COPYRIGHT Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von Deutschlandradio Kultur benutzt werden. Deutschlandradio Kultur | Forschung und Gesellschaft "Sturm auf den Elfenbeinturm" Autoren: Philip Banse und Andrea Frey Redaktion: Jana Wuttke 01 OTON 3250 (Tippen auf Tastatur) Dann noch ganz kurz bei Twitter... (Tippen) Meistens schreibe ich dann kurz "Happy Cake Friday" und was für einen Kuchen ich gemacht habe, diesmal einen Radiokuchen. 02 ATMO 2925 (Folie knistern, Einpacken des Kuchens) 03 OTON Anita Hubert packt den braunen Kuchen in Form eines Radios in Silberfolie ein. Die Bonnerin backt gern und präsentiert ihre Kreationen auf ihrem Kuchenblog CakeFriday.de: jeden Freitag ein neuer Kuchen. Heute, weil das Radio da ist, ein Radio-Kuchen. 04 OTON 0100 Ich versuche immer, den Kuchen passend zum Tag irgendwie herzustellen. Also, wenn jetzt P-Tag ist, mach ich zum Beispiel nen P-Pie, und ich hab schon nen Python-Cake zum Beispiel gebastelt, weil ich Udacity mache und wir da Python lernen. Teilweise mach' ich auch einfach nur ganz normale Kuchen, aber ich versuch schon ganz gerne, immer irgendwie was Besonderes am "Cake Friday" zu machen. AUTOR Python ist eine Programmiersprache. Anita Hubert hat einen Bachelorabschluss in Technik-Journalismus, an Informatik traute sie sich damals nicht heran. Heute arbeitet sie als Online-Redakteurin bei der Deutschen Post. Ihr Bruder brachte sie auf Udacity, eine Art Online-Universität des Stanford-Professors Sebastian Thrun: Berühmte Professoren oder der Chef-Forscher von Google, Peter Norvig, bieten Kurse an, gratis, Zehntausende machen mit: "Programmierung von Web- Anwendungen" oder "Angewandte Kryptografie". Die Vorlesungen sind in kurze Videos unterteilt. 05 OTON Da gibt's dann meistens erstmal so'n kurzes Einstiegsvideo... 06 ATMO (Udacity Video) AUTOR Der Dozent malt auf dem Bildschirm wie auf einer Tafel, dazu seine Erklärungen aus dem Off. 07 OTON 0620 (Video) Es geht hier eben darum, ne Suchmaschine zu bauen, und die muss natürlich erstmal irgendwo anfangen, und diese ganzen Seiten indexieren. .... (weiter als ATMO) AUTOR Das war Anita Huberts erster Kurs bei Udacity: Eine Suchmaschine programmieren. Der Kurs dauerte sieben Wochen, jede Woche neue Videos zwischen 5 und 10 Minuten, dazu Hausaufgaben und am Ende eine Prüfung. Fragen diskutierte Anita Hubert im Forum mit Studierenden aus aller Welt. Jetzt kann die Online-Redakteurin eine Suchmaschine programmieren. 08 OTON Ich hätte, glaube ich, einfach die Infrastruktur nicht unbedingt, ich meine, Google zum Beispiel hat Tausende Server, das hätt' ich natürlich nicht hier, aber in kleinem Maße könnte ich die bauen, ja. MUSIK AUTOR Seit dem frühen Mittelalter gab es höhere Bildung nur an einem Ort: der Universität. Dirk Baecker, Professor für Kulturtheorie und -analyse an der Zeppelin Universität in Friedrichshafen. 09 O-Ton Baecker, 23:30: Der springende Punkt ist ja zusätzlich der, dass die Universität so wie wir sie kennen, entstanden aus dem 19. und 18. Jahrhundert im Wesentlichen ein Anhängsel der Bibliothek ist. Das heißt, ohne Bibliothek, das ist der institutionelle Kern - keine Universität. Diese Bibliothek löst sich aber in der Netzwerkgesellschaft auf in eine Vielzahl von Orten und Quellen, an denen man Wissen in unterschiedlichster Qualität gewinnen kann. Wenn man eine Zukunft der Universität imaginiert, dann müsste sie eine Zukunft im Netz und nicht mehr eine Zukunft rund um Bibliotheken sein. AUTOR Das Wissen der Welt passt heute in jede Hosentasche, die groß genug ist für ein Smartphone. Es ist ausgezogen aus der Bibliothek und jeder Zeit und überall verfügbar. Aus einer knappen Ressource für Privilegierte ist durch Digitalisierung und Vernetzung ein weltweit verfügbares Massengut für alle geworden. Selten war das Humboldtsche Ideal des universellen Wissens so greifbar wie heute: Studierende in Bangladesh können Harvard-Vorlesungen zu organischer Chemie hören oder an Internet-Seminaren von Nobelpreisträgern teilnehmen. Doch ausgerechnet die Universitäten selbst ergreifen diese Chance nicht, sagt Sebastian Thrun, Informatik-Professor in Stanford und Gründer von Udacity. 10 OTON Sebastian Thrun, 8:40 Es frustriert mich wirklich, dass die Art und Weise, wie wir heute Vorlesungen halten, bereits Tausend Jahre alt ist. 1000 Jahre! Die Universität wurde gerade im Jahr 1088 erfunden. Damals gab's noch kein Buchdruck, da war die Vorlesung der beste Weg, Information zu verbreiten und heute nach 1000 Jahren machen wir's noch immer genau so. 11 O-Ton Baecker 1:50 Wenn man sich noch einmal fragt, wozu es denn Universitäten überhaupt gibt, menschheitsgeschichtlich, wenn ich so sagen darf, ist die Universität, das sagt schon der Name - Universitas, der Ort, an dem alles Wissen unter Ausschluss von irgendetwas verhandelt wird. AUTOR sagt der Soziologe Dirk Baecker: 12 O-Ton Baecker 1:50 Und diese Orte, an denen ein Wissen verhandelt, erforscht, gelehrt wird, das prinzipiell nicht auf die Begrenzung seiner selbst angewiesen ist, also keine religiösen Einschränkungen, keine politischen Einschränkungen, keine moralischen Einschränkungen akzeptiert, wird es nach wie vor geben müssen - die Frage ist, WO diese Orte eines universitären Denkens, Forschens und Lehrens zu finden sein werden. AUTORIN Für Humboldtsche Ideale ist in deutschen Universitäten immer weniger Platz. Die deutschen Hochschulen sind ausgelegt für 700.000 Studierende - aktuell eingeschrieben sind 2 Millionen. Vergangenes Jahr begannen in Deutschland 500.000 Menschen ein Studium, so viel wie noch nie. Heute macht fast die Hälfte eines Jahrgangs-Abitur - und es sollen immer mehr werden. Die Universitäten platzen aus allen Nähten. Regie: Musikakzent AUTOR Die Reaktion des akademischen Systems hat einen Namen: Bologna. In dieser italienischen Stadt beschloss die EU 1999 das europäische Hochschulsystem umzubauen, fit zu machen für das 21. Jahrhundert. Das Ziel: europaweit vergleichbare Abschlüsse, einheitliche Lehrpläne. Dieser so genannte Bologna- Prozess sorge jedoch für mehr Verschulung und weniger Freiheit, klagt Martin Lindner, Berater in Bildungsfragen. 13 O-Ton Lindner 00:33 Es ist absurd, ja. Wir haben diese extreme Schere, die aufgeht: Man weiß eigentlich, dass es so nicht geht. Wenn man mit Didaktikern redet und Pädagogen oder Leuten, die sich grundsätzlich Gedanken machen, dann sagen die einem schon, wie Lernen eigentlich sein müsste: also selbstbestimmt, in Lerngruppen, in Netzwerken, mit einer souveränen Verfügung über das Material, das ja sowieso im Netz zur Verfügung steht. Früher war ja das Material nur über diese Schleuse zugänglich bis zu einem gewissen Grad über die Uni, und dass ist halt nicht mehr der Fall. Und jetzt haben wir dieses Paradox, dass also die Strukturen aber deswegen aber nicht weicher werden, sich nicht öffnen, sondern das Gegenteil passiert. Und das liegt halt an dieser Zertifizierungsmanie einer Gesellschaft, die halt in der Krise ist jetzt gerade und merkt, dass ihr die Felle davon schwimmen, was die Qualifizierung angeht, was die Methoden angeht, mit denen man Positionen in der Gesellschaft verteilt hat. AUTOR Der Berufsalltag in einer digitalisierten und globalisierten Welt fordert zunehmend Fähigkeiten, die an überfüllten Massenunis nicht vermittelt werden. Reformer und Bewahrer stehen angesichts dieser neuen Entwicklung vor derselben drängenden Frage: Wie sieht die Zukunft der Bildung aus? Wie wird sich der Erwerb von Wissen im Informationszeitalter gestalten? Und kommt eine lange Traditionslinie, die den Erwerb von Bildung an den Ort Universität gekoppelt hat, zu einem Ende? Vieles spricht dafür. Die Universität wird nicht verschwinden, aber wie alle Lebensbereiche, die von der Digitalisierung und Vernetzung erfasst werden, wird die Universität in ihre Einzelteile zerlegt: Forschung, Lehre, Studium, Zertifizierung von Wissen - all das ist weiter nötig - muss aber durch das Internet nicht mehr unter das Dach einer Universität gezwängt werden. 13 ATMO 00: 00 Präse: (Tastengeklapper) Hier sieht man jetzt die Übersicht der Kurse, die es gibt, jetzt z.B. abgeschlossen AUTOR Niklas Schmücker sitzt in seiner Berliner Ein-Zimmer-Wohnung, an der Wand hängen Filmposter, auf dem Bücherbord steht hochkant eine Computer-Tastatur. Niklas Schmücker hat gerade sein Informatikstudium abgeschlossen, Master of Science an der Technischen Universität Berlin. Jetzt ist er bei Coursera eingeschrieben, einer Internet-Uni der amerikanischen Elitehochschulen MIT, Stanford, Princeton und Penn State University. Design und Analyse von Algorithmen, Spieltheorie, Griechische und römische Mythologie. 14 ATMO Kann ich auch mal Ton geben, soll ich? 15 OTON Das ist jetzt natural language processing... Hab ich Ton? Man sieht diese electures lights sieht man auf dem Hauptteil, rechts unten ist der Dozent und benutzt eben ein Programm, mit dem er diese Folien markieren kann, das heißt, er hat immer so digitale Stifte, mit denen er auf den Folien rummalen kann und eben Inhalte hervorheben kann, zeigen kann. AUTOR Im Schatten der altehrwürdigen Bildungsinstitute wachsen seit Jahren neue Bildungs-Angebote, die dem verkrusteten System ernsthafte Konkurrenz machen werden. Wer bereit ist, im Internet neue Wege zu beschreiten, findet Eliteuniversitäten, die ins Netz abgewandert sind; Nobelpreisträger bieten ihre Vorlesungen per Videostream an; neue Lernformen werden erprobt, bei denen Professoren und Universitäten keine Rolle mehr spielen. Karrieren sind immer häufiger auch ohne die Weihen des akademischen Systems möglich. Die Online- Kurse bei Coursera, sagt Informatiker Niklas Schmücker, sind seinen Uni- Seminaren überlegen: 16 OTON 4:10 Also, die Kurse, die ich jetzt belegt habe, die haben teilweise schon Überschneidungen mit dem, was ich in meinem Studium bisher gemacht habe, aber manche Sachen werden auch anders erklärt, werden besser erklärt, tiefer erklärt oder andere Aspekte, die wichtiger sind. Und deshalb war's auf jeden Fall doch noch mal interessant, die Sachen zu hören.. AUTOR Abgefilmte Vorlesungen stehen schon seit Jahren im Netz - auch von deutschen Universitäten. Zu einem Massenphänomen wurden die Video-Vorlesungen durch iTunes "U", ein Download-Angebot von Apple: Harvard, MIT, Oxford - Eliteuniversitäten veröffentlichen dort komplette Vorlesungereihen ihrer besten Kräfte, Seminar-Material inklusive. Die Downloadzahlen sind beträchtlich: Die Stanford-Kurse wurden 50 Millionen mal herunter geladen. Die britische Open University meldet 40000 Downloads von Kursmaterial - am Tag. 17 OTON (Video von Thrun) AUTOR Doch Sebastian Thrun wollte mehr als eine Vorlesung. Der Professor für Künstliche Intelligenz an der kalifornischen Elite-Universität Stanford wollte ein richtiges Seminar im Netz anbieten - mit Hausaufgaben, Fragen der Studierenden und Examen. 2011 veröffentlichte er seinen ersten Kurs bei Youtube: 18 O-Ton Thrun 03:05: (lacht) Das habe ich bei mir zu Hause gemacht, im Schlafzimmer, nachts meistens, um drei Uhr morgens und meine Studenten wussten genau, wie müde ich war. Es war eine Menge Arbeit, wirklich viel Arbeit. Und das Prinzip war, nicht ne Vorlesung zu halten, sondern Fragen zu stellen. Ich habe also ganz viele Fragen ausgearbeitet, teilweise pro Unit vielleicht 50 Fragen, so dass das Ganze zum Dialog wurde. Und in dem Video, das man dann auch sah, war auch ne Funktion, wenn man die Frage richtig beantwortet hatte, sah man was anderes, als wenn man die Frage falsch beantwortet hatte. 19 OTON TEDTalk Khan 00:12 (Applaus) "Khan-Academy is most known for its Collection of Videos, so let me show you a montage..." AUTOR Lernen, so wie es mir passt - Millionen Pädagogen auf der Welt versuchen, auf die Stärken, Schwächen und Interessen ihrer Schüler und Studierenden individuell einzugehen - und scheitern. Durch das Internet ist individuelles Lernen nun greifbarer denn je. Das hat Salman Khan als erster gezeigt und eine ganze Welle los getreten. Der Finanzanalyst wollte eigentlich nur seinen Cousins Mathe beibringen und nahm ein paar Youtube-Videos auf: Handschriftliche Notizen auf schwarzem Grund, dazu seine Erklärungen aus dem Off. 20 OTON (Khan Video) AUTOR Die simplen Mathe-Videos schauten sich Millionen an und Salman Kahn gründete die Khan-Academy, eine Online-Schule, die heute mit über 3000 simplen Videos Wissen rund um den Globus vermittelt: von 1+1 bis Wahrscheinlichkeitsrechnung, von Photosynthese bis Geografie. 21 OTON (Khan-Film) AUTOR Das Besondere an der Khan-Akademie: Schüler bestimmen selber, welche Aufgaben sie machen, wie lange sie an ihnen knobeln. 22 OTON (Khan) 13:34 Lernen im eigenen Tempo - es ist irgendwie verrückt, wenn man das wirklich mal im Klassenraum sieht. Wir haben das immer und immer wieder gemacht und jedes mal gesehen: es gibt eine Gruppe von Schülern, die schneller war und eine Gruppe, die langsamer war. Im traditionellen Modell wären die langsamen abgeschrieben worden. 14:05 Aber wenn sie wie mit unserer Technik jeden in seinem eignen Tempo arbeiten lassen - das sehen sie immer und immer wieder - haben sie Schüler, die ein bisschen länger gebraucht haben, um ein bestimmtes Konzept zu verstehen. Aber als sie das einmal verstanden hatten, schossen sie an die Spitze. Dieselben Schüler, die sie sechs Wochen zuvor noch für langsam hielten, galten nun als talentiert. 23 OTON 3600 Diese neuen Sachen wie Udacity wie Coursera sind ja den Fernunis relativ nah, also vom Bildungsansatz her. AUTOR Philipp Schmidt, Mit-Gründer der Peer-to-Peer-University, wohnt in Kapstadt, Südafrika und beantwortet Fragen hier per Skype. 24 OTON 3600 Es ist der Experte, der wird da quasi auf Video aufgenommen und dann sitzt man vor dem Computer und man absorbiert dieses Wissen, was da in einen rein gegossen wird im Prinzip. 3630 Aber was für mich interessanter wird, quasi dann der nächste Schritt hinter Udacity und Coursera, ist eben, dass... diese ganze Idee, dass da einer vorne steht und der weiß alles und man sitzt da und man hört zu und dann macht man ein paar Übungen alleine und dann hat man das verstanden - diese ganze Idee des Lernens ist ja total veraltet. AUTOR Philipp Schmidt, Mit-Gründer der Peer-to-Peer-University, einer Online- Universität, wo jeder von jedem lernt: Jeder kann Kurse anbieten, jeder kann Kurse belegen: "Linux Treiber Programmierung", "Design Your First BIG Game" oder "Wie erstelle ich meinen persönlichen Lehrplan?". 30000 Menschen sind registriert bei der Peer to Peer University, 10.000 nehme jeden Monat an einem Kurs teil. Finanziert wird die Peer-to-Peer-University von zwei Stiftungen, Verbindungen zum klassischen Bildungssystem gibt es kaum mehr. Wissbegierige, die sich möglichst weit von der klassischen Universität entfernen möchten, enden auf ihrem Marsch durch die Institutionen irgendwann bei der Peer-to-Peer-University. Danach kommen nur noch autonome Autodidakten. 25 O-Ton 1800 Die Uni wird sich verändern und vielleicht zehn, oder in 20 Jahren werden so Ansätze wie Peer-to-Peer-Universität ganz normale Bestandteile des Bildungssystems sein. Das sind dann nicht unbedingt wir, das sind dann ganz viele andere Leute auch sein, aber auf lange Sicht auf jeden Fall ist der Anspruch schon, dass Leute Möglichkeiten zur Bildung bekommen, die ihnen auch in ihrem Leben weiter hilft, also dass das nicht nur ein Hobby ist, was man an der Seite macht und man macht die richte Bildung an der Uni und macht man so ein Bisschen Spielerei bei Peer to Peer University, das ist auf jeden Fall nicht der Ansatz, sondern der Ansatz ist, dass die Leute auf viele verschiedene Weisen lernen und die Uni einen ganz kleinen Bestandteil dieses Lernens unterstützt und zertifiziert und dass wir in diesem ganzen anderen Bereich uns aufhalten und die Leute aber trotzdem ne Bestätigung, oder irgendwie ein Zeichen dafür bekommen, dass sie was geschafft haben und das ihnen auch in ihrem Leben, also über Jobs oder so weiterhelfen soll. AUTOR Die Universitäten stehen vor dem Erfinder-Dilemma: Sollen sie eine Innovation ignorieren, weil diese ihr aktuelles Modell gefährdet, und hoffen, es wird an ihnen vorüber ziehen? Oder sollen die Universitäten eine Innovation umsetzen, die ihr Kerngeschäft vielleicht zerstört, aber vielleicht das Überleben der Institution am Ende sichert? Diese Frage stellte sich der Stanford-Präsident John Hennesy spätestens, als sein Professor Sebastian Thrun der Kuchen-Bloggerin Anita und 160000 anderen über das Netz beibrachte, eine Suchmaschine zu programmieren. Umsonst. Wieso sollen Studierende noch 36.000 Dollar für ein Studium in Stanford zahlen, wenn es dieselben Vorlesungen gratis online gibt? Um Antworten auf diese Frage zu finden, nahm sich der Stanford-Präsident vier Monate Auszeit. Und wie reagieren deutsche Unis auf die Konkurrenz aus dem Netz? Sie warten ab und hoffen, dass alles schon nicht so schlimm wird. 26 ATMO (Uni Treppe hoch) AUTOR Michael Kämper van den Boogaart ist Vizepräsident der Humboldt-Universität zu Berlin und Beauftragter für die Lehre. Er sitzt in seinem Büro vor Bücherregalen und zeigt sich wenig beeindruckt von netzgestützten Uni-Alternativen. Er sieht nicht, dass Online-Angebote das 1000 Jahre alte Modell der ortsgebundenen Universität in Frage stellen. 27 O-TON 0200 Ich hab mir da selber schon mal verschiedene Sachen über I-Tunes runter geholt und angehört, und es ist ja nicht so, dass man dann wirklich eine ganze Vorlesungsreihe anhört, sondern man hat dann ein Angebot, und den Namen, den kenne ich, den würde ich gern mal hören. Insofern ist das eher so ein großer Supermarkt. Was aber eigentlich das Entscheidende sind, sind die Interaktionen zwischen Lehrenden und Studierenden. Und ich denke, selbst wenn man extrem fleißige Kolleginnen und Kollegen hat, die dann Nächte mit Emailschreiben zubringen, ist es noch etwas ganz anderes als die Dynamik eines Gesprächs. Und ich würde auch auf gar keinen Fall die Gemeinschaft der Kommilitoninnen und Kommilitonen unterschlagen. Also das Gespräch im Seminar, das häufig Erkenntnisgewinne produziert. AUTOR Natürlich ist der Druck auf seine US-Kollegen größer: Studierende zahlen dort selbst für schlechte Unis 20000 Dollar pro Semester und fragen natürlich lauter: wofür, wenn der Stanford-Professor nur einen Klick entfernt ist und nichts kostet? Doch auch die nahezu kostenlosen deutschen Universitäten werden sich etwas einfallen lassen müssen, sagt der Soziologe Dirk Baecker: Sonst sind sie für große Teile der kommenden Elite nicht mehr attraktiv. 28 O-Ton Baecker 11:15 Dann wird die entscheidende Frage sein: Wo gehen die Leute hin, die Lust haben, ihre eigene Intelligenz gleichsam frei autonom sich entwickeln zu lassen? Und parallel dazu: Wo werden denn Parteien und Unternehmen und Behörden und Kirchen hinschauen, um Nachwuchs zu suchen, der intelligent genug ist, beweglich genug ist, klug genug ist, um mit diesen Leuten verantwortungsvolle Aufgaben inklusive Führungsaufgaben zu übernehmen? Und ich kann mir sehr gut vorstellen, dass die Universitäten, die ja schon lange nicht mehr der primäre Ort der Rekrutierung von Intelligenz ist, sondern die meisten Organisationen sorgen dafür, dass die Leute, die sie brauchen in den eigenen Traineeships, in den eigenen Ausbildungsgängen zu den Kompetenzen kommen, die man braucht, dass die Universitäten da zunehmend an Attraktivität verlieren. AUTOR Bei Niklas Schmücker ist das schon passiert. Der 23-jährige begann nach seinem Informatikstudium an der TU Berlin beim renommierten Fraunhofer Institut. Müsste er heute noch einmal studieren, er würde es online machen - unter einer Bedingung: 29 O-Ton 5:20 Also wenn ich am Ende dafür genauso ein Zeugnis bekommen würde wie für ne normale Uni in Deutschland, würde ich es auf jeden Fall bevorzugen, weil ich dort meine Zeit viel besser einteilen kann, weil ich mehr Freiheiten hab bei der Kurswahl, weil ich auch finde, dass Material besser ist als was ich hier in Deutschland bekomme. Das will ich jetzt nicht so pauschal sagen, ich habe sehr viele gute Kurse gemacht, ich hatte eben auch viele schlechte Kurse in meinen neun Semestern, die ich jetzt hatte, und diese schlechten Kurse hätte ich mir einfach sparen können. Die hätte ich dann einfach nicht gemacht. Und das hab ich jetzt eben nicht, sondern hier gehe ich einfach zum MIT, wenn mir der Stanford-Kurs nicht gefällt. AUTOR Auch Kuchen-Bloggerin Anita Hubert hat drei neue Kurse bei der Udacity belegt - auch weil die Zertifikate von Stanford-Professor Sebastian Thrun mal gut sein könnten für die Karriere: 30 OTON 1955 Ich glaube nicht, dass dieses Zertifikat mir sofort alle Türen öffnen wird, das definitiv nicht. Man kann ja gar nicht nachprüfen, ob ich das zum Beispiel gemacht habe. Aber ich lerne ja diese Sachen, ich mache die Hausaufgaben, ich geb wirklich diese Sachen ab, mache die ganzen Kurse mit und deswegen lern ich das, also ich glaub, das bringt mir schon was. Ich habe bis jetzt in keinem Bewerbungsgespräch zu hören bekommen, ich bekomm den Job nicht, weil ich zu viel wusste, sondern eher, weil ich was nicht wusste. Und deswegen glaub ich nicht, dass es unbedingt schaden wird, sich weiter zu bilden. Wie gesagt, ich glaub nicht, dass das, wenn ich da zwei, drei weitere Kurse gemacht hab, sofort der große neue Karriereweg wird. AUTOR Das Zertifikat von Anita Hubert stellt Stanford-Professor Thrun aus, nicht die Stanford University. Die Elite-Uni beobachtet das Treiben ihres Professors misstrauisch, bedrohen dessen Internet-Seminare doch das lukrative Geschäftsmodell. Und das wichtigste Pfund, mit dem das akademische System noch wuchern kann, ist die Exklusivität ihrer international anerkannten Abschlüsse und Zertifikate. Für viele Branchen gilt bis heute: Ohne Zeugnis einer anerkannten Hochschule kein Job. Doch auch dieses Zeugnis-Monopol bröckelt, sagt Soziologe Dirk Baecker: 31 O-Ton Baecker 21:07 Wir sehen ja im Netz im Moment, dass es eine neue Form der Selbstdarstellung, neue Form des Nachweises von Kompetenzen gibt, die die Gestalt, den Charakter des Reputationsnachweises haben. AUTOR Das bisher vielversprechendste Alternativ-Modell für die Zertifizierung von Wissen ist die Open Badge Infrastructure der Mozilla Foundation, jener Stiftung, die auch den Browser Firefox entwickelt. Die Open Badge Infrastruktur liefert die Technik, mit der jedes Projekt, jede Online-Uni, jeder Kurs-Veranstalter seinen Teilnehmern ein Badge ausstellen kann, ein Zeugnis. Das Besondere: Über die Zeugnisvergabe entscheiden nicht Professoren, sondern die Teilnehmer des Kurses - zum Beispiel bei der Peer-to-Peer-University von Philipp Schmidt. 32 OTON 2140 Ein Problem mit der heutigen Zertifizierung ist ja, dass es, also Du kriegst ja Deinen Schein ja am Ende oder Dein Zeugnis oder Dein Diplom und der, dem du das in die Hand drückst, der interpretiert da ja eine gewissen Bedeutung hinein. Aber es ist sehr schwer zu sehen, was jemand jetzt wirklich an der Uni gemacht, und was für Arbeiten er da produziert hat, was die anderen Leute von ihm gedacht haben. Das ist alles in dem Schein eigentlich nicht enthalten. AUTOR Die Badges dagegen verweisen stets auf konkrete Projekte und Werke. Sollten solche alternativen Zeugnis-Systeme Fuß fassen, könnten sie wichtiges Element im Bildungssystem der Zukunft werden: Menschen bauen sich ihre Ausbildung aus verschiedenen Modulen zusammen, je nach Neigung und Branche - und die Universität wird nur noch ein Modul unter vielen sein, glaubt Philipp Schmidt. 33 OTON 2240 Und ich glaube, dass die Zertifizierung in diese Richtung gehen wird. Dass Leute viel mehr ihre Bildungsgeschichte halt in so Portfolios verpacken. Badges sind eben ein Teil und die Universitätszertifikate sind sicher ein wichtiger Bestandteil auf jeden Fall noch für die nächsten paar Jahrzehnte. Aber das wird alles Teil einer viel persönlicheren Geschichte, denke ich. AUTOR Informatiker Niklas Schmücker erzählt von Job-Anzeigen von Software- Unternehmen, die keinen Uni-Abschluss verlangten, sondern nur den Link zu seinem Profil bei GitHub, einem Software-Verzeichnis, wo genau dokumentiert ist, welcher Programmierer wie stark an welcher Software beteiligt war. AUTOR Doch auch die alternativen Zeugnis-Systeme lösen ein zentrales Problem noch nicht, sagt Philipp Schmidt: Weder Master, Bachelor oder Badges geben Auskunft darüber, ob jemand die "Fähigkeiten des 21. Jahrhunderts" beherrscht: Kommunikationstalent, Teamfähigkeit und Neugierde. 34 O-TON 3115 Das sind so die Sachen, die im Moment überhaupt nicht testbar sind oder nicht getestet werden. Also diese ganzen Zertifizierungen, die es im Moment gibt, da wird nicht von Teamarbeit geredet, da wird nicht von Problemlösen geredet, da wird nicht von Neugierde geredet. Wenn man aber ins Berufsleben guckt oder mal zehn Jahre später, dann sind das genau die Sachen, die den Erfolg von Leuten begründen und den auch die Arbeitgeber suchen. Und das sind die Sachen, wo man noch neue Ansätze finden muss, um das zu testen online. AUTOR Es gibt weitere unbeantwortete Fragen, die diese neue, immer ortsunabhängigere Bildung aufwirft, sagt der Soziologe Dirk Baecker. So habe die stationäre Universität eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe - jenseits der Bildung. 35 OTON 1640 Die Universität ist vor allem ein Ort der Erziehung des Nachwuchses, ne, die Universität ist auch als Ort der Hochschulbildung ein Ort der Erziehung des Nachwuchses, und Erziehung ist etwas anderes als bloß eine offene und interessierte Teilnahme an wissenschaftlicher Forschung. Bei Erziehung gibt es Absichten, bei Erziehung gibt es Zwänge, bei Erziehung gibt es Prüfungen, bei Erziehung gibt es auch - ganz wichtig, finde ich - den Versuch und die Aussicht sowohl der Schüler wie der Studenten, sie irgendwann hinter sich zu haben. AUTOR Doch das wird in Zukunft immer seltener der Fall sein. Wenn höhere Bildung aus immer mehr Modulen besteht, von denen die Universität nur noch eines ist. Dann können, ja müssen, sich immer mehr Menschen diese Module selbst zusammen setzen - ein Leben lang. Diese Freiheit dürfte vielen aber zu viel sein. Zu viel Option, zu viel Verantwortung, zu viel Bildung - lebenslänglich. 36 OTON Die Universität ist ein Ort der Erziehung; den man irgendwann auch hinter sich lassen muss, und ich finde, dass eine Form der Frage, die sie stellen, die ist, sich zu fragen: Wenn wir den Übergang in eine Computergesellschaft erleben, was muss dann in diesen drei oder vier oder fünf Jahren einer universitären Erziehung passieren, wenn man die anschließend hinter sich haben darf, um dann in den Berufen irgendwelchen besonderen Fähigkeiten und Absichten nachgehen zu können. 37 OTON 1640 Das Stichwort des lebenslangen Lernens ist ja die Drohung schlechthin. Denn lebenslanges Lernen bedeutet auch lebenslanges Geprüftwerden und wer will das schon? Die Universität ist ein Ort der Erziehung, den man irgendwie hinter sich lassen muss. AUTOR Wie aber kann sie aussehen, die Universität der Zukunft? Wer in Deutschland nach Antworten auf diese Frage sucht, muss ins brandenburgische Neuenhagen fahren, in ein kleines Dorf vor den Toren Berlins. 38 Atmo (Vogelgezwitscher, Schritte) 39 O-Ton Der Kopfstein-Pflaster-Weg führt durch Eichenwald zu einem Eisentor, dahinter ein weitläufiger Hof, gesäumt von verfallenden Stallgebäuden. Der ehemalige Reitstall Grafitz, vom Preußischen Staat als Reitschule gegründet, 1906 war das, steht alles heute unter Denkmalschutz. 40 OTON (BANSE:) Das sieht aber nicht nach Zukunft aus hier! 41 ATMO 3:00 Treppe hoch "Wir sind hier die Pioniere... Wir sind die ersten, die hier hingezogen sind. Und hier wird auch noch gebaut, also falls es gleich mal laut wird, liegt das daran, dass oben noch die Sachen ausgebaut werden. Hier sah es noch vor einiger Zeit ziemlich wild aus. Ich hab da auch noch Fotos von. Ja und äh, so ist es hier..." 42 ATMO 3:38 Türen quietschen AUTOR Im ehemaligen Haupthaus des Reitstalls ist iVersity untergekommen, ein StartUp- Unternehmen mit einer Handvoll Mitarbeitern. Der Programmierer hat seinen Zivildienst als Koch gemacht und bereitet für alle Mitarbeiter das Mittagessen zu. 43 OTON 11:00 iVersity ist im Prinzip eine digitale Infrastruktur für Hochschulen im 21. Jahrhundert, wenn man es mal weit gefasst beschreiben will. AUTOR sagt Hannes Klöpper, einer der beiden Gründer von iVersity. Bei iVersity können sich Hochschullehrer anmelden und Unterrichtsmaterial hochladen. Ihre Studierenden haben darauf dann Zugriff, können online diskutieren und zusammenarbeiten. Circa 40000 Menschen sind angemeldet bei Iversity, doch noch ist das System eng an die tradierte Hochschule gebunden: Im Netz arbeiten nur jene zusammen, die auch gemeinsam im Seminarraum sitzen. Hannes Klöpper hat jedoch die Vision einer Netzwerk-Universität entwickelt und sie im Buch "Die Universität im 21. Jahrhundert" aufgeschrieben. 44 OTON 00:15 Es wäre vorstellbar, dass ne Universität in Zukunft als Netzwerk organisiert ist, das bedeutet, dass es zwar nach wie vor eine Institution gibt, Orte gibt, an denen Studierende, Lehrende zusammenkommen, um gemeinsam miteinander zu diskutieren usw., das sich also nicht alles nur noch online abspielt, aber das muss halt nicht notwendigerweise an einem Ort der Fall sein. AUTOR Die Humboldt Universität etwa könnte in allen großen deutschen Städten Häuser anmieten: Gemütliche Atmosphäre, schnelles Internet, anregende Räume. Studierende lernen im Netz, mit Videos und offenen Lehrmaterialien. Für Prüfungen, Austausch und Inspiration aber gehen sie in ein Uni-Haus ihrer Wahl. Stanford-Professor Sebastian Thrun denkt in eine ähnliche Richtung: 45 O-Ton Thrun 14:00? Wenn man das machen würde, hätte man erstmal ne Menge Freiheit, ja, man könnte die ganze Vorlesung erstmal wegnehmen und ersetzen durch diese gesamten Videomethoden und es gibt eine Menge Möglichkeiten, das zu machen, was eigentlich passieren soll, was auch in Oxford und Cambridge viel passiert, dass in kleinen Gruppen, der Professor als Mentor mit Studenten arbeitet auf ner Dialogbasis, nicht auf einer Einwegbasis, wie das heute der Fall ist, ja. AUTOR Die Zukunft der Universität liegt also in ihrer Vergangenheit: Statt sich zu verschließen und zu verschulen, müsste die Uni sich ins Netz öffnen, offenen Lehrmaterialen, neue Vertriebswege und Zertifizierung als Service-Angebot würden den Weg zu einer selbstbestimmten, interessengeleiteten Bildung wieder eröffnen und der Modularisierung von Bildung Rechnung tragen. Um den Geist von Humboldt zu neuem Leben zu erwecken, muss das Rad nicht neu erfunden werden. Fernunis sind auf dem richtigen Weg, müssten aber die Werkzeuge des Internets besser nutzen. Studium, Lehre, Forschung, Sozialisation und Zertifizierung bleiben zentrale Funktionen. Sie müssen aber nicht mehr unter einem Dach stattfinden und die Uni wird sie nicht mehr allein anbieten. 46 ATMO (Kuchen essen) AUTOR Eine Netzwerk-Uni mit Brückenköpfen in jeder Stadt und einem offenen, flexiblen und modularen Lernangebot im Netz - das wäre auch etwas für die Kuchenbloggerin Anita Hubert. 51 OTON 2310 Würde ich mich sofort einschreiben. Gib mir den Link, quasi!