Deutschlandrundfahrt Immer noch ein bisschen Grenze - Die Elbe zwischen Niedersachsen und Mecklenburg-Vorpommern Von Ulrike Köppchen Sendung: 01. Oktober 2011, 15.05h Ton: Christiane Neumann Regie: Karena Lütge Redaktion: Margarete Wohlan Produktion: Deutschlandradio Kultur 2011 COPYRIGHT Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von Deutschlandradio Kultur benutzt werden. Jingle und Kennmusik 1. O-Ton: Andrea Schmidt Also, die Natur war sicherlich Profiteur dieser Situation, das muss man tatsächlich so sagen. Denn es war natürlich eine Ruhe hier, die Sie mitten in Deutschland eigentlich nur am grünen Band, wie es heute genannt wird, finden konnten. 2. O-Ton: Heidemarie von Rautenkranz Das Gefühl, jetzt ist da wieder eine Grenze, das ist ganz eigenartig, das ist so. Dass man dann eigentlich denkt: jetzt möchtest du rüber. 3. O-Ton: Andrea Harnisch Nach der Grenzöffnung war es natürlich spürbar zu merken und es war auch so guter Aufschwung. Das hat sich aber nach drei, vier Jahren gegeben, eigentlich haben wir da schon wieder gefragt: wann öffnet die nächste Grenze? Sprecher vom Dienst: Immer noch ein bisschen Grenze - Die Elbe zwischen Niedersachsen und Mecklenburg-Vorpommern Eine Deutschlandrundfahrt mit Ulrike Köppchen Atmo: Hafen Boizenburg (evtl. zu viel Wind, dann Bahnhofsatmo?) Autorin: Boizenburg an der Elbe. Früher der nördlichste Vorposten der DDR an der deutsch-deutschen Elbgrenze, heute eine Kleinstadt mit etwa 10.000 Einwohnern mitten in Deutschland. Der alte Stadtkern hübsch herausgeputzt, weiter draußen Schlaglöcher und viel Sanierungsbedarf. Am Hafen ein Asia-Restaurant in einem hässlichen grau-braunen Klotz aus DDR-Zeiten, gegenüber eine deutsche Gaststätte und die Reste der alten Werft, die 1997 pleite ging. Auf einer Anhöhe hinter der Stadt teilt sich die Straße Richtung Westen plötzlich. Auf dem Mittelstreifen ein ehemaliger DDR-Kontrollturm mit rundum verglastem Obergeschoss. Rechts eine längliche, gelbe Baracke mit einem Schild: "Weiterfahrt nur nach Aufforderung durch den Kontrollposten". Atmo: Tür schlägt, Schlüssel wird auf den Tisch geworfen 4. O-Ton: Harald Strelow Mein Name ist Harald Strelow, mein Spitzname ist Harry und daher auch mein Firmenname Checkpoint Harry Autorin: Harald Strelow ist Mitte 50 und gelernter Koch. Ein ruhiger Mann mit Brille und grauem Bart. In der allgemeinen Aufbruchstimmung nach der Wende im Herbst 1989 hatte er die Idee, den ehemaligen DDR- Kontrollpunkt in eine zivile Nutzung zu überführen. 5. O-Ton: Harald Strelow Das war erstmal gar nicht so einfach. Ich hab angefangen in Hagenow, das war unsere Kreisstadt damals, beim Polizeikreisamt, VPKA hieß das, der hat mich sogar empfangen, der Genosse, und sagte lakonisch: Was wollen Sie? Aus meinem Kontrollpunkt ne Imbissbude machen? Nun lassen Sie mal die Kirche im Dorf, wenn ich meinen Kontrollpunkt verkaufe - das hab ich noch im Ohr - dann kriegt das die Staatsbank der DDR. Autorin: Allerdings hatte sich das mit der Staatsbank der DDR bald erledigt, Harald Strelow setzte sich gegen sieben Mitbewerber vor der "Kommission zur besseren Versorgung der Bevölkerung" durch und bekam den Zuschlag für den ehemaligen Kontrollposten KP Vier 6. O-Ton: Harald Strelow Wir hatten eine Waffenkammer, wir hatten sogar eine Arrestzelle, einen Wachraum, Ruheraum, Teeküche, alles, was die Jungs damals so gebraucht haben.// Auf der Terrasse, wo die vier Tische jetzt stehen, da war das Verkaufsfenster, da haben wir einfach aus dem Haus heraus Bratwurst verkauft und Pommes. Autorin: Eine Imbissbude ist "Checkpoint Harry" aber schon lange nicht mehr, sondern ein Restaurant mit Partyservice. 7. O-Ton: Harald Strelow Wir haben ne gut bürgerliche Küche, vom Bauernfrühstück über Steak, über Fischgerichte - und nicht zu vergessen unsere Soljanka. Ein Überbleibsel aus der DDR// weil zu DDR-Zeiten gab's in jeder Gaststätte, ob groß, ob klein, gab's die Soljanka und auf einmal nach der Wende ist die so ziemlich schnell verschwunden - die kochen wir auch selbst. Ist natürlich Geschmacksache. Es gibt nur zwei Meinungen eigentlich von der Suppe. Entweder man mag sie oder man mag sie überhaupt nicht. Autorin: Auf dem Tresen liegt in Plastikfolie verpackt eine DDR-Verfassung, danaben lehnt eine Schaufensterpuppe in Uniform der Volkspolizei. An den Wänden Fotos von früher. Außerdem ein Bild von Harald Strelows aufgemotztem, rot-gelb lackierten Wartburg heute. Ein richtiger Tummelplatz für Ostalgiker. 8. O-Ton: Harald Strelow Das darf man nicht so ernst nehmen. Ernst waren die 40 Jahre davor, man kann diese Zeit nicht vergessen und nicht verdrängen, man soll sie dezent wach halten, aber ... ich bin kein Gestriger. Ich finde die neue Zeit hervorragend, ohne die wäre das nicht möglich gewesen, was ich erreicht habe bis jetzt. Aber deswegen kann ich meine Geschichte nicht vergessen. Autorin: Viel sei noch zu tun, meint Harry Strelow, aber das was in den letzten zwei Jahrzehnten geleistet worden sei an Infrastrukturmaßnahmen und Stadtsanierung, hätte die DDR in 100 Jahren nicht geschafft. 9. O-Ton: Harald Strelow Vorher waren wir fast im Niemandsland, an der Grenze im Sperrgebiet und jetzt sind wir mittendrin in Deutschland und Hamburg ist nicht weit. Ich sag mal, die Hälfte von den Boizenburger Einwohnern, die pendeln und haben ihre Arbeitsstellen jenseits der Elbe. Wir sind jetzt schon zentral. Atmo: Naturgeräusche (Achiv) Autorin: Nur knapp 10 Kilometer Luftlinie ist das mecklenburgische Boizenburg vom niedersächsischen Bleckede entfernt, aber der Weg dorthin ist umständlich. Wenn die Fähre nicht fährt, muss man mehr als 30 Kilometer über die Landstraße: erst nach Westen über Lauenburg, dort über die Elbbrücke und dann am anderen Elbufer wieder nach Süden. Überhaupt sind Ost und West entlang der alten Elbgrenze schlecht miteinander verbunden. Auf dem gesamten fast 100 Kilometer langen Elbstreifen gibt es lediglich zwei Brücken, ansonsten ist man auf Fähren angewiesen. Doch der Weg lohnt sich: Bleckede ist ein Städtchen mit viel Fachwerk und einem schönen Elbschloss aus dem 17. und 18. Jahrhundert. Hier erinnert heute nur noch eine Gedenktafel daran, dass auch auf dieser Seite 40 Jahre lang Grenze war. 10. O-Ton: Andrea Harnisch Ich als Kind durfte gar nicht an den Zaun ran oder an die Elbe, da hatten meine Eltern viel zu viel Angst vor, von daher hab ich's nicht oder nur heimlich getan. Wenn abends dann die Feten auf dem Strand gefeiert worden sind, war ich natürlich auch dabei, meine Eltern wussten aber nichts davon. Autorin: Andrea Harnisch ist die Tochter des früheren Bürgermeisters von Bleckede und hat hier in den 60er und 70er Jahren ihre Kindheit und Jugend verbracht. Ängstlich habe man damals nach Osten geschaut, erinnert sie sich. 11. O-Ton: Andrea Harnisch Wir selber haben gehört von Bekannten, dass auf unsere Seite rübergeschossen wurde, weil es doch immer Jugendliche gab oder Erwachsene, die in der Elbe eben geschwommen sind und dann eben austesten wollten, wo ist denn jetzt die Grenze direkt? Und dann wurde vom Osten rübergeschossen, das kam vor, und davor hatten wir natürlich alle Angst und Respekt. Autorin: Trotzdem hätte sie sich nie vorstellen können, aus Bleckede wegzugehen - Heimat bleibt schließlich Heimat. Umso schöner, als dann am 9. November 1989 die Grenze bei Boizenburg geöffnet wurde und Tausende von DDR-Bürgern in ihren Trabbis den Westen besuchten. Für eine Autohausbesitzerin natürlich doppelt schön. Ihr erster Gedanke damals: 12. O-Ton: Andrea Harnisch Was ist das für ein Geknatter? (lacht) Es hat schon furchtbar geknattert und gestunken hat es. Aber es war schön. Ich glaube auch nicht, dass das ein besonderes Gefühl ist, wenn man ein Autohaus hat. Klar man hat natürlich gesehen, potenzielle Kundschaft, das ist klar. Autorin: Aber natürlich nicht auf Dauer... 13. O-Ton: Andrea Harnisch Nach der Grenzöffnung war es natürlich spürbar und es war auch so guter Aufschwung. Das hat sich aber nach drei, vier Jahren gegeben, dann war es wieder gleich, eigentlich haben wir da schon wieder gefragt: wann öffnet die nächste Grenze? Musik Linker Marsch, Ernst Busch Atmo: Schritte 14. O-Ton: Hans-Joachim Steinkrug Praktisch vor dem Turm ging der Zaun lang und der hat dann praktisch Rüterberg eingegrenzt und hier saßen dann die Landgrenzer drauf und haben mit ihren Waffen und mit ihren Ferngläsern dafür gesorgt, dass niemand diese Landgrenze durchbricht. Autorin: Das kleine Dorf Rüterberg, auf einer Landzunge am Ostufer der Elbe gelegen. In der DDR-Zeit wegen seiner exponierten Lage ein beliebter Ort, um von dort aus die Flucht in den Westen anzutreten und deshalb in den 60er Jahren komplett eingezäunt. Nur durch ein bewachtes Tor und mit einem Passierschein konnten die Bewohner den Ort verlassen oder betreten. Abends wurde abgeschlossen, erzählt Hans-Joachim Steinkrug. Und wer zu spät kam, musste dann eben draußen bleiben. Heute erinnert nur noch ein Stück vom alten Metallzaun an diese Zeit. Ansonsten wirkt das Dorf gemütlich und gepflegt, viele Altbundesbürger haben sich hier Ferienhäuser gekauft. Auch den ehemaligen Grenzturm, an dessen Mauern mittlerweile Efeu rankt. 15. O-Ton: Hans-Joachim Steinkrug Dieser Turm wurde dann wie gesagt nach der Wende... weiß ich nicht, wer den verkauft hat, er hat jetzt einen privaten Besitzer, der sich da draus eine Unterkunft, bisschen was angebaut, einen Wintergarten und so, ja, und der nutzt den eben für zivile Zwecke. Wir gehen jetzt aber auf den Holzturm hier, von dem aus man Überblick hat über die damalige Grenze und Blick in Richtung Damnatz. Atmo: Schritte, kurz frei, dann O-Ton darüber 16. O-Ton: Hans-Joachim Steinkrug Wenn Sie jetzt hier rübergucken, dann sehen Sie den Hafen Damnatz, Sie sehen auch einen Bagger, den mit dem gelben Arm da, von der Wasserwirtschaft, die vertiefen die Fahrrinne, passen auf, dass die Sandbänke, die Ablagerungen wieder wegkommen, denn die Fahrrinne kommt vom Hafen Damnatz hier rüber. Und dann fahren die Schiffe hier von der Ostseite der Elbe talwärts. Autorin: Hans-Joachim Steinkrug kennt sich bestens aus mit der Elbe. Hier lebt er seit Jahrzehnten und hier hat er in den 60er Jahren seinen Wehrdienst bei den Grenztruppen der DDR geleistet. Nur eins weiß er nicht: 17. O-Ton: Hans-Joachim Steinkrug Wo ist in diesem Fluss die Grenze gewesen zwischen DDR und Bundesrepublik? Autorin: Trotz vielen Kilometern Streckmetall und Stacheldraht wusste eigentlich niemand so ganz genau, wo die tatsächliche Grenze zwischen beiden deutschen Staaten an der Elbe verlief. Beziehungsweise man konnte sich nicht einigen: Während der Westen den gesamten Fluss für sich beanspruchte, lag die Grenze für die ehemalige DDR in der Flussmitte. Lange Zeit schien man sich an der unklaren Situation nicht zu stören: Frachtschiffe auf dem Weg von und nach West-Berlin, die Barkassen der DDR-Grenztruppen, die Schnellboote von Zoll und Bundesgrenzschutz alle fuhren sie mehr oder weniger störungsfrei über den Fluss. Bis zum Oktober 1966: Atmo/Geräusch: Boote auf dem Fluss, evtl. Militärgeräusch 18. O-Ton: Hans-Joachim Steinkrug Wir wollten Feierabend machen in Dömitz mit unserem Boot, und dann kriegen wir noch einen Befehl: ihr bleibt hier gegenüber Hafen Damnatz liegen und beobachtet die Aktivitäten der "Kugelbake", denn wir haben der "Kugelbake" verboten, weiterhin Peilarbeiten auf dem Territorium der DDR durchzuführen. Autorin: Stein des Anstoßes ist das westdeutsche Peilschiff "Kugelbake", das wie jedes Jahr zu Vermessungsarbeiten auf der Elbe kreuzt. Dieses Mal jedoch schickt die DDR gleichzeitig ein eigenes Peilboot auf den Fluss. Als diesem von den westdeutschen Behörden das Recht verweigert wird, am Westufer zu peilen, stellt sich die ostdeutsche Seite bei der "Kugelbake" im wahrsten Sinne plötzlich quer: 19. O-Ton: Hans-Joachim Steinkrug Als sie denn am nächsten Morgen, am 7. Oktober rauskam, haben wir uns quer vorgelegt, kamen noch zwei Boote dazu und haben sie bei der Durchführung ihrer Querpeilungen behindert. Es ist ein englischer Offizier dann auf die Kugelbake gegangen, ein Offizier des Bundesgrenzschutzes ebenfalls und hat uns darauf hingewiesen, dass wir kein Recht hätten, sie zu behindern, denn wir würden uns auf dem Territorium der Bundesrepublik befinden. Nun stand natürlich unser Befehl gegen deren Aussage und wir haben sie weiterhin behindert. Autorin: Nach einigen Tagen Geplänkel auf dem Fluss ziehen am Westufer der Elbe britische Panzer auf, und auf der Ostseite wird eine in der Nähe stationierte sowjetische Panzerkompanie in Marsch gesetzt. Atmo/Geräusch 20. O-Ton: Hans-Joachim Steinkrug Unser Zugführer war bei uns mit an Bord auf der Barkasse und der sagte immer: Jungs, keine Waffen! Fasst keine Waffen an! Wenn ihr die anfasst, erlebt ihr das Ende nicht mehr. Uns war ja eigentlich bis dahin, weil ja alles so gut gegangen ist, die Gefahr gar nicht so bewusst, klar , wir haben uns davor gelegt und die Engländer, die haben mit ihren Waffen gespielt, es sind Panzer aufgefahren, es sind Schützenpanzerwagen da gewesen, es sind Hubschrauber, und wir guckten dann hoch in die Läufe der Maschinengewehre... Atmo/Geräusch 21. O-Ton: Hans-Joachim Steinkrug Das war Hubschrauber über uns, 10, 12 Meter über uns, 3 Stück, dann der große englische Hubschrauber, die versucht haben, mit ihren Rotorblättern Wasserwellen zu erzeugen, die Boote zum Kentern zu bringen, dass die Kugelbake durchkann, die Zollboote uns gerammt haben, die Schützenpanzer drüben standen, das sieht verdammt gefährlich aus, und die fahren ihnen die Seite, und es kracht... ohrenbetäubender Lärm gewesen und wer da also sagt, er hätte keine Angst, der lügt. Autorin: Am Ende erzwingt die westliche Übermacht dem Peilschiff "Kugelbake" in der so genannten "Schlacht von Gorleben" die freie Durchfahrt - ohne dass ein Schuss fällt. Und wie so oft im Kalten Krieg beanspruchen beide Seiten hinterher den Sieg für sich: der Westen, weil die "Kugelbake" wieder freie Fahrt hatt, und die DDR, weil die Besonnenheit ihrer Soldaten einen dritten Weltkrieg verhindert habe. 22. O-Ton: Hans-Joachim Steinkrug Wir haben denn nach Tagen erstmal wieder den Hafen angelaufen, sind dann praktisch mit Glanz und Gloria in unserer Dienststelle empfangen worden, Tage später wurde dann durch die militärische Führung im Kulturhaus in Dömitz eine Auszeichnung vorgenommen, alle, die daran teilgenommen haben, wurden entsprechend ihrer Dienststellung ausgezeichnet: mit Urkunden, Orden und so weiter. - Haben Sie auch einen bekommen? - Ja, ich hab ne Uhr bekommen. Eine Armbanduhr. Musik Hannes Wader: Am Fluss (alternativ: Strom und Wasser: Lied von Elbe) Atmo Biosphärium 23. O-Ton: Andrea Schmidt In der Tat war es ja so, dass wir mit der Grenzöffnung eine Situation hatten, da ist ein Gebiet gewesen, welches von beiden Seiten nicht erschlossen war bzw. gar nicht bekannt war, welche Naturschätze da vorhanden sind. Also, die Natur war sicherlich Profiteur dieser Situation, das muss man tatsächlich so sagen. Autorin: Andrea Schmidt ist die Leiterin des Biosphäriums im niedersächsischen Bleckede, das im Elbschloss untergebracht ist und auf etwa 1000 Quadratmetern über Landschaft, Flora und Fauna an der ehemaligen deutsch-deutschen Elbgrenze informiert. Allein 150 Brutvogelarten nisten in der Elbtalaue, hinzu kommen zahlreiche Zugvögel - im Sommerhalbjahr die Störche, im Winter Schwäne und Gänse. Auch die Landschaft an sich ist bemerkenswert. Eine Flusslandschaft mit Dünen, zahlreichen Nebenarmen und Auen. Mehr als 100 Kilometer von der Küste entfernt fühlt man sich ein bisschen wie am Meer. Atmo: Besucher vor dem Hochwassermodell Autorin: Vor einem Glaskasten hat sich eine Gruppe älterer Besucher versammelt. Darin ein Modell der Elbregion um Bleckede. Per Knopfdruck kann man hier Hochwasser auslösen: Langsam füllen sich die Elbe und ihre Auen und Nebenarme mit blau gefärbtem Wasser, das den Häuschen in den Modell-Dörfern gefährlich nahe kommt: Atmo: Wasser kurz hoch 24. O-Ton: Andrea Schmidt Das Schöne ist es ja bei der Elbe: man weiß es ein paar Tage vorher, dass das Wasser kommt. Es ist ja nicht wie an der Nordsee, dass das innerhalb von sechs Stunden kommt, sondern man weiß das ja von den Wasserständen oberhalb. - Besucher: Wie lange dauert das von Dresden bis hierhin? - Ungefähr zehn Tage. - So lange waren wir mit dem Rad auch unterwegs (lachen) Autorin: Für Sensationslustige ist das Hochwassermodell im Biosphärium aber nichts: So genanntes Jahrhunderthochwasser, wie es die Elbregion allein in den letzten zehn Jahren vier Mal erlebt hat, ist im Modell nicht vorgesehen. 25. O-Ton: Andrea Schmidt Was wir zeigen wollen, ist ja normales Hochwasser. Hochwasser ist ja nicht immer gleich eine Katastrophe, sondern Hochwasser ist ja, wenn Sie an einem Fluss wohnen, nicht nur etwas ganz Normales, sondern was die Flusslandschaft sogar braucht. Denn sonst hätten Sie ja gar nicht diese Gewässervielfalt, Wenn Sie alleine denken an die... ich will gar nicht von Vogelvielfalt sprechen - sondern an die Fischvielfalt, wie viele diese Nebengewässer wichtig sind für den Nachwuchs der Fischwelt und das kann natürlich nur funktionieren, wenn die Gewässer bei Hochwasser auch mal miteinander verbunden sind, so dass die Jungbrut in den Strom und umgekehrt wandern kann Atmo: Elbfisch-Aquarium Autorin: Seit einigen Monaten können Besucher des Biosphäriums auch etwas sehen, was normalerweise verborgen bleibt: die Unterwasserwelt der Elbe. In ein Nebengebäude des Schlosses ist ein Aquarium eingezogen. Acht große Becken geben einen Einblick in den fischartenreichsten Strom Mitteleuropas. Atmo: Ich guck mal schnell, was die Störe machen... eins, zwei, drei.... (Schmidt zählt die Störe... guckt, ob es den Fischen gut geht usw) Autorin: Andrea Schmidt zählt die Störe, schaut nach wie es dem Wels geht und wo überhaupt der Hecht gerade steckt. Dann geht sie zu einer großen Wandtafel, auf die eine Metallstange mit vielen Kurven montiert ist. Diese beschreibt symbolisch den langen Weg des Aals, der in der amerikanischen Sargasso-See geboren wird und von dort seine Reise zur Elbe antritt. 26. O-Ton: Andrea Schmidt Also ich lasse jetzt hier nach dem Prinzip des heißen Drahtes einen runden Stab um eine Stange herumfahren, wahrscheinlich stoße ich gleich irgendwo gegen, wär auch schade, wenn ich es nicht tue, aber jetzt bin ich im Moment zu gut hier - ich stoße jetzt mal bewusst dagegen - denn nur durch das Gegenstoßen kriegen wir Informationen zur Reise des Aals... Autorin: ... jedes Mal, wenn die Metallschlaufe die Stange berührt, ist der Aal sozusagen tot und an der Wandtafel leuchtet ein Text auf, welcher der zahlreichen Gefahren auf seiner langen Reise er erlegen ist: ob er zum Beispiel weggeangelt wurde, einem Kühlturm zum Opfer gefallen oder an einer Krankheit gestorben ist. 27. O-Ton: Andrea Schmidt Das ist ja ein Fisch, der - was viele gar nicht wissen - Tausende von Kilometern in seinem Leben zurücklegt Der wird mit der Elbe verbunden - klar, ist ein Elbfisch - aber dass der eigentlich vor der Küste Amerikas in der Sargasso-See zur Welt kommt, dann komplett über den Ozean rüberschwimmt bzw. sich treiben lässt als Weidenblattlarve nach Europa, das wissen die meisten nicht - jetzt muss ich hier einmal umwechseln, sonst krieg ich gleich einen Handdreher- ja, und dann lebt er eben so 10, 12 Jahre bei uns in der Elbe, bevor er wieder als erwachsenes Tier zurückschwimmt, so er die Gefahren seines Lebens bestanden hat, um sich dort weiter zu vermehren. (Konservenapplaus) Atmo: Naturgeräusche Wald (Archiv) Autorin: Südlich von Bleckede wieder ein Anstieg. Eine Endmoräne - Souvenir einer Eiszeit. Die Straße schlängelt sich in engen Kurven hinter der Ortschaft Alt Garge an der Westseite der Elbe den Berg hinauf. Oben wartet Klaus Koerth, Diplom-Geograf und Naturführer im Biosphärenreservat Elbtalaue. Ein großer, gut gelaunter Mann mit Nickelbrille, halblangen, braunen Haaren und klobigen Wanderschuhen. Eigentlich ist er in Elternzeit, aber heute macht er ausnahmsweise eine Führung: eine Wanderung auf den Spuren der Biber. Der Regen hat aufgehört und die warme Abendsonne lässt die Feuchtigkeit wie eine Nebelwolke aus den Bäumen aufsteigen. 28. O-Ton: Klaus Koerth Sie sehen jetzt hier immerhin den wunderschönen Ausblick über das Elbe-Urstromtal, bis hinten zum Horizont. Also, das Ganze ist hier eiszeitlich geprägt und zwar so 20, 25 km nördlich von hier endete die letzte Eiszeit. Also ganz weit am Horizont noch ... Gletscher. Wo das ganze Schmelzwasser aber hier in das Urstromtal geflossen ist. Und diese Gletscher haben ganz viel Sand hier mit reintransportiert. Und dieser Sand ist letztendlich das, was Sie hier am Ufer sehen. Autorin: Der Sand verleiht auch dem Fluss eine ganz besondere Färbung. Wie eine Blindschleiche glitzert die Elbe in der Sonne. 29. O-Ton: Klaus Koerth Als die Römer hierherkamen, haben sie hier einen weißen Fluss - Elbe alba weiß, und die Römer kamen sozusagen aus dem Westen, haben zuerst Rhein und Weser gesehen, Flüsse, die eher lehmige, tonige Sedimente transportieren, also braunes, und hier ist Sand das Prägende. Autorin: ...und die recht unterschiedlichen Landschaften auf beiden Seiten: Dünen und flaches Land am Ost-Ufer, auf der Westseite bewaldete Hügel mit bis zu 13% Steigung. 30. O-Ton: Klaus Koerth Die Elbe ist ja auch eingedeicht, aber sie gehört zu den naturnächsten Flüssen, die wir noch in Deutschland haben, das heißt, etwa 20 Prozent der ehemaligen Aue sind tatsächlich noch erhalten und bieten verschiedenen Tieren und Pflanzen wunderschöne Lebensräume. Ich denke, da sollten wir jetzt mal weitergehen. Atmo: Schritte, kurz frei, dann O-Ton darüber 31. O-Ton: Klaus Koerth Aber jetzt kommen wir endlich - Guten Abend - zum Thema Biber... (geht über in Atmo: Schritte) 32. O-Ton: Klaus Koerth Der Biber war mal fast komplett ausgestorben in Deutschland, also um 1900 gab es noch 30, 60, 100 Tiere, also eine minimale Population so an der mittleren Elbe, Region Dessau, wurden dann aber unter Schutz gestellt, nicht mehr bejagt und haben sich dort erhalten und letztendlich so ab 1950, wahrscheinlich so in Nachfolge des Zweiten Weltkriegs noch der eine oder andere gegessen worden. Aber danach hat sich der Biber allmählich wieder ausgebreitet und letztendlich hat er sich in der DDR zur damaligen Zeit aufgrund von Schutz aber auch fehlender Jagd hat er sich in vielen Bereich der mittleren Elbe ausgebreitet, hier nach Niedersachsen ist er tatsächlich mit Grenzöffnung mehr oder minder gekommen, ab 1990 wurden in der Gartower Marsch die ersten Biber gesehen, Autorin: ... und heute sind es allein in der Elbtalaue wieder mehr als 300 Tiere. Da müsste sich doch der eine oder andere beobachten lassen. Die Tageszeit ist jedenfalls günstig: Biber sind nachtaktiv und stehen in der Abenddämmerung auf. Atmo: Hundegebell Autorin: Auch zwei Hunde haben den Weg zum Elbufer gefunden, was die Chancen, auf Biber zu treffen, nicht gerade erhöht. 33. O-Ton: Klaus Koerth Der Biber ist hier letztendlich an den Menschen weitestgehend gewöhnt. An Hunde noch nicht so, aber //Das ist der Bereich, wo wir hier mehrfach Biber gesehen haben, das heißt, hier lohnt es sich, Ausschau zu halten, einfach zu warten, ob mit einsetzender Dämmerung, die ja so allmählich anfängt, irgendwo dann mal ein Biber anfängt vorbeizuschwimmen//ich denke, wir können erstmal nach vorne gehen und gucken, ob wir da Spuren finden... (Schritte).... Autorin: Inzwischen ist die Sonne fast untergegangen. Ruhig liegt der Fluss da. In einiger Entfernung ankert ein Frachtschiff. Fast schon eine Seltenheit auf der Elbe. Weil sie wegen Niedrig- oder Hochwasser bis zu einem Drittel des Jahres nicht schiffbar ist, haben ihr inzwischen andere Wasserstraßen den Rang abgelaufen. Zum Ausgleich herrscht eine Ruhe, die an diesem Tag nicht einmal von Bibern gestört wird. 34. O-Ton: Klaus Koerth Suchen Sie sich ein nettes Plätzchen, nehmen Sie sich morgen Abend dann ein Kännchen Tee und reichlich Mückenschutz oder auch ein Gläschen Wein mit, setzen sich einfach auf die Buhne, da wo sie ein bisschen weiter weg sind, aber gute Übersicht haben und beobachten das. Und wenn Sie nicht gerade von den Mücken aufgefressen werden wie jetzt, dann ist das eine sehr schöne, entspannte Geschichte, // etwa jeden eins, zwei Strömungskilometer haben wir tatsächlich wieder Biberfamilien ansässig. und das ist halt ne gute Chance, selbst wenn wir ihn hier jetzt nicht sehen. Musikakzent Fluß, Rheingold 35. O-Ton: Teut Heuer Hier befanden sich dann auf dem Deich ein Streckmetallzaun, der dann da weiterging, hier ist die Festung Dömitz, da war ein Beobachtungsturm, hier vorne stand ein Beobachtungsturm, der später als Führungspunkt benutzt wurde. Hier in diesem hinteren Bereich der Hafenanlage befand sich die Bootsabteilung, das heißt, die Grenzsicherungsboote der DDR lagen dort, Das war dann schon auch mit Scheinwerfern beleuchtet und so weiter, das war dann schon ein bisschen was anderes. Autorin: Teut Heuer, ehemaliger Offizier der Grenztruppen der DDR. Heute ist er 62, im Ruhestand und lebt mit seiner dritten Ehefrau in Stralsund. Mit dem kahlgeschorenen Kopf, dem Bärtchen und den Tätowierungen auf dem linken Arm sieht er eher aus wie ein Biker als ein ehemaliger Offizier der Nationalen Volksarmee. Heuer hat eine Karte von Dömitz und der ehemaligen Elbgrenze vor sich, auf der er mit einem Kaffeelöffel auf die Orte zeigt, an denen seine Geschichte spielt. 36. O-Ton: Teut Heuer Ich bin dann hier rübermarschiert, hier lagen die Boote und bin dann hier über den Zaun geklettert, bin hier in das Hafenbecken geglitten und dann hier raus// es war ja dunkel, stockdunkel und die Elbströmung ist auch da und dann bekam ich es mit der Angst zu tun und bin dann wieder zurück, und dann saß ich da wie so ein Häufchen Elend. Autorin: Es ist der 30. Juli 1973, als der 24-jährige Leutnant mit einer Pistole bewaffnet die Sperranlagen am Dömitzer Hafen, einem der bestbewachten Abschnitte an der deutsch-deutschen Grenze, überwindet. Soldaten aus seinem Zug schieben in dieser Nacht Wache. Heuer hat frei. Er schwimmt durch den Hafen zur Flussmitte, kehrt wieder um und sitzt jetzt im Niemandsland, aus dem es weder vor noch zurück zu gehen scheint: vor sich die Elbe, hinter sich den DDR- Grenzzaun. Atmo: Fluss (Archiv) Autorin: Zwei Jahre zuvor kam Heuer nach Abschluss seiner Offiziersausbildung an die Elbe. Nur zuverlässige und linientreue Offiziere wurden hier eingesetzt. Diese Voraussetzung erfüllte Heuer bestens: Der Vater war als Hochschulrektor SED-Miglied, die Mutter ebenfalls Genossin. Auch der Sohn war zunächst keiner, der die DDR oder den real existierenden Sozialismus in Frage stellt. 37. O-Ton: Teut Heuer Ich war in der Nacht eingesetzt als so genannte Offiziersstreife und kam mit meinem Jeep an einem Abschnitt hier vorbei, nördlich von Rüterberg in Richtung Dömitz und da war der Alarmzaun ausgelöst, das heißt, die Signallampe leuchtete... Autorin: ...Spuren deuteten darauf hin, dass an dieser Stelle zwei Menschen über den Zaun geklettert sind. Heuer bekam den Auftrag, sich zusammen mit einem Hundeführer auf die Suche zu machen. 38. O-Ton: Teut Heuer Und ob Sie's glauben oder nicht, ich sag so, wie es gewesen ist, darüber mag man urteilen... erstens hat mich das Jagdfieber ergriffen, so wie ich es Ihnen hier sage, und ich wusste: wenn es mir gelingt, diesen Grenzdurchbruch zu vereiteln, sprich: die Personen festzunehmen, dass mich dann vielleicht der erste Orden an meiner sonst so kahlen Brust erwartet hätte. der Hund hat dann diese Spuren verfolgt, //die Spuren, wo sie dann gestrauchelt sind, wo sie sich dann mit den Händen abgestützt haben, das war alles ganz frisch, hinter jedem nächsten Baum hätten sie sein können, ich habe dann sogar schon meine Pistole in die Hand genommen und dann gab es hier einen Weg, den überquerte der Hund und lief weiter - hier ist Rüterberg - in Richtung Rüterberg. Autorin: Doch weil Rüterberg von drei Seiten eingezäunt und nur durch ein Tor zu betreten war, erschien dem Offizier dieser Fluchtweg nicht plausibel und er kommandierte Hund und Hundeführer in eine andere Richtung. 39. O-Ton: Teut Heuer dann hörte ich, dass man die beiden festgenommen hatte und zwar genau dort, in diese Richtung, wo der Hund hinwollte//dann stand ich mit meinem Hundeführer, der sich gewisse Gesichtszüge nicht verkneifen konnte, und dann kam der LO, auf dem die beiden jungen Männer saßen und beim Vorbeifahren haben die mich angesehen, und in diesem Moment hatte ich das Gefühl: Gott sei Dank, dass ich an dieser Festnahme vorbeigekommen bin, Gott sei dank war ich nicht derjenige. Autorin: Nicht nur wegen solcher Vorkommnisse fühlte sich Heuer immer weniger wohl an der Grenze, sondern er bekam sein Leben einfach nicht in den Griff. 40. O-Ton: Teut Heuer Wenn ich es aus der damaligen Sicht hätte vernünftig machen wollen, dann wäre ich zu meinem Vorgesetzten gegangen und hätte gesagt: weißt du, ich hab das Leben hier an der Grenze satt und zwar nicht, weil ich nicht schießen möchte oder nicht, weil ich das hier nicht als Unrechtsstaat sehe oder nicht, weil ich ein Teil dieser unmenschlichen Grenzsicherung bin, sondern weil ich ein furchtbar schweres Leben habe. Wir wohnen in einer Lehmkate, da ist kein fließendes Wasser, wenn das Baby Nahrung bekommen soll, dann muss ich das über Selterwasser realisieren, ich muss aufs Plumpsklo gehen, wenn ich Freunde... was für Freunde hab ich da? Gar keine. Autorin: Die Nachricht von der erfolgreichen Flucht eines anderen Grenzsoldaten brachte Heuer auf die Idee, auch in den Westen zu gehen. Gemeinsam mit seiner Frau schmiedete er Fluchtpläne. Dann kam der 30. Juli 1973 41. O-Ton: Teut Heuer Mit meinem Fahrrad bin ich dann die Kilometer von der Einheit nach Wehningen gefahren und bin an drei Dorfkneipen vorbeigekommen und in Vorfreude auf diesen freien Tag habe ich dort einen Schnaps getrunken, in jeder Kneipe einen und ein Bier, und bin dann nach Hause gekommen und war sehr erstaunt, dass sie mich doch recht grimmig empfangen hat - es stellte sich heraus, dass ich den Hochzeitstag vergessen hatte. Ich sag: naja, Mädchen, das ist doch alles kein Problem, das ist doch gar nicht so schlimm, dann ziehen wir uns jetzt an und dann gehen wir hier in den Elb-Anker oder ins Elb-cafe und feiern unseren Hochzeitstag. Jedenfalls hat sie das verweigert und hat mich beschimpft und da hab ich gesagt: na gut, wenn du nicht mitkommen willst, dann gehe ich halt alleine. Und nach den entsprechenden Alkoholmengen, die ich dann zu mir nahm, bildete sich bei mir dann die Auffassung, wenn sie das dann alles nicht will, dann kann ich ja nicht nur hier alleine gehen, dann kann ich ja auch nach drüben allein gehen. Atmo: Fluss Autorin: Und da sitzt er nun am Ostufer, nachdem er durch den halben Fluss und wieder zurück geschwommen ist, und weiß nicht, wohin. 42. O-Ton: Teut Heuer Da hab ich erstmal gemerkt - mein Gott, wie Angst weh tun kann, und dann hab ich mir gesagt: tja, gehst du zurück, kommst du ins Gefängnis. Denn davon bin ich ausgegangen, dass es mir nicht gelingt, unerkannt zurückzukommen und.... Na gut, dann eben nach vorne! Und dann ging's los. Atmo: Schwimmen (Archiv) , kurz frei, dann O-Ton darüber 43. O-Ton: Teut Heuer Obwohl ich tagelang damit zugebracht habe, das westliche Ufer zu beobachten, wusste ich nicht ,wo ich war, es war ja dunkel und so weiter, aber ich fand dann dort eine befestigte Straße und die bin ich dann entlang marschiert und bin dann auf ein Bauerngehöft gestoßen und da hab ich dann geklopft, und dann wurde mir aufgemacht und da stand ein altes Ehepaar vor mir und denen hab ich gesagt, dass ich von der anderen Seite komme und ob sie nicht den Zoll benachrichtigen können... und dann kam der Zoll und hat mich dann mitgenommen nach Hitzacker. Da kriegte ich erstmal trockene Klamotten und wurde dann befragt, wer ich bin und was ich hier will. Und dann hab ich gesagt, dass ich Leutnant der Grenztruppen bin ... und dann begann mein Verrat. Dann habe ich über die dort vorhandenen Grenzsicherungsanlagen Aussagen gemacht und hab mich dann auch über diese militärtaktischen Dinge geäußert. Autorin: Nach diesen ersten Aussagen wird Heuer an einen anderen Ort gebracht und von einem anderen Beamten verhört 44. O-Ton: Teut Heuer Und dann meinte er, ist Ihnen denn nun klar, dass Sie Ihre Familie nie wieder sehen? Ihre Tochter? Die sehen Sie nie wieder. Ist Ihnen das klar? - Hm.... Genauso hab ich da dann gesessen. Es waren zwei Dinge: erstens wurde ich anders empfangen als... nicht mit Blaskapelle und so weiter und dann hat man mir diese Frage gestellt, denn eigentlich wollte ich ja nicht weg von der Familie, sondern ich wollte mit der Familie weg. Und dann hab ich das alleine gemacht// Und da hab ich wortlos gesessen und da hat der Herr zu mir gesagt: Tja, wissen Sie, wenn Sie hier bleiben wollen, dann bleiben Sie hier, aber wenn Sie sich das noch mal überlegen wollen - hier in der Nähe ist ein Grenzübergang, wir fahren Sie dorthin und dann sind Sie in ein paar Stunden wieder bei Ihrer Familie. Dann sagt er: Weißt du was? Ich bring dich jetzt mal nach nebenan, da kannst ein Brötchen essen und in einer Viertelstunde komme ich wieder und dann sagst du mir, was du willst. Diese Viertelstunde, glauben Sie mir, werde ich mein Leben lang nicht vergessen. (zündet sich Zigarette an) // Und dann holt er mich: Na, Jung? Und dann hab ich gesagt: Ich geh wieder zurück. Autorin: Wieder zurück in der DDR, wird Teut Heuer sofort verhaftet und zu zehn Jahren Bautzen verurteilt. Seine Ehe wird geschieden. Musik Beck: Mutations, T7 Dead Melodies, 2'35, Gelfin Records 1998, LC 7266 (Evtl. Alternative: Michael Nyman, The Promise) Atmo: Hafen Autorin: Einer der wenigen Orte an der ehemaligen Elbgrenze, an dem ein direkter Zugang zum Fluss möglich ist, ohne dass Nebenarme oder sumpfige Wiesen den Weg versperren, ist Neu Darchau, etwa 12 Kilometer südlich von Bleckede am Westufer der Elbe gelegen. Ein hübsches, aufgeräumtes Dorf, norddeutsch und nüchtern: Kirche, Supermarkt, Bushaltestelle, Edeka und ein Grieche. Einer der ersten, der nasse Füße bekommt, wenn wieder einmal Hochwasser den Ort überschwemmt, ist der Fotograf Andreas Conradt. In seinem Wohnzimmer Regale aus dunklem Holz, die mit Büchern und Bildbänden über Autos gefüllt sind. 45. O-Ton: Andreas Conradt Ich betreibe eine Agentur und zusammen mit verschiedenen anderen Fotografen kümmern wir uns um Fotos von Autos, die es überhaupt noch nicht gibt, die erst in ein paar Monaten, ein paar Jahren auf den Markt kommen, also man nennt das wir jagen die Erlkönige, die Autos, die irgendwo geheim getestet werden, irgendwo auf der Welt. Autorin: Andreas Conradt ikommt ursprünglich aus Hamburg und wohnt seit vier Jahren in Neu Darchau. So genannte "Erlkönige" findet man überall, erzählt er. Selbst in Neu Darchau wurde schon einer gesichtet. 46. O-Ton: Andreas Conradt Doch, auch das ist schon passiert, aber da war ich nicht da. Ich hab's mir hinterher erzählen lassen, ein Geländewagen von VW, der hier einmal um die Ecke gesaust ist, auf der Durchreise war.//Das ist bitter, aber wir hatten vorher schon Fotos von dem Auto. (lacht) Autorin: Weit kommt ein Erlkönig hier allerdings nicht. Am Elbufer endet die Straße, eine Brücke gibt es nicht. Obwohl die Idee dazu schon über zwanzig Jahre alt ist. Damals soll ein beschwipster Landrat im Vereinigungstaumel nach der Grenzöffnung im Herbst 1989 zu vorgerückter Stunde eine "Brücke der Herzen" zwischen Neu Darchau und dem auf der Ostseite gelegenen Darchau gefordert haben. Seit 20 Jahren wird jetzt geplant - und fast genauso lang kämpft eine Bürgerinitiative auf der Westseite gegen diese Brücke: Keine Elbbrücke, weder hier noch anderswo, unsere Kinder wollen keine Trasse - so oder ähnlich lauten die Transparente, die einige Häuser an der Hauptstraße von Neu Darchau schmücken. 47. O-Ton: Andreas Conradt Vornehmlich wollen die Leute von der anderen Seite der Elbe diese Brücke, also aus dem Amt Neuhaus, dort ist natürlich der Wunsch nach einer schnelleren, nach einer dauerhafteren Verbindung an den Hauptkreis gegeben, im Moment wird das über zwei Fähren geleistet und der Wunsch dort ist, das über eine Brücke zu machen. Autorin: Wessi Andreas Conradt dagegen gehört zu den Gegnern der Brücke - genauso wie der halbe Ort, betont er: weil eine Brücke zu teuer wäre, die Umwelt im schönen Biosphärenreservat belasten würde und weil er keinen Schwerlastverkehr vor seiner Haustür haben möchte. Mit der Symbolik einer Brücke als Brückenschlag zwischen Ost und West kann er nichts anfangen. 48. O-Ton: Andreas Conradt Ja, die Brücke der Herzen (lacht)... einige Leute nennen das so, die Befürworter nennen das die Brücke der Herzen, weil sie, glaube ich, sonst keine Argumente mehr für die Brücke haben und sie müssen es jetzt auf diese emotionale Ebene ziehen und müssen die Brücke als die Brücke der Einheit, die Brücke der Herzen titulieren, weil es einfach keine vernünftigen Argumente für die Brücke gibt, die irgendwie belastbar mit Zahlen unterlegt werden können. Autorin: Was sollte eine Brücke im Hinblick auf das Zusammenwachsen von Ost und West besser können als eine Fähre, fragt Andreas Conradt. Denn die gibt es schließlich zwischen Darchau und Neu Darchau, auch wenn es für flussübergreifende Aktivitäten natürlich lästig ist, dass die letzte Fähre abends um 21 Uhr fährt. 49. O-Ton: Andreas Conradt Also, es ist nicht so, dass abends um neun die DDR erneut entsteht, man kommt da schon irgendwie hin, aber in der Tat: es ist natürlich ein bisschen eine Insellage. Wenn Politiker wirklich etwas an der Situation der Menschen würden ändern wollen, dann würden sie die Fähre ab heute Abend länger fahren lassen und zum halben Preis. Atmo: Fähre Tanja, Maschinengeräusch und Autos rollen an Bord, unter die gesamte Tanja-Passage Atmo legen Autorin: Das Schiff, das Ost und West verbindet, ist eine reife, aber gut erhaltene holländische Dame namens Tanja. Täglich zwischen 5 und 21 Uhr pendelt die kleine blau-weiße Autofähre zwischen Darchau und Neu Darchau hin und her, transportiert Pendler, Schüler und Fahrradtouristen über die etwa 200 Meter breite Elbe. Und wie um der Symbolik Genüge zu tun, hat an diesem Tag ein Ost-West-Gespann Dienst: Während sein West-Kollege unten kassiert und die Autos und Fahrräder in die richtige Spur weist, bedient Frank Stoll oben auf der Brücke die Hebel und Knöpfe, mit denen die Tanja gesteuert wird. Atmo Schiffsgeräusch, dazu Stoll, was er da gerade macht Autorin: Fährführer Frank Stoll kommt aus Ost-Berlin, hat sein Handwerk bei der Weißen Flotte der DDR gelernt und lebt seit 1984 in Neuhaus östlich der Elbe. Er gehört zu den dienstältesten Fährleuten auf der Tanja und hat sogar noch deren Vorgängerin kennengelernt - ebenfalls eine Tanja. Seit 1990 nach mehr als vier Jahrzehnten Pause der Fährbetrieb zwischen Darchau und Neu Darchau wieder aufgenommen wurde, ist Frank Stoll dabei. Autorin: Ungefähr fünf Minuten dauert die Überfahrt zwischen den beiden Elbufern. Einen festen Fahrplan gibt es bei der Tanja nicht, sagt der Chef des Fährbetriebs. 50. O-Ton: Erwin Kruse Die ist ständig unterwegs, und sollte mal drüben keiner sein, dann liegt sie und sowie sich drüben einer zeigt, fährt sie auch sofort rüber, um den zu holen. Sie macht ganz, ganz wenig Leerfahrten, es gibt mal so in der Mittagszeit ein paar Pausen, aber ansonsten ... Gerade so diese Uhrzeit, dann geht langsam der Feierabendverkehr los, dann kommen die Pendler aus Lüneburg alle zurück, dann ist die Fähre nachher auch voll. Autorin: Wessi Erwin Kruse ist Polizist im Ruhestand und jetzt "nebenamtlich", wie er sagt, Leiter des Fährbetriebs der Gemeinde Neu Darchau. Zur Brücke will er sich nicht konkret äußern: was sollte er als Fährbetreiber auch zu einer Brücke sagen? Aber so ganz befriedigend findet die Situation doch nicht: 51. O-Ton: Erwin Kruse An einer grünen Grenze, da wird der Zaun eingerissen und dann kann man pendeln und dann wird hin und her geheiratet - gut, das gibt's hier jetzt auch, dass hin und hergeheiratet wird - aber wir haben im Moment das Problem, abends 21 Uhr ist Schluss und wenn man drüben ist zu einer Feier oder was weiß ich, dann hat man immer das Problem: oh, ich muss zurück, ich muss die letzte Fähre erwischen oder ich muss diesen Riesenumweg in Kauf nehmen und dann lässt man vieles schon sein, und das geht den Leuten drüben genauso. Das ist ein Handicap. Aber als Fährbetreiber müssen wir natürlich auch sagen: es rechnet sich wirtschaftlich einfach nicht. Schon ab abends 19 Uhr rechnet es sich nicht mehr. Autorin: Dann heißt es etwa 60 Kilometer Umweg fahren und das gilt sogar für die Fährleute von der Tanja selbst: 52. O-Ton: Frank Stoll Die Fähre liegt in Neu-Darchau. Das ist der Heimathafen und nur da darf die Fähre liegen. Und ich muss dann zusehen, wie ich zur Arbeit komme und das heißt eben halt immer über Dömitz. Atmo Tanja noch mal kurz hoch und weg Autorin: Am Fähranleger auf der Ostseite wartet ein Bus auf Schüler, die nach Hause wollen. Eine geteerte Straße führt hinauf nach Darchau. Kaum mehr als eine Handvoll Häuser, drum herum viel Acker- und Weideland. Direkt am Deich ein umgebautes Gehöft aus rotem Backstein - der Stammsitz der Familie von Rautenkranz. 53. O-Ton: Heidemarie von Rautenkranz Das sind Nachkommen vom Herzog Sachsen-Lauenburg, aber das ist eine uneheliche Linie, die nicht anerkannt wurde in der Hierarchie damals.//Dieser Rautencrantz ist ja auch im Sachsenwappen drin, der Name wurde damals eben dieser Familie gegeben hier. Autorin: Heidemarie von Rautenkranz ist 60 Jahre alt, eine freundliche Frau mit kurzen, leicht gewellten blonden Haaren und blauen Augen. Im Salon steife Sofas mit geschwungenen Armlehnen und gestreiften Bezügen, an der Wand eine Ahnentafel. Bis 1952 war hier ein Gasthof, danach beanspruchte die örtliche LPG die Gebäude. Aber die Familie blieb Eigentümer und wohnte auch die ganze DDR-Zeit über hier. 54. O-Ton: Heidemarie von Rautenkranz Es waren ja auch diese Ausweisungen, die es gab und sicher, jeder musste Angst haben, der im Sperrgebiet und an der Grenze gewohnt hat, aber ich denke Schwiegereltern - Schwiegervater war kriegsversehrt, der ist beinamputiert aus dem Krieg zurückgekommen und schwer asthmakrank - und die sind mit als erste in die LPG gegangen, weil er den Hof nicht halten konnte, naja, das war natürlich ein Plus zur damaligen Zeit. Autorin: Heidemarie von Rautenkranz lebt seit ihrer Heirat 1972 in Darchau. Direkt an der Elbe, aber wegen des Grenzzauns konnte man den Fluss eigentlich gar nicht richtig sehen: 55. O-Ton: Heidemarie von Rautenkranz Das ist schon komisch, aber ich hab's nicht anders kennen gelernt. zuerst als ich herkam, war da so n Maschendraht oder so ne Rolle war das, konnte man gut durchgucken, aber dann kam ja schon gleich 73 dieser hohe Zaun, dieser fast undurchsichtige, das musste man erstmal verkraften, aber irgendwo gewöhnt man sich ja auch wieder an so einen Anblick. Autorin: Gerade weil man es kaum sehen konnte, stellte das andere Elbufer immer einen besonderen Reiz dar: 56. O-Ton: Heidemarie von Rautenkranz Ja (lacht) War interessant. Es war auch so, dass manchmal dann eben welche drüben standen, am alten Fähranleger und Lichthupe gemacht haben und dann hat man auch mal so in der dunklen Jahreszeit Licht an - Licht aus, das war immer so was Spannendes. Oder auch Heilig Abend Kerzen ins Fenster gestellt, was dann so vom Pastor aufgerufen wurde, so Frieden mit Kerzen und so, das war immer so ein bisschen mit Kribbeln verbunden, fand ich immer. Autorin: Nach der Wende stand die Familie dann vor der Frage: was tun mit den Gebäuden? Eine West-Cousine brachte sie auf die Idee, doch ein Café zu eröffnen. Mittlerweile sind zum Cafébetrieb noch Gästezimmer und kleine Ferienwohnungen dazugekommen. Ein erfolgreiches Familienunternehmen: 57. O-Ton: Heidemarie von Rautenkranz Es sind aber auch viele auf uns zugekommen, muss ich ganz ehrlich sagen, auch aus dem Westen, aus Neu Darchau oder umliegenden Orte hier, wo wir heute noch guten Kontakt zu haben und Freunde sind, die geholfen haben, die uns sagten, wo wir was kriegen können. Wo gibt es einen Steuerberater? Die es ehrlich gemeint haben.... Gab es viele und wo wir heute auch noch Kontakt haben, aber ich muss auch ehrlich sagen, tut mir auch Leid, aber es ist oft so, dass es zeitlich von uns nicht mehr so passt, Autorin: Eine Brücke, die Darchau und Neu Darchau verbindet, könnte da vielleicht Abhilfe schaffen... Da ist Heidemarie von Rautenkranz allerdings eher skeptisch, obwohl sie die Leute verstehen kann, die unbedingt eine Brücke haben wollen. 58. O-Ton: Heidemarie von Rautenkranz Es ist ein ganz schöner Einschnitt in die Natur. Obwohl ich dann, wenn ich das so sehe, Dömitz, und man fährt da über die Brücke, finde ich es gar nicht, und dann denke ich immer: naja, würden wir uns auch dran gewöhnen. Wir haben uns an so viel gewöhnt, wir würden uns auch an den Anblick einer Brücke gewöhnen. Autorin: So aber bleibt die Elbe für sie immer noch ein bisschen Grenze. 59. O-Ton: Heidemarie von Rautenkranz Man merkt es eben abends. Oder wenn Eisgang ist oder Hochwasser ist, dass die Fähren nicht fahren. Und wenn man auch sechs Wochen nicht das Bedürfnis hatte, rüberzufahren, aber komischerweise... dann denkt man: jetzt möchtest du doch rüber. Das Gefühl, jetzt ist da wieder eine Grenze, das ist ganz eigenartig. Dass man dann eigentlich denkt: jetzt möchtest du rüber. Kennmusik Sprecher vom Dienst: Immer noch ein bisschen Grenze - Die Elbe zwischen Niedersachsen und Mecklenburg-Vorpommern Sie hörten eine Deutschlandrundfahrt mit Ulrike Köppchen Ton: Regie: Karena Lütge Redaktion: Margarete Wohlan Eine Produktion von Deutschlandradio Kultur 2011 Manuskript und eine Online-Version der Sendung finden Sie im Internet unter dradio.de 2