KULTUR UND GESELLSCHAFT Reihe : LITERATUR 0.05 Uhr Titel der Sendung: Techno der Jaguare Streifzug durch die georgische Literatur Autor : : Mirko Schwanitz Redaktion: : Sigried Wesener Sendetermin : 03.11.2013 Besetzung : Erzähler : Sprecherin : Sprecher 2 O-Ton/ Musik/ Regie : Urheberrechtlicher Hinweis: Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Jede Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in den §§ 45 bis 63 Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig (c) Deutschlandradio Deutschlandradio Kultur Funkhaus Berlin Hans-Rosenthal-Platz 10825 Berlin Telefon (030) 8503-0 Techno der Jaguare - Ein Streifzug durch die georgische Literaturszene Von Mirko Schwanitz ERZÄHLER Sprecher 1 ÜBERSETZER Sprecher 2 ZITATOR Sprecher 2 ÜBERSETZERIN Sprecherin ZITATORIN Sprecherin 1. ATMO Glocken der Sioni-Kathedrale ERZÄHLER Ich bin ein Kind der schönen Schuschanik. Sie wohnt auf der anderen Seite der Kura, jenem Fluss, der Tiflis teilt. Wenn alle schlafen, kämmt sich meine Mutter das Haar. Ich sehe es. Es fließt aus dem Fenster. Es bedeckt die Straßen von Tiflis mit einem goldenen Schimmer. Das Haar meiner Mutter. Es knistert leise, wenn es durch die Türspalten dringt bis in die Träume der Liebenden. Vor langer Zeit war meine Mutter eine gewöhnliche Frau.... 2. MUSIK CD Dafer Youseff / Titel 1 "Sacré" - Entree SPRECHER 2 .... vor langer Zeit war Schuschanik eine gewöhnliche Frau mit gewöhnlichen Eltern und einem gewöhnlichen Mann. Diesem Mann gebar sie ein Kind, ein totes Kind, dem sie Wiegenlieder sang und Märchen erzählte. Der Mann verließ seine verrückte Frau. Seitdem träumt sie von der Liebe, und wenn sie schläft, drückt sie fest den, der gerade neben ihr liegt. Sie liebt die Einsamen und die Armen und bringt Geisterkinder zur Welt, die sie in die Straßen entlässt... (Aus: Ana Kordsaia, "Schuschaniks Kinder") MUSIK unter ERZÄHLER ausblenden ERZÄHLER Ich bin ein solches Geisterkind. Eine Figur aus dem Roman "Schuschaniks Kinder" der georgischen Autorin Ana Kordsaia- Samadaschwili. Wir Geisterkinder sind unsichtbar. Wir kennen keine Zeit. Obwohl wir erst gestern geboren wurden, durchstreifen wir Tiflis schon seit Jahrhunderten. Manchmal, am Morgen, wenn meine Mutter ihr Haar wieder zurückzieht, folge ich ihm. So finde ich sie. Und berichte ihr. Was ich gesehen, was ich gehört, was ich gelesen habe... 3. ATMO Straßengeräusche / Männerstimme: "Frau Kordsaia?!" / es wird an ein Fenster geklopft / "Hallo" / Quietschend öffnet sich eine Tür / Männerstimme: "Hier!" / Frauenstimme: Entschuldigung für den Morgenmantel.../ Männerstimme: "Ich bin ein bißchen zu früh... / Tür quietscht / Hier unterblenden ERZÄHLER Ich bin im Tifliser Vera-Viertel, sehe wie ein Mann an ein Fenster klopft. Das Fenster liegt direkt über dem staubigen Trottoir der vielbefahrenen Barnow-Straße. Ich folge dem Mann, der mich nicht sehen kann, die Treppen hinunter. Ana Kordsaia hat noch ihren Morgenmantel an. Ich höre, wie der Mann sich vorstellt. Dass er Journalist sei, aus Deutschland komme, und sich mit georgischen Autoren treffen wolle. Während er redet, schweift sein Blick durch die Kellerwohnung. Ein Tisch, ein Bett, an der Wand ein Porträt. Ana Kordsaia-Samadaschwili, Schriftstellerin und Übersetzerin, stammt vom georgischen Bergvolk der Swanen. Sie hat m i c h erfunden. Ich bin i h r e literarische Figur. Daher kenne ich sie. Und ihre Vorfahren. Ich sah die Stammbäume wachsen und wie die Äxte geschliffen wurden.... 4. O-TON Ana Kordsaia-Samadaschwili (deutsch) Mein Großvater war der letzte Priester von Swanetien und als Priester in der Sowjetunion war man das letzte und wirklich alle Repressionen, die es in Georgien gab liefen über den Kopf der armen Samadaschwilis. In den Dreißigern hat man meinen Großvater öfter verschleppt. Meine Großmutter hat ihr ganzes Leben niemanden erzählt, wessen Tochter sie war. Sie ist als Waisenkind aufgewachsen, die Mutter erschossen, der Vater zweimal verhaftet. Also man erträgt manche Sachen nicht mehr - na so war das 20. Jahrhundert. ERZÄHLER Es gibt Leute in der Stadt, die Ana Kordsaia für verrückt halten. Mein Gott, eine georgische Frau! Die schminkt sich, macht sich fein, wenn Besuch kommt. Aber sie!? Empfängt im Morgenmantel und übersetzt auch noch Elfriede Jelinek.... Ich sehe, wie der deutsche Journalist ein Buch aus einem Regal zieht. Er bewundert die Zeichen, unsere Jahrhunderte alte Schrift, die sich die Zeilen entlangrankt wie Weinlaub und von der niemand weiß, wer sie wirklich erfunden hat. "Schuschaniks Kinder", das Buch aus dem ich stamme, erzählt von Niko und Martha. Zwei Liebende, die einander anziehen könnten wie Magneten. Doch weil sie sich nie die richtige Seite zeigen, stoßen sie sich ab, bleiben getrennt wie durch ein unsichtbares Magnetfeld. Niko und Martha sind Geisterkinder wie ich eines bin. Nur wissen sie es nicht. Und in Martha, so scheint mir, beschreibt meine Erfinderin, Ana Kordsaia, ein wenig sich selbst... 5. MUSIK Dhafer Youseff CD "World" Titel 11 Sura SPRECHERIN "Niko meinte, und das öfters, das Martha ein Drache sei. Ganz so war das nicht. In den seltenen Fällen, wo sie dermaßen außer sich war, dass sie sich dazu entschloss zu streiten, um etwas zu klären, merkte Martha immer an, sie sei die Urenkelin eines Engels und einer Heiligen, und das war nicht gelogen: "In meinen Adern fließt das Blut von großen Abenteurern, Gelehrten, heldenhaften Frauen und tapferen Kriegern", fing sie an, und ihre Stimme, die vom ständigen Nikotinkonsum rau, aber sonor geworden war, wurde immer lauter. "Ich, meine Kleine, ich bin Martha L., Philosoph und Doktor der Wissenschaften. Von deiner Sorte stecke ich sieben auf einmal weg." Martha war ein bißchen unverfroren." Aus Leseprobe: "Schuschaniks Kinder", Bakur Sulakauri 2011 MUSIK stehenlassen ERZÄHLER Der Schreibstil von Ana Kordsaia fällt auf: Diese provozierend leichte Überspanntheit, diese in der georgischen Literatur bisher nicht gekannte Schnoddrigkeit. MUSIK kurz frei stehen lassen, unterblenden SPRECHERIN Mein lieber Leser, wenn du an dieser Stelle angelangt bist und jetzt zweifelst, ob es sich lohnt, mit der Geschichte dieser beiden Wesen weiterzumachen, sage ich dir direkt - und du darfst dich später nicht beklagen, du seist angelogen worden: Ich erzähle keine Liebesgeschichte zwischen einem Mann und einer Frau. Ich erzähle die Geschichte von zwei Menschen, Martha und Niko, und deren Liebe zueinander. Ich erkläre: Martha hatte zwar gesagt, dass sie mit vierzig von der großen Sexbühne abtreten würde, aber Sex war etwas, was sie über alles mochte. Und selbstverständlich würde sie es nicht lassen, und Niko stand auf solche wie Martha einfach gar nicht. Aus Leseprobe: "Schuschaniks Kinder", Bakur Sulakauri 2011 ERZÄHLER Ein frischer Wind weht aus den Seiten dieses Romans von Ana Kordsaia. Vielleicht rührt er vom Swing in Kordsaias Sprache, den zuweilen nicht zu Ende geführten Sätzen, mit der ihre Protagonisten über Liebe, Sex und Enttäuschungen sprechen. Für mich aber ist Ana Kordsaia vor allem deshalb wichtig, weil sie als erste georgische Autorin meine eigene - unsichtbare - Existenz beschrieb... 6. O-TON Ana Kordsaia (deutsch) Die Schuschanik gebärt Kinder, jedes Jahr kriegt sie ein Kind. Bloß wissen sie nicht selbst, wer sie sind. Sie denken sich ihre eigene Biografie aus. Und: die Kinder von Schuschanik, die sterben nicht. Das ist das Schlimmste für sie. Es kann sein, dass sie Jahrhunderte lang durch diese Straßen laufen. Bloß wenn sie es schaffen, zwei Menschen zusammenzubringen, dann sterben sie, dann sind sie frei. Und die Helden von meinem Roman sind die Kinder von Schuschanik. 7. ATMO Standseilbahn / Stimmen der Fahrgäste ERZÄHLER Ich also bin eines dieser Kinder und doch nur eine literarische Figur. Dieser Tage irre ich an der Seite dieses deutschen Journalisten durch Tiflis. Besteige mit ihm die Standseilbahn, die hinaufführt auf den Mtazminda, den Hausberg der Stadt. 8. ATMO Station Pantheon / Stationsankündigung / Türen öffnen sich ERZÄHLER Auf der Hälfte der Strecke steigt der Deutsche aus. Als ich ihm folge und mich an den Leuten vorbei hinaus ins Freie schiebe, scheint es, als lächelten sie mich an. Doch ich, das Geisterkind aus dem Roman der Ana Kordsaia, bin unsichtbar. Die Passagiere schauen durch mich hindurch, schicken ihr Lächeln hinauf zum Fernsehturm und zum Riesenrad, das sich hoch über Tiflis dreht wie eine Uhr mit tausend Zeigern. 9. ATMO Zikaden 10. O-TON Lasha Bakradze (deutsch) Kinderstimmen im Hintergrund) - Stereo Hier sind wir in der Mitte zwischen Tiflis und zwischen Bergspitze, wo Fernsehturm steht. Fast aus jedem Winkel von Tiflis sieht man diesen Ort und von hier aus wiederum gibt es einen sehr schönen Ausblick auf ganz Tiflis. ... (ab hier Stimme unter Sprecher blenden, dort stehen lassen und Kreuzblende mit Folge-OTon) ERZÄHLER Das ist die Stimme von Lasha Bakradze, dem Leiter des Tifliser Literaturmuseums. Er steht mit dem Journalisten auf einem kleinen Friedhof - einem Ehrenhain für georgische Schriftsteller. Kinder toben ohne Respekt vor den Toten um ein Grab herum. Es ist das Grab von Ilja Tschawtschawadse. 11. O-TON Lasha Bakradze (deutsch) unter Erzähler hervorblenden (ab hier frei).....Ilija Tschawtschawadse ist sozusagen der große Vater der georgischen Nationalbewegung aus dem 19. Jahrhundert und wird als ungekrönter König Georgiens manchmal auch beschrieben. 12. MUSIK Dhafer Youseff CD Glow Titel 9 "Cosmology" SPRECHER 2 Seit ich mich um dich sorge, Vaterland, geh ich zugrund / Deinen Pulsschlag dir abzuhören, mein Atem gestaut im Mund / Hab ich, schlaflos geworden, das Leben im Fieber verbracht, / Wach bis zum Anbruch des Tages und bis zum Anbruch der Nacht Gedanken getürmt auf Gedanken. Last, die mich niederdrückt; / Gefühle zerrieben Gefühle und haben mein Herz zerstückt - / Doch nicht um dich anzuklagen, klag ich's. Müd ich und krank, / dass du mich lieben ließest, Vaterland, sag ich dir Dank! / Aus "Georgische Poesie aus acht Jahrhunderten", S. 139, Verlag Volk und Welt / 1971 Nachdichtung: Adolf Endler MUSIK ausblenden ERZÄHLER Ein Gedicht von Ilja Tschawtschawadse. Lasha Bakradse, der Leiter des Literaturmuseums, hat ein besonderes Verhältnis zu diesem Dichter. 13. O-TON Lasha Bakradze (deutsch) Als Politiker und als Denker war er noch wichtiger für Georgien, weil er in den Zeiten des russischen Kolonialismus eine ganz starke georgische Nationalbewegung aufgerufen hat und das 1917/18 Georgien unabhängig geworden ist, ist auch sein Verdienst. 1907 wurde Ilia Tschawtschawadse von bolschewistischen Terroristen ermordet und damit hat eine große Epoche ein Ende gefunden. ERZÄHLER 1907, das war jene Zeit, in der Georgien aus einem Jahrhunderte langen Schlaf kolonialer Fremdbestimmung erwachte. Seit dem Mittelalter wurde es von Mongolen, Osmanen und Persern beherrscht, zu Beginn des 19. Jahrhunderts von Russland annektiert. Georgische Adelssöhne gingen damals zur Ausbildung nach St. Petersburg. Anfang des 20. Jahrhunderts kehrten die ersten von ihnen zurück, angesteckt vom Geist der revolutionären Unruhen im Zarenreich. Es sind diese Männer, die als Dichter eine neue georgische Literatur begründeten. Eine Literatur, die in den Georgiern ein neues Nationalbewusstsein weckte - niemandes Untertan sein, weder Untertan russischer Zaren noch Untertan aufkeimender Allmachtsansprüche des Bolschewismus. Tschawtschawadse wird 1907 ermordet und die im Jahr 1920 gegründete unabhängige Republik Georgien 1923 von der Roten Armee überfallen und im Blut des Stalinismus ertränkt. Das alles erzählt Lascha Bakradze dem Journalisten, bevor der sein Mikrofon verstaut und der Straße zustrebt, die sich vom Pantheon der georgischen Dichter mit abenteuerlichem Gefälle in die Stadt stürzt. 14. ATMO Straßenlärm ERZÄHLER Im Trubel der Stadt angekommen, findet sich der deutsche Journalist erneut auf der Barnow-Straße wieder. In Toreinfahrten sitzen alte Frauen, die Obst und Gemüse verkaufen. 15. ATMO Nardi spielende Männer ERZÄHLER Bei zwei Nardi spielenden Männern bleibt er kurz stehen. Auf ihrem Brett klappern die Spielsteine. Und ich, das Geisterkind aus dem Roman der Ana Kordsaia, bleibe dem Journalisten auf den Fersen. Wie ein unsichtbarer Schatten folge ich ihm - durch ein Wohnviertel, dessen Wohlhabenheit so porös geworden ist wie seine Häuserfassaden. 1961 begann hier ein anderer Autor sein Leben aufzuschreiben - in deutscher Sprache. 16. O-TON Giwi Margwelaschwili (deutsch) Ich bin Giwi Margwelaschwili, Sohn eines georgischen Emigranten, der nach Deutschland kam, 1921 war das. Weil er vor den Sowjets geflohen ist. Mein Vater ging nach Deutschland, weil er in Deutschland promoviert hatte, ja. In Berlin bin ich geboren, 1927 war das. Das ist schon lange her, ja. ERZÄHLER Die beiden bemerken mich nicht. Nichts deutet darauf hin, dass ich da bin. Nur die Uhr hört plötzlich auf zu ticken. Wo Geisterkinder in der Nähe sind, verliert die Zeit ihr Maß. Ich sitze da und höre, was Margwelaschwili dem Mann ins Mikrofon erzählt: Dass die Russen nach der Befreiung Berlins Jagd auf georgische Emigranten machten; dass sie ihn 1947 im KZ Sachsenhausen internierten und seinen Vater sofort erschossen. Dass sie ihn dann nach Georgien verschleppten, dessen Sprache er erst mühsam erlernen musste. Und dass er niemandem seine Geschichte erzählen durfte. 17. O-TON Giwi Margwelaschwili (deutsch) Das war ein Hauptstimulus für mich, nicht wahr, dieses Blatt Papier vorzuholen und da ist sind die sieben Bände des "Kapitän Wakusch" rausgekommen. ERZÄHLER Mit funkelnden Augen sitzt Kapitän Wakusch, alias Giwi Margwelaschwili, vor seinem deutschen Gast. Ich sehe wie der ungläubig das Mikrofon sinken lässt. Wie soll man auch glauben, dass einer vierzig Jahre lang Seite auf Seite türmt, ohne Hoffnung, dass nur eine einzige davon jemals veröffentlicht wird? Giwi Margwelaschwili sah Deutschland erst in den Neunziger Jahren wieder. Die von einem Freund über das Baltikum nach Berlin geschmuggelten Manuskripte lagen wenig später vor erstaunten Lektoren des Süd-Verlages und bei Suhrkamp. 18. O-TON Giwi Margwelaschwili (deutsch) Nur zwei meiner Bücher wurden verlegt. . Die anderen fünf Bücher, da hat man gesagt, nein, das ist nicht lesbar. So war das. Der Kapitän Wakusch, das ist die Erzählung meines Lebens... ERZÄHLER Als Margwelaschwilis Figuren plötzlich wieder ohne Leser dastanden, erfand er die Philosophie vom "Leben im Ontotext". Sie behauptet, dass es die Welt der Bücher wirklich gibt, dass die von Autoren erschaffenen Figuren wirklich leben, solange jemand Bücher liest. Kaum ein anderes Buch erklärt diese Philosophie besser als Margwelaschwilis, 2012 im Verbrecher-Verlag veröffentlichte, "Fluchtästhetische Novelle". Die Geschichte beginnt in Berlin. 1947. Wakusch sitzt als junger Gefangener in einem Flugzeug, mit dem er nach Georgien entführt werden soll. Zu seiner Überraschung hebt die Maschine nicht ab. Als die Wächter Wakusch gestatten, allein aufs Pissoir im Flughafengebäude zu gehen, trifft er dort auf einen mysteriösen Mann. Dieser erklärt dem Gefangenen, dass er nicht real, sondern nur eine Buchfigur sei. Und dass das Flugzeug deshalb nicht abheben könne, weil der Geschichte, in der er, der Gefangene, die Hauptfigur sei, einfach die Leser fehlen. 19. MUSIK Dhafer Youseff CD Glow Titel 9 Cosmology ab 2:47 ff SPRECHER 2 Es war ein Gefühl des Unbehagens, das sich bei Wakusch einstellte, so oft er über diese Dinge nachdachte. .... Die Geschichte war gestoppt... Das war für den Nachkriegsgefangenen nicht unvorteilhaft...: Seine Verschleppung ....wurde dadurch verzögert. Aber für ihn als Buchperson war es auch nachteilig, da es ihm bewies, dass in seinem jungen Dasein viel zu wenig Lese- Lebenskraft steckte und ihm und seiner zweibändigen Geschichte in der Buchwelt kein langes Leben mehr bevorstehen konnte. Die anderen Flugpassagiere waren wegen der endlosen Verzögerung ebenfalls verstimmt. ... Etwas bewirken, Wind hinter der Douglas machen, damit sie endlich ... ihrem Bestimmungsziel zufliegt, das konnten sie nicht. Sie waren machtlos gegen den Stillstand ihrer Geschichte. Giwi Margwelaschwili, "Fluchtästhetische Novelle", S.12/13 Verbrecher-Verlag MUSIK unter O-Ton ausblenden 20. O-TON Giwi Margwelaschwili (deutsch) Buchpersonen vermeinen Realpersonen zu sein. Was sie aber nicht sind! Sie leben vom Lesen. Und dieses Flugzeug erhebt sich nicht, es kann nicht fliegen, weil das Buch nicht gelesen wird. Warum ich den Helden da auftreten lasse, ja? Er ist eine selbstbewusste Buchperson, welche feststellt, dass sie festsitzt aus Gründen der Leser-Schwindsucht, die seinen Roman befallen hat ERZÄHLER Meine Gedanken schweifen ab. Ich, als Geisterkind aus dem Roman von Ana Kordsaia selbst eine Buchfigur, frage mich plötzlich, ob mir Margwelaschwilis Metawelt gefallen würde? Eine Welt, in der wir Geisterkinder für unsere Leser sichtbar wären? In der mir jeder ins Gesicht sagen könnte, ich sei nicht real, nur das Hirngespinst einer georgischen Schriftstellerin? 21. ATMO Straße / Stadt / Schritte ERZÄHLER Tage später. Der Deutsche steht vor einem Plattenbau, schaut an ihm hinauf, als gehöre der Bau zum Weltkulturerbe. Neun graue Stockwerke und keine Fenster im Treppenhaus. Der Fahrstuhl? Ein Museum, das sich erst bewegt, als er einen georgischen Lari in eine Art Münzautomat steckt. 22. ATMO Klacken der Münze / der Fahrstuhl setzt sich in Bewegung ERZÄHLER Das Ungetüm stoppt in der siebenten Etage. Wir steigen aus. An einem Klingelschild lese ich den Namen Dotschanaschwili. Guram Dotschanaschwili ist einer der bekanntesten Autoren Georgiens. Keiner sieht mich, als ich mich mit durch die Tür schiebe. ERZÄHLER Guram Dotschanaschwili sitzt im Sessel. Ein Aschenbecher wackelt bedrohlich auf dessen Armlehne. 1966 begann Dotschanaschwili an einem Roman zu arbeiten, der seinen Ruhm begründen sollte. Eine bitterböse Parabel auf jede Form totalitärer Regime.. 23. MUSIK Pink Floyd "Meddle", Titel 6 "Echoes" - 11:25 - 12:35 SPRECHER 2 Der Wächter der Nacht, der Lügner Leopoldino, schlich, eine rostige Öllampe in der Hand, auf Zehenspitzen durch die Straßen. Seine Pupillen bewegten sich hin und her, ganz Ohr wurde er beim geringsten Laut, stockstill, und verbarg die Lampe unter dem zerschlissenen Umhang. Zunächst würde er zum Springbrunnen von Feinstadt gehen und erst von dort rufen: "Es ist drei Uhr nachts und alles ist in Oo-ordnung." Ach, das nicht alles in Ordnung war, das wusste er nur zu gut, aber was konnte er schon ausrichten - eben dafür entlohnte man ihn jeden Herbst mit einem Drachan, mit einer kleinen runden Goldmünze, die ein ganzes Jahr lang, in Brot und Zwiebeln verwandelt, vorhalten musste. ....von Zeit zu Zeit wurde von dem einen oder anderen Balkon ein schwerer Trauervorhang herabgelassen. Schamrot, mit eingezogenem Kopf, rief Leopoldino gedämpft: "Es ist ein Uhr und alles ist in Oo- ordnung!" Aus: Guram Dotschanaschwili, "Das schönste Gewand" Teilübersetzung: Susanne Kihm und Niko Lomtadse MUSIK unter ERZÄHLER ausblenden ERZÄHLER 13 Jahre arbeitete Dotschanaschwili an seinem Roman. Sein Titel: "Das schönste Gewand". Seine Hauptfigur, Domenico, verlässt darin den eigenen Vater und begibt sich auf die Suche nach Freiheit. Auf seinem Weg liegen drei fiktive Städte. Die erste, "Feinstadt", wartet mit den schönsten Fassaden auf, die Höflichkeit ihrer Einwohner ist sprichwörtlich. Doch innerlich ist die Stadt eine Ruine, voller Dummheit, Gewalt und intellektueller Leere. Für die zweite Stadt spricht schon ihr Name: Camorra. 24. O-TON Guram Dotschanaschwili (georg) SPRECHER 2 Camorra steht für die Sowjetunion. Der Name des Helden Domenico stammt aus dem Lateinischen "dominus" - was man auch übersetzen könnte mit "sich selbst gehören". Und um diesen Prozess, wie Domenico beginnt sich selbst zu gehören, wie er sozusagen von einem Sklaven zu einem Menschen wird, der sich selbst gehört, darum ging es mir in diesem Buch. 25. O-TON Guram Dotanischwili (georg) SPRECHER 2 Ich dachte damals, dass ich dabei sei, verrückt zu werden. Denn je mehr ich schrieb, umso unvorstellbarer war es, dass dieser Roman jemals erscheinen würde. ERZÄHLER Doch während Dotschanaschwili zurückgezogen an seiner Parabel auf das totalitäre Sowjetsystem arbeitet, gewinnt in der georgischen Kommunistischen Partei ein neuer Mann Macht und Einfluss. Sein Name: Eduard Schewardnadse. Er ist es, der hinter den Kulissen dafür sorgt, dass Dotschanaschwili seinen Roman 1978 an der Zensur vorbei veröffentlichen kann. Heute, 45 Jahre nach seinem Erscheinen, ist es der einzige georgische Roman, der eine eigene Fan-Seite im Internet hat. ERZÄHLER Die neunziger Jahre. Die Sowjetunion brach auseinander. In allen Teilrepubliken herrschte Chaos. Doch nirgends ging die sterbende Zentralmacht mit solcher Härte vor, wie in Georgien, wo Moskau sogar Giftgas gegen Demonstranten einsetzte. 3000 Verletzte, 20 Tote waren die Folge. Damals, am 9. April 1989, begegneten sich zwei Buchfiguren inmitten von Tiflis. Die eine war ich selbst. Ein Geisterkind, dessen Existenz damals noch niemandem bewusst war. Die andere war Avelum, Hauptfigur des gleichnamigen Romans von Otar Tschiladse. Sowjetische Panzer rollten durch die Stadt und Avelum rannte gleich einem gehetzten Tier an mir vorbei. Ob ich seine Tochter gesehen hätte?, rief er mir zu. Ein Mädchen namens Eka-Ekaterine-Kato? Warum er sie suchen würde?, rief ich zurück. Er mache sich Sorgen. Sie könnte auf einen dieser Panzer steigen und in völliger Verkennung der Situation die georgische Flagge schwingen! SPRECHER 2 Letztlich wird es das Flattern von Eka-Ekaterine-Katos Flagge sein, welches den böse und gefährlich aufgereizten Bären aus dem Winterschlaf, aus der Geduld, aus der Höhle holt, und es werden in Tiflis Dinge geschehen, gegen die Calais nichts ist, und sogar Herodes Gebeine wird es im Grabe bekümmern, wie man halbe Kinder mit geschärften Pionierspaten und mit Stickgasgranaten metzelt. Gleichsam aufeinander abgestimmtes Panzergedröhn wird das ohnehin taube, dumpfe Land, ... , welches soeben zu hören und zu sehen beginnt, erneut für lange Zeit mit Taubheit schlagen. Aus: Otar Tschiladse "Awelum" S. 233, Volk und Welt, 1995. Übersetzung: Kristiane Lichtenfeld, MUSIK unter ERZÄHLER ausblenden ERZÄHLER Otar Tschiladse veröffentlichte seinen Roman 1995. Er beschreibt darin übrigens auch meine Begegnung mit Avelum, wenn auch in leicht abgewandelter Form. Vier Romane wurden von Otar Tschiladse bisher ins Deutsche übersetzt. Mit "Avelum", erschienen bei Volk und Welt, schuf er eine großartige Metapher auf die Umbrüche in Georgien. Dem Giftgas der Sowjets folgte ein Krieg um die abtrünnige Provinz Abchasien am Schwarzen Meer, dem Krieg folgten Flüchtlingsströme, den Flüchtlingsströmen ein kurzer aber heftiger Bürgerkrieg. Verbrecherbanden beherrschten die Stadt. Um zu überleben, begannen die Menschen ihr Hab und Gut zu verkaufen. Es war eine Zeit, in der kaum noch Bücher erschienen. Die Verlage? Zusammengebrochen. In den Buchhandlungen starrten Verkäuferinnen gelangweilt ins Leere. Lesefiguren irrten wie Zombies durch die Straßen. Doch dann erschien - Ronja Räubertochter. Hier! In Georgien! In diesem Camorra-Tiflis! Der deutsche Journalist will nun jenen Mann finden, der dafür verantwortlich war. Und ich, das Geisterkind, folge ihm - wieder einmal quer durch die Stadt. 26. O-TON Bakur Sulakauri / Verleger (georg.) SPRECHER 2 Wir waren auf dem Rustaweli-Prospekt. Mit einem kleinen Klapptisch hatten wir uns hingestellt und begannen das Buch zu verkaufen. Ich hatte Skandinavistik studiert, war Übersetzer schwedischer Literatur. ATMO stehen lassen ERZÄHLER Bakur Sulakauri heißt der Mann. Schmal, offenes Gesicht. Mitte der neunziger Jahre war ich ihm ein paar Mal begegnet, traf ihn, als er schwedische Reisegruppen durch die Stadt führte. Weil die aber relativ selten waren, begann er Astrid Lindgren zu übersetzen. ATMO stehenlassen 27. O-TON Bakur Sulakauri (georg.) SPRECHER 2 Es war damals eine sehr schwere Zeit. Alles war zusammengebrochen. Also verkaufte ich das Klavier meiner Eltern, lieh mir noch 100 Dollar und ließ Ronja Räubertochter 5000 Mal drucken. Als ich dann die Bücher in einen Laden schleppte, der wie eine Buchhandlung aussah, sagten die mir, ich könne zehn Exemplare dalassen und in einem Monat wiederkommen. Nach einem Monat waren fünf Bücher verkauft und ich hatte gerade einmal fünf Lari verdient und da kam ich auf die Idee, diese Bücher selbst zu verkaufen. ATMO stehen lassen ERZÄHLER Sulakauri erzählt seinem deutschen Besucher, dass er innerhalb eines Monats 1500 Exemplare verkaufte. Dass er in diesen Tagen begriff, dass es selbst in den schwersten Zeiten Hoffnung für die Literatur gibt. ATMO unter ERZÄHLER Kreuzblende mit: ERZÄHLER Aus dem Klapptisch wurde ein moderner Verlag und Sulakauri ist heute einer der wichtigsten Verleger Georgiens. Seinen Erfolg verdanke er einem Konzept, das von Beginn an nicht auf Fördergelder gesetzt habe, sagt Sulakauri. 28. O-TON Bakur Sulakauri (georg.) SPRECHER 2 Es gab zwei Richtungen. Erstens: Prosa zeitgenössischer Autoren. Diese Autoren suchte ich damals selbst aus. Die andere Richtung waren hochwertige Kinderbücher aus aller Welt. 06:49 Meine ersten Produktionen waren sechs Romane von sechs zeitgenössischen Autoren. Zwei von ihnen sind heute sehr bekannte Schriftsteller: Aka Mortschiladse und Dato Turaschwili. ERZÄHLER Aka Mortschiladse hat Georgien schon vor Jahren verlassen. Er lebt jetzt in England. In Deutschland machte er mit "Santa Esperanza" auf sich aufmerksam. Ein verspielter "Roman in 36 Heften", der 2006 im Münchner Pendo-Verlag erschien. Kritiker bezeichneten das quirlige Epos aus Briefen und Kirchenchroniken, aus Tagebuch- und Testamentsauszügen als die verrückteste und verwegenste verlegerische Leistung der Saison. Unverständlich ist, warum bisher kein weiterer seiner inzwischen 20 Romane ins Deutsche übersetzt wurde. 29. ATMO Kneipenatmosphäre / leise Musik ERZÄHLER Dato Turaschwili ist einer der erfolgreichsten Autoren des Sulakauri- Verlages und einer der wenigen georgischen Schriftsteller, die von ihrem Schreiben wirklich leben können. Er und der Deutsche treffen sich in einem ruhigen Lokal. Sie ahnen nicht, dass ich, das Geisterkind aus dem Roman der Ana Kordsaia, mit am Tisch sitze. Wir Geisterkinder sind unsichtbar. Wir können die Menschen beobachten, ohne selbst beobachtet zu werden. Während Turaschwili spricht, schaue ich in sein Gesicht. Und plötzlich erinnere ich mich. Er war einer jener jungen Leute, die ich nach dem Giftgas-Angriff russischer Truppen am 9. April 1989 bewusstlos aus dem Chaos umherrennender, umfallender, sich erbrechender Demonstranten gezogen und auf den Stufen des Opernhauses abgelegt hatte. 30. O-TON Dato Turaschwili (georg) SPRECHER 2 Ich weiß nicht, was für ein Gas die Russen verwendeten. Ich erinnere mich nicht. Ich war umgefallen. Als ich die Augen öffnete, befand ich mich plötzlich im Opernhaus. Ich weiß nicht, wer mich aus dem Chaos gezogen und dahin gebracht hat. Es war ein tragischer Tag. Aber zugleich ein guter. Denn von da an dauerte es nur noch eine Woche. Danach war das sowjetische Regime in Georgien am Ende. Georgien wurde unabhängig. ERZÄHLER Dato Turaschwili steht für eine Generation von georgischen Autoren, die zeitgleich mit der politischen Wende auf der literarischen Bühne auftauchte. Eine Generation, die nicht mehr parabel- oder gleichnishaft schrieb, sondern sich eher dokumentarisch der eigenen Freiheiten versicherte und zugleich mit der Aufarbeitung der jüngsten Vergangenheit begann. Kaum ein anderes Buch der georgischen Gegenwartsliteratur steht dafür so wie Dato Turaschwilis Roman "Jeans Generation" SPRECHER 2 Als der Totengräber kam, erkannte Natela Matschawariani sofort, dass dieser Mann etwas wusste, ... Sie gingen schweigend los. Es war kalt, aber die Frauen fürchteten weder die Kälte noch den sumpfigen Boden. Das Feld war grenzenlos, ein unermessliches Grab. ...Dieses Feld verbarg die unterirdische georgische Geschichte des 20. Jahrhunderts. ... An jenem regnerischen Tag im Jahre 1999 ... hatte der gesichtslose Mann auf Natela Matschawarianis Schweigen mit fester Stimme geantwortet. - Es ist wirklich diese Stelle, ich erinnere mich genau - Aber es sind 15 Jahre vergangen, entgegnete jemand. - Gegas Grab ist hier, ich erinnere mich genau. Die Männer hatten wortlos weitergegraben, ... bis der erste ... mit seinem Spaten an die metallene Kante des Sargs stieß. Die Männer starrten verblüfft auf den Leichnam, ..., bis Natia Megrelischwili leise, aber bestimmt feststellte: - Das ist nicht Gega. Auch Eka Tschichladse hätte sich nicht vorstellen können, dass sie auf diese Weise noch einmal Sosso Tsereteli begegnen würden, der auch jetzt, nach 15 Jahren, noch mit den Jeans bekleidet war, in denen Eka ihn zuletzt gesehen hatte.... Aus: Georgische Gegenwartsliteratur. Hrg. Manana Tandaschwili / Jost Gippert, Davit Turaschwili "Jeans Generation" S. 47-51 Übersetzung Anastasia Kamarauli MUSIK unter Erzähler ausblenden ERZÄHLER 1980 hatten ein paar junge Georgier versucht, ein Flugzeug zu kapern. Sie hofften so in die Türkei und in die Freiheit zu gelangen. Die Entführung schlug fehl und endete in einem Desaster mit mehreren Toten. Bis auf eine junge Frau wurden alle Entführer als Kriminelle zum Tode verurteilt. Kriminelle oder Freiheitskämpfer? Bis heute spaltet die Bewertung der Tat das georgische Volk. Aus diesem Stoff ist Dato Turaschwilis spannender Roman. Turaschwili erzählt darin von der Selbsterkenntnis seiner eigenen Generation. Einer Generation, der das Tragen einer amerikanischen Jeans als einzige Möglichkeit schien, Widerstand gegen das sowjetische Lügengebäude zu leisten. 31. O-TON Dato Turaschwili (georg.) SPRECHER 2 Als das mit der Flugzeugentführung passierte, hatte ich gerade das Gymnasium beendet. Ganz Georgien sprach damals über dieses Ereignis. Auch wenn viele bis heute der Meinung sind, dass die Flugzeugentführer Kriminelle waren, niemand wollte, dass diese jungen Menschen die Todesstrafe bekommen. Und vielleicht wurde mein Buch deshalb ein Bestseller, weil für das ganze Land noch immer ein Trauma ist, was mit diesen jungen Leuten geschah. 32. ATMO Metro ("...Next Station, Rustaweli! .... Abfahrt - bei 0:44. Ansage freistehen lassen) ERZÄHLER Der deutsche Journalist ist schon wieder auf dem Weg zu seinem nächsten Treffen. Ein Geisterkind folgt ihm. Das Geisterkind bin ich, eine Buchfigur, unsichtbar und doch verbunden mit der Welt derer, die in der Metro ihrem Ziel entgegen donnern. Der Deutsche blättert in einem Erzählband Georgischer Gegenwartsliteratur, erschienen 2010 im Reichert-Verlag. Vier Kapitel von Turaschwilis Roman sind darin veröffentlicht. Auch ein Auszug aus Beso Chwedelidses Erzählung "Der Geschmack von Asche". Nur wenige Autoren haben bisher die Schrecken des Krieges um die abtrünnige Provinz Abchasien so eindringlich beschrieben wie Beso Chwedelidse. 33. MUSIK Goran Bregovic, Undergorund, Titel 7 "War" 00:00 ff SPRECHER 2 Schon aus der ersten Gasse war immer wieder ein seltsames Geräusch zu hören. Irgendwas stimmt da nicht, sagte Petro mit gebrochener Stimme und hob die Hand zum Zeichen dafür, dass wir auf der Stelle anhalten sollten- ... Mit einem Satz sprang er in die Gasse hinein. ... Er erstarrte verblüfft, .... Dann schaute er her und nickte uns zu. Schnell kamen wir näher ... und schauten gemeinsam in die Gasse. Sie war ... voll von verwesenden Leichen. Dazwischen stand ein riesiges, bläuliches Schwein und fraß geräuschvoll von den sich zersetzenden Kadavern. Vom vielen Fressen war es so fett geworden, dass es sich nicht mehr fortbewegen konnte und zwischen den Zäunen steckengeblieben war. Aus: Beso Chwedelidse, "Der Geschmack von Asche" in: Georgische Gegenwartsliteratur, Übersetzung: Anastasia Kamarauli. Reichert-Verlag 2010, s. 114/115 MUSIK unter O-Ton ausblenden 34. O-TON Beso Chwedelidse (georg.) SPRECHER 2 Ich habe mehr als 100 Erzählungen geschrieben. Aber das ist die einzige, über die ich mehr als 16 Jahre nachgedacht habe, bevor ich wusste, wie ich das schreiben soll. ERZÄHLER Chwedelidse, hohe Stirn, lichtes Haar, sitzt dem deutschen Journalisten in einem Café im Konzerthaus in Tiflis gegenüber. Erzählt vom wahren Kern seiner Erzählung. Ein polnischer Lifestyle- Journalist soll Eduard Schewardnadse interviewen. Doch Termine in Moskau und Tiflis platzen. Schließlich folgt der Pole Schewardnadse bis in die abchasische Hauptstadt Suchumi. Hier bricht plötzlich ein Krieg aus. Die Abchasen wollen sich von Georgien trennen. Ohne dass es zum Interview kommt, flieht Schewardnadse zurück nach Tiflis. Die Telefonverbindungen sind gekappt, der Flugverkehr wird eingestellt, nur noch die Leichen toter georgischer Soldaten dürfen ausgeflogen werden. Der Pole sitzt plötzlich zwei Jahre in einem Inferno fest, ohne jemandem eine Nachricht über seinen Verbleib zukommen lassen zu können. Während er international gesucht wird, nimmt sich Kriegsreporter Beso Chwedelidse alias Koka seiner an und gibt dem Polen den Spitznamen Chopin... 35. MUSIK Goran Bregovic , "Underground", Titel 7 "War" 01:37 ff SPRECHER 2 Auf diesem Abschnitt des Geländes stand nur ein einziger riesiger Apfelbaum. ... Von weitem sah er .. wie ein riesiger roter Pilz aus. ... Ich stieg als erster aus ... und machte mich auf .... Petro folgte mir. ... Chopin stand beim Auto und sah sich die bisher gemachten Aufnahmen an. Sevastitsch werkelte am Autoradio herum. - Koka, komm her, ich muss dir zeigen, wie du aussiehst! Es waren vielleicht noch zwanzig Schritte bis zum Schatten des Apfelbaumes, als ich den begeisterten Ruf Chopins hörte. - Er denkt, er ist in einem Film, verdammt noch mal!, sagte Petro und nahm einen tiefen Zug von seiner Zigarette. Ich ließ Petro weiterlaufen und machte mich auf den Weg zurück zum Wagen. - Guck dir das an! Tolle Bilder! Gerade als ich den Blick den Aufnahmen zuwandte, riss mich die Druckwelle einer gewaltigen Explosion von den Füßen. ... Mühsam richtete ich mich auf und schaute zum Apfelbaum. ... An seiner Stelle war ein riesiger schwarzer Krater zu sehen. Das ganze Feld war bedeckt von roten Äpfeln. Petro war nirgends mehr zu sehen. Aus: Beso Chwedelidse, "Der Geschmack von Asche" in: Georgische Gegenwartsliteratur, Übersetzung: Anastasia Kamarauli. Reichert-Verlag 2010, s. 141-143 MUSIK unter O-Ton ausblenden 36. O-TON Beso Chwedelidse (georg.) SPRECHER 2 Diese Frage, ob ich das Gleichnis des in die Luft gesprengten Paradieses bewusst gewählt habe, wird mir sehr oft gestellt. Aber ich habe das geschrieben, weil es genauso passiert ist. Ich bin nur am Leben und spreche hier mit Ihnen, weil der polnische Kollege mich damals zurückrief, während der andere Äpfel pflücken ging. Vielleicht passieren solche Dinge genau deshalb, weil ich Schriftsteller bin. Die Ereignisse sind wie eine Aufforderung, das aufzuschreiben. Es passiert, damit darüber in einem Buch geschrieben wird. ERZÄHLER Inzwischen hat Chwedelidse 18 Prosabände veröffentlicht, wunderbar versponnene Geschichten. Chwedelidses Figuren sind meist sympathische "underdogs", die auf jede erdenkliche Weise versuchen, aus einer Art allgegenwärtiger Perspektivlosigkeit herauszukommen. Weil der georgische Alltag ihnen das aber schwer macht, leben sie in einer Art Scheinrealität. Da gibt es zum Beispiel die Erzählung über die Herumstreicherin Tamro, die mit ihrem blinden Bruder Gio zusammenlebt und für ihn eine bessere Welt aus Geschichten erfindet. Oder seine Erzählung "Vater", über einen Mann, der nach 15 Jahren aus dem Gefängnis zurückkehrt..... 37. ATMO Vögel - unterblenden, stehenlassen ERZÄHLER Vielleicht war es diese Geschichte, die den Deutschen auf die Idee brachte, Surab Leschawa zu besuchen, den einzigen georgischen Autor, der wie Chwedelidses Held mehr als ein Jahrzehnt im Gefängnis saß. Leschawas eigenwillige Geschichten suchen ihresgleichen in der georgischen Literatur. 38. ATMO Begrüßung bei Surab Leschawa ERZÄHLER Leschawa ist ein schmaler Mann mit kurzgeschorenem Haar. Mit Frau und zwei Söhnen lebt der Autor in einer Art Schrebergarten- Siedlung in ärmlichen Verhältnissen. ATMO Begrüßung überblenden in: 39. ATMO Schnitz- und Schleifgeräusche, unterblenden 40. O-TON Surab Leschawa (georg.) SPRECHER 2 Ich wohne sehr weit vom Zentrum entfernt, in diesem Haus, das noch nicht ganz fertig ist. Vom Schreiben kann ich nicht leben. Aber ich schnitze und was ich hier mache, dass verkaufe ich auf einem Künstlerbasar. Das ist das Haupteinkommen meiner Familie. ERZÄHLER Leschawa erzählt, wie er ins Gefängnis kam. 1983 hatte er sich bei einem Urlaub in der Ukraine gegen die Willkür eines Polizisten gewehrt und diesen verletzt. Wäre die Wende nicht gekommen, hätte er 23 Jahre Gefängnis absitzen müssen. 41. O-TON Surab Leschawa (georg.) SPRECHER 2 Im Gefängnis in Kiew schrieb ich meine ersten Erzählungen. Es gelang mir, sie herauszuschmuggeln und nach Tiflis zu schicken. Dort wurden sie in Literaturzeitschriften veröffentlicht und man begann zu fragen: Wer ist dieser Mann eigentlich? Wo lebt er? Was macht er? 42. ATMO Vögel ERZÄHLER Als Leschawa nach 16 Jahren amnestiert wird, ist Georgien schon acht Jahre unabhängig. Nun sitzt er dem Deutschen in seinem grünen Garten gegenüber. Auf dem Tisch ein paar Zeitungskritiken. Ich ziehe sie näher zu mir. Doch Leschawa hält sie mit einer reflexartigen Bewegung fest, glaubt wohl, es wäre der Wind, der die Blätter vom Tisch fegen will. Wie soll er auch ahnen, dass der Deutsche mich Geisterkind im Schlepptau hat, eine unsichtbare Buchfigur aus Ana Kordsaias Roman "Schuschaniks Kinder". Dennoch kann ich ein paar der Kritiken lesen: Von subversivem Erzählgut ist da die Rede, von "Empathie gegenüber jeglichen Randgruppen der Gesellschaft", von einer "feinen Beobachtungsgabe", etwa in Leschawas Erzählung "Hühnerdiebe". 43. MUSIK Goran Bregovic "Underground" Titel 9 "Underground Tango" SPRECHER 2 Sergo ist Leutnant des Parlamentssicherheitsdienstes. ... Der Schwarze Sergo ist unbestechlich und unantastbar. Auf sein Geheiß hin durchsuchen seine Untergebenen unter völliger Wahrung der geltenden Gesetze die Hereinkommenden. Sergo stellt sie zwar auf, aber er selbst hält sich noch nicht einmal an sittliche Gebote. Gerade jetzt steht er am Flurende und uriniert an die Wand, schaut unverfroren ... hinüber zu ... den bekleideten oder halbnackten Einlassbegehrenden. ... Das mit dem Ausziehen begann erst, als einige Parlamentsabgeordnete versuchten, Waffen am Körper hereinzuschmuggeln. Nachdem jedoch dem Abgeordneten Bombochidse ein Revolver ..., den er rektal ins Parlamentsgebäude zu bringen versuchte, geradewegs in die Eingeweide losgegangen war, hatte eine Mehrheit der Abgeordneten für eine Verschärfung der Sicherheitsmaßnahmen gestimmt, um den Gebrauch von Pistolen, Messern, Schlagringen und Knüppeln bei parlamentarischen Debatten auf ein Minimum zu reduzieren. ... Was den Abgeordneten Bombochidse betrifft: Sein Gesundheitszustand ist zufriedenstellend. Glücklicherweise hat der Lauf des Revolvers beim Schuss nach unten und nicht nach oben gezeigt. Aus: Surab Leschawa, "Hühnerdiebe", Übersetzung: Sybille Heinze MUSIK unter ERZÄHLER ausblenden ERZÄHLER Leschawas Sprache ist die respektloseste in der georgischen Gegenwartsliteratur. Slang, Russizismen, die Sprache der Gefängnisse. Aber immer erzählt Leschawa mit genauem Blick auf die Absurditäten des postsowjetischen Alltags. Die Leser lieben seine Figuren. Jene an Geschlechtskrankheiten leidenden Gefängnisinsassinnen etwa, die die poetischsten Liebeserklärungen schreiben. Oder die gestürzten Sowjet-Denkmäler, die in den Krieg gegen "Denkmalschänder" ziehen. Und ganz besonders lieben sie jene Erzählung, in der der 2008 von Georgien vom Zaun gebrochene Krieg gegen die zweite abtrünnige Provinz, Südossetien, nur im Tausch gegen die Schlüpfer von Marilyn Monroe beendet werden kann. Auch Tamta Melaschwili hat über diese Erzählung laut gelacht. Die junge Autorin ist selbst mit einer Geschichte über diesen Krieg schlagartig bekannt geworden. Ihr Titel: "Abzählen". Das Buch, erschienen im Züricher Unions-Verlag, erhielt in diesem Jahr den Deutschen Jugendliteraturpreis. 44. MUSIK Goran Bregovic "Silence oft the Balkans", Titel 1 Silence SPRECHERIN Das Auto hält an. Ein Mann steigt aus und fragt mich: Bist du von hier, Mädchen? Sag ich: Ja. Hast denn du niemand, der auf dich aufpasst? Was läufst du denn hier herum? Ich war Milch holen bei Verwandten. Er schaut zum Auto. Von innen rufen sie ihm zu: Gibs ihr und komm endlich. Wessen Tochter bist du? Sag ich: Die Tochter von Borja Gardawadse. Warum versteckst du die Milch?, ich nehm sie dir doch nicht weg. Sagt er Richtung Auto: Sie ist Borjas Tochter. Rufen sie ihm zu: Also gut, gib ihr den Umschlag und lass uns weiterfahren. Sagt er: Es gibt drei Tote bei euch, hier die Papiere. Sag ich: Was soll ich damit? Nur nicht so ängstlich, ihr habt drei Tote im Dorf, das sind die Bescheinigungen. ... Sag ich: Gut. Wiederholt er: Schau nicht so, Mädel, dein Vater ist nicht dabei. Nicht öffnen und nicht reinschauen, verstanden? Gib ihn direkt Merab. Die Toten gehen dich nichts an. Sag ich: Jawohl. Aus: Tamta Melaschwili, "Abzählen", S. 59-60 gekürzt Unions-Verlag Zürich 2012, MUSIK ausblenden 45. ATMO Eliava-Markt 46. O-TON Tamta Melaschwili (georg.) SPRECHERIN Dieses Buch ist der Ausdruck meines Protestes gegen jede Form von Krieg, besonders aber gegen den Krieg gegen Süd-Ossetien. Das Schreiben war die einzige Möglichkeit, meinen Protest am besten zum Ausdruck zu bringen. ERZÄHLER Tamta Melaschwili und der deutsche Journalist schlendern an einem dieser heißen georgischen Nachmittage über den Tifliser Eliava-Markt. 47. ATMO Eliava-Markt 48. O-TON Tamta Melaschwili (georg) SPRECHERIN Ich verbrachte die ersten 16 Jahre meines Lebens in Ratscha, einer Region im Süden Georgiens. Wegen des Abchasien-Krieges lag unsere Wirtschaft am Boden und jeder Schüler bekam nur drei Schulhefte mit leeren Seiten. Mein größtes Problem war, dass ich die nicht für meine Geschichten nutzen durfte. Und so kritzelte ich meine ersten Erzählungen zwischen die Zeilen alter Schulhefte meines Onkels. Zwischen diesen Zeilen erschuf ich Figuren, die all das besaßen, was ich in meinem realen Leben nicht hatte. ERZÄHLER Dass gleich ihr erster Roman sie auch international bekannt machen würde, konnte Tamta Melaschwili damals noch nicht ahnen. "Abzählen" ist die Geschichte von Ninzo und Zknapi, zwei Mädchen in einem nicht näher definierten Konfliktgebiet. Ninzo hat schon einen Busen und ihre Regel. Zknapi wartet noch darauf, eine Frau zu werden. Kinder, die aufwachsen im Krieg, die beim Spielen Leichen finden und deren Müttern die Milch versiegt beim Stillen der jüngeren Geschwister. 49. MUSIK Goran Bregovic "Silence oft the Balkans", Titel 1 Silence 1:07 ff SPRECHERIN Zknapi, Liebes, schau doch schau. Sag ich: Mami weine nicht. Siehst du, es lebt noch, es atmet. ...Wenn es aufwacht, weint es wieder, dann erschieß mich doch ... und wenn du willst auch das Kind...Sag ich: Mami, wein doch nicht, du weckst es noch auf. Warum gehst du so krumm? Hast du solche Schmerzen? Sagt sie: Ja, es hängt mir den ganzen Tag an der Brust, schau, wie ich aussehe. Ihre Brustwarzen haben sich schlimm entzündet. Sag ich: Die sind ja ganz hart. Ich schmier dir Salbe drauf. ... Sagt Mutter: Verflucht sei dein Vater, dass er uns hier allein hat sitzen lassen. Wenn ich nur wüsste, ob er lebt... Sag ich: Er lebt, Mami ...Sie haben die Liste der Toten gebracht. Er ist nicht dabei. Sagt sie leise: Sag, wozu brauch ich ihn lebend, wenn mir das Kind wegstirbt. Es stirbt nicht, Mami, ....Ich bleib solange bei ihr liegen, bis sie eingeschlafen ist. Mein Bruder schläft auch. Er sieht einem verschrumpelten Spielzeug ähnlich. Aus: Tamta Melaschwili, "Abzählen", S. 79-82 gekürzt Unions-Verlag Zürich 2012, MUSIK unter O-Ton ausblenden 50. O-TON Tamta Melaschwili (georg) SPRECHERIN Ich meine, dass Literatur keine direkten Antworten geben oder den Menschen eine ganz bestimmte Erkenntnis vermitteln kann. Aber in der Art, wie sie Ereignisse beschreibt, kann sie dazu beitragen, dass die Menschen ihr eigenes Handeln in Frage stellen. Wie kam es zu diesem Konflikt? Warum? Das ist der Beitrag, den Literatur durchaus leisten kann. ERZÄHLER Tamta Melaschwili schrieb den Roman in einer Plattenbauwohnung im neunten Stock. Sie schrieb auf dem Parkett liegend, denn in diesen Tagen war es unerträglich heiß in der Stadt. Dort, auf dem Boden spürte sie einen leichten Luftzug. Sie ahnte nicht, dass ihr jemand vom Fenster her sanft Luft zu wedelte - ich, eines der Geisterkinder von Tiflis, deren unsichtbare Existenz Ana Kordsaia in ihrem Roman "Schuschaniks Kinder" erstmals beschrieben hatte. Ich weiß nicht wie lange sie dort lag. Sie schrieb selbst dann noch, wenn ich am Morgen dem knisternden Haar meiner Mutter auf die andere Seite der Kura folgte. Tamta Melaschwilis Roman lenkte den Blick zugleich auf eine Literatur, deren Existenz man in Georgien bis zu seinem Erscheinen kaum Beachtung schenkte. 51. O-TON Manana Tandaschwili (deutsch) Als ich angefangen habe, ganz gezielt georgische moderne Frauenliteratur zu lesen, habe ich festgestellt, dass wir haben nie zuvor so viele Prosaautorinnen in der georgischen Literatur, wie heutzutage. Und ich denke, dass es mit der Transformation der Gesellschaft zu tun hat. Und dieser Prozess hat es Autorinnen ... erlaubt, die Frauenperspektive zu eröffnen. Und das ist eine absolut neue Perspektive. (hier unterblenden ... ) ERZÄHLER Es ist das letzte Treffen des deutschen Journalisten in Tiflis. Noch einmal war ich ihm gefolgt - unsichtbar wie immer. Nun sitzt er in der Wohnung von Professorin Manana Tandaschwili. Bei Tee und Gebäck unterhalten sich beide über eine von ihr herausgegebene Anthologie neuer georgischer Frauenliteratur. 52. O-TON Manana Tandaschwili (deutsch) - aufblenden .... also die Frauen haben angefangen, ganz offen darüber zu schreiben, was Frauen beschäftigt: Themen, die mit Freiheit der Sexualität zu tun haben, Selbstidentität, Frauen versuchen, ihre Bedürfnisse offen darzustellen und alle diese Tabuthemen, die in der georgischen Literatur nie thematisiert worden sind. ...(hier unterblenden und stehenlassen) ERZÄHLER Sie sprechen über Eka Togonidse. Eine Autorin, die erstmals in der georgischen Literatur über Behinderte schreibt. Auch Ana Kordsaias Name fällt, deren Buchfigur ich selbst bin. Die Literatur der georgischen Schriftstellerinnen, erklärt die Professorin ihrem deutschen Gast, unterscheide sich sehr stark von der Literatur ihrer Kollegen. 53. O-TON Manana Tandaschwili (deutsch) - aufblenden ... ich denke, die männlichen Autoren haben sich beschäftigt mehr mit dem Alltag. Manchmal liest du und denkst, ist das Dokumentarprosa oder ist das ein literarisches Werk? - schwer einzuschätzen, weil es fast an der Grenze ist. Bei der Frauenanthologie habe ich viel mehr literarisches Potential gesehen. Ich lese die Texte und ich denke, die weiblichen Autoren haben die Sprache modernisiert, die georgische Literatur hat neu angefangen zu atmen. ERZÄHLER Für Manana Tandaschwili vereint die georgische Literatur alle Eigenschaften einer Raubkatze in sich. Eleganz, Sensibilität und in ihrer Offenheit auch eine gewisse Brutalität. Daher habe sie der 2013 in der Frankfurter Verlagsanstalt herausgegebenen Anthologie auch den Titel "Techno der Jaguare" gegeben - eigentlich der Titel einer Erzählung von Nene Kwinikadse, einer erst 33jährigen Autorin. 54. MUSIK Belgrad Coffee Shop, Svitac Titel 1 "Norm Vanaman" SPRECHERIN In diesem jungfräulichen Wald war zwar alles künstlich, aber wer hätte nicht gern in dieser Trugwelt gelebt? In den Baumhöhlungen standen DJs, die sich beim Auflegen abwechselten, und auf diesen Ästen der Bäume saßen Vögel. .... Blätter und Hasen, Schakale und Eichhörnchen. ...Sogar Rotkäppchen und ihr Körbchen. Sie ging zu einer der Baumhöhlungen und ließ sich in der Nähe eines DJs nieder. Ihr Sitzplatz war wirklich sehr günstig, denn von hier aus konnte man beobachten, wie ein betrunkener Pilz und eine betrunkener Vogel einander knutschten. Und wie sie Purzelbäume schlugen - eine dekorative Fauna, die an Ammenmärchen glaubte.... Aus: Nene Kvinikadse "Techno der Jaguare" in "Techno der Jaguare - Neue Erzählungen aus Georgien", FVA 2013 MUSIK unterblenden ERZÄHLER Das Leben in Georgien - mehr als 20 Jahre nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion ist es noch immer so wild und absurd, wie Nene Kwinikadse es in ihrem Roman "Techno der Jaguare" beschreibt. Ich sehe den deutschen Journalisten auf einer Bank sitzen. Neben ihm der Koffer, das Flugticket und auf den Knien eine letzte Geschichte. Ich, das Geisterkind aus dem Roman von Ana Kordsaia, verabschiede mich, schaue ihm noch einmal über die Schulter und lese diese Zeilen. MUSIK aufblenden SPRECHERIN Ich ging den Boulevard entlang, übernächtigt und mit brummendem Schädel....Auf den Bänken saßen Leute. ... Als würden sie auf etwas lauern oder etwas Bestimmtes erwarten. Ich blieb stehen und ... sagte ehrerbietig: Es grüßt euch der tanzende Wiedehopf! Peinliches Schweigen. Um genau zu sein: Die ganze Küste war von Schweigen ergriffen. Die Wellen des Schweigens schwappten sogar bis nach Istanbul und übertönten dort die arabischen Radiofrequenzen. Von irgendwoher vernahm ich das Klacken einer Gebetskette, und in einer leeren Schachtel verglühten Tabakreste. Alle starrten mich an. Ich begriff die Unangemessenheit meiner Aktion und enteilte vom Tatort. Ich starrte auf das Meer hinaus und überflog eine Zeitschrift: "Techno erobert die Herzen der Menschen", stach die Überschrift hervor. Hey, Ihr da, auf der sowjetischen Afterparty! Aus: Nene Kvinikadse "Techno der Jaguare" in "Techno der Jaguare - Neue Erzählungen aus Georgien", S. 167-168, FVA 2013 MUSIK auf - und ausblenden 2