KULTUR UND GESELLSCHAFT Organisationseinheit : 46 Reihe : Literatur Kostenträger : P 62 300 Titel der Sendung : "Das optimierte Leben" Entwürfe des perfekten Menschen in der Literatur Autor/in : Elke Brüns und Ralph Gerstenberg Redakteurin : Dorothea Westphal Sendetermin : 21.04.2013 Besetzung : Sprecher (Kommentar) Zitatorin n) Zitator Regie : Stefanie Lazai Produktion : O-Töne, Musik Das optimierte Leben - Entwürfe des perfekten Menschen in der Literatur Feature von Elke Brüns und Ralph Gerstenberg O-Ton 1 mit Musik Lesung Schallnovelle "Corpus Delicti": "Gesundheit ist nicht Durchschnitt, sondern gesteigerte Norm und individuelle Höchstleistung. Gesundheit führt über die Vollendung des Einzelnen zur Vollkommenheit des gesellschaftlichen Zusammenseins." Sprecher: Juli Zehs Roman "Corpus Delicti" spielt in einer Welt, in der Gesundheit das höchste Gut ist. In dieser Zukunftsvision ist das Befinden des Einzelnen keine Privatsache mehr, sondern Staatsangelegenheit. Musik 1: Move D "In/Out (Initial Mix)", kurz, dann unter Zitatorin / Sprecher/in / Zitatorin Zitatorin: "Wir haben eine METHODE entwickelt, die darauf abzielt, jedem Einzelnen ein möglichst langes, störungsfreies, das heißt gesundes und glückliches Leben zu garantieren. Frei von Schmerz und Leid. Zu diesem Zweck haben wir unseren Staat hochkomplex organisiert, komplexer als jeden anderen vor ihm." Sprecher: Alle Bürger haben der vom Staat entwickelten "METHODE" bedingungslos Folge zu leisten: Sie umfasst Schlaf- und Ernährungsberichte sowie umfangreiche Sportprogramme. Tabak und Alkohol sind verboten, anstelle von Tee oder Kaffee wird heißes Wasser getrunken, Beziehungen können nur geschlossen werden, wenn die Immunsysteme kompatibel sind. Ein implantierter Chip im Oberarm sammelt die persönlichen Daten: Urin- und Blutwerte sind jederzeit abrufbar. Verstöße gegen diese Maßnahmen sind kriminelle Delikte, die streng bestraft werden. Zitatorin: "Unsere Gesetze funktionieren in filigraner Feinabstimmung, vergleichbar dem Nervensystem eines Organismus. Unser System ist perfekt, auf wundersame Weise lebensfähig und stark wie ein Körper - allerdings ebenso anfällig. Ein simpler Verstoß gegen eine der Grundregeln kann diesen Organismus schwer verletzen oder sogar töten." Sprecher: Gesundheit als Staatsziel, die Wellnessklinik als lebenslanger Aufenthaltsort, die Digitalisierung und Vermessung des eigenen Ichs zur Verbesserung des Leistungsvermögens - Szenarien dieser Art finden sich neuerdings häufiger in der Gegenwartsliteratur. Die Autoren reagieren damit auf Phänomene wie Fitnesswahn, Biotechnologien und Implantate, Selbstoptimierung und Selbstkontrolle. Sie alle stellen Symptome einer gesellschaftlichen Entwicklung dar, die nicht mehr nur tatsächliche Erkrankungen, sondern die Kreatürlichkeit des Menschen selbst als Stigma begreift. In den Romanen von Juli Zeh, Birgit Vanderbeke, Angelika Meier und Benjamin Stein wird der alte, schludrige und unperfekte Homo Sapiens zum neuen, fitten und perfekten Leistungsträger optimiert. Bleibt die Frage: Was ist Science Fiction und was bereits Realität? O-Ton 2 mit Musik Lesung Schallnovelle "Corpus Delicti": "Gesundheit ist das Ziel des natürlichen Lebenswillens und deshalb natürliches Ziel von Gesellschaft, Recht und Politik. Ein Mensch, der nicht nach Gesundheit strebt, wird nicht krank, sondern ist es schon." Sprecher: Je nach Sichtweise beschreibt der Roman "Corpus Delicti" die Horrorvision einer Gesundheitsdiktatur oder die Utopie eines fürsorglichen Staates, der das Beste für seine Bürger im Blick hat. Damit spitzt Juli Zeh die aktuelle Tendenz zu, Verhalten und Befinden des Einzelnen zum Gegenstand gesundheitspolitischer Maßnahmen und staatlicher Reglementierung zu machen. Eine markante Zäsur bildete das Rauchverbot, das für die Autorin zum Auslöser für ihren Roman wurde: O-Ton 3 Zeh: "Das Rauchverbot war als realer Akt für mich so ein Kulminationsmoment. Ich dachte in dem Moment, wo das passierte, ich darf jetzt tatsächlich in Kneipen, wo ich ja sitze, um zu rauchen und zu saufen - aus keinem anderem Grund - nicht mehr rauchen. Also, als das passierte, dachte ich wirklich, jetzt ist der Damm gebrochen. Jetzt bricht sich hier etwas Bahn, was sich schon seit einigen Jahren vorbereitet. Da ist ein Mentalitätswechsel im Gange. Die Einschläge kommen näher und jetzt fallen hier quasi die letzten Barrieren. Jetzt darf man öffentlich sagen: So haben wir es schon immer gewollt. In Raucherräumen darf nicht mehr geraucht werden." Sprecher: Doch der Mentalitätswandel hat noch ganz andere Dimensionen. Einfach nur "gesund" zu sein, reicht vielen nicht mehr aus. Immer mehr Menschen wollen ihren Körper und Geist optimieren. So haben sich weltweit Gruppen zur Quantified-Self-Bewegung zusammengeschlossen. Die Selbstoptimierer sammeln Daten und Zahlen: messen Blutdruck und Lungenvolumen, zählen Kalorien und Schritte, dokumentieren Schlafverhalten, Temperatur und die Pigmentierung der Haut. Dies sind nur einige der Aufgaben, die es täglich mit technischer Hilfe beispielsweise auf dem Smartphone oder mittels eines Schrittzählers zu bewältigen gilt. O-Ton 4 Grasse: "Ich hab zum Beispiel hier so einen kleinen Schrittzähler. Der ist 5 cm lang, einen Zentimeter breit. Der misst den ganzen Tag lang meine Aktivität. Heute habe ich sehr wenig gemacht. Ich hab heut den ganzen Tag am Schreibtisch gesessen, hab 1081 Schritte gemacht. Ich bin 6 Stockwerke gelaufen. (...) 0,79 km habe ich bisher zurückgelegt,a lso 790 Meter, was nicht viel ist. Und ich hab ungefähr dabei 1400 Kalorien verbrannt." Sprecherin: Christian Grasse hat gemeinsam mit Ariane Greiner ein Sachbuch mit dem Titel "Mein digitales Ich" geschrieben. Darin beschäftigt er sich mit der Frage, wie diese Vermessung des Selbst unser Leben verändert. Auch die Quantified-Self-Bewegung wird ausführlich behandelt. O-Ton 5 Grasse: "Man kann sich vorher ein Ziel setzen, dass man zum Beispiel abnehmen möchte. Oder dass man fitter werden möchte, schneller - wie auch immer. (...) Wenn ich es schaffe, 5000 Schritte zu gehen, krieg ich ein direktes Feedback, zum Beispiel eine Nachricht auf meinem Telefon: "He, super, du hast 5000 Schritte gemacht! Beweg dich doch noch ein bisschen mehr, vielleicht schaffst du ja sogar 10 000!" Das heißt, das ist so ein spielerischer Gedanke, der Fachbegriff dafür ist Gamification, also dass man versucht, den Spieltrieb dazu zu nutzen, um bestimmte Motivationen hervorzurufen, um Verhalten zu ändern zum Beispiel." Sprecher: In ihrem Essay "Der vermessene Mann" setzt sich die Schriftstellerin Juli Zeh äußerst kritisch mit der Quantified-Self-Bewegung auseinander: Zitatorin: "Die Selbstvermesser rücken dem eigenen Körper mit allerlei technischem Spielzeug auf den Pelz. In Wahrheit geht es nicht um das Erreichen eines bestimmten Ergebnisses, sondern um die Illusion, mit totaler Selbstkontrolle Herr über das eigene Schicksal werden zu können. Selbstermächtigung durch Selbstversklavung. [...] Die Datenbank ist sein Beichtstuhl, der Dienst an der Technik sein tägliches Gebet. "Selbst, selbst, selbst", lautet das Credo einer Religion ohne Gott, die den Einzelnen zum Schöpfer, zum Designer der eigenen Person erhebt. "Vermessen" ist nicht nur der Körper des Selbstquantifizierers, sondern auch der Anspruch, die totale Konzentration auf sich selbst müsse eines Tages zu Wohlbefinden führen. Egozentrik als Biozentrik." O-Ton 6 Grasse: "Das kann natürlich auch süchtig machen. (...) Ich würd generell sagen, dass diese Technik vorhandene Tendenzen verstärken kann. Wenn jemand süchtig ist und dann süchtig wird, sich selbst zu vermessen und so einen Optimierungsdrang in sich erkennt, dann verstärkt das diese Technik natürlich. Insofern kann ich schon nachvollziehen, dass man da von einer Versklavung sprechen kann. Aber ich find das sehr übertrieben. Das sind natürlich Extreme, die definitiv entstehen bzw. schon existieren. Es gibt einen Fall von einer Frau, die ihr komplettes Leben digitalisiert hat und halt irgendwie auch gemerkt hat, dass sie da unter so einem Zwang steht. (...) Aber wie gesagt: Ich glaub aber nicht, dass das die Technik verursacht, sondern das ist dann schon bei Leuten vorhanden und die Technik kitzelt das dann heraus und verstärkt das." O-Ton 7 mit Musik Lesung Schallnovelle "Corpus Delicti": "Gesundheit ist ein Zustand des vollständigen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlergehens und nicht nur das Fehlen von Krankheit oder Gebrechen." Sprecher: So definiert die Weltgesundheitsorganisation WHO den Terminus "Gesundheit". Zugleich etabliert sie damit ein Ideal: Wenn das Fehlen von Krankheiten nicht ausreicht, um sich als "gesund" zu bezeichnen, dann ist Gesundheit nicht einfach der Normalzustand des Menschen, sondern wird zur Utopie, an deren Realisation unentwegt gearbeitet werden muss. O-Ton 8 mit Musik Lesung Schallnovelle "Corpus Delicti" (Titel 24, ab 0'45): Das Mittelalter ist keine Epoche, sondern der Name der menschlichen Natur. Das ist nur mein Körper. Ich bin das Corpus Delicti. Sprecher: Der Roman Corpus Delicti trägt den Untertitel "Ein Prozess". Im Zentrum des thesenhaft argumentierenden Buches steht das Gerichtsverfahren, das der bislang vorbildlichen Bürgerin Mia Holl gemacht wird, als diese plötzlich gegen die staatlichen Gesundheitsauflagen verstößt. Mias Nachlässigkeit hat einen Grund: Aufgrund eines DNA-Tests wurde ihr Bruder Moritz als Mörder zum Tode verurteilt - der genetische Fingerabdruck gilt als unfehlbare Methode der Kriminalistik. Doch Mia glaubt nicht, dass Moritz das Verbrechen begangen hat - und setzt damit ihre Gefühle gegen die staatliche Vernunft. Was harmlos beginnt, wächst sich zur Staatskrise aus. Als der Nachweis gelingt, dass der DNA-Test irrte, scheint die Gesundheitsdiktatur samt ihrer "Methode" die Legitimation zu verlieren. Oppositionelle reklamieren "Das Recht auf Krankheit". Heinrich Kramer, ein berühmter Ideologe des Staates und Gegenspieler Mia Holls, findet dieses Ansinnen anachronistisch und lachhaft: Musik 2: Schallnovelle "Corpus Delicti" (Titel 8, ab 2 min, kurz, dann unter Zitatorin) Zitatorin: "Die Krankheit war den Menschen Existenzbeweis - als wären sie nicht in der Lage gewesen, sich selbst zu spüren, solange ihnen nichts wehtat! Jahrhunderte lang hat man die Schwäche angebetet, man hat sie sogar zum Kern einer Weltreligion erhoben. Man kniete vor dem Bild eines magersüchtigen, bärtigen Masochisten, der eine Stacheldrahtrolle auf dem Kopf trug, während ihm das Blut übers Gesicht lief. Der Stolz der Kranken, die Heiligkeit der Kranken, die Selbstliebe der Kranken: Das waren die Übel, die den Menschen von innen fraßen." Sprecher: Und hat Kramer nicht Recht? Denn angesichts der Schmerzen und Leiden, die das Leben erheblich beinträchtigen können - wer wollte da krank sein? Wer würde nicht die Segnungen der Medizin preisen? Juli Zeh geht es in Corpus Delicti nicht darum, ein moralisches oder politisches Schwarz-Weiß-Schema zu entwerfen, sondern auf ein grundsätzliches Dilemma der menschlichen Natur aufmerksam zu machen. O-Ton 9 Zeh: "Mein Wunsch war eigentlich vielmehr, dass man sich doch irgendwie identifiziert, dass man dem Kramer und auch den anderen und zum Teil auch der Mia selbst ernsthaft zuhört, wenn sie erklärt, warum es so reizvoll ist, an ein Leben zu denken, was risikofrei ist. Das ist nicht nur als politische These gedacht, es geht mir auch wirklich um ein fast philosophisches Problem. Um dieses unauflösbare Paradoxon, dass wir uns einerseits Sicherheit wünschen, weil unser Naturell das von uns verlangt. Also, wir wollen Störungsfreiheit, Schmerzfreiheit, unser ganzes System ist darauf ausgerichtet, sich selbst zu erhalten. Auf der anderen Seite wissen wir aber, dass wir nur Mensch sind durch den Grenzübertritt, und dass wir Mensch werden auch am Leiden, an der Störung, an der Krankheit." Sprecher: Der Mensch sei ein Prothesengott, schrieb Sigmund Freud schon 1930 in seiner Schrift Das Unbehagen in der Kultur. Entwicklungsgeschichtlich sei der Mensch nun mal als "schwaches Tierwesen" entstanden, schon deshalb habe er sich fortwährend optimieren müssen. Diese Gattungsgeschichte wiederhole sich dann auch noch in jedem Individuum: Der Mensch erblicke als "hilfloser Säugling" das Licht der Welt. Kein Wunder also, dass er seine mangelhafte Ausstattung durch Wissenschaft und Technik beheben wolle. Mit dem schönen Nebeneffekt, sich so auch noch den Göttern gleich fühlen zu können. O-Ton 10 Zeh: "Wenn der Mensch anfängt, die Grundbedingungen seines Leben zu vergessen und glaubt, das übersteigern zu können, gottgleich werden zu müssen in dieser Anstrengung, dann tut er, glaube ich, etwas, was weder für ihn als Individuum noch als Gesellschaft gut ist. (...) Da muss man einfach sehen, dass die menschliche Natur einfach zum Überschießen neigt. Und an den Stellen, wo sie's tut, ist Vorsicht geboten. Und ich glaube, da kommen wir eben doch in eine Verzahnung mit dieser Leistungsgesellschaft rein. Weil die Gesellschaft, in der wir leben, motiviert uns zu diesen an uns selbst gerichteten größenwahnsinnigen Vorstellungen. Weil uns eben von Außen nicht mehr gesagt wird: ‚Du bist klein und Dein Schöpfer ist groß'. Sondern uns wird die ganze Zeit gesagt: ‚Du musst alles können, alles schaffen und immer wach sein.' Also, wir verlieren die Bescheidenheit, seit wir areligiös geworden sind. Ich glaube, das ist ein wichtiges Faktum, weil es begünstigt diesen Hang zur Übertreibung." Sprecher: Schon Freud bemerkte, dass der Mensch trotz aller Optimierungssehnsüchte immer auch ein Unbehagen verspüre, das aus der Unterdrückung der menschlichen Natur zugunsten eines Ideals rühre. Gegenüber dem allzu perfekten, optimierten und gesundheitsbewussten Leben wird in Juli Zehs Roman "Corpus Delicti" schließlich das Bekenntnis zur kreatürlichen Existenz gesetzt. Mia Holl startet einen Frontalangriff auf die Gesundheitsdiktatur. Ihre öffentliche Deklaration liest sich wie das Menschenrecht auf's Leben - und zwar mit allen Risiken und Nebenwirkungen. O-Ton 11 mit Musik Lesung Schallnovelle "Corpus Delicti" (Track 21): [Falls Feature zu lang - wenn möglich - diesen Part kürzen. Ab Sternchen ist der gesprochene Text allerdings mit Musik unterlegt und die ersten drei Sätze sind wichtig.] Ich entziehe einer Gesellschaft das Vertrauen, die aus Menschen besteht und trotzdem auf der Angst vor dem Menschlichen gründet. (...) Ich entziehe einer Normalität das Vertrauen, die sich selbst als Gesundheit definiert. Ich entziehe einer Gesundheit das Vertrauen, die sich selbst als Normalität definiert. (...) *Ich entziehe einer Moral das Vertrauen, die zu faul ist, sich dem Paradoxon von "Gut" und "Böse" zu stellen und sich lieber an "funktioniert" oder an "funktioniert nicht" hält. Ich entziehe einem Recht das Vertrauen, das seine Erfolge einer vollständigen Kontrolle des Bürgers verdankt. Ich entziehe einem Volk das Vertrauen, das glaubt, totale Durchleuchtung schade nur dem, der etwas zu verbergen hat. Ich entziehe einer Methode das Vertrauen, die lieber der DNA eines Menschen als seinen Worten glaubt. Ich entziehe dem allgemeinen Wohl das Vertrauen, weil es Selbstbestimmtheit als untragbaren Kostenfaktor sieht. Ich entziehe einer Politik des Vertrauen, die ihre Popularität allein auf das Versprechen eines risikofreien Lebens stützt. Ich entziehe einer Wissenschaft das Vertrauen, die behauptet, dass es keinen freien Willen gebe. Ich entziehe einer Liebe das Vertrauen, die sich für das Produkt eines immunologischen Optimierungsvorgang hält. Ich entziehe Eltern das Vertrauen, die ein Baumhaus "Verletzungsgefahr" und ein Haustier "Ansteckungsrisiko" nennen. Ich entziehe einem Staat das Vertrauen, der besser weiß, was gut für mich ist, als ich selbst. Ich entziehe jenem Idioten das Vertrauen, der das Schild am Eingang unserer Welt abmontiert hat, auf dem stand: "Vorsicht! Leben kann zum Tod führen." Ich entziehe mir das Vertrauen, weil mein Bruder sterben musste, bevor ich verstand, was es bedeutet zu leben." (Übergang zur folgenden Musik) Musik 3: Schallnovelle, Track 22 (Slut), ab 1:40 mit Sprecherin verblenden Sprecher: Auch in Birgit Vanderbekes Roman "Die Frau mit dem Hund" wird eine pflichtbewusste Bürgerin aus ihrem bisherigen Leben gerissen. Wie Mia Holl lebt auch Jule Tenbrock in einer rundherum gesunden Welt. Obwohl sie in einer Mega-City wohnt, sorgen umweltschonende Technologien und weitreichende Hygienevorschriften für eine absolut keimfreie Umgebung: Niemand kocht mehr, Haustiere sind verboten; benutzte Kleidung wird zentral gewaschen oder gegen neue eingetauscht. Jule Tenbrock ist eine zufriedene Bewohnerin des siebten Distrikts, die sich beim Nachhausekommen auf die allabendliche Gameshow freut. Größere Aufregung als der Ärger über gelegentliche Unordnung im Treppenhaus kommt in Jules Leben nicht vor. Doch jetzt liegt ein graues Bündel vor ihrer Wohnungstür. Zitatorin: "Und plötzlich war es aus mit der Ruhe im siebten Distrikt. Im Bruchteil einer Sekunde verflog Jules Unmut, ihr Ärger verwandelte sich in Herzrasen und blanke Panik. Das Bündel roch eigenartig. Es roch lebendig und ganz eindeutig unsauber. Unhygienisch. (...) Etwas seufzte, schnaufte, röchelte unmenschlich aus dem Bündel heraus, es machte Töne, die Jule nicht kannte." Sprecher: Vor der Tür sitzt eine junge Frau namens Pola, die unter ihrem weiten Mantel einen Hund verbirgt. Offenkundig braucht sie dringend Hilfe. Doch das Halten von Tieren ist in der Stadt streng verboten, es verstößt gegen Seuchenverordnung und Haustierverbot. Als Jule ihren Nachbarn Timon Abramowski die Treppe raufkommen hört, nimmt sie die fremde Frau samt Hund kurz entschlossen mit in ihre Wohnung. Zitatorin: "Sobald die Tür ihres Nachbarn zugefallen war, wurde Polas Gastgeberin hektisch, verschwand in einem kleinen Badezimmer und kam gleich darauf mit einer Sprühflasche wieder heraus. Dann machte sie ganz leise ihre Wohnungstür wieder auf, schlich auf Zehenspitzen hinaus und versprüht einen süßlichen Duft im Treppenhaus, schloss danach rasch ihre Tür und wurde dann erst wieder etwas ruhiger. Jule stand im Flur, horchte eine Weile nach draußen, aber da tat sich nichts mehr. Bio-Dekontamination, sagte sie dann. Bio-Dekontamination, wiederholte die Frau mit dem Hund ungläubig." O-Ton 12 Vanderbeke: "Draußen ist gefährlich, draußen ist nicht keimfrei und Pola kommt von draußen, ja." Musik 4: Move D "Sandmann", ab 1'48 kurz, dann unter Sprecher/in und Zitatorin Sprecher: Jule lebt in einer Mega-City, die von riesigen Agrarflächen und Forschungseinrichtungen umgeben ist. Die Stadt selbst ist eingezäunt, hinter dem Schutzzaun liegen die verslumten Reste von Ortschaften, die aufgegeben wurden. Zitatorin: "Dieses Wesen jedenfalls (...) konnte nicht von hier sein, es musste von draußen kommen. Draußen, dachte Jule. Draußen war Detroit. Sie spürte, wie sich bei diesem Gedanken das kalte Entsetzen in ihrem Inneren ausbreitete, vom Magen nach oben hochkroch, bis in die Brust, in den Hals. Draußen, das waren die ehemaligen Fabrikbezirke um die Stadt herum, die schon vor Jahrzehnten aufgegeben worden waren, stillgelegt, sich selbst überlassen. Draußen gab es keine Ordnung, keine Stiftung, keinen Fernsehsender, keine Bonuspunkte und -sterne, keinen Telefonservice, das war der gesetzlose Gürtel am Rande der Stadt, das waren Kriminelle und Banden, die sich nachts durch verlassene Straßen trieben, dunkle Gestalten, Zeugnisse einer untergegangen Zeit, Reste des letzten Jahrhunderts, die längst vom Netz der Gemeinnützigkeit genommen waren." O-Ton 13 Vanderbeke: "Pola Nogueira ist in einem kleinen Dorf aufgewachsen. Das Problem an diesen kleinen Dörfern - sie hat bei ihrer Großmutter gelebt - ist, dass die Stück für Stück einzeln und dann massenhaft zugemacht worden sind. Im Text heißt das: Sie werden vom Netz der Gemeinnützigkeit genommen. Das ist etwas, das im Zuge der Urbanisierung der Welt ein Prozess ist, den wir inzwischen übrigens kennen. Es gibt in der Mark Brandenburg ganze Landstriche, die entvölkert worden sind. Es gibt keine Post mehr, es gibt keine Schulen mehr, es gibt keinen Bäcker mehr und fertig und so. Und irgendwann sind die vom Netz genommen." Sprecher: Die Aufteilung der Welt in ein gesundes, keimfreies Drinnen und ein chaotisches, dreckiges Draußen hat soziale und politische Konsequenzen. Die Menschen draußen erscheinen den Stadtbewohnern als Krankheitsüberträger und Kriminelle. Ein Zaun schützt die Stadt vor den Slums, die die Städter nach der amerikanischen Stadt "Detroit" nennen. Aber es gibt geheime Schlupflöcher. Pola hat eines benutzt, da sie als schwangere Frau ein Mindestmaß an Hygiene benötigt. Birgit Vanderbekes Roman fragt nach der Verhältnismäßigkeit. Wann werden berechtigte Hygienemaßnahmen, die vor Infektionskrankheiten schützen, zu hysterischen Reinheitsvorstellungen, die letztlich zur Angst vor allem Lebenden führen? Lässt sich eine solche Grenze überhaupt ziehen? O-Ton 14 Vanderbeke: "Naja, das ist ne Angst, die finde ich gar nicht so übertrieben. Wir hatten doch hier auch solche Viren, wo (...) wir keine Gurken mehr gegessen haben, keine Salate mehr gegessen haben (...) und Hühnergrippen gibt's ja auch. (....) (3:10 -3:27) Das alles muss man sich nicht ausdenken. (...) Es ist eigentlich keine wirklich orwellsche Landschaft, sondern ich hab sie mir aus der Wirklichkeit nur ein bisschen konzentriert und ein bisschen parodistisch verarbeitet rausgezogen, denn Angst vor Infektionen, vor Viren, vor Bakterien haben wir längst auch. (...) Ich weiß nicht, wie gefährlich die Wirklichkeit ist. In meinem Buch ist das sehr konsequent fortgeführt, weil natürlich Hygiene und zum Beispiel Lebensmittelsicherheit fantastische Instrumentarien sind, wie man eine Bevölkerung verwalten kann." Sprecher: Für Birgit Vanderbeke ist die Beschreibung dieser eingekapselten Gesellschaft keine Dystopie, sondern die konsequente Zuspitzung der heutigen Wirklichkeit. Die Stadt wird von einer gemeinnützigen Stiftung verwaltet, die Bewohner können mit Hilfe ihrer ID-Karten alle alltäglichen Bedürfnisse befriedigen. Arbeiten muss die rundherum versorgte Bevölkerung nicht mehr, wenn es jemand tut, dann nur, um sich Extra-Wünsche zu erfüllen. Die Mahlzeiten sind in großen Boxen im Supermarkt erhältlich, das Kochen ist aus Hygiene- und Gesundheitsgründen verboten. Warum dies so ist, zeigt die Veranstaltung "Grandma's Cooking Corner", eine nach immer gleichen Regeln ablaufende Show auf den Stadtteilfesten. Jules Freund, der Hygienetrainer Clemens, arbeitet in dieser Showküche und demonstriert die Gefahren des Kochens, die schon bei der Nahrungsmittelbeschaffung anfangen. Denn wer konnte zu Großmutters Zeiten schon grammgenau einkaufen? Musik 5: Louie Austen "Amore" / August Enki LDE DUB) (ab 4'30 kurz, dann unter Zitatorin) Zitatorin: "Sie haben es erraten, meine Damen und Herren, an sachgerechte Lagerung war nicht zu denken. Kühl und dunkel muss gelagert werden, sonst entstehen gesundheitsgefährdende Keime, die sich unkontrolliert vermehren. Keime, hörte Jule, unkontrolliert vermehren. Das Öl wurde ranzig, sagte Clemens. Das Mehl war voller Motten. Und was dann? Alles ab in den Müll. Was für eine Verschwendung. Was für eine Gesundheitsgefahr und ich bin noch nicht einmal bei den Eiern. (...) Er lehnte sich weit zurück, während er das Ei aufschlug, aber das wäre gar nicht nötig gewesen, das Publikum begleitete den unappetitlichen Vorgang des Eiaufschlagens mit ausgiebigen Geräuschen seines Missfallen. Clemens wusch sich erneut die Hände. Cholesterin, sagte er und rasselte dann die Schreckenswörter herunter, die zu Eiern nun einmal gehörten. Blutfett, Industriefett, Salmonellen, Dioxin." Sprecher: Um die Schrecken des Kochens erfahrbar zu machen, soll ein Freiwilliger eine Zwiebel für die Kartoffelpuffer schälen. Niemand meldet sich - außer Jule Tenbrock. Es ist der Einbruch des Sinnlichen in eine sterile Welt, der für sie zur bleibenden Erfahrung wird. Als Jule später in ihrem Haus einen Geruch bemerkt, den es in ihrer Welt gar nicht gebe dürfte, trifft sie eine Entscheidung. Zitatorin: "Diesen eigenartigen Geruch der Zwiebel, der in die Nase und in die Augen steigt, würde Jule Tenbrock nie vergessen, das Scharfe und gleichzeitig Süße, diesen Geruch, von dem man augenblicklich verrückt nach dem Leben wird und im selben Moment auch schon heulen muss. Während sie ihre Staying-Alive-Übungen vor dem Bildschirm absolvierte, kroch aus dem Treppenhaus genau dieser Geruch zu ihr in die Wohnung hinein, erst schwach, aber unverkennbar, er wurde rasch stärker, und bald war die ganze Wohnung davon erfüllt. Zwiebel. Eindeutig roch es nach Zwiebeln. Das war der Moment, in dem Jule die Show ausstellte, sich anzog und auf den Dachboden ging." Sprecher: Auf dem Dachboden hat Pola heimlich ihr Quartier bezogen. Sie hat sich mit Timon Abramowski angefreundet, dessen Arbeit darin besteht, aus Filmen die Szenen rauszuschneiden, in denen geraucht, getrunken oder geflucht wird oder in denen Tiere auftauchen. Als älterer Mann erinnert er sich an sein früheres Leben mit eigenem Hund und selbst gekochten Mahlzeiten. Während Jule auf dem unhygienischen Dachboden lernt, ihre Angst vor den Keimen zu überwinden und schließlich sogar den Hund streichelt und Bratkartoffeln aus einer alten Pfanne isst, wird Timons Sehnsucht nach einem anderem Leben immer größer. Nach der Geburt von Polas Kind verlassen sie gemeinsam den siebten Distrikt. Doch die unzivilisierte Welt da draußen ist kein wildromantischer Ort, keine Gegenutopie. O-Ton 15 Vanderbeke: "Das, wohin, die beiden gehen, ist ziemlich scheußlich, ehrlich gesagt. Also ich möchte mir ein Happy End eigentlich anders vorstellen. Da gibt's kein Strom, da gibt's kein Wasser, die leben ausgesprochen gefährlich im Übrigen, da gibt's keine Regeln, keine Zivilisation. Sie sind mit Sicherheit unterversorgt da draußen. Sie müssen sehen, wie sie was anbauen oder wie sie was zu essen kriegen. Und ich kann sie nicht beneiden, wirklich nicht. Andererseits finde ich, es wär schade, ich hätt sie da drinne gelassen, weil das eine so extrem undynamische Welt der 24-stündigen Correctness ist. Also, es hätte mir leid getan, wenn ich sie da hätte verkümmern lassen müssen." Sprecherin: Keimfreiheit oder Sinnlichkeit? Stillgestelltes Leben oder Gefahr? Bei Birgit Vanderbeke gibt es keinen Königsweg. Das Leben ist ungesund, überall lauern Gefahren und es kann zum Tode führen. Musik 6: John Lennon "Isolation" (Anfang bis 1'25) Zitatorin: "Nun aber schleunigst zum Ausgang finden... zum Ausgang? Dazu müsste man erst mal wissen, wo er ist! Mir scheint tatsächlich fast zwanzig Jahre lang gar nicht aufgefallen zu sein, dass ich nicht weiß, wo der Ausgang ist. Aber wozu hätte mich das auch interessieren sollen?" Sprecher: Es ist eine in sich geschlossene Welt, die Angelika Meier in ihrem Roman "Heimlich, heimlich mich vergiss" entwirft, um das Leben als Dauerdienst an der Gesundheit zu ironisieren. Ort der Handlung: eine gläserne Klinik. Als postmoderner Zauberberg thront sie auf einem Berggipfel - Sinnbild der Transparenz und Weltabgeschiedenheit zugleich. Wie alle Ärzte hier ist auch der Protagonist Dr. Franz von Stern optimiert. Das bedeutet, dass er über zusätzliche Hirnrindenschichten verfügt und ihm ein Mediator eingepflanzt wurde. Allerdings musste dafür das Herz umgesetzt werden. Zitatorin: "Wieder einmal fällt mir auf, was für ein wahrhaft kühnes Unterfangen die Verpflanzung unseres Herzens ins Sonnengeflecht war - schon ein nur leicht gesteigerter Sympathikotonus bewirkt ungleich schwerere Erschütterungen dieses in den Solarplexus tiefergelegten Herzens, ganz zu schweigen von gravierenden Willkürakten des immer ein wenig dümmlichen vegetativen Nervensystems, denen das seiner angestammten Direktverbindung nach ganz oben ins Hinterhauptquartier beraubte und ins Eingemachte degradierte Zentralorgan deutlich schutzloser ausgeliefert ist. Aber mag das dünkelhafte, in die Peripherie verbannte Herz auch manchmal selbstmitleidig klagen ‚Nach Moskau, Nach Moskau!', so weiß es sich doch damit zu trösten, dass die Peripherie die neue Mitte ist, ja dass das Zentrum eigentlich schon immer in der Peripherie lag." O-Ton 16 Meier: "Perfektionierung und Behinderung sind hier eins. [...] Der hat eine zusätzliche Hirnrindenschicht und außerdem ist er zwischen seinen Rippen mit einem Mediatororgan ausgestattet. Diese Perfektionierung ist auf der anderen Seite zugleich eine deutliche Behinderung, denn das Herz dieses armen Arztes musste in den Solarplexus ausweichen, um diesem Mediator Platz zu machen. Da hört man schon: Effektiv kann eine solche Ausstattung nicht sein." Sprecher: Angelika Meier setzt nicht nur eine technisch hochgerüstete Medizin satirisch in Szene. Sie gestaltet die Klinik zudem als Wellnesstempel, in dem neben Waschungen, dem Lauschen eigener Erinnerungen und medizinisch verordnetem Geschlechtsverkehr vor allem Yoga- und Atem-Übungen zur Anwendung kommen. Hier ironisiert die Autorin die aktuelle Begeisterung für fernöstliche Gesundheitslehren, da diese eben auch der Leistungssteigerung dienen. Im Unterschied zu anderen Formen der Optimierung stehen sie aber im Zeichen des Spirituellen. O-Ton 17 Meyer: "Wenn man Ihnen in Yoga-Studios sagen wird, Sie sollen die Hüfte öffnen, weil das gut für die Lymphe ist, und die Lymphe wiederum Sitz des Verzeihens, dann ist das Problem daran ja nicht, dass das eine intellektuelle Beleidigung ist [...], sondern das Problem ist, dass das ne Eigenabrichtung in so Affektkontrollen ist, die scheinbar harmlos sind und in ganze andere Bereiche eingreifen: also Arbeitsbereiche, die vermeintliche Steigerung eigener Kompetenz." Sprecher: Für Angelika Meier lassen sich deshalb die gegenwärtigen Probleme menschlichen Verbesserungsstrebens auch nicht mehr durch die Schreckensvisionen eines Cyborgs oder Frankensteins darstellen. Die neue Lust an der Optimierung sei vielmehr dadurch geprägt, dass sie bislang Unvereinbares verbindet: Technik und Esoterik. Körper und Seele - beide werden optimiert. O-Ton 18 Meier: "Das hat, glaube ich, viel zu tun damit, dass man gegenwärtigen technischen Fortschritt häufig erlebt als die unheimliche Verfitzung zweier scheinbar antagonistischer Diskurse. Also auf der einen Seite den scheinbar hochgerüsteten medizintechnischen, also das Life Engineering im weitesten Sinne und all die damit verbunden Angstvorstellungen [...] und auf der andren Seite den esoterischen, wellnessgefühligen [...] Das fand ich interessant, wie diese Diskurse perfekt ineinander greifen." Musik 7: mAGEc "Dharmakaya" (ab 0'50) Kurz, dann unter Zitatorin Zitatorin: "Schauen Sie, Dr. von Stern, sie müssen sich immer wieder klarmachen, dass unser Mediatorsystem keine bloß externe Körpertechnik mehr ist, die man da draußen im Labor entwickelt und dann einsetzt im wahrsten Sinn des Wortes, sondern eine, die aus dem Inneren heraus eine tatsächlich einheitliche, yogische Materialität geschaffen hat. Sie wissen doch, unsere Sympatextur ist eben nicht mehr das alte Elektrodensystem mit einem äußeren Impulsgeber, der ja, und sei er noch so verwachsen mit seinem Trägermaterial, immer ein Fremdkörper bleiben musste. Wie nahezu unsichtbar und irreversibel man das Steuergerät auch einfügte, die ganze Sache blieb im Grunde Prothese und damit Improvisation, halbherzige Verbesserung, und le mieux est l'ennemie du bien, nicht wahr? Was durch dieses Herumgedokter im besten Fall entstehen konnte, war spannungslose und zugleich immer überspannte Symbiose, mehr nicht, keine Ganzheitlichkeit, kein flow." Sprecher: Waren es einst markante medizintechnische Einschnitte wie die erste Verpflanzung eines menschlichen Herzens, die Optimierungsfortschritte anzeigten, so gestalte sich der Prozess der Leistungssteigerungen heute schleichend, meint Angelika Meier. Er vollziehe sich über alltägliche Dinge, die kaum in den Fokus der Wahrnehmung geraten. Gerade dadurch werde aber ein neues Klima nicht nur der permanenten Leistungssteigerungen, sondern auch der Leistungskontrollen erzeugt. Die Frage nach dem optimierten Leben erhält damit auch eine politische Dimension. O-Ton 19 Meier: "Für mich ist oft sehr viel relevanter so ein Eingriff in jetzige Lebens- und Arbeitswelten und Optimierungen, wie die Tatsache, dass ein Arbeitgeber von seinem Arbeitnehmer ab jetzt verlangen kann, schon ab dem ersten Tag Krankheit eine Attest beizubringen. Das sind die kleinen Dinge, gerade die komischen und banalen Dinge, die wir alle schlucken, was sollen wir auch anderes tun, es wäre lächerlich, sich darüber aufzuregen." Musik 8: Radiohead "Karma Police" (1'44 - 3'02 freistehend, dann mit Sprecher/in verblenden) Sprecher: Der Mensch als Prothesengott war schon immer darauf angewiesen, sich selbst zu verbessern. Mittels modernster Technik soll nun sogar gelingen, was früher Sache von Wundertätern oder Heiligen war - zum Beispiel: Blinde sehend zu machen! Benjamin Steins Protagonist Ed Rosen kann von Geburt an nur mit einem Auge sehen. Um ein dreidimensionales Sehvermögen zu erlangen, müsste ihm ein Chip implantiert werden. Das Silizium dieses Chips soll mit dem menschlichen Nervengewebe verbunden werden, so dass ein künstlicher Sensor das blinde Auge ersetzt. Ein befreundeter Medizinforscher hatte Benjamin Stein von Experimenten mit Augenimplantaten erzählt und ihn damit zu seinem Roman "Replay" inspiriert. Die in der nahen Zukunft angesiedelte Fiktion hat also ihren Ausgangspunkt in der gegenwärtigen Neurowissenschaft. O-Ton 20 Stein: "Es gibt diese Implantate. (...) Sie sind noch weit davon entfernt, wirklich ein Auge ersetzen zu können, aber sie können zumindest Blinden eine Sehfähigkeit geben, dass sie sich orientieren können im Raum und viel Selbständigkeit wiederbekommen. Interessanterweise haben auch Patienten, die ihr Augenlicht verloren haben, diese Implantate erprobt und von denen haben sie alle wieder zurückgegeben. Dann lieber nichts sehen als diesen verzerrten, veränderten Blick auf die Welt." Sprecher: Wie sehr verändert der Blick mit dem künstlichen Sensorium die Wahrnehmung der Wirklichkeit? Ist die Welt, die man damit sieht, überhaupt noch real? Oder wird sie von Computern generiert und animiert? Und macht das heutzutage noch einen Unterschied? Mit diesen Fragen eröffnet Stein eine komplexe Reflexion über Manipulierbarkeit und Glückseligkeit im Zeitalter der virtuellen Vernetzung. Erzählt wird die schmale, auf das Wesentliche reduzierte Geschichte von Ed Rosen selbst. Der Leser folgt ihm auf eine Art Bewusstseinstrip, der mit einer merkwürdigen, an Kafka erinnernden Verwandlung beginnt. Musik 9: Peace Orchestra "The Man Part One" (ab 3 sec unter Zitator) Zitator: "Ich fürchte mich vor Erscheinungen, die ich nicht selbst erfunden habe. Und nun dieser Huf ... Am Fußende lugt er im Dunkel unter der Bettdecke hervor. Das ist mir nicht geheuer. Ohne hinzusehen, decke ich ihn zu, lasse meinen Kopf zurück ins Kissen sinken und schließe die Augen wie ein Kind, das denkt, was es nicht sieht, ist nicht da. Das beruhigt mich. Dabei müsste ich wissen, dass es ein böses Omen ist. Ich bin kein Narr. Eine Rose ist eine Rose ist eine Rose. So viel habe ich bei Matana gelernt. Ein Zeichen ist zunächst nichts anderes als ein Zeichen, ein Hinweis, ein Wegweiser, nicht identisch mit dem, worauf es zeigt. Von sich aus bedeutet es nichts, und es gibt keinen Grund, sich zu echauffieren, nur weil man es sieht. Omen, Fügung, Schicksal ... Ich weiß, wovon ich rede. Ich bin ein Spezialist für Zeichen." Sprecher: Ed Rosen, der "Spezialist für Zeichen", leidet offenbar unter Wahnvorstellungen. Mit einem Chip im Kopf liegt er im Bett einer gläsernen Villa. Sein Bewusstsein ist verbunden mit dem Datennetz der Sofwarefirma, für die er arbeitet, der er sich als Versuchskaninchen zur Verfügung gestellt hat. Erst nach und nach beginnt dämmert Rosen, dass dieses Unternehmen eine schier unglaubliche Macht über ihn und andere erlangt hat. So erlebt der Leser im Rückblick Schritt für Schritt die Veränderung des Harvardabsolventen und Softwarespezialisten Ed Rosen, die mit seiner Bewerbung als Entwickler für ein Augenimplantat beginnt. Chef der Corporation ist ein gewisser Matana, dem Benjamin Stein ebenso genialische wie dämonische Züge verleiht. Das Gespräch zwischen Matana und dem sehschwachen Ed Rosen über die Implantation des chipgesteuerten Augensensoriums während einer Schachpartie wird zum Spiel mit dem Teufel. Zitator: "Weißt du, sagte er: Während meines Studiums hat uns ein Professor mit einer besonderen Ameisenart aus den Anden bekannt gemacht. Durch eine Laune der Natur fehlt diesen Tieren das Sensorium für die dritte Dimension. Setzt man eine solche Ameise auf eine Kugel, hört sie nicht auf zu laufen. Für sie ist es ein stetiges Vorankommen auf einer endlosen Ebene. Sie merkt nicht, dass sie sich im Kreis bewegt, den immer gleichen Weg wieder und wieder zurücklegt. Ich bin sicher, dir würden die Augen aufgehen, im wahrsten Sinne des Wortes. Du würdest dich in einer Welt wieder finden, wie du sie heute nicht einmal erahnst." Musik 10: Move D "Amazing Discoveries" (1'10 - 1'20 freistehend, dann unter Sprecher/in) Sprecher: Bevor Ed Rosen zum Implantatträger wird, muss er jedoch mit einem strengen Ernährungs- und Fitnessprogramm körperlich optimiert werden. Nur ein gesunder und vor allem den ästhetischen Anforderungen genügender Körper ist es wert, dass er mit der neuartigen Technik ausgerüstet wird. Seine Personal Trainerin Katelyn ist praktischerweise zugleich Rosens Geliebte. So fällt der Ehrgeiz nicht schwer. Aufgrund seiner angeborenen Sehschwäche hatte Rosen bislang ein etwas gestörtes Verhältnis zu seinem Körper. Nun sieht er sich mit den Augen derer, denen er gefallen möchte, und tut alles, um den Ansprüchen an ihn zu genügen. Er selbst empfindet die körperliche Transformation als eine Art Selbstfindungsprozess. O-Ton 21 Stein: Er beschreibt es dann später mal, dass er durch dieses Pilotprojekt einen Teil seiner Pubertät nachgeholt hat, also sich überhaupt erstmal ein Verhältnis zu seinem eigenem Körper erarbeitet hat. Eigentlich wird er ja in so eine Selbstoptimierungsspirale hineingetrieben. Das fängt erstmal an - wie es ja heute in der Gesellschaft gang und gäbe ist - mit dem Gang zum Fitnessstudio oder in seinem speziellen Fall mit 'nem Personaltrainer. Und er macht eine richtige körperliche Metamorphose durch. Und die soll ihn eigentlich nur mental vorbereiten auf diese andere Metamorphose, die dann darin besteht, das Implantat zu tragen. Sprecher: Dank Pilates-Übungen, gesunder Kost und asiatischer Massagetechniken fühlt Rosen sich wie neugeboren. Körperlich gestählt ist er bereit für den nächsten Schritt: der Transformation seines Bewusstseins. Nach dem Implantieren des Chips steht er unter Dauerbeobachtung. Musik 11: Move D "77 Sunset Strip" (10 sec, dann unter Zitator / O-Ton) Zitator: "Ärzte waren um mich, Personenschützer. Das hatte ich vorher gewusst und akzeptiert, aber erst als es soweit war, wurde mir klar, was es bedeutete, nie mehr allein, keine Minute des Tages mehr unbeobachtet zu sein. (...) Ich war zu einem gläsernen Menschen geworden. So etwas wie Privatsphäre gab es nicht mehr. Ich konnte mich nicht mal am Hintern kratzen, ohne dass es jemand mitbekam." O-Ton 22 Stein: Durch die Vernetzung mit den Computersystemen der United Communications Corporation wird's zu nem problematischen Device, weil man nicht mehr wissen kann, sind die audiovisuellen Informationen, die ich jetzt wahrnehme, sind die echt, sind die real oder werden die eingespeist aus den Computersystemen der Corporation. Sprecher: Nach der erfolgreichen Operation werden bald neue Begehrlichkeiten geweckt, von denen zuvor niemand zu träumen gewagt hätte. Die Palette der Möglichkeiten scheint sich innerhalb kürzester Zeit zu vervielfachen. Aus dem Prototyp des Augenimplantats entsteht ein so genannter Universal Communicator, kurz: UniCom - ein Chip, der das Gehirn mit dem Computersystem der Entwicklungsfirma verbindet. Durch das vernetzte elektronische Mikrosystem wird es möglich, Informationen abzurufen und das lückenhafte menschliche Gedächtnis zu verbessern, indem es alle Erlebnisse als audiovisuelle Daten aufzeichnet, speichert und somit wieder abrufbar macht. Zunächst dient eine Art Datenbrille als Schnittstelle für den Datenaustausch. In den ersten beiden Generationen ein etwas plumpes Modell. Zitator: "In der dritten Generation wog das Gerät fast nichts mehr. Es sah aus wie eine randlose Brille mit federleichten Titanbügeln, und die Brille gehörte schon bald zum Straßenbild wie in den Nuller-Jahren des Jahrhunderts die weißen Kopfhörer der Generation iPod." Musik 11: Move D "77 Sunset Strip" (ab 2'43 kurz, dann unter Sprecher/in, mit O-Ton verblenden) Sprecher: "Project Glass" heißt eine Entwicklung, mit der Google bald auf den Markt kommen wird: gestylte Datenbrillen, so genannte Smartglasses, die Informationen ohne Umwege direkt im Sichtbereich des Trägers erscheinen lassen. O-Ton 23 Stein: "Also, wir stehen vor einem Haus und uns wird gesagt, wer ist der Architekt, wann ist es erbaut worden, was ist es überhaupt für ein Gebäude. Und der Punkt dabei ist, dass wir nicht wissen, ob diese Information überhaupt stimmt. Sehen wir tatsächlich das, was behauptet wird?" O-Ton 24 Grasse: "Klar ist man manipulierbar, aber das war man schon immer. Wenn ich eine Information sehe (...), direkt in mein Auge projiziert, aufgrund von so Smartglasses, ist es natürlich so, dass mich diese Information in dem Augenblick manipulieren kann, aber ich hab die Möglichkeit, diese Information sofort zu hinterfragen oder zu recherchieren. Wenn ich früher in der Bibliothek saß und da gabs zu 'nem bestimmten Thema zehn Bücher, hatte ich auch ne Information, die für mich dann die Wahrheit war. (...) Heute habe ich Zugriff auf das komplette Wissen der Menschheit, was jemals irgendwie aufgeschrieben wurde. (...) Man macht sich heute einfach nicht die Mühe und hinterfragt diese Informationen, da es auch gar nicht wirklich relevant ist, ob das jetzt so stimmt, was da steht oder nicht, weil in zehn Sekunden ist schon wieder was anderes Interessantes da." Sprecher: Für Christian Grasse, Autor des Buches "Mein digitales Ich", sind solche Datenbrillen nur eine konsequente Weiterentwicklung des Smartphones, das auch Benjamin Stein zum UniCom in seinem Roman "Replay" inspiriert hat. Das Smartphone ist schon längst zu einer Art Körperteil geworden, das dem Freudschen Prothesengott eine neue Dimension hinzufügt. O-Ton 25 Grasse: "Wenn man aus dem Haus geht und sein Telefon liegen lässt. (...) Ich fühle mich dann tatsächlich fast amputiert. Man hat sich irgendwo verabredet, und man weiß nicht, wo das genau ist. Normalerweise guck ich dann immer auf dieses Navigationsprogramm im Telefon, dann weiß ich sofort, wo ich hin muss (...) Bisher haben wir Technologie benutzt, um uns selbst zu erweitern. (...) Bald könnte sich das insofern umdrehen, dass die Technologie nicht mehr ein Teil von uns ist oder uns erweitert, sondern dass wir ein Teil der Technik sind. Das finde ich ganz spannend, aber es ist natürlich auch irgendwie ein bisschen gruselig, aber es geht auf jeden Fall dahin." Sprecher: Christian Grasse ist Angehöriger einer technikbegeisterten Generation, die es als selbstverständlich empfindet, mittels sozialer Netzwerke zu kommunizieren und mit mobiler digitaler Technik Informationen jederzeit und überall abrufen zu können. Er bezeichnet das als erweiterte Realität, als eine Art sechsten Sinn, über den das digitale Ich im Gegensatz zum altmodischen analogen Menschen verfügt. Dieser sechste Sinn ermöglicht es, Informationen über Dinge zu erhalten, die sonst nicht wahrnehmbar wären. O-Ton 26 Grasse: "Wenn ich diese Brille aufhabe - und da freue ich mich übrigens schon sehr drauf - dann werden in Echtzeit für mich hochrelevante Informationen eingeblendet. Das ist, glaube ich, ein sehr großer Mehrwert, der dadurch entsteht. (...) Das macht die Welt vielleicht auch interessanter, weil mehr Informationen eingeblendet werden, die ich mit meinem bloßen Auge nicht sehe." Musik 11: Move D "77 Sunset Strip" (ab 4'00 kurz, dann unter Sprecher/in) Sprecher: Auch Ed Rosen in Benjamin Steins Roman "Replay" ist fasziniert und begeistert von den Möglichkeiten des UniCom. Als Miterfinder und Tester in Personalunion stürzt er sich in die Verbesserung und Weiterentwicklung des Gerätes, das der Menschheit offenbar zu ihrem Glück gefehlt hat. Bald ist für das UniCom keine Brille mehr nötig, alle Komponenten können komplett implantiert werden. Da Benjamin Stein in der ersten Person erzählt, erlebt der Leser Ed Rosens Begeisterung unmittelbar mit. O-Ton 27 Stein: "Das war mir ganz wichtig, in der ersten Person zu erzählen, denn es ist nicht so leicht zu entscheiden, ob dieser Universal Cummunicator ein übles Gerät ist oder ob wir uns nicht doch wünschen sollten, dass es solche Geräte bald gibt. Deswegen nehme ich mir einen der Verfechter, einen der Miterfinder und lasse ihn diese Geschichte erzählen. (...) Natürlich ist es erstmal phantastisch, dass dieser Universal Communicator alle audiovisuellen Wahrnehmungen aufzeichnet und wieder abrufbar macht, dass man das lückenlose audiovisuelle Gedächtnis bekommt. Und es ist auch spannend, diese Erinnerungen wieder abspielen zu können, also schöne Momente zum Beispiel wieder und wieder durchleben zu können." Sprecher: Von der titelgebenden Replay-Funktion des UniCom ist Ed Rosen besonders begeistert. Mit ihrer Hilfe können Momente des Glücks immer wieder erlebt werden, bei Ed Rosen, der eine besondere Vorliebe für die Füße seiner Geliebten Katelyn hat, sind es vor allem obsessive, erotische Momente. Das UniCom verändert auch das Sexualleben seiner Träger. Bald gehören das Inszenieren, Abspielen und Austauschen der Replays zum sexuellen Spiel. O-Ton 28 Stein: "Selbstverständlich wird das unsere Sexualität verändern, wenn wir besondere Erlebnisse wieder erleben können. Oder wenn wir, was ja Rosen und seine Freundin Katelyn häufig tun, die Empfindungen untereinander austauschen, wenn wir in der Lage sind, den Akt zu erleben mit Augen, Ohren und Sensorium des anderen. Natürlich hat das ein großes Suchtpotential. Das ist ne riesengroße Verlockung. (...) Man gibt natürlich dann auch etwas preis, ein Stück Geheimnis." Musik 12: Laika "Spooky Rhodes" (von Anfang, kurz dann unter Sprecher/in) Sprecher: Der Mensch als Teil des Datenstroms wird nicht nur abhängig und manipulierbar, sein ganzes Denken, Empfinden und Begehren gerät in eine Vermarktungsspirale. Natürlich ruft das auch Kritiker auf den Plan. Nicht ohne Freude an der Ironie des fiktiven Schicksals lässt Benjamin Stein den WikiLeaks-Gründer und Vorreiter für Transparenz Julian Assange gegen das UniCom wettern. Transparenz ist inzwischen zur gesellschaftlichen Prämisse geworden. Nur noch der gläserne Mensch wird als vollwertiges Mitglied der Gemeinschaft akzeptiert. Wer nicht Teil der großen UniCom-Gemeinde wird, hat etwas zu verbergen, heißt es. Verständnislos schüttelt Ed Rosen den Kopf über Ewiggestrige wie Assange. Zitator: "Es gefällt ihm nicht, dass wir über Bewegungsprofile der UniCom-Bürger verfügen. Es gefällt ihm nicht, dass wir wissen, wer wann wo ist und was jemand gesehen und gehört hat. Auch die Rückkoppelung gefällt ihm nicht und der seiner Meinung nach skandalöse Umstand, dass wir Werbebotschaften in die Replays einstreuen oder den Blick eines Implantierten auf ein bestimmtes Produkt fokussieren können. Am wenigsten gefällt ihm, dass man das UniCom in der neuesten Version als Vollimplantat nicht mehr abschalten kann, womit er wieder einmal den Bogen schlägt zu den Orwellschen Televisoren." Musik 13: Move D "Beyond The Machine" (kurz, dann unter Sprecher/in) Sprecher: Nicht nur die Idee einer Datenbrille zeigt, wie eng Benjamin Stein seine Fiktion an die technischen und gesellschaftlichen Entwicklungen der Gegenwart anlehnt. Auch andere Prozesse brauchte der Autor nur ein klein wenig zuzuspitzen, um die erschreckende Vision einer allumfassenden digitalen Kontrolle literarisch Gestalt annehmen zu lassen. Bereits jetzt wertet Google mit dem Dienstprogramm Google Now über Smartphones das Verhalten seiner Nutzer aus und zieht daraus eigene Schlüsse. So bemerkte Christian Grasse, dass Google weiß, wo er wohnt, ohne dass er jemals seine Adresse irgendwo eingegeben hätte. O-Ton 29 Grasse (ab 1:08:55): "Da mein Handy nen Standortsender hat und ständig weiß, wo ich mich befinde, interpretiert Google einen bestimmten Ort, an dem ich sehr viel Zeit verbringe, als z.B. mein Zuhause. Wenn der Algorithmus schlau ist, was er einigermaßen ist, kann er sogar noch diese Interpretation abgleichen mit Daten, die im Internet zur Verfügung stehen und es gibt ja noch ein Impressum z.B. auf meiner Website, wo tatsächlich meine Adresse steht, also kann Google tatsächlich davon ausgehen, dass diese bestimmte Adresse tatsächlich mein Zuhause ist." O-Ton 30 Stein: "United Communications Corporation ist eigentlich nur die logische Fortsetzung von Unternehmen wie Apple, Facebook, Google und Co. Alle diese Unternehmen sammeln in gigantischem Ausmaß Daten über ihre Kunden. Und niemand kann bestimmen, was sie mit diesen Daten anfangen. In Deutschland gibt's Datenrichtlinien, die alle nicht greifen, weil sich diese Firmen in Amerika befinden. Im Moment ist es noch eine Einbahnstraße, also die Informationen gehen von uns Kunden in die Deltacenters der Corporation. Das einzige, was der Universal Communicator dem noch hinzufügt, ist, dass die Gegenrichtung funktioniert, dass das Unternehmen die Daten auch zu uns spielen kann." Sprecher: In Steins Roman sind bald siebzig Prozent der US-amerikanischen Bevölkerung UniCom-Träger. Die so genannten "Anonymen", zu deren Sprecher Julian Assange geworden ist, werden mehr und mehr vom gesellschaftlichen Leben ausgeschlossen. Musik 14: Peace Orchestra "Marakesh" (kurz, dann unter Zitator) Zitator: "Schon vor Jahren war es schwierig, ein Auto zu versichern, wenn man kein UniCom trug. Die Gesellschaften waren nicht bereit, das erhöhte Risiko eines Fahrers zu tragen, der sehr wahrscheinlich nicht über hundert Prozent Seh- und Hörfähigkeit verfügte. Heutige Neuwagen lassen sich ohne UniCom gar nicht mehr starten. (...) Assange schimpft weiter. Man würde den Anonymen jedweden Job verweigern. Aber auch das ist irreführende Agitation. Welcher Arbeitgeber sollte sich einen Angestellten ans Bein binden, der zwar vielleicht noch ein Konto hat, aber nicht elektronisch zahlen kann, wie es das Gesetz vorschreibt, der weder Auto fahren noch am öffentlichen Nahverkehr teilnehmen kann?" Sprecher: So zeigt Benjamin Stein in seinem Roman "Replay", wie das Streben nach Optimierung der eigenen Möglichkeiten umschlägt in Abgängigkeit, Kontrolle und Manipulation. Das Individuum unterwirft sich freiwillig den Bedingungen und Spielregeln eines Unternehmens und verliert damit seine Selbstbestimmung, seine Freiheit, seine Unverwechselbarkeit. Es wird zum Spielball einer digitalen Macht, die von seinem Bewusstsein mehr und mehr Besitz ergreift. Am Ende weiß der Leser ebenso wenig wie Steins Protagonist Ed Rosen, ob dieser die geschilderten Ereignisse tatsächlich so erlebt hat oder nur Zuschauer in einem 3-D-Kino ist, das von einem Zentralcomputer aus direkt in sein Hirn projiziert wurde. Benjamin Stein ist selbst als Berater in der Informationstechnologie tätig, er kennt also die Möglichkeiten und Gefahren der schönen neuen digitalen Welt mit ihren Verlockungen und Verheißungen. O-Ton 31 Stein: "Es hat ja keinen Zweck, Technologie oder wissenschaftlichen Fortschritt von der Kanzel herab zu verdammen. Das hat noch nie geholfen, hat noch nie irgendwas verhindert. Das einzige, was man tun kann, ist, den Leser an der Erfahrung der Figur teilhaben zu lassen, um ihn auf diesem Weg zu informieren. Was ist das eigentlich für eine Situation, in die du dich dort begibst, vielleicht ohne es überhaupt mitzubekommen? Was ist logische Konsequenz deines Handelns? Nur in die ganz nahe Zukunft projiziert. Und dann ist die Frage natürlich unausweichlich: Ist das die Welt, in der ich leben möchte? Und die Antwort muss jeder für sich selbst geben." Musik 15: Phantom / Ghost "Phantoms and Ghosts" (kurz, dann unter Sprecherin und O-Ton Meier, am Ende hoch, (vor Gesang) ausklingen lassen) Sprecher: Benjamin Stein, Juli Zeh, Angelika Meier und Birgit Vanderbeke entwerfen gesunde, saubere und optimierte Welten. Trotz aller Kritik sind diese Bücher jedoch keine Pamphlete, keine schwarzmalerischen Zukunftsvisionen, sondern spannende, humorvolle und nachdenkliche Kommentare zur Gegenwart. Sie registrieren gesellschaftliche Verschiebungen und zeigen deren Konsequenzen auf, die sich bei genauerer Betrachtung gar nicht so sehr voneinander unterscheiden. Es scheint, als scheitere der Mensch immer an seinem Anspruch, sich selbst zu kontrollieren, zu organisieren und zu perfektionieren - im Grunde gottgleich werden zu wollen. Denn am Ende wird er bestenfalls zur Mensch-Maschine oder zum Prothesengott, der die Selbstoptimierung - in welcher Form auch immer - zur neuen Religion erhebt. O-Ton 32 Meier: "Das Problem ist nur, dass man dabei immer vergisst, dass auch mit jeder Optimierung sich unsere Dysfunktionen auch mitoptimieren. Und darin liegt auch das komische, das grauenhafte, aber auch das hoffnungsvolle Potential." Musik: Siehe oben 1