COPYRIGHT Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von Deutschlandradio Kultur benutzt werden. Manuskript Literatur Deutschlandradio Kultur Titel: "Steht ein bucklicht' Männlein da"- von Oskar, Zwerg Nase, dem Däumling und anderen kleinen Gestalten. Der Zwerg in der Literatur. Autorin: Barbara Spengler-Axiopoulos Redaktion: Sigried Wesener Stimmen: Sprecherin Sprecher Zitatorin Zitator Musik - 1 - Zitator: (mit Musik hineingehen, CD Nr. 1, CD 2, Stück 10, 00:00 - 00:40 darüber sprechen Will ich in mein Gärtlein gehn, will mein Zwiebeln gießen, steht ein bucklicht Männlein da, fängt als an zu niesen. Will ich in mein Küchel gehn, will mein Süpplein kochen, steht ein bucklicht Männlein da, hat mein Topf zerbrochen. Will ich in mein Stüblein gehn, will mein Müslein essen, steht ein bucklicht Männlein da, hats schon halber gessen. Will ich in mein Keller gehn, will mein Weinlein zapfen, steht ein bucklicht Männlein da, tut mir n Krug wegschnappen. Will ich auf mein Boden gehen, will mein Hölzlein holen, steht ein bucklicht Männlein da, hat mirs halber gstohlen. Setz mich an mein Rädlein hin, will mein Fädlein drehen, steht ein bucklicht Männlein da, lässt mirs Rad nicht gehen. (1) (am Schluss wieder Musik hochziehen) 2 Sprecherin: Kleine Gestalten huschen durch ehrwürdige Märchenbücher. Sie raunen Beschwörungsformeln wie: "Ach, wie gut, dass niemand weiß, dass ich Rumpelstilzchen heiß'." Und schon sind sie wieder verschwunden. War da ein Rascheln? Ein Flüstern? In der Sammlung "des Knaben Wunderhorn" von Clemens Brentano und Achim von Arnim taucht plötzlich ein ungebetener Gast auf: Niemand weiß, woher er kommt. Das "bucklicht' Männlein kommt immer im unpassenden Moment. Der "Zwerg Nase" steht in Verbindung mit den geheimen Kräften der Natur. Bedrohlich wirken der rächende Zwerg Alberich aus dem Nibelungenlied oder der wüste König und Herr des Rosengartens Laurin aus dem Tiroler Heldenepos. "Freundliche" Zwerge dürfen schon eher mit Sympathie und Mitgefühl rechen, vor allem, wenn sie unverschuldet unter ihrer Missgestalt leiden. In "der Däumling" aus den Volksmärchen der Brüder Grimm wünscht sich ein alterndes Ehepaar ein Kind und die Frau seufzt: Zitatorin: " Ja, .... wenn's nur ein einziges wäre, und wenn's auch ganz klein wäre, nur daumengroß, so wollt ich schon zufrieden sein; wir hätten's doch von Herzen lieb." (2) Sprecher: Nach sieben Monaten kommt ein Sohn zur Welt. Diese Frühgeburt ist zwar an allen Gliedern vollkommen, jedoch nicht länger als ein Daumen. Zur Freude der Eltern ist das Kind blitzgescheit, aber winzigklein. Der Vater lässt sich, wie so oft im Märchen, auf einen Tauschhandel ein: er verkauft das originelle Kind an zwei Männer, die beobachteten, wie es das Pferd des Vaters 3 lenkte, während es in dessen Ohr saß und ihm Befehle einflüsterte. Nach vielen Abenteuern darf der Däumling zu seinen Eltern zurückkehren und ihnen treuherzig versichern: Zitator: "Ach Vater, ich war in einem Mauseloch, in einer Kuh Bauch und in eines Wolfes Wanst. Nun bleib ich bei euch." (3) Sprecherin: Das alttestamentarische Motiv des verlorenen Sohnes findet sich in Abwandlung auch beim "Zwerg Nase," der ohne eigene Schuld verzaubert wird. Der Grund für die Metamorphose des Sohnes ist nach Meinung der Eltern dessen Schönheit. Jakob, ein ausnehmend gut aussehender Junge, der seiner Mutter jeden Tag beim Gemüseverkauf auf dem Markt zur Hand geht, wird einmal von einem alten Weib gebeten, sie nach Hause zu begleiten und ihre Kohlköpfe zu tragen. Dort flößt sie ihm eine wohlschmeckende Suppe ein, deren Ingredienzien die Ursache dafür sind, dass der Knabe in ein Monstrum verwandelt wird: Zitatorin: "Seine Augen waren klein geworden wie die der Schweine, seine Nase war ungeheuer und hing über Mund und Kinn hinunter, der Hals schien gänzlich weggenommen worden zu sein, denn sein Kopf stak tief in den Schultern, und nur mit den größten Schmerzen konnte er ihn nach rechts und links bewegen. Sein 4 Körper war so klein wie vor sieben Jahren, aber wenn andere vom zwölften bis ins zwanzigste Jahr in die Höhe wachsen, so hatte er sich nur der Breite nach ausgedehnt. Rücken und Brust waren weit ausgebogen und anzusehen wie ein kleiner, prall gefüllter Sack. Der dicke Oberleib saß auf kleinen, schwachen Beinchen, die dieser Last nicht gewachsen schienen, aber umso länger waren die Arme, die ihm am Leib herabhingen... So sah er aus, der kleine Jakob, zum missgestalteten Zwerg war er geworden." (4) Sprecher: Der verunstaltete Sohn, dessen Erscheinungsbild unschwer phallische Assoziationen weckt, wird ab jetzt das Opfer eines gnadenlosen Voyeurismus seiner Umwelt. Wohin er sich begibt, überall wird er verhöhnt und verspottet. Auch die Eltern, die er nacheinander aufsucht, vermögen in ihm nicht den Vermissten wiederzuerkennen. Der Vater klagt stattdessen in bigotter Schicksalsergebenheit, er habe immer gewusst, dass es mit dem schönen Jungen ein schlimmes Ende nehmen werde. Wie manche anderen Zwerge ist Jakob ab jetzt mit dem Wissen um die geheime Kraft der Kräuter vertraut. Er arbeitet als Hofkoch bei einem Landesfürsten, als er beim Geflügelkauf auf dem Markt einer sprechenden Gans begegnet. Sie weist Jakob darauf hin, dass gegen sein Leid ein Kraut mit Namen Niesmitlust gewachsen sei. Nach langer Suche finden der Zwerg und die Gans endlich das erlösungsspendende Gewächs: Zitator: "Der Zwerg sprach: , Wenn es Gott gefällig ist, werde ich diese Bürde loswerden,' steckte seine Nase tief in die Kräuter und sog ihren Duft ein. Da zog und knackte es in allen seinen Gliedern, und er fühlte, wie sich sein Kopf aus den Schultern 5 hob, er schielte hinab auf die Nase und sah sie kleiner und kleiner werden, sein Rücken und seine Brust fingen an, sich zu ebnen, und seine Beine wurden länger." (5) Sprecherin: Wer durch sein Wohlverhalten besticht, dem kann im Märchen geholfen werden. In "das kalte Herz" von Wilhelm Hauff gibt es einen hilfreichen Zwerg, das Glasmännlein, der nur moralisch integren Menschen die Erfüllung der berühmten drei Wünsche gewährt. Im Wortwort zur Sammlung ihrer Volks- und Hausmärchen äußerten Jakob und Wilhelm Grimm den Wunsch, ihr Buch möge auch als eine Anleitung zur Erziehung verstanden werden. Die Vorlage eines Märchens wurde deshalb aus pädagogischen Gründen häufig der von ihnen erstrebten biedermeierlichen Idylle des häuslichen Zusammenlebens angenähert. Die sozial verträglichsten Zwerge sind bei den Brüdern Grimm die Lebensretter des bedrohten Schneewittchen; erfüllt das Mädchen seine Pflichten als Hausfrau, darf sie bleiben. Die sieben Zwerge schürfen derweil unter Tage nach Erz und Gold. Kommen sie von der Arbeit heim, muss das Essen auf dem Tisch stehen: Musikeinspielung: CD 1, Bar jeder Vernunft, CD 1, Nr. 9, Geschwister Pfister "Schneewittli und die sieben Zwerge", 0:00 - 2:56 (kann auch schon bei 2.12 ausgeblendet werden) Sprecher: 6 Komplizierter verhält es sich bei jenen kleinen Gestalten, deren Leid nicht ohne weiteres auflösbar ist, und die kompliziertere Charaktere darstellen. In Richard Wagners Oper "Das Rheingold" wird der Zwerg Alberich als ein tollpatschiger Gnom eingeführt, der sich sehr zur Erheiterung der Rheintöchter an den glitschigen Felsen des Rheins entlangquält. Die gleißenden, glatten Körper der schönen Wasserfrauen wecken in ihm Sehnsucht und Verlangen. Alberich seinerseits aber bedenkt durchaus nicht, wie Bernard Shaw in seinem Wagner-Brevier anmerkt, "dass er seinerseits nichts zu bieten hat." (6) Der Nibelungenschatz im Rhein, das Gold, das die Rheintöchter bewachen, wird sich nur dem preisgeben, der zuvor der Liebe abgeschworen hat. Und Liebesverlangen ist es ja, was Alberich zu ihnen geführt hat. Seine erotische Leidenschaft aber haben die Sirenen durch Spott und Verachtung vergiftet. Alberich verzichtet deshalb auf "der Minne Macht,... der Liebe Lust," und im gleichen Augenblick ist das Gold in seiner Gewalt. Dieser frühkapitalistische Tauschhandel hat den Zwerg zwar vorübergehend zum Besitzer einer Goldmine gemacht. Den Schicksalsfluch, der ab jetzt auf ihm lastet, teilt er jedoch mit anderen kleinen Gestalten: einsam und ungeliebt zu sein. Sprecherin: Der Philosoph, Literaturkritiker und Schriftsteller Walter Benjamin war stets ein Lehrer des unverengten Blicks, der es vorzog, sich in den Unterkellerungen der Wirklichkeit einzurichten. Bisweilen waren Märchen, Magie und Tagträume für ihn eine willkommene Gelegenheit, den Mantel der Logik abzustreifen. Er notierte, das Märchen habe vor Zeiten die Menschheit gelehrt, "den Gewalten der mystischen Welt mit List und Übermut zu begegnen."(7) 7 Die Traumbilder seiner Jugendjahre hat Benjamin in den wunderbaren Miniaturen der "Berliner Kindheit um neunzehnhundert" festgehalten: Zitatorin: "Der Takt der Stadtbahn und des Teppichklopfens wiegte mich in Schlaf. Es war die Mulde, in der sich meine Träume bildeten," (8)..... "Das Leben schien nur lebenswert, wo die Schwelle, die zwischen Wachen und Schlaf ist, in jedem ausgetreten war, wie von Tritten massenhaft hin- und herflutender Bilder, die Sprache nur sie selbst, wo Laut und Bild und Bild und Laut mit automatischer Exaktheit derart glücklich ineinander griffen, dass für den Groschen ,Sinn' kein Spalt mehr übrigblieb. Bild und Sprache haben den Vortritt. Saint Paul Roux befestigt, wenn er gegen Morgen sich zum Schlafe niederlegt, an seiner Tür ein Schild: Le poète travaille. Breton notiert: ,Still. Ich will, wo keiner noch hindurchgegangen ist, hindurchgehen, still! - Nach Ihnen, liebste Sprache.'"(9). Sprecher: Die Wahrnehmung im Zustand zwischen Traum und Erwachen spielt in Benjamins Werk eine bedeutende Rolle. Die Texte der "Berliner Kindheit" aus dem Jahr 1938 wurden erst rund fünfzig Jahre später in der Pariser Nationalbibliothek geborgen. Bei seiner Flucht aus der Stadt vor den Nationalsozialisten hatte er sie Georges Bataille anvertraut. Die Bilder der "Berliner Kindheit" sind, wie Adorno es ausgedrückt hat, "nicht idyllisch und nicht kontemplativ. Über ihnen liegt der Schatten des Hitlerschen Reiches." (10) Sie enden mit einer Betrachtung über "das bucklichte Männlein": Zitator: 8 "Ich wusste darum gut, woran ich war, als ich im "Deutschen Kinderbuch" den Versen begegnete: "Will ich in mein Keller gehen, /Will mein Weinlein zapfen, / steht ein bucklicht Männlein da, / Thut mir'n Krug wegschnappen." Ich kannte diese Sippe, die auf Schaden und Schabernack versessen war...'Lumpengesindel' war es. Die Nachtgesellen, die sich auf dem Nussberge an das Hähnchen und das Hühnchen heranmachten - die Nähnadel und die Stecknadel, die da rufen, es würde gleich stichdunkel werden - waren vom gleichen Schlag. Sie wussten wahrscheinlich mehr von dem Buckligen. Mir selbst kam er nicht näher. Erst heute weiß ich, wie er geheißen hat. Meine Mutter verriet mir das. "Ungeschickt lässt grüßen," sagte sie, wenn ich etwas zerbrochen hatte oder gefallen war. Und nun verstehe ich, wovon sie sprach. Sie sprach vom bucklichten Männlein, welches mich angesehen hatte. Wen dieses Männlein ansieht, gibt nicht acht. Nicht auf sich selbst und auf das Männlein auch nicht." (11) Sprecherin: Vor über zehn Jahren widmete das Berliner Werkbund-Archiv Walter Benjamin eine Ausstellung, in der man versuchte, seine magischen Bildwelten zu visualisieren. Eckart Siepmann, einer der Initiatoren, betont, dass die Figur des "bucklicht' Männlein" schwierig zu deuten sei: "Es taucht überall da auf, wo im Leben etwas schief geht. In Benjamins Leben ist, pragmatisch gesehen, so gut wie alles schief gegangen, und so war dieses Männlein sein beständiger Begleiter."(12) Diese Art von Zeugenschaft hat Benjamin selbst mit einem Daumenkino verglichen: Zitatorin: 9 "Ich denke mir, dass jenes ,ganze Leben', von dem man sich erzählt, dass es vorm Blick der Sterbenden vorbeizieht, aus solchen Bildern sich zusammensetzt, wie sie das Männlein von uns allen hat. Sie flitzen rasch vorbei wie jene Blätter der straff gebundenen Büchlein, die einmal Vorläufer unserer Kinematographen waren... das Männlein hat diese Bilder auch von mir." (13) Sprecher: Um das Bild, das ein Männlein von sich selbst hat, geht es in dem Kunstmärchen "Der Geburtstag der Infantin" von Oscar Wilde. Der zwölfte Geburtstag der bezaubernden spanischen Infantin ist der Anlass für eine ausschweifende Feier und exquisite Vergnügungen. Allerlei Höhepunkte mit besonderen Einlagen werden geboten, aber die Kunststücke der dressierten Tiere sind nichts gegen den Tanz des kleinen Zwerges, der "wirklich ganz unwiderstehlich" war. Er übersteigt höchste Erwartungen, denn noch nie "hatte man ein so phantastisches kleines Ungeheuer gesehen." Er ist eine Art Kaspar-Hauser- Existenz, denn er ist erst ein paar Tage zuvor im Wald entdeckt worden. "Vielleicht das lustigste an ihm war", so das Märchen, " seine vollkommene Unkenntnis der eigenen grotesken Erscheinung."(14) Sprecherin: Nach der Siesta soll der Zwerg noch einmal für die Infantin tanzen. Er irrt während der Mittagszeit in flirrender Hitze durch den Palast, denn er will ihr sagen, dass er sie liebt. Eine weiße Rose, die er im Park abgebrochen hat, soll ihr diese Botschaft überbringen. Die Liebe weckt auch seine narzisstischen Triebe, und er schaut sich in den verspiegelten Sälen neugierig um. Er erblickt eine kleine Gestalt, die ihn 10 ansieht: "Oh, es war ein Scheusal, das groteskeste Scheusal, das er je gesehen hatte."(15) Der Zwerg, der bisher in seliger Unwissenheit über seinen Zustand leben durfte, macht vor dem Spiegel alle möglichen Bewegungen und Verrenkungen: Zitator: "Als ihm die Wahrheit aufdämmerte, stieß er einen lauten Schrei der Verzweiflung aus und fiel schluchzend zu Boden. Er also war ungestalt und bucklig, scheußlich anzusehen und grotesk. Er selbst war das Scheusal, und über ihn hatten die Kinder gelacht und die kleine Prinzessin, die, wie er geglaubt hatte, ihn liebte - auch sie hatte nur über seine Hässlichkeit gespottet und sich über seine krummen Glieder lustig gemacht. Warum hatte man ihn nicht im Wald gelassen, wo es keinen Spiegel gab, um ihm zu sagen, wie ekelhaft er war? .... Die heißen Tränen liefen ihm die Backen herunter, und er riss die weiße Rose in Stücke. Das kriechende Scheusal tat das gleiche und warf die blassen Blätter in die Luft. Es kroch am Boden, und wenn er es ansah, beobachtete es ihn mit schmerzverzerrtem Gesicht. Er wandte sich ab, um es nicht zu sehen, und bedeckte seine Augen mit den Händen. Er kroch wie ein verwundetes Tier in den Schatten und blieb dort stöhnend liegen." (16) Sprecher: Als der Komponist Alexander von Zemlinsky am 11. Februar 1900 die Uraufführung seiner Kantate "Frühlingsbegräbnis" in Wien dirigierte, saß im Publikum die junge Alma Schindler. Nach dem Konzertbesuch notierte sie folgende Zeilen in ihr Tagebuch: Zitatorin: 11 "Dieser Mensch ist das komischste, was es gibt, eine Karikatur - kinnlos, klein, mit herausquellenden Augen." (17) Sprecherin: Alexander von Zemlinsky gehörte damals ohne Zweifel zu den begehrenswertesten Künstlerpersönlichkeiten Wiens, Alban Berg und Anton Webern waren seine Schüler. Mit Arnold Schönberg verband ihn eine lebenslange Freundschaft. Es gelang Alma, Zemlinsky als ihren Kompositionslehrer zu gewinnen. Aus dieser Beziehung wurde allmählich eine leidenschaftliche Liebe. Doch Anfang Dezember 1901 lernte sie Gustav Mahler kennen, und bereits am 27. Dezember gab das Paar seine Verlobung bekannt. Alexander von Zemlinsky erlitt damit die größte Enttäuschung seines Lebens: Alma hätte ihm Muse werden sollen, jetzt wurde sie seine Obsession. Sprecher: Nachdem er mehrere Werke nicht vollendet hatte, lernte Zemlinsky 1918 den Schriftsteller Georg Klaren kennen und in gemeinsamer Arbeit entstand das Textbuch zu der Oper "Der Zwerg" nach dem Märchen von Oscar Wilde. Mit leichten Veränderungen stimmte Klaren den Text auf Zemlinskys Person ab. Besonders prägnant arbeitete Klaren die Figur der Infantin heraus, die, wie er hervorhob, "mit allen grausamen Launen der Pubertät ausgestattet ist":(18) Zitator: "Ein Mensch ist unter Menschen gestellt, ohne zu wissen, dass er anders geartet ist als sie, und er zerschellt am Weibe, das nicht nur zur Kenntnis seines tiefsten Wesens gelangen will, 12 sondern mit ihm spielt. Seine Hässlichkeit soll ganz allgemein für jedes Gefühl von Unterlegenheit sinnbildlich genommen werden, das jeden Erotiker vor dem vergötterten Idole befällt, sein Sich-nicht-Kennen; ebenso die Tatsache, das erst das Weib, das uns liebt, uns kennen lehrt."(19) Sprecherin: Die Oper "der Zwerg" von Alexander von Zemlinsky gehört zu den vernachlässigten Werken der Musikgeschichte. Zum Teil liegt dies an seinem persönlichen Schicksal, da er emigrieren musste und 1942 verarmt und vergessen im amerikanischen Exil starb. Ein anderer Grund dafür mag die am vorletzten fin de siècle klebende philosophische Grundstimmung sein, mit der die Oper getränkt ist, und die auch in Georg Klarens Deutung nachhallt. Unbestreitbar aber ist die meisterliche Umsetzung des Märchens von Wilde und die Herausarbeitung der Tragödie des Zwergs, der am gebrochenen Herzen stirbt, als er erkennen muß, dass die von ihm so sehr Geliebte bisher achtlos mit ihm gespielt hat. Auch die in adligen und später bürgerlichen Kreisen so beliebte Schaulust am Monster wird thematisiert. Die folgende Szene aus der " Der Zwerg" korrespondiert mit der traumatischen Selbsterkenntnis aus dem Märchen: Der Zwerg entdeckt, dass er sich selbst im Spiegel sieht: Zitatorin: Weinst du? Liegst du am Boden? (wie mit schmerzlichem Trotz) Ich habe nicht geweint. Ich glaube dir nicht. Es ist nicht denkbar, dass es so Hässliches auf einer schönen Erde gibt! .... Nein! Nein! (leidenschaftlich) Sie hat mir eine weiße Rose geschenkt, sie hat mit mir getanzt, sie hat mir ihre Liebe gestanden, sie hat mir eine Rose geschenkt. (Er drückt schluchzend die Rose an die Lippen) ... Wo ist ihre weiße Rose! (und sieht in den Spiegel schmerzlich) Du hast sie, du! 13 (verzweifelt) Ich entreiße sie dir! (schreit) Es kann nicht sein! Schreist du auf, weh, wie mein Herz? Er ist! (in furchtbarer Erregung) Ich kann dich ja sehen, du bist der Spiegel. So bin ich der Spuk, der Hohn auf den Gott, das höckrige Grauen, ja, ich...Ich! (20) Musikeinspielung: CD Nr. 2, Alexander von Zemlinsky, Der Zwerg, CD 2, 11, 0:00-2:40 (endet abrupt bei 2:40!) Sprecher: Aus zwei Werken des 20. Jahrhunderts ragt, bedrohlich und faszinierend, ein Zwerg, ein Gnom, ein bucklicht Männlein empor. In der Erzählung "Dvärgen", zu deutsch "Der Zwerg" des Schweden Pär Lagerkvist aus dem Jahr 1944 legt ein Zwerg am Hofe eines italienischen Renaissancefürsten im 16. Jahrhundert Zeugnis ab vom Leben, wie er es sieht. Es ist der rasende Monolog eines Missgestalteten. In dem Roman "Die Blechtrommel", den Günter Grass 1959 veröffentlichte, entwirft der Winzling Oskar Mazerath die Geschichte seiner kaschubischen Vorfahren, in die er seine eigene Biografie hineinbettet. Von Anfang an präsentiert sich der Zwerg bei Pär Lagerkvist in schonungsloser Offenheit. Er betont, dass er seinem Fürsten in absoluter Loyaliät verbunden sei, auch wenn er keinen Zweifel daran lässt, dass er mit den Menschen so gut wie nichts gemein hat. Alle, die am Hofe leben, verachtet er, und die menschliche Psyche ist ihm fremd. Ein immer wiederkehrendes Motiv lautet: "Die Gedanken der Menschen sind mir fremd, unzugänglich." Sich selbst beschreibt der Zwerg so: Zitator: 14 "Ich bin sechsundzwanzig Zoll lang, gut gewachsen, habe die richtigen Körperproportionen, möglicherweise ist der Kopf ein bisschen zu groß. Das Haar ist nicht schwarz wie bei den andern, sondern rötlich, sehr rauh und sehr dicht, von den Schläfen und der breiten, wenn auch nicht sonderlich hohen Stirn nach hinten gekämmt. Mein Gesicht ist bartlos, ansonsten jedoch genau gleich dem anderer Männer. Die Augenbrauen sind zusammengewachsen. Meine Körperkräfte sind ansehnlich, vor allem, wenn ich gereizt werde. Als der Ringkampf zwischen mir und Josaphat stattfand, zwang ich ihn nach zwanzig Minuten auf den Rücken und erwürgte ihn. Seitdem bin ich allein Zwerg hier am Hof..... Die meisten Zwerge sind Narren. Sie sollen Witze erzählen und Possen reißen, die Herrschaft und die Gäste zum Lachen bringen. Ich habe mich noch nie zu so etwas erniedrigt. Mein Gesicht passt nicht zu lächerlichen Faxen. Und ich lache nie. Ich bin kein Narr. Ich bin Zwerg und nichts anderes als Zwerg."(21) Sprecherin: In unerbittlicher Strenge registriert der Zwerg die Schwächen seiner Umwelt. Weil er außerhalb der Gemeinschaft steht, kennt er keine Nachsicht. Als der Fürst einen Maler, Meister Bernardo an den Hof holt, um die Fürstin Theodora zu porträtieren, reagiert er mit Unverständnis: Die Gespräche des Fürsten mit dem Künstler über Philosophie, Ästhetik und andere Fragen des Lebens sind ihn völlig fremd. Einzig Krieg und Machtausübung interessieren ihn. Für ihn stellt sich die Frage, auf welche Weise die Menschen "missgestaltet" sind. Im Laufe seines Monologs, den er die ganze Zeit in autistischer Starre aufrechterhält, enthüllt der Zwerg das lange Register seiner "Untaten": 15 Sprecher: Er hat die Katze der Fürstentochter Anjelica getötet, er vergiftet die Feinde seines Fürsten bei einem glanzvollen Bankett und dabei gleich aus Rachsucht den Liebhaber der Fürstin Theodora, Don Ricardo, der von allen geliebt wird. Später verrät er die Liebe Anjelicas zu dem jungen Giovanni, dem Sohn des feindlichen Fürsten. Der Zwerg tötet mit Schwert und Gift, Betrug, Verrat, Verschwörung, Klatsch und Intrigen. Zu seiner Fürstin Theodora unterhält er eine besondere Beziehung. Er, der ihr immer wieder ihr lasterhaftes Leben vorwirft, treibt sie mit seinen Intrigen in einen religiösen Wahn, womit sie für ihn verloren ist. Der Zwerg spürt, dass seine Fürstin der einzige Mensch ist, den er hätte lieben können. Die Liebe ist für ihn das größte Mysterium. Zitator: "Die Liebe der Menschen zueinander ist etwas, das ich nicht verstehe. Sie flößt mir nur Abscheu ein.... Vielleicht ist das so, weil ich eine andere Art Wesen bin, feiner, empfindlicher, sensibler, und daher gegen vieles reagiere, was sie nicht weiter aufzuregen scheint. Ich weiß nicht. Ich habe nie erprobt, was sie Liebe nennen, und auch keinerlei Lust dazu."(22) Sprecherin: An anderer Stelle sagt er, dass er seine furchtbare Macht über die Menschen ausübe, aber trotzdem keine rechte Freude daran habe. Denn der Zwerg hasst nicht nur die Menschen, er hasst auch sich selbst und sein eigenes Geschlecht. Dort, wo er im Auftrag des Fürsten mordet und intrigiert, wird klar, dass er das andere "Ich" des Fürsten komplettiert: Zitator: 16 "Ich habe bemerkt, dass ich bisweilen Schrecken errege. Aber wovor die Menschen Angst haben, das sind sie selber. Sie glauben, ich sei es, der sie erschreckt, doch es ist der Zwerg in ihnen, das menschenähnliche Wesen mit seinem Affengesicht, das ihnen Schrecken einjagt, das seinen Kopf aus der Tiefe ihrer Seelen emporreckt."(23) Sprecher: Der Zwerg liest im "Buch der Nacht", in dem er die Abgründe der Menschen aufspürt, vor denen es sie selbst schaudert. Als ein menschliches Wesen spricht der Zwerg gegen die Menschen. Er ist ein Teil des unergründlichen Rätsels der Psyche, eine Art freudianisches "Es." Am Ende der Erzählung sitzt der Zwerg wegen seiner kriminellen Energien im Kerker, doch er weiß, dass sein Herr ihn wieder rufen wird, wenn er ihn braucht... Sprecherin: Pär Lagerkvist hat seine beklemmende Studie in das Italien der Renaissance verlegt. Der Zwerg, der mit allen Mitteln die Macht seines Fürsten aufrecht erhält, ist leicht als Inkarnation der Ideale Niccolò Machiavellis identifizierbar, ebenso wie der Maler Meister Bernardo, ein Künstler mit titanischer Kraft, als Leonardo da Vinci. Doch auch andere Deutungen sind denkbar. Der bekennende Antifaschist Pär Lagerkvist veröffentlichte diese Erzählung im Jahr 1944, und so liegt die Vermutung nahe, dass dies ein Versuch über die Genese des Nationalsozialismus ist. Der Zwerg ist klein, weil er hasst aus Mangel an Liebe. Der schonungslose Blick des Schriftstellers in die Seele des Menschen offenbart die 17 Dialektik von Liebe und Hass. Lagerkvist, ein hervorragender Kenner der modernen Kunst, hat den Zwerg - einer kubistischen Skulptur gleich - in den Raum gestellt: schroff, abweisend und unversöhnlich. Musikeinspielung: CD Nr.1, Bar jeder Vernunft, CD 2, Stück 10, 0:00 - 0.40 Sprecher: Der Ich-Erzähler aus Günter Grass' grandioser "Blechtrommel", Oskar Mazerath, schildert seine Geburt in Danzig im Jahr 1924 und beschließt seinen Bericht in seinem dreißigsten Lebensjahr, 1954, in einer Düsseldorfer Heil- und Pflegeanstalt. Im Unterschied zu Lagerkvists "Dvärgen" ist er eine kleine Gestalt, die für ihren zwergenhaften Wuchs selbst verantwortlich ist. Denn im Alter von drei Jahren beschließt der wortgewaltige Oskar, sein Wachstum einzustellen, weil er, so sein vorgeschobener Grund, später nicht im Kolonialwarenladen seines Vaters arbeiten mag: Zitatorin: "Kleine und große Leut', kleiner und großer Belt, kleines und großes ABC, Hänschenklein und Karl der Große, David und Goliath, Mann im Ohr und Gardemaß; ich blieb der Dreijährige, der Gnom, der Däumling, der nicht aufzustockende Dreikäsehoch blieb ich, .... um nicht als einszweiundsiebzig grosser, sogenannter Erwachsener einem Mann, der sich selbst vor dem Spiegel beim Rasieren mein Vater nannte, ausgeliefert und einem Geschäft verpflichtet zu sein, das, nach Mazeraths Wunsch, als Kolonialwarengeschäft einem einundzwanzigjährigen Oskar die Welt der Erwachsenen bedeuten sollte. Um nicht mit einer Kasse klappern zu müssen, hielt ich mich an die Trommel 18 und wuchs mit meinem dritten Geburtstag keinen Fingerbreit mehr, blieb der Dreijährige, aber auch Dreimalkluge, den die Erwachsenen alle überragten, der den Erwachsenen so überlegen sein sollte, der seinen Schatten nicht mit ihren Schatten messen wollte, der innerlich und äußerlich vollkommen fertig war, während jene noch bis ins ins Greisenalter von Entwicklung faseln mussten, der sich bestätigen ließ, was jene mühsam genug und oftmals unter Schmerzen in Erfahrung brachten, der es nicht nötig hatte, von Jahr zu Jahr größere Schuhe und Hosen zu tragen, nur um beweisen zu können, dass etwas im Wachsen sei."(24) Sprecherin: Mit einem Sturz von der elterlichen Kellertreppe liefert Oskar den Erwachsenen einen plausiblen Grund für sein mangelndes Wachstum. Er verfügt ab jetzt über magische Kräfte: seine rot- weiße Trommel, die ihm seine Mutter Agnes geschenkt hat, wird sein Medium, und mit seiner Stimme vermag er Glas zu "zersingen". Freilich spürt er beim Schulbesuch, beim Spiel mit den anderen, auch stets die Ausgrenzung: "Dass er jahraus jahrein als Dummerjan herhalten musste, kränkte Oskar." Denn wie er selbst angekündigt hat, ist er viel gescheiter als seine Umwelt und wird zum Zeugen und Berichterstatter pikanter Enthüllungsszenen. Am Esstisch zu Hause spielen seine Eltern, Agnes und Oskar Mazerath, zusammen mit dem Vetter der Mutter, Jan Bronski, Skat. Unter dem Tisch aber findet eine höchst eindeutige Annäherung Jan Bronskis an seine Cousine Agnes statt. Sprecher: 19 Oskar, der durch sein Anderssein in das Dasein eines Außenseiters gezwungen wird, ist nicht nur Beobachter, sondern auch rächender und strafender Geist. Nachdem die "arme Mama" ihrem Leben zwischen zwei unbegabten Männern und einem monströsen "Kind" selbst ein Ende gesetzt hat, lockt Oskar den "vermeintlichen" Vater Jan Bronski bei Kriegsausbruch in das polnische Postamt, das dieser verteidigt. Jan wird wegen Freischärlerei hingerichtet und Oskar kann sich, wie so oft, der Situation entziehen, indem er regrediert und weinend und strampelnd den fehlgeleiteten Dreijährigen mimt. Auch den Kolonialwarenhändler Alfred Mazerath, den Oskar manchmal als seinen Vater anerkennt und manchmal nicht, treibt Oskar in eine verhängnisvolle Falle. Als die Russen in das besetzte Danzig einrücken, hat Mazerath geschwind sein NSDAP- Mitgliedsabzeichen auf den Boden geworfen. Oskar hebt es auf und drückt es ihm in die verschwitzte Hand: Zitator: "Er aber wollte es loswerden und fand trotz seiner oft erprobten Phantasie als Koch und Dekorateur des Kolonialwarenladenschaufensters kein anderes Versteck als seine Mundhöhle."(25) Sprecherin: Und so verschluckt, wie Oskar sich ausdrückt, sein Vater die Partei und erstickt daran. Oskar, der nach außen nicht mitteilt, was er zu erkennen vermag, bleibt letztlich einsam und unverstanden. Im Gegensatz zu Lagerkvists "Zwerg" aber ist Oskar leidens- und liebesfähig. Seine große Liebe ist die Nachbarstochter Maria Truczinski, die nach dem Tod der Mutter im Laden aushilft und 20 später Mazerath heiratet. Er ist Maria, die nach Vanille und Pfifferlingen duftet, rettungslos verfallen, sie aber grenzt sich in einer wüsten Eifersuchtsszene eindeutig und für immer von Oskar ab: Zitatorin: "Maria griff das Frottierhandtuch, wischte sich die linke Hand blank , schleuderte mir den Wisch vor die Füße und nannte mich eine verfluchte Drecksau, einen Giftzwerg, einen übergeschnappten Gnom, den man in die Klapsmühle stecken müsse. Dann packte sie mich, .... beschimpfte meine arme Mama, die einen Balg wie mich in die Welt gesetzt habe, und stopfte mir, als ich schreien wollte, es auf alles Glas im Wohnzimmer und in der ganzen Welt abgesehen hatte, den Mund mit jenem Frottierhandtuch, das, wenn man hineinbiß, zäher als Rindfleisch war."(26) Sprecher: Am Ende des Romans dominiert die vielbeschworene Figur von der "Schwarzen Köchin", vor der Oskar sich ängstigt. Die langen Schatten der Erwachsenen, mit denen er sich nicht messen wollte, haben ihn eingeholt. Und ohne Zweifel ist auch die Ablehnung der Väter die letzte und eigentliche Begründung dafür, dass Oskar sich weigert, erwachsen zu werden. Hans Magnus Enzensberger hat darauf aufmerksam gemacht, dass Oskars Blick zugleich ein Blick von unten und von hinten sei, der Blick hinter die Masken und Kulissen, der Blick auf das schäbige Unterfutter des Nationalsozialismus, auf die Kehrseite der Dinge. Sprecherin: 21 Pär Lagerkvists "Zwerg" endet als düstere, enigmatische Gestalt im Gefängnis, und auch der von Günter Grass geschaffene Oskar Mazerath hat, obwohl er reich an Humor und Phantasie ist und ein liebendes Herz besitzt, keine Hoffnung auf ein besseres Jenseits. Beide sind zyklische Charaktere, von denen der eine im Selbsthass, der andere in Selbsterkenntnis ausharren muss. Musikeinspielung: CD 3, Meret Becker, fragiles, Stück 4, Zirkus, 0:00 - 2:30 (ausblenden) Zitator: Der Zwerg Im trüben Licht verschwinden schon die Berge, Es schwebt das Schiff auf glatten Meereswogen, Worauf die Königin mit ihrem Zwerge. Sie schaut empor zum hochgewölbten Bogen, Hinauf zur lichtdurchwirkten blauen Ferne, Die mit der Milch des Himmels blass durchzogen. Nie, nie habt ihr mir gelogen noch, ihr Sterne, So ruft sie aus, bald werd' ich nun entschwinden, Ihr sagt es mir, doch sterb' ich wahrlich gerne. Da tritt der Zwerg zur Königin, mag binden Um ihren Hals die Schnur von roter Seide, Und weint, als wollt' er schnell vor Gram erblinden. Er spricht: "Du selbst bist schuld an diesem Leide, 22 Weil um den König du mich hast verlassen, Jetzt weckt Dein Sterben einzig mir noch Freude. Zwar werd' ich ewiglich mich selber hassen, Der dir mit dieser Hand den Tod gegeben, Doch musst zum frühen Grab du nun erblassen." Sie legt die Hand aufs Herz voll jungem Leben, Und aus dem Aug' die schweren Tränen rinnen, Das sie zum Himmel betend will erheben. "Mögst du nicht Schmerz durch meinen Tod gewinnen," Sie sagt's, da küsst der Zwerg die bleichen Wangen, D'rauf alsobald vergehen ihr die Sinnen. Der Zwerg schaut an die Frau, vom Tod befangen, Er senkt sie tief ins Meer mit eig'nen Händen. Ihm brennt nach ihr das Herz so voll Verlangen, An keiner Küste wird er je mehr landen.(27) Sprecher: Der österreichische Dichter Matthäus von Collin, der 1824 im Alter von fünfundvierzig Jahren starb, gehört zu den vergessenen Vertretern der Wiener Frühromantik. Sein Gedicht "Der Zwerg " schrieb er nur ein Jahr vor seinem Tod. Im gleichen Jahr wurde es von Franz Schubert vertont. Es wirkt auf den ersten Blick wie eine ferne Schauerballade: Ein Zwerg liebt eine junge Königin, und weil sie ihn mit dem König "betrogen" hat, tötet er sie nun. Hier scheinen alle Elemente des romantischen Kultes des Grotesken und des Dämonischen vertreten zu sein. Möglich, dass der Dichter damit einer Mode 23 seiner Zeit huldigte. Möglich aber auch, dass er mit dem "Zwerg" tiefere Schichten des Bewusstseins ansprechen wollte. Sprecherin: Als angesehener Gelehrter war Matthäus von Collin zunächst Professor für Ästhetik und Philosophie an der Universität Krakau, und später für über zehn Jahre ein hoher Beamter am Finanzministerium in Wien. In dieser Zeit war er der Erzieher von Francois-Charles-Joseph Bonaparte, dem Sohn von Napoléon I. und Marie-Louise von Österreich. Nach Napoleóns Fall war das Kind nach Österreich abgeschoben worden und sollte dort entsprechend erzogen werden. Der gestörte Junge weigerte sich standhaft, die neue Sprache zu lernen, seinen Latein- und Griechischlehrer Matthäus von Collin aber liebte er. Viele österreichische Patrioten hatten sich durch die Heirat ihrer Thronfolgerin Marie-Louise mit Napoléon brüskiert gefühlt, da sie diesem trotzten. Durch von Collins engen Kontakt mit Napoléons entwurzeltem Sohn fand diese Aversion neue Nahrung. Eine erste historische Lesart erlaubt deshalb durchaus eine österreichisch-patriotische Interpretation: Der "Zwerg" im Gedicht könnte eine Karikatur Napoléons sein. Sprecher: Der Nationalismus war gewiss eine treibende Kraft in Collins Dichtung, aber nicht die einzige: mehr noch fühlte er sich von antirationalen, grotesken und von grenzüberschreitenden Themen angezogen. In dem Gedicht "der Zwerg" ist alles umgekehrt: Eine junge, schöne Königin und "ihr" Zwerg fahren auf dem Meer ihrer tödlichen Leidenschaft. Zur Strafe dafür, dass sie ihn mit dem 24 König, von dem man nichts erfährt, betrogen hat, fährt er sie aufs offene Meer, bringt sie auf mysteriöse Weise um und versenkt ihren Leichnam in die Tiefe. Es geht um sexuelle Perversion und Mord, um die Erforschung einer Leidenschaft bis an ihre äußersten Grenzen. Sprecherin: Das Handeln des Zwergs ist von sehnsüchtiger Todeserotik geleitet. Kannte Matthäus von Collin die Schriften des Marquis de Sade? "Ich sterbe gern," sagt die junge Königin und der Zwerg antwortet: "Jetzt weckt dein Sterben einzig mir noch Freude." Solcher Sexualität, die von Gewalt angetrieben ist, entledigt man sich nicht durch Mord: auch nachdem der Zwerg die Geliebte ins Meer versenkt hat, ist "das Herz so voll Verlangen." Er aber wird zu einer Art "fliegender Holländer", der für immer von der Menschheit ausgestossen ist, denn "an keiner Küste wird er je mehr landen." Franz Schubert vertonte dieses Gedicht zu einer Zeit, in der die Diagnose einer Geschlechtskrankheit den sicheren Tod bedeutete. Der "Zwerg" wurde 1823 veröffentlicht. Schubert wusste damals bereits, dass die Liebe und der Tod Verbündete waren. Er konnte erspüren, wovon Collin sprach. Die Musikwissenschaftlerin Susan Youens schreibt: Zitatorin: "Matthäus von Collin besaß die Fähigkeit, tiefe Geheimnisse, die jenseits des Verstehens liegen, mit ein paar Federstrichen zu skizzieren, ohne daraus Schlüsse zu ziehen oder Moral zu 25 predigen. Jedes seiner Gedichte besitzt einen tiefen inneren Schwingungsraum, der vom Geheimnis widerhallt; Franz Schubert gelang es, diesen Raum musikalisch zu erkunden: (28) Musikeinspielung: CD 4, Stück 10, "Der Zwerg", 0:00-4:40 Sprecher: Der dämonische Zwerg des Matthäus von Collin ist ein Geistesverwandter von Alberich, Oskar Mazerath und des "Zwergs" von Pär Lagerkvist. Sie alle sind zerrissen und und heimatlos. Alberich wird von der Liebe verstossen. Oskar Mazerath versucht zwar, durch hypnotisierende Trommelschläge die deutsche Schuld zu beschwören, aber das Herz seiner geliebten Maria Truczinski erreicht er nicht. Der "Zwerg" von Lagerkvist enthüllt, dass er, hätte er denn die Kraft der Liebe besessen, seine Fürstin geliebt hätte. Sie alle wissen etwas vom gequälten Teil der menschlichen Seele, vom "Herz der Dunkelheit." Sprecherin: Am Ende seiner Betrachtungen über "Das bucklicht' Männlein," ist Walter Benjamin bereit, sich mit ihm auszusöhnen. Es ist zwar ein Zeuge des nicht gelingenden Lebens, nicht aber dessen Verursacher. Das Männlein, das ihn ansieht, ist für ihn nicht nur der Begleiter im Unglück, sondern auch der Adventist einer kommenden, erlösten Welt: Zitator: "So stand das Männlein oft. Allein ich habe es nie gesehn. Es sah immer nur mich. Es sah mich im Versteck und vor dem 26 Zwinger des Fischotters, am Wintermorgen und vor dem Telefon im Küchenflur, am Brauhausberge mit den Faltern und auf meiner Eisenbahn bei Blechmusik. Es hat längst abgedankt. Doch seine Stimme, die wie das Summen des Gastrumpfs ist, wispert mir über die Jahrhundertschwelle die Worte nach: "Liebes Kindlein/ Ach ich bitt, /Bet fürs bucklicht Männlein mit."(29) Zitatorin: Geh ich in mein Kämmerlein, will mein Bettlein machen, steht ein bucklicht Männlein da, fängt als an zu lachen. Wenn ich an mein Bänklein knie, will ein bisschen beten, steht ein bucklicht Männlein da, fängt als an zu reden: "Liebes Kindlein, ach, ich bitt, bet fürs bucklicht Männlein mit" (30) mit Musikeinspielung ausblenden: CD 1, CD 2, Stück 10, 2:26 - 2:50, d.h. ab hier langsam ausblenden 27