COPYRIGHT: Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von DeutschlandRadio / Funkhaus Berlin benutzt werden. Deutschlandrundfahrt Stadt der drei Weltreligionen - Würzburg in Unterfranken Von Sabine Korsukéwitz Sendung: 6. August 2011, 15.05h Ton: Regie: Redaktion: Margarete Wohlan Produktion: Deutschlandradio Kultur 2011 OPENER MIT MUSIK O-Töne über die Musik 01 Ursula Als ich das erste Mal hier mit dem Zug angekommen bin und auf den Bahnhofsvorplatz kam, hatte ich irgendwie das Gefühl, das hat so ein bisschen was von Italien. 02 Huth/Häusner Wallfahren trau ich dir gar nicht zu. Wallfahren schon, aber das Laufen ist das Problem (lacht) Und es ist klar: Ein Kommunalpolitiker macht keinen Fehler, wenn er da dabei ist. 03 Shif Ich fühle mich wohl hier aber ich schaffe nie, genau wie andere Würzburger zu sein, aber ich finde das richtig so, ich versuche Besonderheit von meinem Leben: Jude in Würzburg, zu behalten. 04 Kuzucu 3 Jahre haben wir das gemacht, Ramadan-Zelt, die Moscheen laden jährlich ein und ich hab immer wieder gedacht: Kommen die vielleicht auch mal drauf, uns einzuladen? Spr.v.D. "Stadt der drei Weltreligionen - Würzburg in Unterfranken", eine Deutschlandrundfahrt mit Sabine Korsukéwitz. Atmo 1 Kiliansdom: (Geläut zunehmend) Autorin Würzburg in der Kilianswoche, dem Fest des fränkischen Schutzheiligen, der im ersten Jahrtausend Würzburg christianisiert haben soll. Eine lange katholische Geschichte hat die Stadt geprägt. Der Fluss Main beschreibt hier eine glänzende Schleife. Von seiner linken Uferseite blickt man auf rote Giebeldächer und darüber etwa vierzig Kirchtürme; im Hintergrund die Weinberge, die eine so wichtige Rolle für die Stadt und ihr soziales Leben spielen. Atmo 1 großes Geläut Autorin Im Rücken die Festung Marienberg. Im Bauernkrieg verschanzten sich dort die Fürst-Bischöfe. Auf dem nächsten Hügel das "Käppele", wie die Wallfahrtkirche Mariä Heimsuchung volkstümlich genannt wird. Über die 256 Stufen rutschten früher die Gläubigen auf Knien den Stationsweg hoch. 5/6 Kinder Geräuschkulisse kurz hoch und dann unter Autorin stehen lassen Autoren Würzburg ist als Bischofs- und Wallfahrtstadt traditionell katholisch. Das zeigt sich im Stadtbild und im öffentlichen Leben. Jedes Jahr im Juli "wallfahren" ganze Betriebe, Ehepaare, Chöre, soziale Vereine. Heute morgen sind es die katholischen Kindergärten, die von der Kirche St. Burkard zum Dom ziehen. 5/6 Kirche ab 1:00: Pfarrer begrüßt Kinder zum Kilianstag, Aufbruch...weiter drunter lassen Autorin Die Wallfahrt wird nicht allzu lang, weil die Beine ja noch kurz sind: Es geht über die alte Mainbrücke mit ihren 11 barocken Heiligen und einer Statue Karls des Großen, hinein in die Altstadt und zum Kiliansdom. 5/6 ... wieder hoch bei 1:54 "Wann gibt's denn die Kiliansbrötchen. Ich hab Hunger!" (Klampfenmusik noch eine Weile unter Autorin) Autorin Passanten bleiben lächelnd stehen, darunter zwei Muslimas in langen Mänteln und sommerlich bunten Kopftüchern. Die "Kopftuchfrauen", wie sie hier heißen, sind im Stadtbild inzwischen mindestens ebenso präsent wie Nonnen in Habit und vernünftigen Schuhen. Die Deutsch-Türkin Sema Kuzucu hat kürzlich christliche Studentinnen und Würzburger Stadträtinnen in Muslima-Gewänder gesteckt, damit die mal erfahren, wie sich das so anfühlt... 07 Kuzucu Das war lustig, also von 18 Stadträtinnen haben immerhin 2 daran teilgenommen, einmal CSU und einmal Grüne (lacht) Wir hatten passende Kopftücher, und die haben wir versucht gut anzubinden, sodass keine Haare rausschauen konnten, es durfte außer Gesicht und Hände nichts rausschauen, eine Stadträtin hat sogar in der Nachsicht daran erinnert, dass sie ja eigentlich keinen Nagellack haben sollte und ist noch aufgestanden und hat den entfernt, die waren da sehr vorsichtig. Autorin In dieser Verpackung durften die Frauen testen: Wie wird man denn eigentlich behandelt, wenn man wie eine Muslima aussieht? Auf dem Rathaus, bei der Ausländerbehörde, im Restaurant, beim Friseur.... 08 Kuzucu ...und da hat man auch danach gefragt, ob die Möglichkeit besteht in einem getrennten Raum ohne männliche Blicke von einer Friseurin bedient zu werden und sie haben sofort ein Zimmer gezeigt und die Bereitschaft erklärt, dass sie das gewährleisten können. Und eine Journalistin, die wir zur Ausländerbehörde geschickt haben, sie sollte sich erkundigen, ja, sie will ihren Mann aus dem Ausland nachholen, das war ein sehr nettes Gespräch, hat später die Journalistin berichtet... Autorin Aber, so meint Sema Kuzucu, das hat vielleicht auch mit dem selbstbewussten Auftreten der falschen Muslimas zu tun. Die echten berichten häufiger, dass man ihnen herablassend begegnet. Die Nonne Schwester Marietta kann über die Kopftuchdiskussion nur milde lächeln: 09 Marietta Die Frauen mit ihren Kopftüchern, gut, ich hab meinen Schleier und die tragen ihr Kopftuch, warum auch nicht, ne? Mit meinen Gemeindereferentinnen muss ich ja auch in die Schule. Ich geh mit meinem Schleier in die Schule. Ich hab eine Schwester in Mainz verheiratet, da ist mir's passiert, dass ein Kind seine Mutter gefragt hat: "Ist des a Hex?" (lacht) MUSIK 1: Johann Sebastian Bach "Minuet in G" (kürzen) Atmo 2 Straßenbahn innen Autorin Einige Straßenbahnstationen von der Innenstadt entfernt, im Stadtteil Sanderau haben die Ritaschwestern ihr Mutterhaus. Eine einfache Anlage mit Innenhof, Garten und Altersheim zwischen ordentlichen, aber unauffälligen Mietshäusern. Dass Sanderau einer der ältesten Stadtteile Würzburgs ist, sieht man ihm nicht mehr an. Durch einen Bombenangriff im März 1945 wurde die Stadt innerhalb von 17 Minuten zu 90 Prozent zerstört. Schwester Marietta, 86 Jahre alt, erinnert sich noch genau. 10 Marietta Beim Angriff war ich in der Sanderau und da sind wir am Main entlang runter geschleust worden und waren in der Nacht in Heidungsfeld in den Weinbergen gelegen und dann war alles zerstört, wir haben's brennen sehen und dann war ja alles kaputt. Geräusch: Bomber 11 Marietta Es war schön, es war eine schöne alte Stadt mit vielen Kirchen, man sagte ja, die Stadt der tausend Madonnen. Madonnen waren überall an den Häusern. Es war eine schöne Stadt! Und die Brücken waren ja auch alle zerstört, unsere Mainbrücken haben die Deutschen noch alle kaputt gemacht. Autorin Vieles ist gerettet und wiederaufgebaut worden. Würzburg ist auch heute ein hübsche Stadt, nur: wie es früher wirklich war, das wissen nur noch die Alten. Während der Nazizeit hat Schwester Marietta heimlich an verbotenen Bibelkreisen teilgenommen... 12 Marietta Das war in der Burghardter Kirche und dann mussten wir am Hochaltar vorbei durch die dunkle Kirche, dann ging's im Turm die Treppe rauf und dort war ein früherer Kapitelsaal und von früheren Mönchen noch, und das waren Stunden, die haben uns geprägt. Autorin 1949, als die schlimmsten Zerstörungen weggeräumt, ihre Mutter und Geschwister halbwegs versorgt waren, ist sie ins Kloster gegangen. 13 Marietta Ich hab meine Bank-Kaufmannslehre gemacht und achteinhalb Jahre war ich da, dann hab ich mich entschieden: Ich wollt nicht immer da mit dem Geld zu tun haben. Und dann kam - eine Berufung - man kann nicht sagen: ich geh jetzt da und da hin - das war innerlich in einem drin. Mir hat's in der Bank gut gefallen, und ich hab gute Kollegen gehabt, aber mich hat das innerlich da nicht mehr befriedigt. Autorin Im Orden dann, was wurde ihr angetragen? Na, die Kasse natürlich, als ehemaliger Bankangestellten. Da hatte sie dann wieder mit Geld zu tun, nur mit weniger. Den Gedanken an Familie, eigene Kinder musste sie aufgeben, das hat manchmal weh getan, aber ... 14 Marietta Ich bin glücklich. Ich bin gerne hier, ich hab noch nie bereut und jetzt bin ich ja in einem Alter, wo ich an was anderes denke. Ich geh zum lieben Gott. Ich freu mich drauf. Ich hab Vertrauen. Autorin Es ist ganz still im Raum. Die alte Ritaschwester strahlt einen tiefen Frieden aus. Da ist etwas an Nonnen, etwas, das sich überträgt, ein eigener Zauber... 15 Miriam Wenn man eine Schwester sieht, man hat - ja - man freut sich schon, so einen Menschen zu sehen, es macht ein recht gutes Gefühl. Sie strahlen ne gewisse Ruhe, ne gewisse Würde aus, man hat das Gefühl, sie sind zufrieden mit sich und der Welt und mit ihren Leben und es ist etwas, was sie sicherlich von vielen Menschen unterscheidet, die man sonst noch so trifft. Autorin ... meint die ehemalige Klosterschülerin Miriam. Aus dem Straßenbild von Würzburg sind Ordensschwestern schwer wegzudenken. Aber es werden immer weniger. Die Ritaschwestern feiern dieses Jahr ihr hundertjähriges Bestehen. 1911 wurden sie von einem Augustiner Pater ins Leben gerufen. Sie sollten in Not geratenen Familien helfen, überarbeiteten Müttern, verwahrlosten Kindern. Heute können sie kaum noch hinaus in die Familien gehen, weil es nicht mehr genug arbeitsfähige Schwestern gibt. Der Orden hat nur noch 101 Mitglieder, und Schwester Ursula gehört mit ihren 61 Jahren zu den Jüngsten. 16 Ursula Die Bindung auf Lebenszeit , auch für Partner, ist ein großes Problem geworden. Alle Orden suchen nach neuen Formen, da gibt's grad jetzt die Diskussion über assoziierte Mitglieder, die nur auf Zeit sich binden und dann wieder erneuern, die bringen sich ganz ein, haben auch ihr Versprechen, die müssen nicht hier wohnen, also es gibt verschiedene Formen und da kann jeder finden vielleicht, was er sucht. Atmo 3 Altersheim Haus Clara (Kaffeetafel, Gesang) Autorin Einstweilen wird der größte Teil der sozialen Aufgaben, denen sich der Orden verschrieben hat, von angestellten Pflegekräften erledigt. Es gibt noch eine Pflegestation, einen Familientreffpunkt und die Stiftung SOS Familie. Anders als Marietta hat Schwester Ursula lange gebraucht, um für sich den richtigen Weg zu finden: 17 Ursula Also ich hab schon von Jugend an diese Sehnsucht nach Kloster gehabt, auf Christus bezogen. Ich kam in eine große Krise, bin aus der Kirche ausgetreten und hab ungefähr 8 Jahre eine buddhistische Lehrerin gehabt. Ich hab immer etwas gesucht und wusste nicht, was ich suche und ich denke, es war einfach diese Vertiefung im Glauben, die mystische Dimension, die leider in unserer Kirche nur sehr dünn fließt. Autorin In einer Beginengemeinschaft in Essen lernte sie dann zufällig eine Ritaschwester aus Würzburg kennen, die zu Besuch war... 18 Ursula Ich kannte weder Würzburg noch Ritaschwestern, hatte ich mein Lebtag noch nie gehört, und dann kam oh Wunder doch wieder diese Klostergeschichte und dann hab ich mich mit Augustinus sehr beschäftigt, die Bekenntnisse, und ja, es sollte so sein. Im Mai drauf war ich schon mit Sack und Pack hier. Manchmal wundere ich mich heute noch. Autorin Sind Mönche und Nonnen überhaupt noch zeitgemäß? 19 Ursula Was wir leben ist eigentlich ein ganz tolles gesellschaftliches Modell von Gemeinschaftsgütern, auch teilen, im Grunde genommen sind wir reich: also ich hab Autos, ich hab ein riesengroßes Haus, wo ich drin rum spazieren kann, ich hab einen Garten, ich hab alles und trotzdem hab ich nichts. Wir teilen ja unser Können und unsere Arbeit und die draußen arbeiten, die sehen kein Geld, das kommt aufs Gemeinschaftskonto. Aber was ich brauche, das bekomme ich. Autorin Da sind die Ansprüche durchaus unterschiedlich... 20 Ursula Augustinus sagt in der Regel: Jeder soll das bekommen, was er braucht, und das ist bei jedem anders, aber: wer wenig braucht, soll sich glücklich schätzen. Denn der ist ja nicht in Unruhe, ich brauch das jetzt, ich muss das haben, sondern umso bedürfnisloser ich bin, umso reicher bin ich eigentlich. Und das ist eine sehr friedliche Angelegenheit. MUSIK 2: Carolin No "loveland" (gekürzt auf ca. 1'30) Atmo 4 "Bäck" (Weinstube/Töne haben dieselbe Atmo) 21 Huth/Häusler Pinguine, Pinguine sagen wir immer, wegen dem weiß-schwarzen Habit, des ist aber net bös g'meint. Autorin Im Maulaffenbäck sitzt der Würzburger Schriftsteller Günther Huth mit seinem Freund und Verleger Thomas Häusner beim Feierabend- Schoppen. Eine "Bäck" ist eigentlich ein Weinstube, in die man seine Brotzeit selber mitbringen darf und dann den Schoppen dazu bestellt, eine Tradition, die leider rasch verschwindet, weil auch die Würzburger Wirte das Geschäft lieber vollständig selbst machen wollen. Eine "schwarze Hochburg" sei Würzburg nicht, finden sie. 22 Huth/Häusner Ja gut, also das öffentliche Leben wird natürlich schon noch von der Kirche geprägt. Die Wallfahrt auf den Kreuzberg, die findet jedes Jahr statt, da ist der Landrat immer dabei. Es ist durchaus kein Fehler, wenn man sich jetzt zu Ostern oder zu Weihnachten in der Mette in der Kirche blicken lässt. Das gehört zum guten Ton. Geräusch 1 Dackel ( ab und zu einstreuen) Autorin Huth schreibt seit vielen Jahren regionale Krimis, in denen viel getrunken wird und oft auch kirchliche Würdenträger auf die Schippe genommen werden. Zitat f (Telefonton:)"Grüß Gott, Herr Kommissar, hier spricht Schwester Genoveva, bischöfliches Ordinariat Würzburg. Ich bin die Assistentin des Herrn Generalvikars Marillenbrand." 23 Huth Nachdem ich den Messweinfluch geschrieben hatte, in dem ja auch der Bischof und der Generalvikar eine Rolle spielen ... kam eine Woche später ein Anruf vom Vorzimmer des Generalvikars, der ja der Verwaltungschef der Diözese ist, der Herr Generalvikar würde mich gern zu einem Kaffee einladen, um mit mir über diese Sache zu sprechen. Der Termin wurde etwas nach hinten verschoben, und da sagt er: wir machen jetzt keinen Kaffee, sondern wir machen einen Schoppen und ich muss sagen, der Herr Generalvikar ist sehr trinkfest , ich hätte mir nicht zugetraut, den unter den Tisch zu trinken. Autorin ..und er war kein bisschen sauer? 24 Huth Der hat sich königlich amüsiert und nee, nee das war ganz super, der hat mir auch schöne Grüße vom Bischof ausrichten lassen, der hat das auch g'lesen gehabt, ja neben dem Brevier halt... Autorin 10 Folgen gibt es inzwischen. Hauptfiguren sind Kommissar Erich Rottmann und sein Dackel Öchsle... 25 Huth Moment, Moment! Da muss ich gleich intervenieren! Es ist kein Dackel! Das ist - lach net! Dieses Märchen hat der bayerische Rundfunk in die Welt gesetzt. Also ich hab mich daraufhin gleich mit dem Öchsle unterhalten und der ist also bitter enttäuscht gewesen, also der Öchsle ist ein etwas Spaniel großer , rauhaariger Knickohrbesetzter ... Senfhund, Das ist die am meisten vertretenen Rasse überhaupt und zwar eine Rasse, bei der sämtliche anderen Rassen ihren Senf dazu gegeben haben. Autorin Verzeihung! (Dackel knurrt kurz) Und ist Ihr Kommissar eigentlich ein typischer Würzburger? 26 Huth Er ist ein typischer Weingenießer. Wein und Würzburg sind ja miteinander verwoben, nicht von einander zu trennen. Und der Erich Rottman ist ja ein Schoppenfetzer. Das ist was, was hier allgemein nicht erklärungsbedürftig ist, beschreibt aber einen Weinenthusiasten, der k e i n Alkoholiker ist, aber gern mit anderen zusammen sitzt und einen Schoppen fetzt. Fetzen ist ... ja, des mach ich jetzt nicht vor, sonst ist ja das Glas leer! Atmo 5 Markt (mit Gesprächen) Autorin Wer sich nicht ins Lokal setzen kann oder will, der trifft sich einfach auf einer Bank am Marktplatz, gleich um die Ecke. Atmo 5 Brunnen Ein riesiges gotisches Gotteshaus, dass merkwürdigerweise Marienkapelle genannt wird, zieht die Blicke und die Touristen an: roter Sandstein und Kalkputz, an der Außenseite Steinfiguren von Tilmann Riemenschneider. Die Marienkapelle wurde als Buße für ein Pogrom an Juden auf den Überresten einer Synagoge errichtet. Heute ist es ein heiterer, zentraler Platz. Auf dem Markt davor verkaufen Bauern aus der Umgebung frisches Gemüse, Gartenblumen und auf den Bänken wird getratscht... Atmo 5 hoch bei 2:56 (Gespräch) Atmo 2 (Straßenbahn) diesmal mit Ansage "Juliusspital" Autorin Die Straßenbahn hält gegenüber der überlebensgroßen Bronze eines Mannes, dessen Namen man in Würzburg häufig begegnet: Julius Echter von Mespelbrunn. Über 40 Jahre lang hat er Stadt und Diözese regiert, gleichzeitig Kirchen- und Landesfürst, einer der sogenannten Fürstbischöfe. Echter ließ herrliche Renaissancebauten errichten, war aber auch ein erbitterter Gegenreformator, ließ Hexen und Juden verfolgen: 28 Herberth Julius Echter hat ein Grundstück für sein Spital gesucht, damals - er ist 1543 Fürstbischof geworden - ist auf der Suche nach einem Grundstück zunächst nicht fündig geworden, und hat daraufhin Platz vor den Toren gesucht und hier im sogenannten Judengarten gefunden. Es war ein ehemaliger Judenfriedhof. Nach unseren Recherchen war es so, dass die Juden1560 aus dem Hochstift vertrieben worden sind. Julius Echter hat daraufhin das Gelände als herrenlos betrachtet. Autorin Walter Herberth leitet heute die Stiftung "Juliusspital": Ein großes Krankenhaus mit Forschungsabteilung, Altersheim und Berufsfachschulen für Alten- und Krankenpflege; mit 1200 Arbeitsplätzen einer der bedeutenden Arbeitgeber in der Stadt. Ein gutes Werk auf einer schlechten Tat aufgebaut ... 29 Herberth Es ist Geschichte, die nicht geleugnet werden kann und auch nicht geleugnet werden soll, das ist ein Teil der Stiftungsgeschichte, die aber das heutige Verhältnis zur israelitischen Kultusgemeinde nicht trüben soll. Geräusch 2 Schließanlage/Truhe Atmo 6 Spital Autorin Einer der wenigen Schätze aus der Gründungszeit: Eine Geldtruhe mit kompliziertem Schloss - leider leer. Doch die Stiftung ist gut abgesichert durch Forst- und Landbesitz. Der Fürstbischof hat bis weit in die Zukunft gedacht: Er sah, ... 30 Herberth ... dass dem alten, pesthaften Volk weniger Vorsorge geschehen, als es die jetzige Zeit erfordern will. Also wir sehen das als Aufgabe der Stiftung unverändert an: den Mangel der jeweiligen Zeit zu spüren und darauf zu reagieren. Autorin Und woran fehlt es heute besonders? 31 Herberth Der Mangel der Zeit ist der Umgang mit sterbenden Menschen. Wir haben hier zwar eine Palliativabteilung seit zehn Jahren in Betrieb, auch eine Palliativ-Akademie, aber die Pflegeinrichtung ist heute noch zu wenig ausgeprägt vorhanden und wir werden ein Hospiz bauen in Würzburg und stehen da in Planung. Atmo 7 Musikliege langsam einblenden Autorin Ein Gang durch die Station der Sterbenskranken. Man ist deutlich bemüht, das Unausweichliche so erträglich wie möglich zu machen: Angenehme weiche Farben statt Krankenhaus-Weiß. Die Aufenthaltsräume sind wie Wohnzimmer gestaltet. In einem kleinen Raum steht eine Musikliege, auf der sich die Schwingungen der Musik nicht nur dem Ohr, sondern auch dem Tastsinn mitteilen. Weiße Vorhänge wehen vor dem offenen Fenster. Ein kleiner Springbrunnen plätschert. Von der Decke hängt eine bunte Kette Origami-Kraniche, die ein junges Ehepaar hinterlassen hat. (unter dem O-Ton liegt die Atmo-Musik!) 32 Schwester Sie waren gerade frisch verheiratet, als sie erkrankt ist, und bei uns auf Station kam, und sie hat dann ein japanisches Märchen gelesen oder gehört und da war eben beschrieben, wenn man tausend Kraniche bastelt und die fliegen lässt, dann hat man einen Wunsch frei, und dann hat sie mit ihrem Ehemann draußen gesessen und Kraniche gebastelt. Ja, den Wunsch weiß ich leider nicht, den sie sich gewünscht hat, aber ihr Ehemann hat uns halt den Auftrag geben, die Kraniche fliegen zu lassen und wir haben die dann verschenkt an jeden der hier vorbei kam... ja... das waren tausend... Musik 3: Sara Gazarek "blackbird" (auf ca 1:30 Kürzen) Autorin Das Juliusspital in Würzburg, eines der Wahrzeichen der Stadt, eine mächtige barocke Anlage in gelb und weiß gehalten mit Park und Pavillons, Brunnen und Arkaden. In einem der Torbögen ist die steinerne Stiftungsurkunde aus dem 16. Jahrhundert angebracht. Darauf ganz zentral: ein Bocksbeutel, die typische Flaschenform des Frankenweins - damit man gleich sieht, woher die Stiftung das Geld für die guten Werke nimmt: Aus 150 ha besten Weinbergen, dem zweitgrößten Weingut Deutschlands... Atmo 8 Weingut 33 Kolesch Wir hatten im letzten Jahr das Vergnügen, den bayerischen Staatsehrenpreis das vierte Mal in Folge entgegen nehmen zu können und dann haben wir seit dem letzten Jahr die vierte Traube im Gault-Millau, dem bedeutendsten Weinführer zu erwerben. Autorin Der Gerechtigkeit halber muss gesagt werden, dass die Konkurrenz, nämlich die Stiftung Bürgerspital und der Staatliche Hofkeller, dem kaum nachstehen. Aber Horst Kolesch ist stolz auf s e i n Juliusspital. Der Winzersohn aus Iphofen hatte schon lange davon geträumt, in so einem Betrieb zu arbeiten: 34 Kolesch ... dann hatte ich die große Chance, hier in den Weinbergen, in der Kellerei, aber auch in der Verwaltung des Juliusspitals Seligenstadt ein Praktikum zu machen und dann hat man mir nach meinem Studium angeboten, hier als Weingutsleiter anzufangen, das war eine ganz große Chance, sodass ich dort alles liegen und stehen ließ und nach meinem Diplom als Landwirt sofort ins Juliusspital gekommen bin. Atmo 8 kurz hoch 35 Kolesch Ich hab meine Aufgabe darin gesehen, dem Silvaner wieder etwas mehr Bedeutung zu geben, daneben ist der Riesling wieder mehr aufgekommen und für die internationale Konkurrenz die Burgunderreben, vornehmlich der weiße Burgunder. Atmowechsel 10 Keller 37 (Verkostungs- und Beratungs-Szene mit Kellermeister kurz hoch, dann leise unter Autorin belassen) Autorin Verkostung mit Nikolas Frauer, dem neuen Kellermeister, einem auffallend jungen Mann, dem man das Geschick der Weine anvertraut.... weiter 37: kurz solo stehen lassen... Autorin Beton, Edelstahl und Computer, helle Produktionsräume - für den Auskenner sicher viel versprechend - für den Romantiker eher nichtssagend. Aber dann(!) geht es in den berühmten Fasskeller... 38 Kolesch (beginnt mit Atmo Treppe) Gut, das ist der letzte Teil des Holzfass- Kellers, der sogenannte Steinskeller. Insgesamt ist der Fasskeller 250 Meter lang und hat 220 Holzfässer, so wie wir sie hier sehen. Autorin Ein Bild wie aus einem Psycho-Traum: scheinbar unendlich erstreckt sich ein gepflasterter, enger Gang fort und fort, wie in einem Spiegelkabinett. Zu beiden Seiten gewaltige Holzfässer im Schein flackernder Kerzen, einige der Fässer haben reich geschnitzte Böden. 39 Kolesch Ein Fass aus dem Jahr 2000, thematisiert Alter und Wein im Juliusspital. Und man sieht hier auf dem Fassboden, wie die Kranken, die Alten und die Bedürftigen ins Spital streben, da hinten lauert schon der Tod.... und hier, die erste Station im Spital, da sieht man wie Fürsorge und Wein schon die erste Wirkung zeigen: der kann seinen Krückstock schon schwingen, und die beiden können sich schon dem Tanz und Gesang hingeben; aber Vorsicht, wer sich im Juliusspital zu viel Fürsorge oder Wein angedeihen lässt, auf den wartet unten schon der Teufel und der schickt sie dann in die nächste Runde. Autorin In den Altersheimen der Stiftungen war es nämlich Sitte, dass ein tägliches Viertele zur Verpflegung gehörte. Die ältesten Fassböden sind an die 120 Jahre alt, konserviert wegen ihres historischen und künstlerischen Werts, die Fässer dahinter sind neu. Und wie würde sich der junge Kellermeister Nikolas Frauer entscheiden bei der Wahl zwischen Holz oder Stahltank? 40 Frauer Holz, immer Holz! Die Weine reifen langsamer und sind aromatisch komplexer, haben auch oft mehr Spannung, sind zwar ein bisschen cremiger tendenziell, aber verlieren nie die Frische in so großen Holzfässern. Es ist auch ne schöne Tradition und es lohnt sich, das auch aus qualitativen Gesichtspunkten aufrecht zu erhalten. Also, es ist nicht nur Idealismus. Autorin Kleiner Schönheitsfehler: Der Keller wurde direkt durch einen mittelalterlichen jüdischen Friedhof gegraben, der ja eigentlich auf ewig gekauft worden war. Nach jüdischer Tradition darf man dort nichts wegnehmen, nicht mal eine vom Baum gefallene Haselnuss. Alles, was hier liegt, gehört den Toten. MUSIK 4 Bente Kahan "Yidl mit'm fidl" 2:30 Atmo 10 Straße mit Glocken von fern Autorin Würzburg in Unterfranken. Domstraße, Schönbornstraße und Juliuspromenade bilden die Einkaufsmeile der alten Bischofsstadt. Eleganz sucht man vergeblich. Dönerbuden, Kettenläden mit Ramschtischen überwiegen. Schuld sei die Kirche, so der Regionalautor Huth, denn die besitzt viele innerstädtische Immobilien: 41 Huth(Atmo Bäck!) Nicht immer ist die Politik einverstanden mit dem, an wen die Kirche vermietet. Das sind oft so Billiggeschäfte, Eineuroshops und solche Geschichten, aber da ist die Kirche natürlich Vermieter und souverän und macht das so wie sie sich's denkt. Also da ist auch so ne gewisse Gewinnoptimierung mit verbunden, das ist ganz klar. Wir würden uns schon ab und zu wieder was anspruchsvolles (wünschen). Zum Beispiel der eine Ein-Euro-Laden in der Domstraße hat einen Buchladen abgelöst und so sehr viele Buchläden haben wir eigentlich nicht. Autor Schräg gegenüber vom Echter-Denkmal hat der jüdische Arzt Josef Schuster seine Praxis. Der angrenzende Stadtteil "Pleich" galt bis in die 80er-Jahre als Problemviertel. Inzwischen ist er saniert... 42 Schuster ... hier wurde dann abgerissen, und als man abgerissen hat, fand man eben dann ganz komische Steine. Und man hat dann ganz schnell gemerkt, das sind hebräische Schriftzeichen. Das hab ich miterlebt, da war ich 33 Jahre, und der Bauherr hat das getan, was alle Bauherren in dieser Situation tun würden, hat dem Baggerfahrer gesagt: Arbeite ein bisschen schneller, weil Drama Nummer eins einer jeden Baustelle ist ein historischer Fund. äh - war nicht schnell genug, ein Würzburger Theologe, wurde von Studenten darauf hingewiesen, und hat dann in engem Kontakt mit meinem Vater, der damals Vorsitzender der jüdischen Gemeinde war, die Einstellung des Baues erwirkt. Autorin Der Fund war eine Sensation, denn schnell war klar: Es handelte sich um 1500 Grabsteine von eben dem jüdischen Friedhof, auf dem Julius Echter sein Armenhospital hatte bauen lassen. Die Grabsteine hatte schon einer seiner Vorgänger weg schleppen lassen - als billiges Baumaterial für ein Kloster. 43 Schuster Nur ein Teil des Gebäudes wurde abgetragen und wir wissen, wenn einmal in 50, 60, 80 Jahren das ganze Gebäude eingerissen wird, dann müssen wir damit ausgehen, dass da noch einmal 1500 Grabsteine gefunden werden. Autorin Die Grabsteine befinden sich jetzt im jüdischen Museum, teils in der ständigen Ausstellung, teils sind sie im Keller gelagert... 44 Schuster ...sodass symbolisch dieses neue jüdische Gemeindezentrum auf den ältesten Funden ruht sozusagen. Autorin Er erzählt diese Geschichte ohne Vorwurf oder Bitterkeit. Seine Familie kann 450 Jahre Leben in Franken zurück verfolgen. Er selbst ist in Haifa geboren, und 1956 im Alter von zwei Jahren mit Eltern und Großvater nach Würzburg gekommen. 45 Schuster Nun, es gab und gibt Grundbesitz in Brückenau, den mein Großvater von Israel aus verwaltet hat, das heißt, wenn sie so etwas auf diese Entfernung verwalten, dann lebt der Verwalter gut, aber Sie weniger. Und das war der Grund meines damals schon über 80jährigen Großvaters zu sagen, dass er nach Deutschland zurück geht und mein Vater wiederum meinte, er kann seine betagten Eltern nicht allein zurück gehen lassen. Wobei, das darf man nicht vergessen: Er war integriert, das war für ihn Heimat. Autorin Zu dem Zeitpunkt gab es auch schon wieder Juden in Würzburg. 46 Schuster Eine Besonderheit der jüdischen Gemeinde Würzburg ist, dass sie noch im Jahr 1945 - Würzburg ist ja im März 45 zerstört worden - drei Monate später gründete sich in Würzburg wieder eine jüdische Gemeinde. Das ist übrigens ein Unterschied zu allen anderen jüdischen Gemeinden in Bayern: Die Gemeinde in Würzburg ist die einzige Gemeinde, die wieder gegründet wurde von Menschen, die auch ursprünglich aus Würzburg oder der Region stammten. Autorin So konnte hier an Traditionen angeknüpft werden, die andernorts verloren gegangen sind. Wie vorher wird es allerdings nie wieder sein. Die Zahl der Mitglieder ist durch meist russische Immigranten von 200 auf 1200 gestiegen. Und seit den 70er-Jahren ist auch die dritte große Weltreligion in Würzburg stark vertreten: Nach offizieller Schätzung leben hier 3500 Muslime. Christentum, Judentum, Islam eng beieinander - was bedeutet das für den Würzburger Juden Josef Schuster? 47 Schuster Es gibt hier Gespräche mit allen großen Religionen. Im persönlichen Umgang Mensch zu Mensch gibt es zumindest von meiner Seite überhaupt keine Probleme. Ich selber bin ja im wahren Leben Mediziner und hab Patienten aller Religionen und auch eine ganze Reihe muslimischer Patienten, zu denen ich, wie ich glaube, ein sehr gutes Verhältnis habe. Wenn es um rein religiöse Fragen geht, zum Beispiel einmal ein Ramadan Zelt, dass die muslimische Gemeinde errichtet hat, da war es für mich selbstverständlich, daran teilzunehmen, auch ein Grußwort zu sprechen, schwierig wird es, wenn politische Fragen mit in die Diskussion kommen, dann finden sich doch Gegensätze, die ein Gespräch dann häufig schwierig gestalten. Atmo 11 (Eisenbahnstrecke von fern/ wie unter O-Tönen) Autorin Am Rand der Innenstadt, wenige Stationen vom Zentrum entfernt, liegt das jüdische Gemeindezentrum "Shalom Europa". Ein Teil der Gebäude ist neu, mit einer Glasfront zur Straße hin angelegt. Sie soll Offenheit symbolisieren. Es ist der Gemeinde ernst mit dem "Neuanfang" auf alten Steinen. 48 Shif In der jüdischen Religion gibt es einen Begriff "tschuwa" Man kann das übersetzen mit Rückkehr, wenn ein Jude was Schlechtes macht, muss er immer diese tschuwa machen, tschuwa hat vier Stufen: erste Stufe: man muss seine schlechte Tat mit dem Kopf denken, zweite Stufe: mit dem Herzen erleben, dann muss man richtig materiellen Schaden wegmachen. Und gibt's vierte Stufe: "nie wieder". Und das ist genau, was ist passiert jetzt. Eigentlich nach dem Krieg Deutschland hat drei Stufen sicher gemacht, und jetzt bleibt noch die vierte Stufe. Autorin Wenn man nämlich eine neue böse Tat in der Art der vorherigen tut, dann war die ganze Buße umsonst. 49 Shif Anfang 90er-Jahre war hier 35.000, man spricht, dass ist geblieben von diesen alten Leuten, meist aus Polen, Ungarn und so weiter 1500, das ist so kleine Menge, das merkt man überhaupt nicht. Und auf einmal kommen 120.000. Und in diesem Sinne, das passt genau für vierte Stufe: Um Liebe zu zeigen für diese Neuzuwanderer, das sind ziemlich unangenehme Leute mit vielen Problemen, das ist schwierig. Und das ist genau was in vierte Stufe liegt. Das ist ein Test für Deutschland, es könnte sein, ich weiß nicht (lacht) Autorin Alexander Shif ist einer der wenigen Juden, die offen mit der Kippa auf dem Kopf herumlaufen. Er sei in St. Petersburg aufgewachsen, in - wie er sagt - einer assimilierten Familie... 50 Shif Opa zum Beispiel, Mutter hat erzählt, er hat noch Gebete gekannt, er hat noch besondere Feiertage gefeiert. Aber er hat Schwein zu Hause gehalten, weil das war bequeme Art an Fleisch zu kommen. Meine Mutter kommt aus Ukraine, so Mutter hat eigentlich nie Judentum gekannt. Was ist geblieben, das war jüdische Musik und Essen, jüdische Essen, alles andere war weg. Autorin Kurz vor der Auswanderung unter dem Vorzeichen "Jude" wollte er dann wissen: Was bedeutet das eigentlich? 51 Shif Zum Ende meiner Studien bin ich zu so halb geheime Treffen mit Juden gekommen, das war in privaten Wohnungen so, aber ich erinnere ganz gut, das war eine private Konzert, eine Frau mit wunderbare jüdische Stimme, die hat jüdische Lieder gesungen, diese Abend bin ich rausgekommen , habe ich verstanden, das ist meine; habe ich zum ersten Mal richtige jüdische Musik gehört, das war besonderes Abend! Autorin 1998 emigrierte er nach Deutschland, aus ökonomischen Gründen, aber auch um hier ein "richtiges" jüdisches Leben zu führen, auf das er sich sogar an einer Thora-Schule in Jerusalem vorbereiten ließ. Assimiliert werden möchte er nicht noch einmal. Er hält sich an die jüdischen Gesetze. Im Alltag ist das manchmal nicht so einfach... Zum Beispiel, wenn man von einer Reporterin zum Essen eingeladen wird... Atmo 12 Restaurant Kranen Autorin Wir sitzen im Biergarten "Alter Kranen" mit Blick auf den Main und die Festung am anderen Ufer. Unten tuckern Schleppkähne und Ausflugsdampfer vorbei. Menschen in Sommerkleidung promenieren. Am Kai sitzen Liebespaare und lassen die Beine baumeln. Jetzt der Test: Die Speisekarte. 53 Shif Viele Gebäckstücke hat Milchpulver drin und da müssen wir sehr sehr vorsichtig sein. Dann kommt viele kleine Probleme, zum Beispiel in diesem schönen Restaurant bin nicht sicher, ob man hat nicht gekocht in gleiche Topf zuerst Fleisch und dann Milch ... Also hier zum Beispiel: Großer bunter Salatteller ... .? Essig, Öl... hm, grundsätzlich ja, nur eine Problem diese Soße "Eine Weinschorle!" Aber hier sind zum Beispiel gebratene Pfifferlinge dran? "Und ein Spezi." Danke...Ja ... das ist mit Pfanne, ich weiß nicht, welche Fett man hat benutzt, tierische Fett? Was ginge denn? Cäsar Salat oder etwas was ich früher gehört hab.... Autorin Salat also, ohne Schinken natürlich, aber schließlich ist bestellt und kann mit Appetit gegessen werden. Nicht zu lange, denn es ist Freitag Nachmittag; ab 19 Uhr darf ein strenggläubiger Jude nicht mehr Auto fahren. Und Alexander Shif muss noch zurück ins Gemeindezentrum ... MUSIK 5 Yildiz Tilbe "Bu Evde Senle" (gekürzt auf ca 1'30) (auf Ende Musik:) Autorin Weiße Mauern gleißen in der Sonne, eine blaue Zwiebelkuppel und ein 15 Meter hohes Minarett heben sich fremdartig vor den Ziegeldächern des Ortsteils Heuchelhof ab. Eine von fünf Moscheen in der Bischofsstadt. Streit hat es um keine gegeben. Ein bisschen verloren wirkt die Baitul-Aleem Moschee weit außen vor der Stadt, im Gewerbegebiet zwischen Autowaschanlage und Möbel- Discounter. Klein. Das Minarett ist nur Zierde. Kein Muezzin konkurriert mit der Kirchenglocke im nahen Dorf. Die Anwohner ... 54 Anwohner Also ich krieg wenig mit. Da sind jetzt auch nicht viele Autos oder so, es ist halt das Gebetshaus. Ich hab kein Problem damit. 55 Anwohner Also, ich hab nichts dagegen. Autorin Die muslimischen Gemeinden tun viel, um bei ihren deutschen Nachbarn Integrationsbereitschaft zu zeigen. Jugendliche der Ahmaddiya-Gemeinde fegen am Neujahrstag die Straßen und haben Bäume gepflanzt. Kopftücher und Moscheen sind in Würzburg kein Aufreger mehr. Das war nicht immer so. Atmo 13 Kaffeehaus 56 Kuzucu In den ersten Tagen nach dem 11. September sind sehr viele muslimische Frauen, sichtbar muslimische Frauen besonders, die haben den Gang nach draußen vermieden. Sehr viele haben erzählt, sie wurden bespuckt, sie wurden beschimpft, was macht ihr denn da, ihr Terroristen und am Morgen habe ich wieder so einen Drohbrief bekommen: Wir werden dich heute da und dort, genauso wie ihr die Christen umgebracht habt. Wage es nicht über deinen Islam zu sprechen, wir werden es dir schon zeigen! Autorin Sema Kuzucu ist wohl die bekannteste Muslima von Würzburg. Ihr Vater hat sie und ihre Mutter nach Deutschland geholt, da war sie fünf Jahre alt. Seit ihrem 14. Lebensjahr trägt sie ein Kopftuch, weil sie es möchte. 57 Kuzucu Ja, es kam halt so, wenn man die gängigen Medien beobachtet, man ärgert sich dadrüber. Die Medienberichte stellen ein Bild dar von den Muslimen, mit dem man sich als Muslim, Muslima gar nicht identifizieren kann. Und ich hab mich dann dafür entschieden, dass ich gesagt hab: okay in diesem Land bin ich aufgewachsen, in diesem Land lebt meine ganze Verwandtschaft, meine Kinder sind hier verwurzelt, dann muss ich ja wohl auch was tun. Autorin Sie ging an die Öffentlichkeit, hielt an der Volkshochschule Vorträge über den Islam und die Stellung der Frau. In den ersten Jahren bekam sie Drohbriefe und musste teilweise unter Polizeischutz zu den Abenden fahren. Der Höhepunkt kam mit dem 11. September. 58 Kuzucu Ich kannte Herrn Wetter, er war Religionslehrer, ich hatte einige Male seine Klasse geführt durch Moschee, dadurch kannten wir uns; er rief an, wo viele ja nicht die Nähe zu Muslimen, ja, sehr viele ja Abstand gehalten hatten, und er rief an und sagte, das was passiert ist, ist zu verurteilen, aber das was jetzt gegenüber den Muslimen passiert sieht er nicht ein, er möchte zur Moschee kommen, ich kann Medien dazu einladen, und er möchte ganz öffentlich seine Solidarität zu den Muslimen zeigen, wenn es uns hilft. Da kamen die Tränen, ich hätte ihn umarmen können und das habe ich ja gebraucht! Autorin Danach gründete Sema Kuzucu zusammen mit muslimischen und christlichen Freunden einen Verein für christlich-islamische Begegnung. Sie organisieren Informationsabende und stellten zum Beispiel am Vierröhrenbrunnen ein Ramadan-Zelt auf, um gemeinsam mit der christlichen Bevölkerung das Fasten zu brechen. 59 Kuzucu Ich habe immer wieder gedacht: kommen die vielleicht auch mal drauf, uns mal einzuladen? Und prompt kommt die Nachricht: Oberbürgermeister Rosenthal lädt die Muslime ins Rathaus ein zum Fastenbrechen! Und das war schon ganz nah an unserem Ziel, die Anerkennung den Muslimen auch mal zu gebühren, dass sie doch nicht immer noch fremd sind! Also das war schon ein sehr hohes Zeichen. Autorin Seitdem ist vieles besser geworden. 2008 bekam Sema Kuzucu die Bayerische Verdienstmedaille für ihren Einsatz in der Integrationsarbeit. Atmo 16 außen, am Main mit Wellenplätschern 62 Kuzucu Ich mag den Main sehr, am Main entlang, ich muss sagen, das sind die Orte die vielleicht der Türkei ähnlich sind (lacht), das zieht mich dann natürlich. Oder wenn ich jetzt im Frühling über die Weinberge so laufe und da kommt mir dieser Duft von Wildbäumen, Blumen, Gräsern, wie auch immer, ich atme tief ein und sage, Mensch das ist genauso wie in der Türkei. G 4 Glocken Weiter Mainatmo Regie: bitte ein bisschen Gläser klingen dazu mischen Autorin Samstag: Die "Bäck" stirbt aus, dafür entwickelt sich gerade eine neue Tradition: An schönen Sommerabenden versammeln sich die Leute auf der alten Mainbrücke zum "Brückenschoppen". Unten gurgelt der Main durch die massiv-steinernen Pfeiler. Die letzten Sonnenstrahlen tauchen die Marien-Festung in rötliches Licht. Man prostet den Heiligen zu. Wenn man kann: ... Aus Sorge vor alkoholisierten Vandalen hat die Stadtverwaltung den Ausschank auf 18 Gläser pro Weinstube beschränkt. Wer zu spät kommt, muss warten bis ein Anderer mit dem schöppeln fertig ist. 66 Shif Shabat Shalom! Kuzucu Selam Aleikum! Ja, das wüsche ich allen Hörern, den Frieden. Pater Ein gesegnetes Wochenende! Übergang in die Schlussmusik Spr.v.D. "Stadt der drei Weltreligionen. Würzburg in Unterfranken." Sie hörten eine Deutschlandrundfahrt mit Sabine Korsukéwitz Ton: Regie: Redaktion: Margarete Wohlan Eine Produktion von Deutschlandradio Kultur 2011 Schlussmusik zum Ausblenden 11 1 Deutschlandrundfahrt Würzburg/Korsukéwitz