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Hanser Verlag, München 2008 / Veranstaltungsmitschnitt "Wege durch das Land" Von der Bitternis sing, Göttin - die ILIAS in 24 Gesängen, ein homerisches Lese- und Diskussionsfest auf Schloss Corvey, Literaturbüro Ostwestfalen-Lippe e.V. www.literaturbuero-detmold.de) (Musik) Erzählerin: Zehn lange Jahre belagern griechische Schifffahrer die Festung Troja und bekämpfen sich Griechen und Trajaner unerbittlich bis auf den Tod. Um diesen langen Kampf durchzustehen, gebrauchen die Männer nicht nur ihre Waffen. Sie benutzen ein starkes und zuverlässiges Aufputschmittel: ihren Zorn. Er hetzt die Gegner immer wieder aufeinander und lässt selbst aus Freunden plötzlich Feinde werden. In seiner großen Erzählung ILIAS berichtet der antike Dichter Homer vom Beginn der europäischen Geschichte. Und der liegt mitten in einem Krieg. (Musik ausblenden) Schrott / Zitator 1: "Es geht um Ehre, Status und Reichtum, Scham und Schande, Freundschaft, Feindseligkeit sowie die Verbindlichkeiten dazwischen. Triebfeder allen Handelns ist letztlich Egoismus, die Angst vor dem Gesichtsverlust und das Verlangen nach jenem überzeitlichen Ruhm, der die Helden über die Vorstellung des Dahinvegetierens in der Unterwelt hinwegtröstet." (aus: Homer "Ilias". Übertragen von Raoul Schrott. Hanser Verlag, München 2008) (Musik) Erzählerin: ...kommentiert der österreichische Dichter Raoul Schrott die Heldenerzählung ILIAS. Sämtliche 24 Gesänge übersetzte er in die heutige Sprache neu, vom Detmolder Literaturbüro eingeladen, las er daraus gemeinsam mit Schauspielern im westfälischen Schloss Corvey. In der Abtei des Schlosses erzählt ein restaurierter Bilderfries Episoden aus der Ilias. Vor historischer Kulisse stritten und versöhnten sich nun Schauspieler und Schauspielerinnen als Agamemnon, Zeus, Hera oder Achilleús. (Musik ausblenden) O-Ton Raoul Schrott: du selbstsüchtiger kerl denkst schamlos nur an deinen vorteil; ziehst einem noch das hemd aus - und glaubst, wie lassen uns von dir noch mal bei einer kaperfahrt oder im krieg anführen? die lanzen der troianer, die sind lang genug - nicht ihretwegen bin ich zum kampf angetreten: mir haben sie ja nichts getan - die haben mir weder meine rinder noch pferde gestohlen und bei mir in phthía, wo mein volk auf das Beste leben kann auch keinen einzigen acker je verwüstet - (aus: Homer "Ilias"...) (Musik) Erzählerin: Achilleús ist über seinen Freund Agamemnon erzürnt. Beide streiten sich, wie so oft in der griechischen Geschichte, um eine Frau. Und wie so oft ist sie nur ein vorgeschobener Anlass, um sich zornig, also mannhaft zu zeigen. Agamemnon hatte seine Lieblingssklavin Chryseis nach einem Orakelspruch ihrem Vater zurückgeben müssen. Um den Verlust auszugleichen, stahl er sich kurzerhand Briseis, die Lieblingssklavin seines Freundes Achilleús. Damit war ihm nicht nur eine neue Frau, sondern auch Achilleús Zorn sicher. Agamemnon muss sich gegenüber Achilleús rechtfertigen, und er tut es auf seine Weise: (Musik ausblenden) O-Ton Raoul Schrott: zieh doch endlich leine, du... wenn du so scharf drauf bist - ich knie sicherlich nicht vor dir und bettele dich zu bleiben. Da sind genug andere, die für meine ehre einstehen werden - Zeus als erster! Von allen mit mir verbündeten herrschern ist mir keiner so verhasst wie du: nur streit hast du im kopf krieg und kampf! (aus: Homer "Ilias"...) Erzählerin: Der Zorn ist ein jahrtausendealter Treibstoff . Wie stark er brennt, zeigt der Philosoph Peter Sloterdijk in seinem Buch "Zorn und "Zeit". Sloterdijk / Zitator 2: "Der Zorn, mit dem im alten Westen alles anfing...Diesen unheimlichsten und menschlichsten der Affekte, soll man ihn ... dämpfen, zügeln, unterdrücken? Geht man ihm eilig aus dem Weg, sooft er sich bei anderen ankündigt und bei einem selber regt? Soll man ihn jederzeit der neutralisierten, der besseren Einsicht opfern?" (Sloterdijk, Peter: "Zorn und Zeit". Suhrkamp Verlag, Frankfurt/Main 2008) (Stimmengeräusche bzw. -lärm...) Erzählerin: Wut, Aggression und erbitterte Feindschaft - nicht allein durch Handlungen, sondern auch durch Worte lassen sich diese Affekte anstacheln. Die Sprache ist die eigentliche Universalwaffe der menschlichen Geschichte. Gerade weil Worte so selbstverständlich anwesend, alltäglich und gewöhnlich scheinen, wird ihre brisante Rolle oft unterschätzt. Wir verständigen uns nicht nur mit den Worten, sondern gebrauchen sie auch, um Verständigung gezielt zu verhindern. Für diesen Ge- oder Missbrauch von Sprache gibt es einen speziellen Begriff: Manipulation. Seine fatale Auswirkung steigerte sich im Verlauf der Geschichte. Aus dem einstigen antiken Kampf Mann gegen Mann wurde im 20. Jahrhundert das bürokratische Töten im industriellen Massstab. In welch ausgeklügelter Weise mit Worten Kriege ausgelöst wurden und werden, untersucht der Friedensforscher und Historiker Wolfram Wette: (Stimmengeräusche bzw. -lärm ausblenden) O-Ton Wolfram Wette: Wer sich in der Analyse von Sprachstrategien geübt hat, die mit kriegerischer Gewalt zu tun haben, vermag relativ früh zu erkennen, welchen Weg Kriegsherren einzuschlagen gedenken. Wo beispielsweise ein bestimmter Politiker mit Hitler verglichen wird, oder wo von der Achse des Bösen die Rede ist oder vom Kreuzzug gegen das Böse, oder wo von der Mutter aller Schlachten die Rede ist - da ist nicht nur der Wille zum Krieg vorhanden, sondern da ist in der Regel schon die Entscheidung, ihn ins Werk zu setzen, bereits gefallen. (Veranstaltungsmitschnitt "Freiheitsgespräche entlang der Wege" Internationale Autorentage Schwalenberg - Friaul 26.-28.9. und 30.9.- 6.10. 2008, Literaturbüro Ostwestfalen-Lippe e.V. www.literaturbuero- detmold.de) Erzählerin: Friedrich der Große ordnete im 18. Jahrhundert seinem Staatsminister Podewils an, sich einen sprachlich formulierten "justa causus" für einen gerechten Krieg ausdenken. Denn der Preußenkönig wollte Schlesien überfallen und seiner eigenen Macht einverleiben. Aber nur moralisch, politisch und juristisch abgesichert, also in einem nach außen hin "gerechten" und damit gerechtfertigten Krieg, konnte Friedrich die für sein Vorhaben notwendige Unterstützung von Bündnispartnern erhalten. Und als zwei Jahrhunderte danach, während des zweiten Weltkrieges, SS und Wehrmacht in Babijar bei Kiew innerhalb weniger Stunden 33.771 russische Juden ermordeten, hatten auch sie dieses Massaker durch gezielte Sprachstrategie vorbereitet. O-Ton Wolfram Wette: Die rassenideologisch motivierten und systematisch geplanten Judenmorde wurden nämlich konsequent in militärische Notwendigkeiten umgelogen und den Soldaten in einem ganz traditionellen militärischen Vokabular nahegebracht. Die Soldaten sollten glauben, dass sie - obwohl sie von den Judenmorden wusste - an einem normalen militärischen Krieg teilnahmen. So konnten sich die Wehrmachtssoldaten der Illusion hingeben, die Erschießung der Juden sei ein Teil der Partisanenkämpfe. (Veranstaltungsmitschnitt "Freiheitsgespräche...) Erzählerin: Wie aber reagierten die Soldaten darauf, als sie begriffen, dass sie gemordet hatten? Konnten sie - wenigstens nach dem Krieg und der auf ihn folgenden versuchten Aufarbeitung und Auseinandersetzung - begreifen, dass viele ihrer angeblich feindlichen militärischen Gegner unschuldige und unbewaffnete Zivilisten waren? Konnten sie darüber sprechen, fanden sie Worte für ihre Schuld? O-Ton Wolfram Wette: Hier machen wir eine hochinteressante Entdeckung. In den Feldpostbriefen von Millionen einfacher Soldaten wie auch in ihrer späteren Erinnerung an die Kriegserlebnisse werden unendlich viele belanglose Details erzählt. Und zwar mit hoher Präzision. Von der Wirklichkeit des Krieges aber, also von dem massenhaften Töten und von der ständigen Angst, auch selbst getötet zu werden, versagte in nahezu allen Feldpostbriefen einfacher Soldaten die Sprache. (Veranstaltungsmitschnitt "Freiheitsgespräche...) Erzählerin: Die Ursachen für das Schweigekomplott von Nationalsozialismus, Krieg und Holocaust nach dem Zweiten Weltkrieg liegen bereits in der Kriegszeit selbst, schlussfolgert der Lüneburger Historiker Klaus Latzel. Das Verstummen der Soldaten gegenüber ihrem Tun und die Distanz, Kälte und Schweigsamkeit, die aus den Briefen an ihre Angehörigen sprechen - das alles scheint ein erschreckender Ersatz für die ihnen weggenommene oder deutlicher: weg-manipulierte Sprache zu sein. Das Schweigen der Soldaten war mehr als nur Folge der militärischen Feldpostzensur. O-Ton Wolfram Wette: Diese Charakteristika der Soldatenbriefe des 2. Weltkrieges weisen also voraus... auf die Sprachlosigkeit, mit der die Kriegsgeneration in hohem Masse geschlagen war. In die individuelle Erinnerung eingekapselt, blieben viele der tiefgreifendsten Kriegserlebnisse der Kommunikation und damit dem gesellschaftlichen Gedächtnis lange Zeit entzogen. Das Gesagte gilt übrigens auch für die Kriegsbriefe eines gewissen Soldaten Heinrich Böll, die 2001 in einer Edition der Öffentlichkeit zugänglich gemacht worden sind. Über das Kampfgeschehen, über die blutige Wirklichkeit des Krieges erfährt man in den Kriegsbriefen von Heinrich Böll fast nichts. Unabhängig davon hat sich gleichwohl gezeigt, dass die literarische Auseinandersetzung mit dem Krieg noch am ehesten einer realistischen Darstellung gerecht werden kann. Einer realistischen Darstellung, die das Töten und Sterben ernst nimmt und nicht thematisch ausklammert. (Veranstaltungsmitschnitt "Freiheitsgespräche...) (Musikzitat / Marlene Dietrich: Sag mir, wo die Soldaten sind...) Erzählerin: In ihrem autobiografischen Familienroman "Stille Post" stellt Christina von Braun die These auf, dass die eigentliche Geschichte des 20. Jahrhunderts ohnehin nicht durch Sprechen erinnert wird. Sie wird kaum in den von Politikern, Historikern oder Soziologen dokumentierten offiziellen Fakten, Daten und historischen Wertungen berichtet. Für die Autorin teilt sich Geschichte viel nachhaltiger im zwanghaften Schweigen der Mütter mit. Diese Lautlosigkeit vermeidet zwar die Worte, spricht aber dafür umso deutlicher aus Körpern, Handlungen, Gesten, Wünschen - oder auch Vermeidungsstrategien. Christina von Braun musste sich fragen, was ihre in beste nationalsozialistische Verhältnisse eingeheiratete Mutter verbergen wollte, da sie über ihre eigene Mutter zu Mann und Kindern kein einziges Wort verlor. Durch deren hartnäckige Stummheit erst aufmerksam geworden, suchte Christina von Braun akribisch nach anderweitigen Spuren ihrer Großmutter. O-Ton Braun: Sie starb im Gefängnis im September 1944, drei Monate nachdem ich geboren war. Sie wurde von der GESTAPO verhaftet, und mehr wusste ich nicht. Ich habe erst bei den Recherchen entdeckt, dass sie eine der frühen Feministinnen dieser Bewegung von Frauen, die zum ersten mal das Wahlrecht hatten, aktiv und passiv in die Politik eingreifen konnte. Und gleichzeitig eine Selfmadewoman, als junge Kriegerwitwe mit zwei kleinen Kindern, ohne Vermögen hat sie sich ganz allein durchgebracht und war eine sehr erfolgreiche Unternehmerin mit Hausfrauenpolitik und technischen Geräten, hat zwei Verlagshäuser gegründet. Ihre Mutter war Jüdin, konvertierte Jüdin aus einer Industriellenfamilie in Posen. Und dieses Wissen hatte sie ihren Kindern verborgen, meine Mutter hat es uns nie mitgeteilt, sie muss es gewusst haben... (ARD - Rundfunkmitschnitt) Erzählerin: Die von dieser Großmutter abgesandte "stille Post" war trotz der stummen Mutter bei der Enkelin angekommen. Diese nun konnte erneut sprechen, aussprechen, und übersetzte schließlich die Geschichte ihrer Großmutter wieder in Sprache oder genauer: Literatur zurück. (Musik) Erzählerin: Was aber, wenn es keine Sprache mehr gibt, in die ein Schweigen rückübersetzt werden kann? Wenn Sprachstrategien so intensiv und wirkungsvoll angewendet wurden, dass sie zerstörend auf unser ältestes Kommunikationsmittel wirkten? Die chinesischen Dichter Bei Dao, Yang Lian und der Nobelpreisträger Gao Xingjian berichteten von den verheerenden Folgen der Kulturrevolution für die Sprache ihres Landes. Innerhalb von nur zehn Jahren vereinnahmte die Parteipropaganda fast vollständig die chinesische Sprache. Das klare, schöne Wort Meer missbrauchten die Sprachstrategien der chinesischen Staatsführung nur noch als Gleichnis für Gewalt, Partei oder Massen, das Wort Sonne verkam zur Metapher für Macht oder Mao Tsetung. (Musik) Erzählerin: Die Dichter in China rebellierten und versuchten, diese Metaphern aufzusprengen, zu entideologisieren und die Worte wieder ihrer ursprünglichen Bedeutung zurückzuführen. Die eingesetzten Mittel waren phantasievoll: Auflösen von eindeutigen Bezügen, scheinbar beziehungsloses Kombinieren von Worten, Anwendung von europäisch inspirierten Montagetechniken oder Verwirrung der Bezugspunkte Raum und Zeit. Das alles schaffte gut getarnte Freiräume innerhalb politisch zementierter Verhältnisse und übermittelte, was direkt nicht ausgesprochen werden durfte, geschickt auf anderem Wege. Die Dichter befreiten so die Sprache und reanimierten ihre Substanz. Bei Dao schrieb im Gedicht "Die Antwort", der wohl berühmtesten poetischen Handlungsanweisung dieser literarischen Strömung: Dao / Zitator 1: "Ich sage dir, Welt, / Ich - glaube - nicht!" (aus: Bei Dao "Post bellum", Übersetzung Wolfgang Kubin. Hanser Verlag München 2001) (Musik) Erzählerin: Auch der italienische Dichter Andrea Zanzotto versucht die notwendige Reinigung einer durch Missbrauch verdorbenen Sprache. In seiner Geschichte "1944: FAIER" aus dem Band "Auf der Hochebene und andere Orte" erzählt er von seiner Heimat Venetien zur Zeit des Zweiten Weltkriegs. Er berichtet, wie ein alter Bauer die Worte "1944: Faier" nach einem von der SS verübten Massaker in seinem Dorf, bei dem alle Häuser in Brand gesetzt wurden, in die Fassade seines nach dem Krieg wiederaufgebauten Hauses ritzt. Er schreibt aber nicht das korrekte Wort Feuer, sondern: F-A-I-E-R. Der alte Mann wollte die lautliche Umschrift des gebrüllten Brandstifterkommandos in die Mauer brennen. Diese kriegsverstümmelte Sprache seiner Heimat versucht Zanzotto nun gegen Ende der Erzählung zu neutralisieren. Er geht mit der Sprache wieder an ihre Quellen zurück. Dort, wo sie vom Menschen befreit, aufatmen kann: Zanzotto / Zitator 2: "1944: Faier. Jetzt sind die Jahre kälter, die Jahreszeiten haben ein verdünntes, beinahe unsicheres Licht. Die Formel schweigt, wie unter Glas, das sie ungültig macht. Und eine sanfte Lähmung, ein dumpfes Begehren, zu vergessen, umgibt uns... Die Luft ist von keiner fremden Sprache mehr verletzt, ist nur noch da für die Stimmen der Erde und den Dialekt von jeher. Und tief in der Nacht spricht der Bach und wiegt die jungen und reinen Gräser, und noch weiter jenseits ist die wahre Stille, die der Sterne." (aus: Zanzotto, Andrea: "Auf der Hochebene und andere Orte". Herausgegeben und übersetzt von Donatella Capaldi, Maria Fehringer, Ludwig Paulmichl und Peter Waterhouse. Folio Verlag / Urs Engeler Editor, Wien/ Basel 2004) (Musik) Erzählerin: Wie Andrea Zanzotto drückt auch Peter Waterhouse die Resettaste. Waterhouse / Zitator 1: "Absicht, komische Sache. Etwas mitzuteilen, nein, nein. Der Natur konnte ich vertrauen, sie war ohne Mitteilung, nur Sprache, nur Anwesenheit. Da. Baum, enormes Wort ohne Mitteilung. Er sagte nichts, war etwas. Leben: war etwas. ... Anfang, der ohne Mitteilung ist, nur Sprache, ungestört." (aus: Waterhouse, Peter "(Krieg und Welt)". Verlag Jung und Jung, Salzburg 2006) Erzählerin: Dass sich Sprachstrategien nicht nur auf politischer Ebene abspielen, sondern mitunter viel diffiziler, ja alltäglicher eingesetzt werden, zeigt die Dichterin Barbara Köhler. Sie untersucht besonders in ihrem Band "Wittgensteins Nichte" - poetologisch, essayistisch, poetisch - solcherart Machtkämpfe. Köhler blickt in jene Arena, in der die zwei klassischen Gegenpole ihre Position eingenommen haben: Köhler / Zitatorin: "Im Sprachraum treffen zwei Ichs aufeinander (wer unten? wer oben?): er & sie." (aus: Köhler, Barbara "Wittgensteins Nichte. Vermischte Schriften, Mixed Media". Edition suhrkamp, Frankfurt/M 1999) Erzählerin: Barbara Köhler macht auf einen besonderen Fall in der deutschen Sprache aufmerksam. Er spiegelt nicht nur die hierarchischen Strukturen einer Gesellschaft, sondern schreibt sie auf raffinierte Weise selbst fort. Für SIE und IHN gelten im Sprachspiel nicht nur verschiedene Regeln. Die Dominanz des Maskulinen, des ER, ist von Anfang an sprachlich festgelegt. Das Wort SIE ist zwar weiblich definiert, kann aber auch in der Menge wieder ausgelöscht werden. Denn SIE heißt gleichzeitig die dritte Person Mehrzahl. ER darf seine Wortbedeutung für sich allein behalten. Sagt er dagegen SIE, kann er die eine einzige Frau ansprechen, aber auch alle Frauen. Sagt sie jedoch ER, ist immer nur der eine Mann gegenüber gemeint. Zumindest sprachlich kann er sich dessen sicher sein. (Musik) Waterhouse / Zitator 1: "Ich stand da eigentlich ohne Sprache. Weg mit dem e i g e n t l i c h: Ich stand da ohne Sprache. Der Milchmann fuhr mit dem weißen Lieferwagen herauf, es war das Klirren der Flaschen zu hören. Als der Wagen in der Nähe war, zitterte die Asphaltstrasse, und Fensterglas rüttelte. Der Wagen hielt, zum Abschluss schlugen alle leeren Flaschen gegeneinander. Alle Glasflaschen wurden einmal durcheinandergeschüttelt. Jetzt liefen aus dem Haus... die zwei Kinder, setzten sich neben mich auf die Gartenmauer und sagten etwas auf, das ich nicht verstand. Ich hörte nicht recht hin. Was war es? La la. Bin. La la la. Bin. La la la. Bin la. Bin. La la la. Und dann als Nächstes: tali - teletubbies. Tali taliban - teletubbies. Und dann: Bin la. Bin. La la la. Bin la den. Taliban - teletubbies.... Ging die Sprache unter, aber hier auf der Strasse wurde etwas anderes gesungen, ungefähr ban bin la tele tali? Waren hier wieder Bausteine, liban - labin?" (aus: Waterhouse, Peter "(Krieg und Welt)". Verlag Jung und Jung, Salzburg 2006) (Musik) Erzählerin: ... fragt der Dichter Peter Waterhouse in seinem Roman "(Krieg und Welt)". Ausgangspunkt für Waterhous' Buch war die Figur seines Vaters, ein Engländer, der lange Jahre für den britischen Geheimdienst gearbeitet hatte. Immer wieder verschwand der Vater, verliess ohne Ankündigung und auf unbestimmte Zeit das Kind und seine Mutter. Kam er zurück, erzählte er nie, wo er war oder was er erlebt und wie er sich gefühlt hatte. (Dschungelgeräusche, Tier-Stimmen) Erzählerin: Nachdem der Vater wieder einmal in Malaysia, wo sie damals lebten, für drei Wochen im Dschungel abgetaucht war und es anschließend vermied, seinem Sohn in die Augen zu schauen, begriff das Kind plötzlich: über dieses nichtsprachliche Zeichen fand das eigentliche Gespräch mit dem Vater statt. Das - im wörtlichen Sinn - Versagen des geheimdienstlich zum Schweigen verpflichteten Vaters nahm das Kind zum Ausgangspunkt und entdeckte ein eigenes und damit völlig beglaubigtes Informationssystem. Das Kind entdeckte eine neue neben der ihm versagten Sprache. Waterhouse / Zitator 1: "Indem der Vater nichts sagte vom Wald, hatte der Wald alle Düfte. Der Wald, so unerzählt, hatte jeden Geschmack, hatte alle Töne und Geräusche." (aus: Waterhouse, Peter "(Krieg und Welt)". Verlag Jung und Jung, Salzburg 2006) Erzählerin: Der Dichter Peter Waterhouse übte so von klein auf, wie man das Nichtsprachliche in einem tonlosen, ungesagten Umfeld wahrnehmen und die vielfältigen Botschaften dieses Wortlosen deuten kann. Dieses Nichtsprachliche ... Waterhouse / Zitator 1: "... zeigte aus der Welt heraus. Vielleicht sogar zu einem Ort, wo das Kind war, nicht wirklich zu einem Ort, sondern zu einem Ort hinter den Orten, zu einem Hintergrund... Es war nicht bloß ein Hintergrund, behind, es war auch ein away, weg, fort. Doch away klang nicht nur wie away, sondern auch wie a way, ein Weg, und war beinahe sein Weg im Hintergrund, jedenfalls kein Abgrund." (aus: Waterhouse, Peter "(Krieg und Welt)". Verlag Jung und Jung, Salzburg 2006) Erzählerin: Aber nicht nur zwischen Sprache und Welt, sondern auch innerhalb der Sprache arbeitet ein doppelt gelagertes Informationssystem. Einerseits besitzt jedes Wort seine klare Bedeutung, andererseits schwingt in jedem Wort, in jedem Satz auch Ungesagtes mit, existiert ein nachhaltiger Echoraum. Und genau in diesem Raum, der ein unendlicher Freiraum ist, wirkt die Dichtung. Er ist ihr Aufenthaltsraum. Waterhouse / Zitator 1: "Nicht nur als Kind, sondern auch später habe ich die Klangformen mancher Wörter, das Nichtzuwissende mancher Wörter hören können. Zum Beispiel habe ich das, was das Wort 'anders' bedeuten will, auf eine besonders physische Weise aufgefasst. Ich habe das englische Wort 'under' hören können, das dem deutschen 'unterhalb' entspricht. Im deutschen Wort 'anders' gab es noch ein anderes, und dieses andere war wie unterhalb, darunter oder englisch versteckt." (aus: Waterhouse, Peter "(Krieg und Welt)". Verlag Jung und Jung, Salzburg 2006) (Musik) Erzählerin: In seinem "Timaios - Gesang über das Entstehen der Welt" schrieb der antike Philosoph Platon etwa 500 Jahre nach Homer von diesen sich überlagernden und gegenseitig erhellenden Zuständen. Platons Gesang erzähle, schreibt Waterhouse, über dieses sich miteinander Mischen und ineinander Übergehen, über das Verlassen des einen und zum anderen Werden und über eine so gebildete grundsätzliche und gleichmäßige Zuverlässigkeit. (Geräuschemix: knitterndes Papier, Blechbüchsen, Müll, Blätterrascheln...) Waterhouse / Zitator 1: "Im Akazienwäldchen liegen Dosen, Papier, Zigarettenschachteln, zerbrochene Ziegel und Betonstücke auf dem Gras und Moos. Fast hörbar, wie die Dosen auf das Weiche geworfen wurden, das Papier zerrissen wurde, der Ziegel einmal zerbrach. Auf dem Akazienwaldboden liegt also ein Gedicht." (aus: Waterhouse, Peter "(Krieg und Welt)". Verlag Jung und Jung, Salzburg 2006) (Musik) Erzählerin: Auch die Dichterin, Essayistin und Übersetzerin Ilma Rakusa wuchs mit verschiedenen Sprachen auf. Als Tochter eines slowenischen Vaters und einer ungarischen Mutter verbrachte sie ihre Kindheit zwischen Budapest, Ljubljana und Triest. Später studierte sie in Petersburg und Paris und lebt heute als Schweizer Autorin in Zürich. In dem energetischen Raum von unterschiedlichen Kulturen und verschiedenartigen Sprachen musste sie sich den ihr zugehörigen Platz erst einrichten oder besser erhören. Auf einer vom Detmolder Literaturbüro organisierten friulanischen Literaturreise erinnert sich Ilma Rakusa in Triest, dem Ort ihrer Kindheit, wie sie besonders über die Verschiedenheit einzelner Worte die Welt begreifen lernt. In ihrem autobiografischen Roman "Mehr Meer" schreibt sie: O-Ton Rakusa: Beim Anblick der Stiefmütterchen und Vergissmeinnicht sann ich über ihre Namen nach. Sie stimmten mich traurig. Etwas in mir verdunkelte sich ganz schnell, zog sich zusammen und bildete einen Knäuel.... Abschied war auch ein solches Wort. Und Zug und Gleis und Schnee und SMRT. Tod. Reise war ein halbtrauriges Wort, genauer ein dreivierteltrauriges. Weil ich nicht ständig wegwollte, oder nicht wollte, dass die anderen weggingen. Trieb und Neugier? Und war das Neue immer woanders? (Zuggeräusche, ratternde Räder... langsam unterblenden) O-Ton Rakusa: Dort drüben hörte der Garten auf, dahinter begann das Niemandsland der Züge, des Unterwegsseins. Das blühende Unkraut wuchs bis unter die Zugräder. Liess sich entwurzeln. Ausgerissen hing es in einer Speiche, und weg. Fortgeweht, zerfetzt.... Die nächtlichen Züge erinnerten auch daran, dass die Reise weitergehen würde, immer geht sie weiter.... Ich bewegte mich zwischen fremden Gegenständen, umgeben von einer fremdem Sprache. Die Gegenstände blieben, was sie waren, der Sprache näherte ich mich langsam an. Den Pelzhandschuh ans Gesicht gedrückt, spitzte ich die Ohren. VRT. Garten. SMRT. Tod. Ich lernte NOC, VLAK, DAN, KRUH. Ich lernte stumm, ich sammelte die Welt. Nicht brockenweis, sondern in ganzen Sätzen wollte ich reden. Darum schwieg ich, bis das gelang. (aus: Rakusa, Ilma "Mehr Meer". Droschl Verlag, Graz-Wien 2009 / Veranstaltungsmitschnitt "Freiheitsgespräche entlang der Wege" Internationale Autorentage Schwalenberg - Friaul 26.-28.9. und 30.9.- 6.10. 2008, Literaturbüro Ostwestfalen-Lippe e.V. www.literaturbuero- detmold.de) (Zuggeräusche, ratternde Räder... ausblenden) Erzählerin: Sprache ist in ihrem Kern nach weder Waffe noch Machtmittel, sie ist neutral. Jede Sprache dient ausschließlich dem Erkennen und Begreifen der unverschlüsselten Welt und ist, so gesehen, darum zunächst ebenso unverschlüsselt. Bestimmend bleibt ihre Verwendung. Oder anders gesagt, entscheidend ist der Respekt vor der Sprache mit ihren potentiellen Möglichkeiten. Dass man Sprache anders als nur machtstrategisch benutzen kann, zeigen Dichter wie Waterhouse oder Rakusa. Oft durch mehrsprachige Herkunft zusätzlich sensibilisiert, erkennen sie umso deutlicher die Möglichkeiten einer Sprache. Sie wissen aber ebenso um ihre Gefährdungen. Gerade die Literatur - und hier besonders die Dichtung - neutralisiert, entschlackt und reinigt die Sprache. Für diesen Prozess öffnen die Dichter besonders auch ihren Lesern die Sinne. Sprache ist zweckfrei. Sie ist nichts weiter als ein Code, wie der Kommunikations- und Medienphilosoph Vilèm Flusser erklärt. Flusser / Zitator 2: "Die Sprache ist eine Höchstleistung des Geistes, und die uns zur Verfügung stehenden Sprachen gehören zu unseren höchsten Schätzen... Unser Universum ist nicht von der Wirklichkeit her, sondern von unseren Sprachen her strukturiert. Die Vielfalt, die strukturelle Gemeinsamkeit und die funktionale Verschiedenheit unserer Sprachen ermöglicht es, unser Universum immer neuen Gedanken, Gefühlen, Wünschen und Handlungen schöpferisch zu öffnen." (aus: Flusser, Vilém "Die Schrift". Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt/Main 1992) Erzählerin: Denn, wie der große Sprachforscher Wilhelm von Humboldt zwei Jahrhunderte früher schon schrieb: Humboldt / Zitator 1: "Die Sprache ist tief in die geistige Entwicklung des Menschen verschlungen, sie begleitet dieselbe auf jeder Stufe ihres lokalen Vor- oder Zurückschreitens, und der jedesmalige Kulturzustand wird auch in ihr erkennbar." (aus: Humboldt, Wilhelm von "Über die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues". Fourierverlag 2003) (Musik / langsam ausblenden) Zitate: Bei Dao: "Post bellum". Übersetzung Wolfgang Kubin. Hanser Verlag, München 2001 Braun, Christina von: "Stille Post - eine andere Familiengeschichte". Propyläen Verlag, Berlin 2007 Flusser, Vilém: "Die Schrift". (Übersetzer o.A.) Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt/Main 1992 Homer: "Ilias". Übertragen von Raoul Schrott. Hanser Verlag, München 2008 Humboldt, Wilhelm von: "Über die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues". Fourierverlag 2003 Köhler, Barbara: "Wittgensteins Nichte. Vermischte Schriften, Mixed Media". edition suhrkamp, Frankfurt/M 1999 Rakusa, Ilma: "Mehr Meer". Droschl Verlag, Graz-Wien 2009 Sloterdijk, Peter: "Zorn und Zeit". Suhrkamp Verlag, Frankfurt/Main 2008 Waterhouse, Peter: "(Krieg und Welt)". Verlag Jung und Jung, Salzburg 2006 Zanzotto, Andrea: "Auf der Hochebene und andere Orte". Herausgegeben und übersetzt von Donatella Capaldi, Maria Fehringer, Ludwig Paulmichl und Peter Waterhouse. Folio Verlag / Urs Engeler Editor, Wien/ Basel 2004 Musik: Marlene Dietrich: "Sag mir, wo die Blumen sind..." Eleni Karaindrou: "Trojan Women", CD ECM 2001 Eleni Karaindrou/ Kim Kashkasian: "Ulysses' Gaze", CD ECM 1994 David Moss: "my favorite things", CD Intakt Records Zürich 1990 Steel Cello Ensemble: ">At the Waterworks", CD Stuff Records Berlin 1991 O-Töne: "Wege durch das Land" Von der Bitternis sing, Göttin - die ILIAS in 24 Gesängen, ein homerisches Lese- und Diskussionsfest auf Schloss Corvey / / Veranstalter: Literaturbüro Ostwestfalen-Lippe e.V. (www.literaturbuero-detmold.de) - Veranstaltungsmitschnitte Schrott "Freiheitsgespräche entlang der Wege" Internationale Autorentage Schwalenberg - Friaul 26.-28.9. und 30.9.-6.10. 2008 / Veranstalter: Literaturbüro Ostwestfalen-Lippe e.V. (www.literaturbuero-detmold.de) - Veranstaltungsmitschnitte Rakusa, Waterhouse, Wette, Zanzotto ARD Rundfunkmitschnitt - Christina von Braun 1 2