KULTUR UND GESELLSCHAFT Organisationseinheit : 46 Reihe : LITERATUR Kostenträger : P 62 110 Titel der Sendung : Hinter der Wand und jenseits des Gartenzauns Nachbarschaftsverhältnisse in der Literatur AutorIn : Angela Spahr Redakteurin : Barbara Wahlster Sendetermin : 24.4.2012 Regie : Klaus-Michael Klingsporn Besetzung : Sprecherin, Zitator Achtung: Extra Aufnahme 1x Zitatorin (S.5) Autorin bringt O-Töne & Musiken Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Jede Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in den §§ 45 bis 63 Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig (c) Deutschlandradio Deutschlandradio Kultur Funkhaus Berlin Hans-Rosenthal-Platz 10825 Berlin Telefon (030) 8503-0 Hinter der Wand und jenseits des Gartenzauns. Nachbarschaftsverhältnisse in der Literatur Von Angela Spahr Deutschlandradio Kultur: 24.4.2012 Redaktion: Barbara Wahlster Musik (1) Zitator "Es gibt ein Wesen, das vollkommen unschädlich ist, wenn es dir in die Augen kommt, du merkst es kaum und hast es gleich wieder vergessen. Sobald es dir aber unsichtbar auf irgendeine Weise ins Gehör gerät, so entwickelt es sich dort, es kriecht gleichsam aus, und man hat Fälle gesehen, wo es bis ins Gehirn vordrang und in diesem Organ verheerend gedieh, ähnlich den Pneumokokken des Hundes, die durch die Nase eindringen. Dieses Wesen ist der Nachbar." (Rilke, 126) Musik (2) Sprecherin In seinen Pariser Aufzeichnungen notiert Rilkes Malte Laurids Brigge den Auszug seines Zimmernachbarn. Zuvor hatte er gleichsam durch die Wand Anteil genommen am Leid des verzweifelten Medizinstudenten, der nach stundenlangem Lernen urplötzlich toben und wüten konnte. Der Nachbar dringt ins Gehirn und nistet sich dort ein, aber anders als Malte annimmt, geschieht dieser Vorgang nicht allein durch die Ohren. Der Weg über andere Sinne steht dem unbekannten Wesen von nebenan ebenfalls offen. So wachsen Hirngespinste, die manchmal nicht viel gemeinsam haben mit der Quelle der Geräusche, Gerüche oder Anblicke. Das Phantom des Nachbarn kann zum Mörder oder zum Liebhaber werden, harmlos oder neutral dagegen gerät es nur selten. Der Soziologe Georg Simmel schrieb 1903: Zitator "Dem räumlichen Nahen gegenüber, [...] pflegt es nur dezidierte Empfindungen zu geben, so daß diese Nähe die Grundlage sowohl des überschwänglichsten Glückes wie des unerträglichsten Zwanges sein kann. Es ist eine sehr alte Erfahrung, dass Bewohner des gleichen Hauses nur auf freundlichem oder feindlichem Fuße stehen können." (Simmel, S. 235) SprecherinIm "Nachbarn" steckt etymologisch die "Nähe": Es handelt sich um eine Person, die einem nahe kommt. Das nachbarschaftliche Leben Tür an Tür kann mit familiären Bindungen oder freundschaftlichen Beziehungen zusammenhängen, dann verschränken sich verschiedene Formen der Nähe. Uwe Tellkamps Roman "Der Turm" beobachtet derartige Verstrickungen ebenso wie in jüngster Zeit Anna Katharina Hahns Roman "Am schwarzen Berg". Bei städtischen Nachbarn handelt es sich jedoch um eine eher paradoxe Erscheinung, die sowohl nahe kommt als auch fern bleibt. Menschen, die nebeneinander leben und sich täglich begegnen, sind einander häufig unbekannt. Selbst wenn freundliches Grüßen oder ein kurzer Austausch übers Wetter gepflegt werden, bleibt das Wissen über den Mann oder die Frau von Nebenan meist spärlich. Diese typische Wohnsituation regt die Phantasie an, meint der Literaturwissenschaftler Jan Philipp Reemtsma: O-Ton Reemtsma In dem Augenblick, wo Sie über das Nicht-Dasein grübeln: "Das ist ein Nachbar, von dem weiß ich nichts. Wieso weiß ich eigentlich nichts?" Da haben Sie schon eine Beziehung hergestellt, dass das Nicht-Wissen, das Nie-etwas-von-ihm-Hören etwas bedeutet. Und schon sind Sie in einer phantasierenden Aufladung im Grunde der Leere. Und Leeren werden gefüllt, in dem Augenblick, wo sie auffallen, werden sie gefüllt. Sprecherin Den Gegensatz zur Ferne des Ungewissen bildet die Nähe des Raumes, die vor allem eine sinnliche ist, denn der Alltag der Mitmenschen teilt sich auf vielfältige Weise mit: Die Spülung rauscht, Kochgerüche dringen durch die Türritzen, die Bässe dröhnen, und Müll liegt herum. Die tatsächlichen Wissenslücken füllt quasi automatisch die Phantasie, die dabei selten gerecht verfährt. Musik (3) Zitator "Ich bin jetzt sicher, daß der Mann, der unter mir wohnt, ein Mörder ist. Er wohnt noch nicht lange dort, aber schon als er einzog, beschlich mich ein unangenehmes Gefühl." (Peters, K 41) Sprecherin Dass sein Nachbar ein Mörder ist, "weiß" der Erzähler in der Geschichte "Metzinger" von Christoph Peters. Er kennt den Mann, der unter ihm eingezogen ist, zwar nicht, aber er kann ihn nicht leiden. Er reimt sich etwas aus dem Tratsch im Haus zusammen und kombiniert, der Mieter hätte es auf ihn abgesehen. Am Ende der Geschichte beobachtet er jedoch, wie ausgerechnet dieser Metzinger von Sanitätern aus dem Haus getragen wird. Die Leser fragen sich irritiert, wer da wem und vor allem weshalb etwas angetan hat. Der Autor bestätigt, dass harmlose Nachbarn in Büchern eher selten vorkommen: O-Ton Peters [...] und da - mindestens bei literarischen Texten ja oft - wenn Leute allein sind und die Phantasie freigesetzt wird, etwas irre Dinge passieren, also irreale Dinge ..., oder dass es anfängt über zu borden, dann geht es in die eine oder die andere Richtung. Also entweder es wird zu einer Phantasie von Begegnung, von Erotik, Sex, Verzauberung, oder aber es wird etwas ganz Dämonisches, Gefährliches, Bedrohliches, da finden böse Dinge statt nebenan, die auch mich bald betreffen könnten. Und dann, wenn man einen phantasiebegabten Menschen vor sich hat, dann fängt der an, wie ein Hypochonder, das immer weiter sich auszumalen, was an dramatischen Dingen passieren könnte oder eben was an phantastisch Tollem passieren könnte. Sprecherin Kafkas kurze Erzählung "Der Nachbar" beschreibt eine derartige Eskalation. Der Unbekannte nebenan wird ohne konkreten Anhaltspunkt zur existentiellen Bedrohung für den Protagonisten. In der Person des Nachbarn materialisieren sich gleichsam die Ängste des jungen Geschäftsmannes, der einen Konkurrenten imaginiert. Jedoch gehen nicht nur Irritationen, sondern auch Verlockungen von dem seltsamen, immer präsenten Wesen hinter der Wand aus: Es lädt zur Projektion der eigenen Ängste oder Hoffnungen ein, je nachdem, welche Reize es aussendet. Christoph Peters: O-Ton Peters Ich meine, das Ganze ist ja eine ambivalente Sache, ich hab' meinen Instinkt, der mich trügt oder nicht trügt. Aber mein Instinkt ist ja etwas, was aus einer ganz komischen Gemengelage von Erfahrungen, Erfindungen und Wahrnehmungen, persönlicher Geschichte und Biographie sich zusammenbaut. Und er ist sozusagen unser erstes Instrumentarium, um Situationen auf "gefährlich" oder "angenehm" hin abzuklopfen. Da ihm, dem Instinkt, Erfahrung zugrunde liegt, muss er nicht immer falsch sein. Bei der Figur, dem Erzähler in "Metzinger" ist es natürlich - darauf basiert ja die Erzählung - nicht ganz klar: Ist Metzinger der irre Böse oder ist der Erzähler ein unter Verfolgungswahn leidender Halbirrer? Sprecherin In seinem Buch "Liebe Deinen Nächsten? Nein danke" führt Slavoj Zizek vor, dass der Nachbar keineswegs als Gegenüber in einer potentiell idealen Gesprächssituation wahrgenommen wird. Stattdessen tritt der räumlich Nächste als primär sinnliches Wesen auf, und als solches ist er möglicherweise widerwärtig. Nicht Weltanschauungen teilen sich nachbarschaftlich mit, über die vielleicht zu diskutieren wäre, sondern alltägliche Befindlichkeiten und Verhaltensweisen, die unerklärlich wirken, denn das Begehren des Anderen, seine Lust und auch sein Leid, bleiben dunkel und fremd. Musik (4) Zitatorin "Hinterm Rücken, auf der Lauer, die sogenannte Gemeinde, dort klatscht und tratscht und meckert und schuftet und lungert es wie ehedem. Und es guckt Fernsehen hauptsächlich. Darüber der brösige Himmel, die käsige Käseglocke. Es stinkt im Dorf." (Zander 7/8) Musik (5) Sprecherin Es scheint, als sei der Nachbar - ganz gleich, ob gemocht oder gehasst - vor allem eine Chimäre. Vielleicht aber lebt dieses Wesen nur in großen Städten, weil sein ländliches Pendant viel zu bekannt, ja vertraut ist, um phantasievolle Projektionen zuzulassen. Judith Zanders Roman "Dinge, die wir heute sagten" handelt von Menschen, die in Bresekow, einem Dorf in Mecklenburg Vorpommern, leben. Die Geschichte verfolgt die Spuren dreier Familien über drei Generationen. Als 1999 die alte Anna Hanske stirbt, kehrt ihre Tochter Ingrid ins Dorf zurück, um das geerbte Haus zu verkaufen. Ingrid, die in den Westen floh und von dort nach Irland geriet, erscheint in den Augen der Bresekower als verrückte Tochter einer unangepassten Frau. In Zanders Text geht es um besondere Frauen, die am Dorfleben scheitern, es ertragen lernen oder ihm entkommen, je nach Zufall und Verfassung. Und wenn die 17jährige Ella von der angetrunkenen Dorfjugend "Polenschlampe" gerufen wird, weil ihr Großvater als junger Mann aus Polen kam, dann gewinnen die Leser den Eindruck, dass der Ort sich seine Einwohner nach ganz eigenen überzeitlichen Regeln formt. Die Nachbarschaft im Dorf unterliegt einer besonderen Dynamik, weiß die Autorin: O-Ton Zander Und dadurch, dass sich eben alle kennen oder zu kennen glauben, herrschen dann natürlich diese Vorurteile oder diese Dinge, die immer weiter erzählt werden, die innerhalb der Familie den Kindern und den Enkeln erzählt werden, die dann wieder den Blick auf die jeweils anderen bekommen, und es findet dann eigentlich kein Abgleich mit der Realität mehr statt, weil es sich so eingeschliffen hat, über die Kleins und die Müllers und die wie-auch-immer so und so zu denken. Also es wird da, glaube ich, sehr stark an Vererbung geglaubt und weniger an den Einfluss der Umwelt. Sprecherin In Zanders Roman tritt eine Art Chor auf, genannt "Die Gemeinde", deren Stimmen durcheinander murmeln und murren, Gerede verbreiten und Geschehnisse durchkauen. Das Stimmengewirr der Gemeinde repräsentiert den Geist des Dorfes, der die Einzelnen in seinen Rahmen einpasst. Der Dorftratsch formt die Individuen nach dem Bild ihrer Sippe - vor allem nach vergangenen Sünden und Verfehlungen. O-Ton Zander Ja, es ist im Grunde die Chronologie des Dorfes oder die Chronik des Dorfes, wenn man so will, dass bestimmte Geschichten sich einfach ewig perpetuieren. Und dadurch, dass die Dörfer immer kleiner werden und immer weniger Menschen da wohnen, also der Kern an Geschichten schrumpft dann immer weiter zusammen. Und es passiert auch nicht so viel. Und man gefällt sich aber, glaube ich, auch darin oder man fühlt sich darin auch wohl und irgendwie geborgen, in einer überschaubaren Welt aus Geschichten über den und den und den reben zu können, so dass man seine Mitmenschen ungefähr einordnen kann, wie die halt so sind. Sprecherin Die Leiterin des Jugendclubs verzweifelt zuweilen: Zitatorin "Mit vierzehn waren wir damals noch halbe Kinder. Sind die ja heute auch noch, aber manchmal denk ich, die sind gar nicht richtig jung. Das Schlimme ist, dass du bei denen heute schon siehst, die werden wie ihre Alten. Und nicht bloß, weil sie nix anderes können, die wollen auch gar nichts anderes." (Zander, 145) Sprecherin In der trauten Nähe des Dorflebens, in der im Grunde alle Nachbarn sind, herrschen Mythen und Bilder, die bei genauerem Hinsehen kaum realer wirken als großstädtische Phantasien über die Leute nebenan. Die dörfliche Nähe schafft geradezu eine neue Ferne. Musik (6) Zitator "Ich haßte ihn einfach, und zwar nicht nur etwa in den Augenblicken, wo er mir tatsächlich lästig war, wo mitten in tiefer Nacht sein lautes Schreiten, Reden und Lachen vielleicht in der Tat rücksichtslos war. Nein, ich haßte ihn jetzt ganz richtig, mit dem richtigen, naiven, dummen Haß, mit welchem ein erfolgloser kleiner christlicher Kaufmann die Juden oder ein Kommunist die Kapitalisten haßt, mit jener dummen, tierischen, vernunftlosen und im Grunde feigen oder neidischen Art von Haß, die ich an anderen stets so sehr bedaure, der die Politik, das Geschäft, die Öffentlichkeit vergiftet und dessen ich mich nicht für fähig gehalten hätte." (Hesse, 75) Musik (7) Sprecherin Die gleichzeitige Nähe und Ferne des Nachbarn macht ihn zur Projektionsfläche für alle möglichen Gefühle. Malte Laurids Brigge notiert, der Nachbar dringe ins Gehirn, zunächst aber und als Voraussetzung dringt er in Haus und Wohnung ein. Räumlich hält er sich zwar jenseits der Wände auf, doch mit Hilfe von Geräuschen oder Gerüchen überwindet er sie mühelos. Der Nachbar befindet sich sowohl außen als auch innen, er verletzt durch sein bloßes Dasein das Heim und kann "unheimlich" werden. Jan Phillip Reemtsma hat einen Aufsatz mit dem Titel "Nachbarschaft als Gewaltressource" publiziert. Er fragt, warum das Nebeneinanderwohnen im Alltag eher von Konflikten geprägt ist, als dem verbreiteten Wunsch nach guter Nachbarschaft zu entsprechen. Nachbarn teilen sich eine Grenze, einen Zaun oder eine Wand, etwas, das strenggenommen zu beiden Seiten gehört und nach beiden Seiten durchlässig ist, wie Reemtsma betont: O-Ton Reemtsma Und so gibt es verschiedene Möglichkeiten, eben auch durch Lärm, durch Gerüche: Was ist, wenn in einem Haus zum ersten Mal mit Knoblauch gekocht wird? Das ist also ... die klassische Belästigung als die sogenannten "Gastarbeiter" auftauchten. Knoblauch. Deutschland hat sich dran gewöhnt und findet das sogar angenehm, aber das war ja eine große Belästigung. Und: Es ist ein bisschen zu laut drüben. Und zwar so, dass es Ihnen wirklich auf die Nerven geht, und Sie sind sauer. Was machen Sie? Sie hauen an die Wand. Sie dehnen also Ihrerseits ihre Körperlichkeit aus und schlagen dagegen, was möglicherweise Ihren Händen wehtut. Sie sind dann in dieser Auseinandersetzung. Das ist ... eine Grenze ist etwas, was trennt und was verbindet. Und was zu beidem ... Sie wollen eine Grenze wieder herstellen, indem Sie an die Wand hauen und gleichzeitig stellen Sie damit eine akustische Verbindung zum Nachbarn her. Sprecherin Die geteilte Grenze ist prekär und immer schon überschritten. Dass dieser Vorgang keineswegs harmlos ist, erfuhr unfreiwillig Hermann Hesse, wie er in der autobiographischen Erzählung "Kurgast" berichtet. Der Schriftsteller, gezwungen sich einer Kur zu unterziehen, muss im Hotel mit dünnen Wänden und regen Nachbarn leben. An Arbeit und Schlaf gehindert, entdeckt er erschrocken das eigene Aggressionspotential. Obgleich er sich immer wieder zur Vernunft ruft, gerät er in einen Hass hinein, den er ablehnt und verabscheut. Der Grenzübertritt des Nachbarn wird auf diese Weise schmerzlich empfunden und ruft so heftige Gefühle hervor, weil die Wohnung in Analogie zum Körper funktioniert. Mein Heim ist nicht nur meine Festung, es repräsentiert auch meinen Körper, wie Reemtsma ausführt: O-Ton Reemtsma Diese Analogie Wohnung-Körper - übrigens auch Auto-Körper oder Hund-Körper - das ist jetzt keine Analogie, die ich gemacht habe, um etwas besonders plausibel zu machen oder mit einer besonderen Emphase zu versehen, sondern das ist tatsächlich so. Das ist eine mehrfach gemachte psychologische Beobachtung. Zum Beispiel wenn bei Ihnen eingebrochen wird, dann vermissen Sie nicht nur etwas und finden "das gehört sich nicht", sondern es ist ein Übergriff, der Sie psychisch verletzt. Es ist ganz häufig, dass Menschen, bei denen eingebrochen wurde, unter die Dusche gehen: Sie fühlen sich beschmutzt. ... Wenn Sie mit Polizisten reden, mit Kriminologen reden, mit Psychologen reden, dann werden die immer auf dieses Phänomen zu sprechen kommen in solchen Fällen. Sprecherin Die Wohnung wird in Analogie zum Körper und eine Grenzverletzung als körperlicher Angriff erfahren. Dabei können auch Blicke die Grenze verletzen, wie Christoph Peters Geschichte "Frau im Bad" erzählt. Ein Photograph beobachtet eine Frau im gegenüber liegenden Haus, dessen Fenster nicht durch Gardinen geschützt sind. Er ignoriert die unsichtbare Grenze und sieht der Frau und ihrer jungen Tochter beim Frühstücken, bei der Arbeit und auch beim Duschen zu. Eine typisch voyeuristische Situation, die der Mann jedoch nicht als aggressive Übertretung auffasst. Ganz im Gegenteil unterstellt er, von der Frau längst bemerkt und in eine Art Spiel verwickelt worden zu sein. Eine abwegige Projektion, wie er feststellen muss, denn als er Mutter und Tochter beim Bäcker begegnet und sich zu erkennen gibt, wird er zu seinem Erstaunen beschimpft und als Täter hingestellt. O-Ton Peters Und da passiert ja eigentlich - wenn man es vom Schluss her liest - das genaue Gegenteil, dass die Frau ihn beim Gucken sieht und in ihn etwas Bösartiges hineinprojiziert als Nachbarn, als potentiellen Kinderschänder, Verführer der eigenen Tochter und bösartigen Triebmenschen. Wohingegen er eigentlich nur guckt und sich natürlich der Problematik des Guckens, der Indiskretion des Guckens bewusst ist, aber gerade dadurch, dass er sich dessen bewusst ist, eigentlich einen vergleichsweise rationellen Umgang damit hat. Sprecherin In Judith Zanders Roman kommt es zu körperlichen Übergriffen gegenüber Frauen. Ein Mädchen wird vom heimlichen Freund vergewaltigt, ein anderes zu sexuellen Handlungen gezwungen; hier treten jugendliche Dorfnachbarn als Täter auf, und die Dorfgemeinschaft dient als Deckmantel. O-Ton Zander Es kommt natürlich in dem Buch zu recht krassen Gewaltszenen, und trotzdem begreifen die Leute, die darin involviert sind, es, glaube ich, viel eher als Alltagsgewalt. Es ist das, was eben so passiert auf dem Dorf, und es passiert, glaube ich - also natürlich auch in der Stadt, aber auf dem Dorf eben auch -, sehr viel mehr und sehr viel Schlimmeres, als man sich für gewöhnlich so ausmalt, weil vieles, glaube ich, gar nicht unter der Decke des Schweigens hervorkommt. Es muss ja nicht unbedingt physische Gewalt sein, sondern auch psychische Gewalt, und das fängt eben an bei den Vorurteilen gegen die Nachbarn, wenn eine Familie jahrzehntelang darunter zu leiden hat, auf irgendeine Weise abschätzig betrachtet zu werden. Sprecherin Das Dorf als Umwelt, die sowohl physische als auch psychische Gewalt ausübt: Zanders Roman zeigt das ländliche Zusammenleben kaum harmloser als das großstädtische. Die Dorfgemeinschaft, die Personen entweder einsortiert oder ausgrenzt, beschädigt individuelle Grenzen und dringt schmerzhaft ins Innere der Einzelnen ein. O-Ton Zander Ja, vielleicht nochmal zu der Gemeinschaft: Die entsteht natürlich hauptsächlich nicht auf freiwilliger Basis, sondern weil man aufeinander angewiesen ist. Und dieses Aufeinander-Angewiesen-Sein gibt einerseits Sicherheit, und andererseits erzeugt es dann eben auch diese negativen Gefühle gegenüber denen, auf die man angewiesen ist. Sprecherin Nachbarschaft ist - auch wenn die dörfliche Angewiesenheit entfällt - keine freiwillige Angelegenheit. Nachbarschaft bedeutet eine ziemliche Nähe und Dichte von Menschen, die einander nicht ausgewählt haben. Dieses erzwungene Miteinander bildet in Zeiten unterschiedlichster Lebensformen und Lebensstile ein beträchtliches Konfliktpotential aus. Schon wenn die Tagesabläufe der Nächsten im Rhythmus und Tempo variieren, wenn Nachbarn zu unterschiedlichen Zeiten aufstehen, arbeiten, mit Kindern spielen, Musik hören oder schlafen, werden Grenzen verletzt. Musik (8) Zitator "Unter anderem habe er von Kampfbären erzählt und behauptet, er wisse jetzt, daß diese ganzen Döner und Kebabs und Kuftas aus Hundefleisch gemacht würden, wie in Ostasien, das sei kein Wunder, schließlich kämen die Türken dort her, Hundefresser wie die Chinesen, [...]. (Peters, T 188) Musik (9) Sprecherin Das nachbarschaftliche Verhältnis von Nähe und Ferne erhält eine zusätzliche Brisanz, wenn der Nachbar Wurzeln in der Ferne hat, wenn die Menschen nebenan nicht nur als Personen, sondern auch ihrer Kultur nach als fern und "fremd" wahrgenommen werden. Christoph Peters Roman "Das Tuch aus Nacht" berührt dieses Thema auf verschiedenen Ebenen. Der Roman spielt in Istanbul, wo ein junges deutsches Paar - er Bildhauer, sie Photographin - einer ebenfalls deutschen Gruppe Kunststudenten mit Professor begegnet. Der Bildhauer Albin will von der Hotelterrasse aus einen Mord in einem anderen Hotel beobachtet haben. Seine Geschichte glaubt allerdings niemand so recht, nicht nur weil Albin schwer trinkt und die vermeintliche Leiche unauffindbar ist, sondern auch weil die Story zu viele Kriminalfilm-Motive aufweist. So fragen sich die Reisenden, ob Albin tatsächlich etwas beobachtet hat oder nur Orientphantasien mit Versatzstücken aus Actionfilmen zu einem Plot halluzinierte? Der Autor lässt nicht nur seine Figuren, sondern auch seine Leser im Ungewissen: O-Ton Peters Also, ganz drastisch gesprochen, ist es gar nicht streng unterscheidbar, wo wir Wirklichkeit mit künstlerischen Mitteln abbilden und damit uns ein Bild machen und wo die Wirklichkeit anfängt, ihren eigenen Klischees entsprechend zu werden und wo unsere Wahrnehmung aus der Wirklichkeit - egal wie sie ist - nur das herausfiltert, was wir schon wissen. Diese drei Aspekte greifen immer ineinander: also das, was wir wissen, bestimmt das, was wir wahrnehmen können, das, was wir sehen, verhält sich in irgendeiner Weise zu den Erwartungen, die wir als Betrachter an es haben. Und unser Bild dessen, was wir sehen, verändert sich mit dem, was wir wahrnehmen, im Augenblick, in dem wir es wahrnehmen. Es sind also quasi drei Aspekte, die un- auseinander-trennbar miteinander verschränkt sind und zu so etwas wie Klischees, Wirklichkeit, Bild, Abbild, Realität - in dieser sonderbaren Gemengelage, die im Endeffekt zu dem Satz "Du sollst Dir kein Bildnis machen" - führt. Sprecherin Der Roman "Das Tuch aus Nacht" stellt Fragen nach der Wirklichkeit der Bilder und nach der Macht von Klischees. Türken sind lange schon Nachbarn in Deutschland und Deutsche lange schon Urlauber in der Türkei, dennoch hat diese Nähe das Denken übereinander kaum differenzieren können. Der Bildhauer Albin gerät bei seinen Nachforschungen in Teile Istanbuls, die wild, gefährlich und nicht sehr europäisch wirken. Er wird bestohlen, bekommt zweifelhaften Alkohol vorgesetzt und sieht Bären mit Hunden kämpfen. Die tatsächlich phantastischen Seiten der Stadt bestätigen Albins Phantasien und liefern neues Material für Projektionen. So treffen die Ereignisse auf Klischees, Medienbilder und Phantasien, und es entsteht ein unentwirrbares Knäuel, in dem sich der Bildhauer, aber auch die anderen Figuren verfangen. O-Ton Peters Europa hat den Orient ja seit mindestens 500 Jahren als ein Gegenbild sich konstruiert, in dem einerseits der furchtbare Prophet Mahomet irgendwelche düsteren Lehren verkündet hatte und irgendwie alles verboten war und eine bestialische Grausamkeit herrschte wie nirgends in Europa in unseren Vorstellungen, in unseren orientalistischen Klischees. Und auf der anderen Seite war es gleichzeitig und immer abwechselnd aber auch der Hort der befreiten Sinnlichkeit, der gegen die christliche Reglementierung des Sexuellen irgendwelche phantastischen Freiräume der Liebe und der Nacktheit und der Körperlichkeit bereitgestellt hat und gleichzeitig auch ein Ort der Toleranz, der Geistigkeit und der Mystik. Also, es gab immer hin- und herschwankend beide europäischen Orient-Klischees, und diese Klischees haben sicherlich irgendwie auch mit Realitäten zu tun [...] . Musik (10) Sprecherin Die durchaus kultivierten deutschen Reisenden stoßen, besonders wenn es ums Essen geht, an die Grenzen ihrer Toleranz. Wurde gerade noch die Kunst bestaunt und bewundert, wendet ein schlechtes Essen sofort das Blatt. Mit der Hygiene des Restaurants wird sogleich alles in Frage gestellt, denn wer so kocht, hat auch keine Kultur. Das Restaurant gerät zum "Saustall" und der "deutsche Professor" pocht auf sein Recht, bis neues Essen auf dem Tisch steht. Freilich löst sich der Missklang unter Einsatz von viel Alkohol in Wohlgefallen auf. O-Ton Peters Wobei das natürlich auch ein ganz typisches Phänomen ist bei dem Blick auf den Teller der Nachbarn, einerseits sozusagen die Hygiene- Fixierung: "Ist der auch sauber? Ist der Teller sauber?" und ... "wie riecht das denn? Ist das auch nicht faul? Ist das auch nicht angegammelt?" Das ist so ein ganz klassischer Blick, der auch einhergeht mit den Reisewarnungen, die wir alle in alle Länder mitnehmen, die die Anderen auch mit zu uns bringen. Sprecherin Die Gewohnheiten der Ernährung bilden dort, wo verschiedene Kulturen nachbarschaftlich aufeinander treffen, eine mögliche Quelle des Konflikts und der Missverständnisse. Was gegessen wird und was nicht, was als lecker gilt und was als ungenießbar, beruht häufig auf eher dunklen Gründen als auf objektiven Tatsachen. Im Bereich des Essens und Trinkens halten sich uralte, meist rituell oder religiös motivierte Vorschriften, heute transformiert in Formen von Geschmack und Moden. Unbekannte Farben, Gerüche oder Aromen können Abwehr hervorrufen, aber auch als verbindendes Moment wirken, wie Reemtsma nahelegt: O-Ton Reemtsma Es ist natürlich möglich, durch den ungewohnten Geruch des Essens nicht abgestoßen zu werden, sondern zu sagen: "Interessant." Das hängt ein bisschen ab von der eigenen Konstitution. Irgendwann hat es sich in vielen Stadtteilen ausgebildet, dass man diese Läden, in denen es komische Sachen gibt, die man vorher noch nie gesehen hat, nicht als "was will der hier mit seinem Zeug" wahrnimmt, sondern als: "Sagen sie mal, wofür haben sie dieses Kraut? Wo tun sie das rein?" Das ist dann ein Gespräch, und das ist dann auf einmal nicht ein Gespräch von Nachbar zu Nachbar in erster Linie, sondern von Koch zu Koch. Sprecherin Vielfalt in der Nachbarschaft kann als Quelle willkommener neuer Eindrücke verstanden werden - in der Literatur jedoch findet sich ein harmonisches Zusammenwohnen eher selten, wie Christoph Peters weiß: O-Ton Peters Also Nachbarschaft funktioniert besser, wenn ich nicht auf meinem Recht beharre, sondern mich zurücknehme und denke: "Wir wollen hier alle gut sein, so gut wie möglich". Das ist aber natürlich literarisch nicht interessant, literarisch interessanter ist es da, wo der Nachbar zum Terroristen wird und ich dann zum Terroristen des Terroristen werde oder zum Beobachter des Terroristen oder zum Mörder des Terroristen oder vom Terroristen ermordet werde. Musik (11) Literatur: Anna Katharina Hahn: Am schwarzen Berg, Berlin 2012 Hermann Hesse: Kurgast, FfM 1977 Franz Kafka: Der Nachbar Christoph Peters: Kommen und gehen, manchmal bleiben, FfM 2001 - Das Tuch aus Nacht, München 2003 - Sven Hofestedt sucht Geld für Erleuchtung, München 2010 Jan Philipp Reemtsma: Nachbarschaft als Gewaltressource, in: Mittelweg 36, Herbst 2004 Rainer Maria Rilke: Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge, München 2005 Georg Simmel: Soziologie des Raumes, in: Schriften zur Soziologie, FfM 1983 Uwe Tellkamp: Der Turm, Ffm 2008 Judith Zander: Dinge, die wir heute sagten, München 2010 Slavoj Zizek: Liebe Deinen Nächsten? Nein, Danke!, Berlin 1999 Musik: Dimitri Shostakovich, The Complete Trios & Sonatas, The Kalichstein Laredo Robinson Trio (1997) e.s.t. live in hamburg (2007) 13 20