DEUTSCHLANDFUNK Redaktion Hintergrund Kultur / Hörspiel Redaktion: Karin Beindorff Dossier "Der Mut der Mücke Lebensstrategien Alleinerziehender Von Marie von Kuck Wiederholung von Dienstag, 06.03.2012 Urheberrechtlicher Hinweis Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Die Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in §§ 44a bis 63a Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. (c) unkorrigiertes Exemplar - Sendung: Freitag, 03. Januar 2014, 19.15 - 20.00 Uhr Atmo Frauenarztpraxis. Herzschlag des Ungeborenen Autorin: Der Frauenarzt dreht den Monitor des Ultraschall-Gerätes zu mir: In meinem Innern schlägt ein winziges fremdes Herz. Er sagt, dass ich schwanger bin. 8. Woche. Am liebsten würde ich ihm eine runterhauen. Mich überfluten Angst, Scham und Staunen. Ich habe die Kontrolle über mein Leben verloren. Mir kommen die Tränen. Der Arzt stellt mir eine Krankschreibung aus. Noch könnte ich abtreiben. Ich muss mich entscheiden. Vom Vater des Kindes habe ich mich gerade erst getrennt. Ich fühle mich so einsam wie noch nie. Ansage: Der Mut der Mücke Lebensstrategien Alleinerziehender Ein Feature von Marie von Kuck Atmo: Garten. Bienengesumm. Vogelgezwitscher. Autorin: Die Sonne wärmt bereits. Um mich herum im Garten krabbelt und flattert, zwitschert und summt der Frühling. Sex und Kindermachen - verschiedene Dinge? Die Pille hatte mich verführt, das zu glauben. Nun hat das Leben zugeschlagen. Trotz Verhütung. Eine Frau, die mit einem Mann schläft, tanzt eben doch immer auf dem Vulkan. Noch nie habe ich darüber nachgedacht, ob ich die Folgen tragen könnte. Jetzt male ich eine Tabelle mit zwei Spalten aufs Papier: Pro schreibe ich über die eine, Contra über die andere. Unter Pro schreibe ich: 32 Jahre alt. Zwei-Zimmer-Wohnung, Zentralheizung, Bad mit Wanne, berufstätig. Unter Contra: Allein. Alleinerziehend. Sprecherin 1: 1,6 Millionen Alleinerziehende leben heute in Deutschland. Jedes fünfte Kind wächst in einer sogenannten "Ein-Eltern-Familie" auf, und es werden immer mehr. Keine andere Bevölkerungsgruppe wächst so rasant wie diese. Die meisten dieser "Ein-Eltern-Familien" entstehen durch Trennungen und Ehescheidungen. Fast jede zweite Ehe scheitert, Tendenz steigend. Fast immer sind es Frauen, die Kinder allein erziehen. Autorin: Viele Millionen Steuergelder steckt die Regierung in die Unterstützung von Alleinerziehenden, habe ich neulich in der Zeitung gelesen. Ist das der Grund, weshalb immer mehr Frauen ihre Kinder allein großziehen? Über meinem Kopf brummeln Bienen in sonnengelben Forsythienblüten. Auf der Gartenmauer paaren sich zwei Spatzen. Ganz ohne Pro und Contra. Die ersten Mücken schwärmen schon. Atmo: Garten. Mückengesumm. Sprecher: Stechmückenweibchen schwingen ihre Flügel schneller als die Männchen und erzeugen einen höheren, speziell weiblichen Summton. Fliegt ein Weibchen in einen Schwarm, wird sein Gesumm schnell von einem Männchen herausgehört. Die Paarung findet im Fluge statt. Danach hat das Männchen seine Lebensaufgabe erfüllt und stirbt. Stechmücken ernähren sich normalerweise nicht von Blut, sondern von Pflanzennektar. Es ist ausschließlich das Mückenweibchen, das nach der Paarung Blut braucht. Nicht für sich selbst, sondern für die Reifung seiner Nachkommen nach der Befruchtung. Deshalb begibt es sich nun allein auf die Suche nach dem nahrhaften Stich. Atmo: Mückengesumm. Klatschen der Hand. Die Mücke summt davon. Autorin: Vielleicht ist es ja ganz wunderbar ein Kind zu haben. So ein süßes, putziges Wesen. Ich würde es lieben, streicheln, im Arm halten. Ein Mensch, der mich braucht, der ganz und gar zu mir gehört. Für immer. Aber wie würde ein Kind mein Leben verändern? Mir fällt auf, dass ich gar nichts übers Kinderkriegen und Kinderhaben weiß. In Gedanken suche ich meinen Bekanntenkreis nach Müttern und Vätern ab. Stelle fest, dass immer, wenn jemand ein Kind bekommen hat, der Kontakt abgerissen ist. Ich beschließe, ihn wieder aufzunehmen. Ein paar Telefonate später weiß ich, dass es ein Kinderspiel ist, Alleinerziehende zu finden. Doch sich mit ihnen zu verabreden, ist fast unmöglich. Sie haben keine Zeit. OT Telefonat mit Meike: Marie: Und wenn ich euch einfach begleite? Einfach mal so'n Tag so mitlaufe? Ginge das? Meike: ...Das geht schon. Das ist aber jetzt dann kein gemütliches Kaffeetrinken. (lacht) Ja. Das können wir machen. Du könntest nächste Woche...Montag könnten wir uns zum Beispiel vor dem Supermarkt treffen, gegen...gegen zwölf." Atmo Supermarkt Autorin: Meike ist eine frühere Wohnungsnachbarin. Als ich am Montagmittag pünktlich eintreffe, wartet sie schon ungeduldig. "Keine Zeit, keine Zeit", gestikuliert sie und läuft los. Sie sieht wie ein junges Mädchen aus, so zierlich und frech. Dabei ist sie schon 29. Sie hat einen Termin beim Jobcenter hinter sich, erzählt sie mir über die Schulter, während sie sich einen Einkaufswagen schnappt. Jetzt schnell einkaufen, dann ihre achtjährige Tochter Paula abholen. OT Meike: Ich muss ja auch überlegen: Heute kommt Paulas Freundin mit von der Schule, und ich weiß gar nicht, was die mag. Da macht man ja am besten irgendwas Kindertypisches: Nudeln mit Tomatensoße oder so. Kartoffeln....Ach nein, die mag keine Kartoffeln. Fischstäbchen...Kartoffelbrei...Fischstäbchen sind zu teuer. Nudeln mit Tomatensoße. ... Ah, die Paula wird das hassen, weil wir am Wochenende schon Bolognese hatten. Was ist denn noch Kinderessen? Atmo: Supermarkt mit Kleinkindgequieke im Hintergrund Autorin: Vielleicht Milchreis mit Apfelkompott? Das war mein Lieblingsessen, als ich klein war. OT Meike: Als ich gesagt habe: Ich bin schwanger, hat er gesagt: Das machst du weg! Entweder das Kind oder ich! ... Unfassbar, das Menschen so was wirklich sagen! Autorin: Auf dem Weg zum Kühlregal erzählt sie mir, dass sie damals immerhin schon vier Jahre ein Paar waren. Große Liebe, alles wunderbar. Die Verhütung hatte vorher schon einmal versagt. Das erste Mal habe sie sich für eine Abtreibung entschieden. Danach waren sich beide einig gewesen: Nie wieder! OT Meike: Das...das ist so grausam! Das möchte ich nie wieder machen! ......Also es muss natürlich möglich sein, dass Frauen irgendwie abtreiben dürfen, aber andererseits denke ich auch, es muss doch natürlich auch möglich sein, das Babys auf die Welt kommen dürfen! Autorin: Ihre Sätze gehen mir durch und durch. Ich bin heilfroh, als sie sich den Milchkartons zuwendet und die Preise studiert. OT Meike: Und ich hatte auch keine Vorstellung davon, dass das kostet. Ich hatte überhaupt keine Vorstellung davon, wie das ist, ein Kind zu haben! So in meiner Phantasie war das...ein Kinderspiel. Und außerdem ...hab ich das aus irgend nem Grund auch schon geliebt. Ich weiß auch nicht... Atmo: Supermarkt, an der Kasse Autorin: An der Kasse räumen wir gemeinsam Äpfel, Milch, Butter und Schnittkäse auf das Band. OT Meike: Heute ist der ... 21.? Ist ja gottseidank nicht mehr so lang der Monat. Autorin: Meike zieht einen quittegelben Din-A4-großen Zettel aus der Tasche. Ein Lebensmittelgutschein vom Jobcenter. Damit bezahlen Hartz IV-Empfänger, wenn sie kein Bargeld mehr haben. OT /Atmo Kassiererin: Guten Tag. Meike: Ach so, ich sag Ihnen mal besser vorher, ich muss ja mit Gutschein zahlen. .... Kassiererin: Die Rechnung? - Meike: Ja. ... Kassiererin: Darf ich mal Ihren Ausweis? - Meike: Ja. Autorin: Ich beobachte die bohrenden Blicke der Kunden aus der Schlange hinter uns. Meike kramt mit zittrigen Fingern ihren Ausweis aus dem verbeulten Portmonee, setzt ihre Unterschrift auf den Schein, und dann räumen wir schnell die Lebensmittel in ihre blaue Umhängetasche und gehen. Atmo: Einkaufspassage Meike: Ja! 25 Euro 46! Mittagessen für heute, morgen, ...und Frühstück für...Wir haben ja noch was zu Hause...Also über drei, vier Tage kommen wir jetzt. Autorin: Als ich sie beklommen frage, ob sie und ihre Tochter sich denn von den paar Sachen wirklich satt essen könnten, lächelt sie verlegen und schüttelt den Kopf. OT Meike: Ich hab auch inzwischen schon gar keinen Hunger mehr eigentlich. Das ist so...ähm, dass ich immer ganz knapp koche und Paula erst essen lasse, - das klingt wie so, wie so ne alte Arme-Leute-Geschichte von Walt Disney oder so, aber so läufts tatsächlich ganz oft. Und dann esse ich ihre Reste auf. (lacht) Deswegen bin ich so schön schlank! (lacht) Autorin: Auf dem Weg zur Schule erzählt sie mir, dass sie ihre Arbeit verlor, als sie schwanger wurde. Nach langer Wanderschaft von Praktikum zu Praktikum hatte sie damals gerade ihren ersten festen Job bekommen: als Texterin in einer Werbeagentur. Aber sie war noch in der Probezeit. 20 Jahre alt war sie damals und ohne Ausbildung. Ich frage sie, wie lange sie schon Hartz IV bezieht. Atmo: Straßenlärm mit Martinshorn OT Meike Na eigentlich, seit ich Paula habe. So immer mal wieder für...ne Weile raus aus dem...Bezug, aber im Grunde, - als ich schwanger geworden bin, da ging das los. Ja. Autorin: Wir nehmen eine Abkürzung durch eine Einkaufspassage. In den Geschäften herrscht um diese Mittagszeit schon reges Treiben. Meike zählt auf, was sie alles versucht hat, um Geld zu verdienen: sie jobbte im Supermarkt, kellnerte in Cafes und stand für Zeitarbeitsfirmen am Fließband. So sehr sie sich auch angestrengt habe, die Einkünfte hätten nicht zum Leben gereicht. Trotz der harten Jobs habe sie zusätzlich staatliche Hilfe beantragen müssen. Das klingt deprimierend. So will ich niemals leben. Sprecherin 1: Frauen werden in Deutschland im Durchschnitt deutlich schlechter bezahlt, als Männer, vor allem wenn sie Mütter sind: sie arbeiten häufiger im Niedriglohn-Sektor, in Teilzeit und sind bei Führungspositionen unterrepräsentiert. Obwohl die meisten alleinerziehenden Frauen arbeiten, hat mehr als die Hälfte von ihnen monatlich weniger als 1100 Euro zur Verfügung. Fast die Hälfte ist auf Hartz IV angewiesen. Alleinerziehend zu sein ist in Deutschland Armutsrisiko Nr. 1. Autorin: Was ist mit den Zuschüssen, die es für Kinder gibt? Kindergeld, Unterhalt und dann auch noch Elterngeld: immerhin 65% vom Nettogehalt des letzten Jahres!? Sprecherin 1: Kindergeld, Erziehungsgeld und Unterhaltszahlungen helfen denjenigen, die genug verdienen, um ihr Leben selbstständig finanzieren zu können oder die einen Partner haben, der das für sie tut. Wer aber im Arbeitslosengeld II-Bezug ist, dem werden diese Gelder als Einkommen voll angerechnet und vom Grundbedarf abgezogen. Existenzminimum bleibt Existenzminimum. Das sind zurzeit im Monat 374 Euro für einen Erwachsenen und 251 Euro für ein Kind. Atmo: Einkaufspassage OT Meike Und ich hab eigentlich irgendwann für mich selber beschlossen, dass ich lieber ein glückliches Leben haben möchte, dass immer der Prämisse folgt: Ich mache das, was ich will. Und was mich erfüllt. Und...ähm...seitdem schreib ich eben und mach Musik, ohne mich so doll nach dem Geld dabei umzusehen. Autorin: Eine Hartz IV-Empfängerin und alleinerziehende Mutter, die ein glückliches Leben lebt? Wir biegen in eine Seitenstraße ein und können nun das fröhliche Kindergewimmel vor der Schule schon sehen. Meike sagt, für ihre Tochter habe sie jetzt mehr Zeit. Und wenn die in der Schule ist, texte und singe sie Lieder und arbeite parallel an einem Roman und an einem Sachbuch über das Alleinleben mit Kind. Auch ein Blog im Internet schreibt sie. Meike hofft, sich so aus der Armut herauszuarbeiten. Dafür gebe sie ihre ganze Kraft. Atmo Straße, Toreinfahrt/OT Kinder Paula: Ich hab die Klingelschilder gefunden! Ich hab das ganze Haus hier gefunden! Ich bin der King des Hauses! Lea: Ich hab den ganzen Hof gefunden! Meike: Ich hab den Himmel gefunden! Paula: Ich hab das Universum gefunden! Lea: Ich hab Berlin gefunden! Meike: Ja, jetzt brauchen wir nichts mehr finden! Lea: Und Amerika! Meike: Wir brauchen nichts mehr finden! Die Paula hat das Universum gefunden, und da ist alles drin. Lea: Ich hab die Erde gefunden. Meike: Ja, aber die gehört ja zum Universum. Paula hat so ziemlich gewonnen jetzt, würd ich sagen. Treppenhaus, Treppenaufstieg Autorin: Die Fröhlichkeit der Kinder steckt mich an. Die siebenjährige Schulfreundin Lea, blonde Löckchen, rosa Schleifchen und die achtjährige Paula, Meikes Tochter, schwarze Knopfaugen und struppig wie eine Straßenkatze, hüpfen vor uns her durch den Hinterhof. Ich hüpfe unweigerlich ein bisschen mit. Wie ein Schäfer hinter seiner Herde folgt uns Meike mit der Einkaufstasche. Die Wohnung liegt im Hinterhaus, dritte Etage. O-Ton ... Paula: Warte Mama! Meike: (während sie die Tür aufschließt) Ist unter hundert. 12x7! Meike: Achtung! Geht mal erst noch spielen, Apfelkompott muss ich erst noch machen! (während dem Schuheausziehen) Atmo Meikes Wohnung Autorin: Zwei Zimmer, Küche Bad. So eng, das ich automatisch ein bisschen flacher atme. Wasserflecken an den Wänden. Die Kleidung hängt über einem Gestell im Flur. Es gibt kaum Möbel. Meike verstaut eilig die Einkäufe in einem Miniatur-Kühlschrank. Sie setzt die Milch für den Milchreis auf den Herd und beginnt die Äpfel zu schälen. Sie gibt Reis in die Milch, läuft ins Bad, füllt eine Waschmaschine. Ich gebe mir Mühe nicht im Weg zu sein. Die Kinder sitzen Beine baumelnd auf den Küchenstühlen und überbrücken den ersten Hunger mit einem Schokoriegel. Ich frage Paula, wie eine gute Mutter sein muss: Atmo: Kinder futternd und knisternd Paula: (mit vollem Mund) eine Mama macht eigentlich alles für einen. Mama ist so eine, die alles für einen macht. Kochen, Wohnung bezahlen, Hausaufgaben helfen...Schimpfen, wenn man so richtig doll Quatsch macht, also das muss eine machen! Alles, was ich habe, hat Mama gekauft. Autorin: Das klingt nach einer Fee oder dem Schutzgeist aus der Wunderlampe. Sprecherin 2: Meikes Blog (5): www.Mutterseelenalleinerziehend.de: Alltag allein mit Kind bedeutet: Du stehst morgens auf und machst das Frühstück. Immer. Jeden Morgen. Im Anschluss weckst du dein Kind und hilfst ihm beim Anziehen. Immer. Jeden Tag. Du bringst die Brut in den Kindergarten oder in die Schule. Selbstverständlich hast du ihm noch Brote geschmiert und Obst geschnitten. Immer. In Kindergarten oder Schule versuchst du, nicht aufzufallen. Niemand soll sehen, dass bei euch mindestens die Hälfte fehlt. Keinen Tag. Niemals. Dann gehst du deiner Arbeit nach und kommst täglich aufs Neue in Stress, rechtzeitig mit allem fertig zu werden. Schließlich musst du auch noch einkaufen, und putzen solltest du auch mal wieder, und das Kind will nicht wieder als Letztes abgeholt werden. (...) Am Ende des Tages hat man dem Kind noch mehrere Essen zubereitet, es zum Spielplatz begleitet, seine Wunden versorgt, es getröstet und getragen. Dann bringt man es zu Bett. (...) Und was wenn das Kind nicht schlafen will? (...) Ich kann nicht einfach gehen und mich mal um mich selbst kümmern. Und genau das macht einen fertig. Man ist gefangen. (...) Atmo überkochende Milch Autorin: Die Milch ist übergekocht. Gestank verbreitet sich in der Wohnung. Meike öffnet das Fenster, gemeinsam wischen wir auf. Die Kinder wollen helfen, drängeln und werfen versehentlich die Tüte mit dem übriggebliebenen Milchrest vom Tisch. Der ergießt sich über Kinder und Fußboden. Es gibt kein Geld, um neue zu kaufen. Meike bleibt ruhig, steht in einer Pfütze, die Kinder verteilen inzwischen ihre bekleckerten Klamotten in der Wohnung. Loslassen, sagt sie, lächelt und lässt den Wischlappen fallen. Einfach loslassen. Das ist ihre Überlebensstrategie. Sie lässt die Schuhe in der Milchpfütze stehen, trocknet sich die Hände am Geschirrtuch und greift zur Gitarre, die gleich neben der Küchentür steht. OT Meikes Lied: Wolken wie Watte am Himmel Und Schoko-Eis in deinem Gesicht Gerne pflückte ich eine runter, Doch zum Reinigen eignen sie sich nicht. Flugzeuge zerreißen die Wolken Und dein Lächeln bricht das Licht Watte brauchen wir nicht! Watte brauchen wir nicht! Watte brauchen wir nicht! Eins-zwo-drei-vier Keine Angst vor der nächsten Jahreszeit... Autorin: Keine Angst? Wirklich nicht? Ich fühle mich ein bisschen wie betäubt. Der Tag war angefüllt mit Hausaufgaben, Spielplatz, Kinderideen, Kinderstreit, Kindertoben, Stürzen, Experimenten, einigen Tränen und viel Gelächter. Die Mädchen haben mich in ihre Spiele verwickelt, und mich selber wieder zum Kind gemacht. Ich habe Glück gefühlt. Und Angst. Zunehmend. Wenn Paula im Bett ist, wird Meike den Abwasch machen, die Wohnung aufräumen, Schulbrote für den nächsten Tag schmieren und sich danach noch einige Stunden an den Laptop setzen. Eine Literatur-Agentur ist auf sie aufmerksam geworden und hat sie zum Gespräch eingeladen. Ein Hoffnungsschimmer. Sprecherin 2: www. Mutterseelenalleinerziehend.de. Meikes Blog (55): (...) Nun habe ich also vor neun Jahren eine Dummheit begangen und ein Kind bekommen. Und jetzt? Jetzt liebe ich dieses Wesen, habe mir alle Beine ausgerissen für sie und gegen Monster gekämpft. (...) Ich habe mich vielleicht unüberlegt entschieden, aber ich habe die Konsequenzen dieser Entscheidung seither jeden Tag getragen. Ja! Liebe andere Mütter! Ich will mich selbst verwirklichen und ich will, dass Ihr Euch verwirklicht. Ich will, dass wir glückliche Mütter sind, die glückliche Kinder bekuscheln. Menschen, die erfüllt und zufrieden sind. Wenn du mir das Recht absprichst, Künstlerin zu sein, sprichst du damit dir das Recht ab, Rechtsanwältin, Ärztin oder Pilotin zu sein. Und wenn du jetzt antworten möchtest: "Ja, aber ich wollte ja nämlich Ärztin werden und ich habe eingesehen, dass das eben einfach nicht geht. Das ich nun mal Mutter bin und das darum nicht schaffen kann!", dann kannst du damit einfach nicht richtig liegen. Denn nach Deiner Theorie würde sich dann nie etwas ändern und ein großer Teil der Gesellschaft müsste sein Glück begraben und sich deprimiert der Mutterrolle zuwenden. Atmo: Garten. Mückengesumm. Sprecher: Das gesamte kurze Leben der Stechmücke ist einzig auf ihre Fortpflanzung ausgerichtet. Das ist das zentrale Prinzip ihres Lebens und das ist das zentrale Motiv all ihrer Handlungen und Strategien. Sie lebt und stirbt für die erfolgreiche Ei-Ablage. Dafür hat die Natur sie ausgerüstet: das Mückenweibchen besitzt nicht nur feinste Saug- und Schneidwerkzeuge für den Einstich, sondern es hat an der Unterseite seines Bauches auch ein spezielles Sinnesorgan, mit dem es Wärme, Feuchtigkeit und verschiedene chemische Stoffe wahrnehmen kann. Damit ortet es sein Opfer schon aus einer Entfernung von 30 Metern. Atmo: Garten, Suchendes, schwirrendes Mückengesumm, das schließlich verstummt: Mücke hat sich gesetzt und saugt. Autorin: Es ist früh am Morgen. Die Sonne klettert eben erst über die Gartenmauer. Im Gras glitzert noch Tau. Ein Ringeltaubenpaar werkelt hoch oben in der Krone der Linde schon geschäftig an seinem Nest. Das Männchen schleppt große Zweige heran, das Weibchen verbaut sie geschickt mit Schnabel und freiem Fuß. Obwohl es noch kühl ist, will ich meine Emails heute hier draußen erledigen. Der Laptop steht aufgeklappt vor mir auf dem Gartentisch. Meine Pro- und Contra-Liste liegt daneben. "Wieder Kind sein", "toben, spielen, lebendig sein" ist auf der "Pro" Seite dazu gekommen, "keine Rücklagen", "kein Erziehungs-Urlaub", "kein Mutterschutz" auf der "Contra Seite". Als freiberufliche Autorin habe ich keine Sicherheiten. Atmo: Signal E-Mail-Eingang "Sie haben Post!" Autorin: Eine Mail von Johanna, einer früheren Freundin. Ich hatte ihr geschrieben, weil sie mit ihren zwei Kindern allein lebt. Ich wollte von ihr wissen, wie sie zurecht kommt, und ob sie mit ihrem Leben zufrieden ist. Der Mail ist ein Photo angehängt: Eine rundliche Frau lächelt durch eine rote Brille, im dunklen Haar leuchtet ein sonnengelbes Tuch. Sie hält auf jedem Knie ein Kind: links die zipfelzopfige Una, rechts den pausbäckigen Philip. Una und Philip sind Zwillinge und vier Jahre alt. Johanna, wie ich sie hier nennen will, ist 35 und arbeitet als Physiotherapeutin in einer Reha-Klinik. Sprecherin 3 (Johanna) Alleinerziehende sind Siegertypen, liebe Marie! Mit meinen Kindern komme ich prima zurecht. Ich brauche niemanden! Ich bin unabhängig! Selbstbestimmt! Emanzipiert! Stark! Sexy! Und wenn es Frauen gibt, die das nicht packen, dann liegt das an ihrer Unfähigkeit. Das ist die Fassade, mit der alleinerziehende Frauen in meinem Umfeld ab und zu sich selbst und andere fertig machen. Die Wahrheit sieht anders aus. Ganz allein vor die Aufgabe gestellt zu sein, Kinder gut ins Leben zu begleiten und ihre Bedürfnisse zu erfüllen ist Schwerstarbeit auf vielen Ebenen. Und manchmal nicht zu schaffen. Aber das zuzugeben ist beschämend. Mütter müssen das hinkriegen!. Autorin/Marie schreibt: Was sind die Bedürfnisse von Kindern, liebe Johanna? Was brauchen Kinder? Und wie viel davon? Sprecherin 3 (Johanna): Liebe Marie, meine Kinder brauchen vor allem viel gemeinsame Zeit mit mir. Philip noch mehr als Una. Ich muss nicht mit ihnen spielen, aber ich muss für sie da sein. Wenn man allein ist, ist das anstrengend, weil man dann immer mehrere Dinge gleichzeitig tun muss: einkaufen und Streit schlichten, Abendessen machen und Wölfe bekämpfen, Bad putzen und Bauwerke bestaunen. Wie alle Vierjährigen leben die beiden ausschließlich im Hier und Jetzt und können ihre Bedürfnisse nicht vertagen. Wenn ich sie auf "später" vertröste, ist das für sie, als sollten sie jahrelang warten. Sie wollen ihre neuesten Pinseleien sofort zeigen, und über die böse Hexe in ihrem Kinderbuch sofort sprechen. Und Philip braucht viel Gekuschel und stundenlange Anlaufzeit, bis er überhaupt erzählen kann, was er im Kindergarten erlebt hat. Aus diesem Grund arbeite ich nur 30 Stunden pro Woche. Die Kinder sind also etwa siebeneinhalb Stunden im Kindergarten. Für Una ist das völlig in Ordnung, aber für Philip ist es zu viel. Oft wartet er schon weinend am Fenster, wenn ich komme. Noch weniger kann ich aber nicht arbeiten, sonst reicht mein Verdienst nicht. Autorin/Marie: Liebe Johanna, was du schreibst lässt mich spontan an das Sprichwort denken "Um ein Kind aufzuziehen, braucht man ein ganzes Dorf". Wer hilft dir? Unterstützt dich deine Familie? Was ist mit dem Vater deiner Kinder? Sprecherin 3:(Johannas Mail) Ein trauriges Kapitel, liebe Marie. Eigentlich war es Helge, der Kinder wollte, nicht ich. Als ich schwanger wurde, tanzte er durch die Küche, während ich in der Ecke saß und heulte. Aber dann haben wir Pläne geschmiedet, wie wir uns die Arbeit aufteilen, und das ermutigte mich: Gleichberechtigt wollten wir das machen: Die ersten sechs Monate sollte ich zu Hause bleiben, die nächsten sechs er und danach halbe-halbe....... Kaum waren die Kinder da, war ich plötzlich für alles allein zuständig: für die Babys, den Haushalt, für Tag und für Nacht. Er entzog sich immer mehr, kam kaum noch nach Hause. Ich glaube, er hatte sich das Kinderhaben irgendwie anders und nicht so anstrengend vorgestellt. Das ging mir genauso, aber im Gegensatz zu ihm konnte ich nicht einfach davonlaufen. Wir hatten immer wieder fürchterlichen Streit deswegen. Aber der führte zu nichts. Schließlich habe ich die Beziehung beendet und bin mit den Kindern ausgezogen. Autorin/Marie(liest laut): Liebe Johanna, kürzlich las ich, wie häufig sich deine Geschichte wiederholt. Im "Handbuch für Familie" fand ich eine Studie von Jutta Ecarius: Sprecherin 1: Die "gerechte Aufgabenverteilung" von Eltern in Deutschland existiert bisher nur in den Köpfen: Zwar gab die Mehrzahl der befragten Männer an, sich die Familienarbeit mit ihrer Partnerin gerecht teilen zu wollen, doch war ihr Kind dann geboren, war die Belastung der Frauen durch Haushalt und Kinder mehr als doppelt so hoch als die der Männer. Bestenfalls jeder Fünfte brachte sich gleichberechtigt in die Familienarbeit ein. Eine wachsende Zahl von Frauen nimmt die benachteiligende Situation nicht mehr hin. Die häusliche Arbeitsteilung wird zunehmend zur Quelle von Spannungen und Auseinandersetzungen. In Deutschland gehen die meisten Trennungen und Scheidungen von den Frauen aus. Sprecherin 3 (Johanna): Seit der Trennung kämpfe ich darum, dass die Kinder den Kontakt zu ihrem Vater nicht verlieren. Helge zieht sich immer wieder zurück. Er sagt, er würde den Abschiedsschmerz nicht aushalten. Nach viel Drängelei sieht er die beiden jetzt jedes zweite Wochenende. - Falls ihm nichts Wichtigeres dazwischen kommt. Das ist nicht viel, aber ich bin sehr froh darüber. Unterhalt zahlt er keinen: aus Protest, weil ich mich ja nicht hätte trennen müssen, wie er sagt. Zwar fehlt mir das Geld an allen Ecken, aber wenn ich ihn deswegen unter Druck setze, gefährdet das wieder seinen Kontakt zu den Kindern. Das kann ich Una und Philip einfach nicht antun. Sie lieben ihren Papa. Autorin: Beim Bundesministerium für Familie habe ich erschreckende Zahlen gefunden: Sprecherin 1: Mehr als die Hälfte der Trennungsväter zahlt den Kindesunterhalt nicht oder nur unregelmäßig. Unterhaltshinterziehung gilt als Kavaliersdelikt und wird nur selten strafverfolgt. Die Hälfte der Kinder verliert ein Jahr nach der Trennung den Kontakt zu ihrem Vater. Manchmal sind es die Mütter, die den Kontakt abblocken. Aber nach einem Gerichtsurteil von 2008 kann ein Vater, der den Kontakt nicht wünscht, auch nicht dazu verpflichtet werden. Autorin: Ich habe meinen ganzen Mut zusammengenommen und meinen Ex-Freund angerufen. Ich habe ihm gesagt, dass ich von ihm schwanger bin. Einen kurzen Moment lang war es still in der Leitung. Dann hat er getobt. Er will das Kind nicht. Auf gar keinen Fall. Und er ist für mich jetzt nicht mehr zu erreichen. Fast immer wird nur von den "Alleinerziehenden Frauen" gesprochen. Warum spricht man nicht über die "Nicht-Erziehenden Väter"? Gehen die Väter ihre Kinder nichts an? Und was ist eigentlich mit dem Rest der Familie? Schreibe mir bitte, liebe Johanna, was ist mit den Großeltern, Onkeln, Tanten? Sprecherin 3 (Johanna): Ein weiteres schwieriges Kapitel, liebe Marie. Meine Eltern leben zwar nur zwei Autostunden entfernt, aber ihre Begeisterung für die Enkel zeigen sie hauptsächlich durch Päckchen mit Geschenken, die sie per Post schicken. Sie finden, dass ich mir die Suppe mit dem Alleinerziehen selbst eingebrockt habe, und dass ich sie deshalb nun auch selbst auslöffeln muss. In den ersten Jahren standen mir einige wunderbare Freunde zur Seite. Das war großartig! Leider musste vor zwei Jahren eine sehr wichtige Freundin für ihren Job nach London ziehen, ein guter Freund hat sich wenig später verliebt und ist zu seinem Freund nach Frankfurt gezogen. Alle anderen sind so intensiv in ihr Berufsleben eingespannt und so damit beschäftigt, ihre eigenen Hamsterrädchen in Gang zu halten, dass sie nicht helfen können. Kinderbetreuung geht nun mal nicht über Facebook. Autorin: Wie sieht eigentlich mein soziales Netzwerk aus? Meine Eltern leben weit entfernt und sind beide noch berufstätig. Meine Geschwister auch. Bleibt eine Tante, die schon in Rente ist, aber 500 km entfernt lebt. Und eine wunderbare Freundin, die selbstständig und dadurch flexibel ist. Reicht das? Sprecherin 3:(Johanna) Liebe Marie, stell dir einen Arzt vor, der 24 Stunden im Dienst ist: der vom Stationsdienst in die Bereitschaft und von der Bereitschaft in den Stationsdienst wechselt. Rund um die Uhr ohne Wochenende, ohne Urlaub. Genauso ist der Job einer Alleinerziehenden, wenn sie allein ist und niemand kommt, um sie abzulösen. Würdest du dich eigentlich gern in die Obhut eines solchen Arztes begeben? Nein? - Es gibt gute Gründe, warum bei Ärzten Ruhe- und Erholungszeiten vorgeschrieben sind..... 24-Stunden-Mütter oder -Väter sind nicht gut für ihre Kinder. Ich sage das aus eigener Erfahrung. Verborgen hinter den Türen ihrer Wohnungen können stressbedingt Krisensituationen entstehen, die für alle Beteiligten entwürdigend, schädlich und gefährlich sind. Nicht, weil wir unsere Kinder nicht lieben würden, sondern weil wir am Ende sind und nicht mehr können. In solch einer Situation, - ich war verzweifelt und kurz davor, gewalttätig auf meine Kinder loszugehen, - da wurde unsere Streichholz-Familie geboren. Autorin: In Johannas Mail ist ein Foto eingefügt: Eine gewöhnliche kleine Streichholzschachtel, beklebt mit rotem Glitzerpapier, aufgeschoben - und leer. Sprecherin 3 (Johanna): Philip zog sie plötzlich aus der Tasche, schob sie auf und sagte: "Hier ist meine Streichholzschachtel-Oma drin, und die sagt, dass ihr die Ohren weh tun, wenn du so schreist. Und dass sie lieber mit uns Fußballspielen gehen will." Da war sie also, unsere neue Oma. Und wir gingen mit ihr Fußballspielen. In der Streichholzschachtel lebt nicht nur eine fußballspielende Oma, sondern auch ein etwas vergesslicher Opa, ein dichtender Onkelpoet und eine sehr streitlustige Tante. Die Kinder haben ihre eigene fehlende Familie erfunden. Ich habe mich auf diese neue Familie dankbar eingelassen. Inzwischen sind die Streichholzschachtel-Leute für uns drei lebendiger, präsenter als unser echter Anhang. Ich erlebe mit meinen Kindern immer wieder solche Momente der Verzauberung. Und Glücksmomente, die so intensiv sind, wie ich es früher nie für möglich gehalten habe. Aber der Alltag ist wie ein verzweifeltes Schwimmen im Leimtopf: Da muss man ohne Unterlass Strampeln, um nicht unterzugehen. An Vorwärts- oder Herauskommen ist gar nicht zu denken. Ich schwimme nicht freiwillig in diesem Leimtopf. Keine andere Wahl zu haben, macht mich wütend. Womit haben die Kinder das verdient? Womit habe ich das verdient? Mir fällt aber kein Ausweg ein, und ich weiß nicht, wie ich protestieren soll. Vielleicht sollten wir es ja mal so versuchen. Atmo: Knistern des Filmsstreifens Autorin: Hier hat Johanna ein Videofenster eingefügt. Ein Filmausschnitt aus "network". In einem Fernsehstudio brüllt der Schauspieler Peter Finch in der Rolle eines alten Moderators mit hochrotem Gesicht und zerrauftem Haar in die Kamera: "Ich will, dass ihr wütend werdet! Ich will nicht, dass ihr protestiert oder Krawalle veranstaltet oder eurem Kongressabgeordneten schreibt, denn ich wüsste nicht, was ihr ihm schreiben solltet. (...) Ich will jetzt, dass ihr sofort aufsteht, zum Fenster geht, es aufmacht, den Kopf raussteckt und schreit: "Ihr könnt mich alle mal am Arsch lecken! Ich lass mir das nicht mehr länger gefallen! Atmo: Joggen Autorin: Eine einzige hilfsbereite Freundin, kein Kindsvater, keine Hilfe von der Familie. Meine Pro- und Contra-Liste sprach klar gegen ein Leben mit Kind. Ich begann bereits Abschied zu nehmen. Bleischwer war mir zumute. Aber dann lernte ich beim Joggen Melissa kennen: drahtig, ernste dunkle Augen, Anfang 40. Die ganze Frau drückt Tatkraft und Entschlossenheit aus. Sie ist Mutter von zwei Kindern: Jacob ist 10 und Hannah-Jane ist 7 Jahre alt. Melissa kommt aus den USA und lebt seit zehn Jahren in Deutschland. Ihre Familie ist also weit weg, ihr Ex-Mann lebt in Österreich. Sie ist mit den Kindern vollkommen allein. Und trotzdem sagt Melissa, dass sie mit ihrem Leben zufrieden ist! Und dass es ihr und den Kindern gut geht! Wir verabreden, dass ich sie am Abend besuche. Atmo: Treppenhaus. Melissa steigt mit Hannah die Treppe hoch. Hannah summt "Alle Vögel sind schon da" Autorin: Es ist 18 Uhr. Melissa und Hannah kommen gerade erst nach Hause. Die beiden waren beim Friseur. Das kleine Mädchen zeigt mir stolz den violetten Haarreif, der in seinem frisch geschnittenen schulterlangen Haar glitzert. Auf dem Rücken trägt es einen leuchtend himmelblauen Schulranzen. Sein Bruder Jacob ist noch beim Fußballtraining. O-Ton Melissa: Ich wohne in einer sehr schön großen Dachgeschoss-Wohnung, ähm, was auch so groß ist, weil wir ein Aupair haben, weil ich ziemlich viel arbeite. Ich bin Auslandskorrespondentin bei einer Nachrichten-Agentur und arbeite, äh, mindestens 40 Stunden die Woche. Manchmal - oder normalerweise - ist es über 40 bis hin zu 50, manchmal 60, - man weiß ja nie bei Nachrichten. Auch Wochenend-Dienst, Spät-Dienst. Da brauch ich unbedingt jemand zu Hause. Ich verdiene ziemlich gut: äh... knapp 4000 im Monat. Und das erlaubt mir denn auch, eine Aupair, eine Hilfe zu Hause, was für eine Alleinerziehende natürlich eine sehr große Hilfe ist. Autorin: Durch die Wohnungstür treten wir in eine große, offene Wohnküche mit Zugang zur Dachterrasse. Große Fenster bieten einen weiten Blick über die Dächer von Berlin. 130 Quadrat-Meter, vier Zimmer, zwei Bäder und dazu noch eine Einlieger-Wohnung. Da wohnt das Aupair, zur Zeit ein Mädchen aus Brasilien, ohne das hier nichts gehen würde, wie Melissa immer wieder betont. Jetzt holt sie zum Beispiel Jacob vom Fußballtraining ab. Melissa serviert mir einen wunderbar duftenden Espresso und beginnt dann die Karotten und Kartoffeln fürs Abendessen zu putzen. Hannah hat inzwischen ihre Kindergeige geholt und beginnt mit hochkonzentriertem Gesicht unter dem wachsamen Blick ihrer Mutter zu üben. O-Ton Melissa: Also die Aupairs müssen die Kinder abholen von der Schule, müssen die Kinder nach Hause bringen, das Abendbrot vorbereiten oder gar ganz kochen, wenn ich Spätschicht habe, dann müssen die auch die Kinder ins Bett bringen, Hausaufgaben kontrollieren und gucken auch, dass die Instrumente üben. Die helfen auch dabei mit Abholen vom Fußball und Hinbringen zum Geigenunterricht und sonstige Aktivitäten, und die helfen auch dann im Haushalt mit: mit Wäschewaschen, Küche aufräumen... Autorin: Diesem Aupair bezahlt Melissa jeden Monat etwa 1500 Euro. Ich schlucke. Melissa sagt, auch für sie wäre das viel Geld. Aber nur so könne sie ihrem Job nachgehen, und der wäre ihr wichtig. O-Ton Melissa: Für mich ist meine Arbeit nicht nur ein Job. Das ist auch ein Teil, wer ich bin. Und das...würde mich eigentlich...nicht so richtig glücklich machen, nur zu Hause zu sein. Ich brauch einfach mehr! So bin ich! Ich bin auch sehr gern Mutter, aber ich bin auch genauso gern, Journalistin. Wenn ich das eine nicht hätte, dann wäre der andere auch weniger wert irgendwie! Autorin: Ihr Ex-Mann zahle nichts, der Scheidungsrichter habe ihn freigestellt, sagt Melissa. Weil er als Musiker weniger verdiene als sie. Ich verstehe nicht. Sprecherin 1: Die deutschen Scheidungsgesetze gehen noch immer davon aus, dass der Hauptverdiener der Familie der Mann ist, während die Frau sich um die Kinder kümmert. Nach diesem Modell muss ein Vater nach der Trennung Unterhalt für seine Kinder zahlen, die bei der Mutter leben. Verdient nun aber diese Mutter viel mehr als er, geht sie leer aus und muss alle Kosten allein tragen. Er ist der Verantwortung enthoben. Autorin: Ich will es nicht glauben. Wollte er vielleicht gar keine Kinder, so wie mein Ex-Freund? Doch, sagt Melissa. Unbedingt! Sogar zu Hause bleiben und Hausmann werden wollte er, um sich intensiv um die Kleinen zu kümmern. Und sie sollte das Geld verdienen. So war das geplant. Aber als das erste Kind wenige Monate alt war, setzte er sich plötzlich und ohne Vorwarnung nach Österreich ab. Einen Traum-Job gab er als Grund an. Bald würde er zurück kommen, beteuerte er immer wieder. Sie hoffte. Wartete. Versuchte zu verstehen. Lebte jahrelang die unfreiwillige Fernbeziehung. Als das zweite Kind kam, und er noch immer nicht Wort hielt, reichte Melissa die Scheidung ein. Alleinerziehend war sie da schon seit drei Jahren. Neben ihrem Beruf. Ein anspruchsvoller 50-Stunden-Job, zwei Kinder und ein Aupair, - das klingt nach viel Organisation: O-Ton Melissa: Organisation ist das A und O. Also sonst kriegt man das einfach nicht hin. Autorin: Melissa schiebt den Kochtopf mit Gemüse und Kartoffeln aufs Ceran-Kochfeld und trocknet sich die Hände ab. Sie klappt den Laptop auf, der auf dem Küchentisch steht und dreht ihn zu mir. O-Ton Melissa Ich hab Google-Kalender irgendwann mal entdeckt. Und das ist eine sehr tolle Sache, weil man kann...- ich bringe es hier hoch - das ist sehr bunt. Und man hat n Kalender und da kann man verschiedene Leute eintragen. Zum Beispiel der Jacob ist, äh, rot, und man sieht hier am Dienstag hat er um 16 Uhr Klavier. Und die Hannah-Jane ist lila, die hat zur Zeit keinen Geigen-Unterricht und dann die dunkelgrünen sind meine Arbeitszeiten. Autorin: Alle am Haushalt Beteiligten können also jederzeit über Handy oder Laptop auf die Daten zugreifen und sich auf dem Laufenden halten. Ein Blick auf den Bildschirm verrät mir: Diese Woche verbringen sie den Dienstagabend und den Donnerstagabend miteinander. Falls nichts dazwischen kommt. Ist das nicht sehr wenig? O-Ton Melissa: Ja klar! Weil, das ist ein Haufen Zeug, was man überhaupt nicht mitkriegt! Ja? Man weiß nicht, was ist mit Hausaufgaben, man weiß nicht, was die da machen, man braucht auch diesen normalen Umgang mit seinen Kindern! Das gehört einfach dazu! Wie kann man gut sein Kind betreuen, wenn man nicht weiß, was sein Kind macht? Atmo: Jacob und Kindermädchen kommen nach Hause Autorin: Ein Schlüssel bewegt sich im Schloss. Durch die Tür schiebt sich ein schmaler Junge. Rabenschwarze Augen und ein müdes Gesicht. Das runde Kindermädchen folgt ihm, Dinara. Sie grüßt mit fröhlichem Grübchenlächeln und verstaut gleich die Einkäufe im Kühlschrank. Melissa klappt den Laptop zu. Sie hat es jetzt sehr eilig. Jacob muss noch Hausaufgaben machen, das Essen ist noch nicht fertig, und in einer Stunde sollen die Kinder schon im Bett sein. Ich bleibe auf meinem Stuhl sitzen, halte mich an meinem Kaffee fest und schaue der Familie zu. Wie folgsam, umsichtig und lieb diese Kinder sind! Alles klappt wie am Schnürchen. Als sie schlafen gegangen sind, macht sich Melissa über die Bügelwäsche her. Ich bitte sie, mir ihren normalen Tagesablauf zu schildern. Atmo: Bügeln O-Ton Melissa Ich bin um sechs Uhr aufgestanden, hab sofort mein Yoga gemacht, mich angezogen, Kinder geweckt um halb sieben, Pausenbrote geschmiert und in die Büchsen gepackt, mit den Kindern zusammen gefrühstückt, und ... dann...um fünf nach sieben geht's runter zum Bus, hab mich da von denen verabschiedet, dann hab ich kurz eingekauft für heute Abend, und bin dann zur Arbeit gefahren um acht. Autorin: Dort hat sie ihre acht Stunden-Schicht abgearbeitet und jede freie Minute genutzt, um die Termine ihrer Kinder für die nächsten Wochen zu organisieren. Jetzt ist es 22.00 Uhr. Sie verrät mir, dass sie nachts trotz großer Erschöpfung nicht einschlafen kann. Der Gedankenstrom wolle einfach nicht abreißen. Sie mache sich Sorgen, dass sie auf der Arbeit nicht genug leiste, weil ihre Gedanken zu viel bei den Kindern sind. Und sie mache sich Sorgen, dass sie nicht genügend für ihre Kinder da sei, weil ihre Gedanken zu viel bei der Arbeit sind. Sie tue immer und überall zu wenig. Wenn sie ein bisschen Zeit erübrigen kann, dann läuft sie - und läuft und läuft und läuft. Atmo: Gewitter. Regen. Diffuses Mückengesumm Sprecher: Zu Fuß oder knapp über dem Boden surrend legt das Stechmückenweibchen auf der Suche nach einem geeigneten Ei-Ablage-Platz oft weite Strecken zurück. Es muss eine Stelle finden, die jetzt zwar trocken ist, an der sich zur rechten Zeit aber Wasser sammelt, denn seine Jungen entwickeln sich ausschließlich im Wasser. Manche Arten warten sogar zwei oder drei Regenfälle ab, um sicher zu gehen, dass eine Pfütze nicht zu früh wieder wegtrocknet. Schließlich schiebt das Tier mehr als hundert Eier sorgsam zwischen totes Laub oder in das Gezweig von Moos. Hat es das geschafft, ist seine Lebenszeit abgelaufen. Man kann die toten Weibchen oft gleich dort liegen sehen, wo sie die Eier abgelegt haben. Autorin: Ich sitze in meiner Küche und schaue aus dem Fenster. Regen trommelt an die Scheiben. In der Linde sitzt das Ringeltaubenpaar dick geplustert und aneinandergekuschelt neben seiner Nestbaustelle. Neben mir liegt meine Liste. Wenig Pro. Viel Contra. Mein Kind ist nicht willkommen hier. Kinder scheinen in Deutschland so eine Art "privater Luxus" zu sein. Man sollte sich nur welche zulegen, wenn man sie sich "leisten" kann. Aber wann kann man sich Kinder "leisten"? Die Gesellschaft, in der ich lebe, setzt andere Prioritäten. Und wenn ich es trotzdem bekäme? Ich würde mich ins Aus katapultieren. Dafür fehlt mir der Mut. Sprecherin 1: Deutschland ist das kinderärmste Land Europas. In den letzten 10 Jahren ist die Zahl der Kinder und Jugendlichen in Deutschland um etwa 20% gesunken. Gleichzeitig ist jedes 6. Kind von Armut bedroht. Absage: Der Mut der Mücke Lebensstrategien Alleinerziehender. Ein Feature von Marie von Kuck Sie hörten eine Produktion des Deutschlandfunks 2012 Es sprachen: Claudia Eisinger, Cathlen Gawlich, Thomas Holländer, Janna Horstmann und Nele Rosetz Ton: Bernd Friebel Regie: Beatrix Ackers Redaktion: Karin Beindorff 2