeroen Willems Komponist: Jacques Brel Label: Concerto Records Best.-Nr: CRLP 5049 Plattentitel: Jerome Willems zingt Jacques Brel Titel: Lear Länge: 03:00 Interpret: Pauline Oliveros/Stuart Dempster/Panaiotis Komponist: Pauline Oliveros Label: New Albion Records Best.-Nr: NA 022 Plattentitel: Deep Listening Titel: 4. Satz: Schnee. Andante aus: Winterschlacht-Suite für Sprecher und Orchester, Länge: 01:39 Solist: Ekkehard Schall (Sprecher) Orchester: Rundfunk-Sinfonieorchester Leipzig Dirigent: Adolf Fritz Guhl Komponist: Hanns Eisler Label: BERLIN Classics Best.-Nr: 0092332 BC Titel: Not love perhaps Länge: 05:15 Interpret und Komponist: John Surman Label: ECM-Records Best.-Nr: ECM 1366; 835780-2 Plattentitel: Private City Literatur Der besondere Lesetipp für diese Sendung: Bettina BALTSCHEV, Hölle und Paradies – Amsterdam, Querido und die deutsche Exilliteratur Berlin, Berenberg Verlag 2016 Albert DEBRUNNER, Zu Hause im 20. Jahrhundert – Hermann Kesten Biographie Wädeswil/Schweiz, Nimbus Kunst und Bücher Verlag 2017 Bruno FRANK, Die Tochter Stockholm, Bermann-Fischer Verlag 1945 (keine ISBN) Irmgard KEUN, Kind aller Länder Köln, Kiepenheuer und Witsch 2016, ISBN 978-3-462-04897-1 Fritz LANDSHOFF, Erinnerungen eines Verlegers Berlin, Aufbau-Verlag 1991, ISBN 3-351-00585-7 Heinz LUNZER/Victoria LUNZER-TALOS, „Joseph Roth, Leben und Werk in Bildern“, Kiepenheuer & Witsch, Köln 2009, ISBN 978-3-462-04102-6 Heinrich MANN, „Man muss sich zu helfen wissen“, aus: Der Hass, Deutsche Zeitgeschichte, Essay Frankfurt, Fischer Verlag 1987, 1480-ISBN-3-596-25924-x Klaus MANN, Der Vulkan, Hamburg, Rowohlt 1981, 980-ISBN-3 499 148420 Klaus MANN, Der Wendepunkt, Hamburg, Rowohlt 2019, ISBN 978 3 499 27649 1 Klaus MANN, „Die Sammlung“ (Vorwort zu 1. Heft, 1. Jg), aus: Die Sammlung München, Zweitausendeins/Rogner & Bernhard Verlag 1986 (Nachdruck) ISBN 3 8077002229 Klaus MANN, „Amsterdam“, aus: Die Sammlung, 1. Jg. Heft 6 1934 München, Zweitausendeins/Rogner & Bernhard Verlag 1986 (Nachdruck) ISBN 3 8077002229 Konrad MERZ, Ein Mensch fällt aus Deutschland, Berlin/Weimar, Aufbau-Verlag 1994 Bruno WALTER, Thema und Variationen, Stockholm, Bermann-Fischer Verlag 1947 (keine ISBN) Grete WEIL, Tramhalte Beethovenstraat Freiburg/Basel/Wien, Herder Verlag 1995, ISBN 3-451-04363-7 Grete WEIL, Ans Ende der Welt, Berlin, Verlag Volk und Welt 1949 (keine ISBN)