Wir und die Anderen Eine Lange Nacht der Zugehörigkeit(en) Autoren: Almut Schnerring und Sascha Verlan Redaktion: Dr. Monika Künzel Mit O-Tönen von Mareice Kaiser, Dalibor Markovic, Ferda Ataman, Gianni Jovanovic, Sabine Hark, Anne Taube, Juliette Brungs, Canan Ulufer, Michel Arriens, Tupoka Ogette & Stephen Lawson, Katrin & Jens, Yansn, France Damian, Georg Damian, Bärbel & Dieter Reindl, Tilmann Eckloff, unbekannter Passant SprecherInnen Demet Fey Hüseyin Michael Cirpici Sendetermine: 31. Oktober 2020 Deutschlandfunk Kultur 31.10./1.11.2020 Deutschlandfunk Eine Produktion der Wort & Klang Küche 2020 ___________________________________________________________________________ Urheberrechtlicher Hinweis: Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Jede Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in den §§ 45 bis 63 Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. © Deutschlandradio - unkorrigiertes Exemplar - insofern zutreffend. 1. Stunde Einspieler 1: "Und Sie schreiben auf Deutsch?! heißt es oft wobei ich dabei einen Deut S- kepsis unterstelle den ich mir nicht anmerken lasse sondern handwerklich fast perfekt ein Nicken imitiere (Dalibor Markovic - fragil mich nicht) Musik: Einspieler 2: Alles beginnt am Anfang, bei allen Menschen gleich, am Nabel der Zeit, zwischen den Beinen einer Frau: l’Origine du monde, der Ursprung der Welt. Bei allen Menschen gleich und trotzdem sehen wir nur Unterschiede. (Tanasgol Sabagh - Von überall her) Sprecher: Herkunft, Geschlecht und sexuelle Orientierung; Alter, Religion, geistige und körperliche Möglichkeiten; Schullaufbahn, Berufstätigkeit und Hobbys; Wohngegend, Dialekt und Sprache; Aussehen, Sympathie und einfach das Glück zur rechten Zeit am richtigen Ort zu sein oder umgekehrt zur unpassenden Zeit am falschen Ort … Die biographischen und sozialen Aspekte sind vielfältig, die dazu führen, ob und wann und warum jemand zu einer Gruppe dazugehört oder nicht, möglicherweise ausgegrenzt wird, und wie schnell sich das auch wieder ändern kann. Das ist das Thema dieser Langen Nacht: Zugehörigkeit, besser Zugehörigkeiten, weil es kein statischer, sondern ein sich ständig wandelnder Zustand und Prozess ist. Musik Sprecher: Entlang der Lebenslaufperspektive geht es in der ersten Stunde um die Frage: wie wird man eigentlich Teil einer Gruppe? Was kann die einzelne Person leisten? Und was muss die Gruppe anbieten, damit Zugehörigkeit möglich wird? In der zweiten Stunde dann die Frage: Wie bleibt man Teil einer Gruppe? Und warum sollte das überhaupt wünschenswert sein? Welche Rollen spielen dabei Institutionen wie zum Beispiel die Schule? Später dann, in der dritten Stunde, wenn der Radius, die eigenen Möglichkeiten kleiner werden? Auch da die Frage, wie es gelingen kann, Teil einer Gruppe zu bleiben, teilzuhaben am gesellschaftlichen Leben, sich dennoch zurückzuziehen und langsam zu verabschieden? Musik Sprecher: Auf der sozialen Ebene werden auf dem Spielfeld der Zugehörigkeit die gesellschaftlichen Machtverhältnisse ausgehandelt: Wer hat eine Stimme? Und wer wird nicht gehört? Mitspracherecht, Teilhabe, und die Definitionsmacht zu bestimmen, was richtig ist und was nicht … die Zugangsmöglichkeiten und Ressourcen der Gesellschaft sind mal mehr, mal weniger, insgesamt aber sehr ungleich verteilt. Und die Schere hat sich in den vergangenen Jahren weiter geöffnet. So vielfältig die Gründe dafür sein mögen: Globalisierung, Neoliberalismus und Fluchtbewegungen; Klimawandel, Naturkatastrophen und Pandemie … die alles beherrschende Frage in diesem Aushandlungsprozess ist nach wie vor: Wo kommst du eigentlich her? Einspieler 3: Woher ich komme? Kaspische Salzwasserküste. Da nennt man einen großen See das Meer! So lernte ich schon früh zu übertreiben, aber glaube mir, wenn ich dir sage, dass ich überall nach Feige schmecke, ich lass dich sicher einmal kosten … Hör mal, red ich dir zu viel? Aber du hast doch gefragt! (Tanasgol Sabagh - Von überall her) O-Ton 1 (Ferda Ataman): Mir sieht man 's nicht an, und der Name ist auch nicht eindeutig. Also ist bei mir immer das gleiche Spiel: "Wo kommen Sie denn her?" Dann sag ich: "Aus Nürnberg ursprünglich." "Nee, nee, wo sind sie denn geboren?" Dann sag ich: "Stuttgart." "Nein, ich mein der Name, wo kommt denn der Name her?" "Der Name ist persisch." … Der Name ist persisch, Ferda heißt Morgen. Das sag ich dann dazu. "Ah, sie sind Iranerin." "Nein, meine Eltern kommen aus der Türk…" "ACH SO!" O-Ton 2 (Dalibor Markovic) Die sind dann immer gleich: "Ach so, ja, natürlich, ach so, ja, ja, hier geboren, ah ja!" Und dann ist das auch ganz schnell irgendwie auch abgehakt. Dann erzähl ich denen kurz, wo ich aufgewachsen bin und geboren und wo, aus welchem Land meine Eltern kommen. Dann erzählen die mir meistens, wo sie da schon Urlaub gemacht haben, und dann tauscht man sich kurz über Strände aus, und das ist dann … verläuft sich dann im Sande sozusagen. Einspieler 4: Äh … vorab: Falls zwischendurch mal mein Deutsch nicht so gut ist, das liegt daran, dass ich als 4-jähriger 'n Pflasterstein von 'nem Nazi auf 'n Kopf bekommen habe … (Gianni Jovanovic - Herkunft) Zitatorin: 'Herkunft' von Gianni Jovanovic, Comedian und Unternehmer aus Köln. Einspieler 5: Ich bin geboren in Rüsselsheim, also Hesse. Und wenn das nicht schon schlimm genug wäre mit dem Hessensein, steht in meiner Geburtsurkunde drin, kein Scheiß, als Geburtsort: Campingplatz. Ja, ist wirklich wahr, ich bin mit 'nem Hering auf die Welt geholt worden. (Gianni Jovanovic - Herkunft) O-Ton 3 (Gianni Jovanovic): Und ich bin immer in so 'ner Erklär-, in so 'ner Rechtfertigungsposition: wer ich bin, was ich kann, warum ich so rumlaufe, warum ich tätowiert bin … ich fass es vielleicht so zusammen, indem ich dir einfach sage, wie ich das so sehe, in was für 'ner Verfassung ich so bin, wie das alles so auf mich einwirkt: Ich komme mir vor, als würden Menschen glauben zu wissen, wer ich bin, wie ich bin, was ich zu denken habe, was ich zu fühlen oder was ich zu glauben habe. Und das kennen sicher auch andere Menschen aus ihrem Leben, aber bei mir ist es so oft so offensichtlich, dass Menschen mir mit ihren Schubladen die Knie blutig schlagen wollen. O-Ton 4 (Tupoka Ogette & Stephen Lawson): T: ... als schwarzer Mensch hab ich immer so das Gefühl, man ist so sichtbar und gleichzeitig aber unsichtbar. Also bevor ich in den Raum komme, wissen die Anderen schon, wie ich bin … Also da kommen irgendwie Bilder hoch, aber das hat nicht zwangsläufig mit mir zu tun, das ist 'ne Projektion. Und aber das wirkliche Ich dahinter ist irgendwie versteckt und ist unsichtbar, und die Norm, wenn du Teil der Norm bist, dann geht es tatsächlich um dich als Person … du hast 'ne Chance auf Individualität, wenn du Teil der Norm bist. Einspieler 6: "Markovic" und "Dalibor" heißt es dann argwöhnisch "sind Nach- wie Vorname?" Ja. (Dalibor Markovic - fragil mich nicht) Zitatorin: 'Fragil mich nicht' von Dalibor Markovic, Spoken Word-Poet aus Frankfurt am Main. O-Ton 5 (Dalibor Markovic) Das ist nur der Name, ja, genau. Dann auch noch mit so 'nem Buchstaben, ganz hinten, den es ja so nicht gibt, also im deutschen Alphabet. Und es ist nur der Name. Und ja, also klar, es … wenn man da von Glück reden möchte, weiß ich nicht, inwiefern das überhaupt angemessen ist, von Glück zu reden, dass man mir jetzt meine Herkunft nicht ansieht. Sobald aber mein Name ins Spiel kommt, bemerkt man 's dann ja dann doch. Einspieler 7: … und nach wie vor ahme ich dabei eine Freundlichkeit nach obwohl ich häufiger mal sagen sollte: "Wissen sie, ich bin Bühnenpoet und bitte Sie im Übrigen konkret darum etwas nachzuvollziehen ohne Schmach zu forcieren bevorzuge ich das Wort zugezogener Ausländer denn ich komme aus Ländern genau zwei dem der Eltern und Deutschland es ist also kein freudscher Versprecher sondern ein Ausdruck mit Sinn erfunden wenn ich behaupte ich führe ein Leben mit Mikrophonshintergrund." (Dalibor Markovic - fragil mich nicht) O-Ton 6 (Dalibor Markovic) Also ganz klar und deutlich ist es bei Telefongesprächen, bei denen man halt kein Gesicht vor Augen hat oder der oder die Gegenüber kein Gesicht vor Augen haben und dann mit seinem Namen … also zum Beispiel mit seinem Namen eine Wohnung suchen, also mit diesem Namen 'ne Wohnung suchen, ist immer noch ein Abenteuer. Ja also da gibt 's 50:50, gibt 's diejenigen, denen das völlig egal ist und die andere Hälfte … man merkt sofort, das wird, da braucht man gar nicht weiterreden. Ja, das: "Ach", ja, immer so dieses: "Ach so!". Einspieler 8: Wieso willst du immer wissen, woher ich komme, wenn dich die Antwort langweilt? Da willst du mich deinen Eltern vorstellen, da soll ich zehn Minuten lang mit leuchtenden Augen von Isfahan reden: Nesf-e Jahan! Die Hälfte der Welt! Nein, das müssen Sie einfach sehen, da muss man mal gewesen sein, wundervolle Architektur! Muss man mal gesehen haben, ist wirklich wunderschön da. (Tanasgol Sabagh - Von überall her) Zitatorin: 'Von überall her' von Tanasgol Sabagh, Poetry Slammerin aus Berlin. Einspieler 9: Da willst du dickes Haar zwischen deinen Fingern, aber nicht die auf meinem Arm. Da willst du tausendundein Mal hmmmm, ja, was willst du eigentlich? (Tanasgol Sabagh - Von überall her) Sprecher: Was wird es denn? Woher kommst du? Wie geht 's … schönes Wetter, Fußball und dann noch die Hunde … Small Talk. Natürlich geht es bei diesen Themen meist nur um eine erste Kontaktaufnahme, ein gegenseitiges Abtasten. Und doch lösen allein schon die Fragen Bilder und Erwartungen aus, die nur selten etwas mit unserem Gegenüber zu tun haben, aber sehr viel mit den eigenen Prägungen und Vorurteilen Musik Sprecher: Wenn nun jemand so muslimisch ist, wie ich christlich? Also nie wirklich verwurzelt, vor vielen Jahren schon von der Kirche abgewandt, dann ausgetreten … aber natürlich geprägt durch Erziehung, Religionsunterricht und all die Geschichten, Kunstwerke und Kirchengebäude … natürlich kann ich das 'Vater unser' auswendig, by heart, par coeur, auch nach vielen Jahren noch. Dann die Glocken, die mich jeden Morgen um 7:00 Uhr wecken, und wenn ich trotzdem weiterschlafe um 9:00 Uhr noch einmal. Die mich abends pünktlich um 18:00 Uhr daran erinnern, endlich den Bleistift aus der Hand zu legen und Abendessen zu kochen für meine Familie? Wenn jemand so muslimisch ist, wie ich christlich, was bedeutet das dann? Wie werden wir uns verstehen? Werden wir uns überhaupt verstehen? Und wenn nicht, woran liegt das dann? Offensichtlich nicht an unserem Verhältnis zur Religion. O-Ton 7 (Anne Taube, Unterricht in einer Integrationsklasse): AT: Wer kann das mal lesen? SuS: … verschiedene Stimmen nacheinander, durcheinander, im Chor … dazugehören Zitatorin: Dazugehören: schwaches Verb, Perfektbildung mit 'hat' … Teil eines Ganzen, einer Gruppe sein. O-Ton 8 (Anne Taube, Unterricht in einer Integrationsklasse): SuS: … verschiedene Stimmen nacheinander, durcheinander, im Chor … dazugehören AT: Das will ich jetzt mit euch durchnehmen, das Wort. Wer weiß, was das heißt? Was heißt das? SuS: … verschiedene Stimmen, durcheinander … hören … AT: Hat das was mit hören zu tun? SuS: … verschiedene Stimmen, durcheinander … ja … nein … hmm … nein AT: Gar nichts. SuS: … Gemurmel … Musik Zitatorin: Anne Taube ist Berufsschullehrerin und lebt in Ulm. Bis 2015 hat sie vor allem arbeitslose Jugendliche unterrichtet. Da ging es um Bewerbungtrainings und die Unterstützung bei der Arbeitsplatzsuche. Dann wurden dringend Pädagogen und Lehrerinnen gesucht für Integrationsklassen, jetzt unterrichtet sie Deutsch als Fremdsprache. O-Ton 9 (Anne Taube, Unterricht in einer Integrationsklasse): SuS: … Gemurmel … AT: … gehört … man kann sagen: Die rosa Turnschuhe gehören Hannah. Die weiße Jacke gehört Svetla … gehören … und jetzt ist die Frage: dazugehören? Sprecher: Am Anfang ist tatsächlich alles gleich. Kinder müssen die Kriterien, die Unterschiede und Gemeinsamkeiten all der Dinge und Ereignisse erst begreifen lernen. Kategorien sind dabei wichtig, sie entlasten unser Gehirn und helfen, dass wir uns zurechtfinden in dieser Welt und schnell Entscheidungen treffen können. Musik Sprecher: Wenn es bedrohlich knackt im Unterholz … wie verhalten Sie sich? Schauen Sie dann neugierig nach und lassen sich dabei immer tiefer in den Wald locken? In Horrorfilmen passiert zuverlässig genau das … wenn nicht, wäre der Film ja auch ganz schnell zu Ende. Aber das ist Horror, Film und Fiktion, evolutionsbiologisch dagegen hat sich Flucht als die definitiv bessere Entscheidung erwiesen. Zitatorin: Ich gehöre dazu, du gehörst dazu, er/sie/es gehört dazu, wir gehören dazu, ihr gehört dazu, sie gehören dazu. Ich werde dazugehören, du wirst dazugehören, er/sie/es wird dazugehören, wir gehören zusammen! O-Ton 10 (Anne Taube, Unterricht in einer Integrationsklasse): AT: Jetzt habe ich … was ist das? SuS: … Gemurmel … ka … ke … kä … AT: Kä ist gut: Ker-ze, okay, eine Kerze … SuS: … Gemurmel … zwei Kerzen, dritte Kerze, fünfte Kerze … Zitatorin: Ich gehörte dazu, du gehörtest dazu, er/sie/es gehörte dazu, wir gehörten dazu, ihr gehörtet dazu, sie gehörten dazu. Und was ist dann? Wenn mensch plötzlich nicht mehr dazugehört? Einspieler 10: »Da hat man schon große Vorteile, nicht wahr? Frau und dann auch noch Migrationshintergrund ... da schmeißen sie dir die Jobs aber hinterher ...« Ja, da weiß ich gar nicht, worüber ich mich mehr freuen soll. Darüber, dass meine Möglichkeiten bisher so begrenzt waren, dass eine Quote nötig ist, oder dass ich mich mein Leben lang fragen muss, ob nun meine Fähigkeiten oder mein ungewöhnlicher Adelstitel, meine Marke – Frau mit Migrationshintergrund – mich am Ende weiterbringen. »Na, euch kann man es aber auch gar nicht recht machen!« Ja, stimmt. Magst du tauschen? (Tanasgol Sabagh - Von überall her) O-Ton 11 (Anne Taube, Unterricht in einer Integrationsklasse): AT: Welche Kerze gehört nicht dazu? Welche Kerze ist anders? SuS: … Die weiße Kerze gehört nicht die rote Kerze … AT: Die weiße Kerze gehört nicht zu den roten Kerzen, ja genau Zitatorin: Dazugehören. O-Ton 12 (Anne Taube, Unterricht in einer Integrationsklasse): Dazugehören Zitatorin: Synonyme: angehören, beteiligt sein, dabei sein, hinzugehören, mitarbeiten, mitmachen, mitspielen, mitwirken, teilhaben, teilnehmen; (gehoben) zugehören; (bildungssprachlich) partizipieren; (umgangssprachlich) mitmischen, mit von der Partie sein; (landschaftlich) mittun. O-Ton 13 (Anne Taube, Unterricht in einer Integrationsklasse): AT: Welche Kerze gehört nicht dazu? SuS: … Gemurmel … diese … golden … AT: Jetzt mach mal einen schönen Satz. SuS: Die goldene Kerze gehört nicht dazu. AT: Perfekt, die gehört nicht dazu, die ist anders. Die sind gleich, und die ist anders. O-Ton 14 (Sabine Hark): Was brauche ich, um zugehörig zu sein? Ich glaube, relativ wenig. Nämlich erstmal nur die Erfahrung, machen zu können, das zu sein, was ich gerne sein will. Was immer das jeweils sein mag … lacht … also das muss gar nicht sonderlich emphatisch aufgeladen sein, mit … ja, es müssen Leute sein, die so denken wie ich, die so aussehen wie ich, die so leben wie ich … die können ruhig alle sehr verschieden sein, und wenn der Raum so beschaffen ist, dass das möglich ist. O-Ton 15 (Juliette Brungs): Grade wenn man in der DDR aufwächst, hat man diesbezüglich Erlebnisse, und dann ist es 'ne Entscheidung meines Erachtens, ob man es aushalten kann, nicht dazuzugehören oder ob man dazugehören muss, will ... weil man es nicht ertragen kann. O-Ton 16 (Sabine Hark): Ich gehöre dazu, weil ich in Ruhe gelassen werde ... könnte man vielleicht auch etwas emphatischer formulieren als: ich gehöre dazu, wenn es nicht verhandelt werden muss, wer ich bin und ob ich dazu gehöre. O-Ton 17 (Canan Ulufer): Wenn mein Landespastor zum Ramadan und zum Opferfest mir gratuliert, ja, da fühle ich mich zugehörig. O-Ton 18 (Michel Arriens): Ich fühl mich immer dann zugehörig, wenn ich nicht behindert werde. Das ist sowohl im Baulichen als auch im Gesellschaftlichen. O-Ton 19 (Yansn): Als ich mit 18 meinen Vater kennengelernt hab, hat er mir noch meine Geschwister noch vorgestellt. Die waren dann so nett zu mir, dass die mir das Gefühl gegeben haben, dass ich dann dazugehört habe. Obwohl ich eben die war, die Tochter von der Deutschstämmigen war, mit der mein Vater fremdgegangen ist. Das ist dann nicht selbstverständlich, dass man da quasi eingeladen wird ein Teil der Familie zu sein. Sprecher: In dieser ersten Stunde der Langen Nacht der Zugehörigkeit(en) geht es ums Ankommen. Wie lässt sich dieses Verhältnis zwischen Individuum und Gruppe gestalten? Was muss gegeben sein, damit sich jemand einer Gruppe zugehörig fühlt? Und was kann die Gruppe leisten? Wie muss sich das Individuum selbst einbringen? Und ganz allgemein: welche gesetzlichen Rahmenbedingungen und Vorgaben sind wichtig und notwendig? Wann also gehören wir dazu, und was bedeutet das überhaupt? Warum ist das wünschenswert? O-Ton 20 (Mareice Kaiser): Manchmal möchte ich mich gar nicht zugehörig fühlen … lacht … also mir gefällt die Rolle von der Person, die anders ist, manchmal ganz gut sogar. Sprecher: Wie kommt es, dass sich manche Menschen zugehörig fühlen und andere nicht, obwohl sie, zumindest von außen betrachtet, doch eine ganz ähnliche Lebensgeschichte haben? Wie fühlt es sich an, nicht dazu zu gehören? Manchmal oder gar nie? Wer kann wirklich frei über die eigene Zugehörigkeit entscheiden, und wer wird zugewiesen, eingeordnet … fremdbestimmt? Wenn mensch zu einer Gruppe gezählt wird, der sie, er sich gar nicht zugehörig fühlt? O-Ton 21 (Mareice Kaiser): Gleichzeitig hab ich schon auch eine Sehnsucht dafür, irgendwie meinen Platz zu haben natürlich und vielleicht auch manchmal mich einer Gruppe zugehörig zu fühlen. Musik: Zitatorin: Mareice Kaiser lebt in Berlin und arbeitet als Journalistin. Anfang 2014 startete sie mit ihrem Blog 'Kaiserinnenreich'. Dort schreibt sie über Themen, wie Familie, Feminismus und Inklusion. 2016 erschien ihr Buch 'Alles inklusive. Aus dem Leben mit meiner behinderten Tochter'. Sie ist Chefredakteurin von 'Edition F' und Mitbegründerin der Initiative 'Kreuzberg hilft'. O-Ton 22 (Michel Arriens): Wenn ich vor einem, meinem Lieblingscafé stehe zum Beispiel, ärger ich mich immer wieder, dass da eine Stufe ist. Da merk ich halt schon, ich bin behindert oder, Perspektivwechsel: ich werde behindert. Zitatorin: Michel Arriens ist Campaigner bei change.org, Blogger und Aktivist für Inklusion, digitale Teilhabe und gegen mediale Diskriminierung. Außerdem arbeitet er als ehrenamtliches Vorstandsmitglied und Pressesprecher des Bundesverbandes Kleinwüchsige Menschen und ihre Familien. O-Ton 23 (Michel Arriens): Ich glaub, die Medien spielen 'ne ganz große Rolle in dem Zeichnen von Normalität, als auch im Zeichnen, was ist überhaupt unsere Gesellschaft. Wir sind da auf jeden Fall schon einige Schritte weiter, aber wir sind halt auch noch lange nicht am Ziel. Und ich glaube auch nicht, dass es ein Ziel geben wird, weil es gibt immer die "normale Gruppe" in Anführungszeichen und die "nicht normale Gruppe". Einspieler 11: Atmo … also wir begrüßen euch … das haben wir schon abgehakt. Dann sprechen wir darüber: was ist überhaupt Rassismus? Also in unseren vielen, jahrelangen Auseinandersetzungen mit dem Thema weiß ich eines ganz sicher, es gibt 'ne riesige Verunsicherung, Unsicherheit und auch Unkenntnis darüber, was überhaupt Rassismus ist. Dann sprechen wir über die Sprache der Macht, Macht der Sprache … Atmo … (Help a Child-Workshop mit Tupoka Ogette und Stephen Lawson) O-Ton 24 (Tupoka Ogette & Stephen Lawson): T: Diese Adoptiv-Workshops, die sind ja für Eltern oder Adoptiveltern, die Schwarze Kinder adoptieren, und es geht darum, dass weiße Eltern verstehen, dass ein Schwarzes Kind großzuziehen andere Voraussetzungen, andere Herausforderungen, andere, ja einen andern Blick erfordert, als wenn man ein weißes Kind in einer weißen Gesellschaft großzieht. Musik Zitatorin: Tupoka Ogette ist als Expertin für Vielfalt und Antidiskriminierung tätig und Autorin des Buches: 'exit RACISM: rassismuskritisch denken lernen'. Gemeinsam mit ihrem Partner Stephen Lawson leitet sie Workshops und Seminare, die sich unter anderem an Adoptiveltern Schwarzer Kinder richten. O-Ton 25 (Tupoka Ogette & Stephen Lawson): S: Ja, und es geht darum, die Angst davor zu verlieren, das Wort Rassismus auszusprechen und darüber zu sprechen, weil es wirklich auch eine Offenbarung ist für die Eltern zu sehen, dass das Kind doch mit Dingen konfrontiert wird, die sie selber nicht sehen. Und sie lernen in dem Workshop die Dinge zu benennen und zu beobachten und anzusprechen, ohne Angst drüber zu sprechen und ohne Schuldgefühle, sich selber als Teil der Gesellschaft zu sehen, die ja auch solche Sachen reproduziert. O-Ton 26 (Canan Ulufer): Als ich 2005 meinen Pass bekommen hab, sagte dann der Beamte: "Herzlichen Glückwunsch, jetzt sind sie Deutsche. Dann können sie jetzt auch der deutschen Nationalmannschaft die Daumen drücken". Da dachte ich, ach, so schnell geht das? Ich muss doch erst mal ein Gefühl bekommen. Was ist es deutsch zu sein? Was macht das Deutschsein mit mir? Werden die Menschen mich auch als Deutsche wahrnehmen? Werde ich ab jetzt auch Deutsche sein? Zitatorin: Canan Ulufer ist das älteste Kind einer türkischstämmigen Hamburger Familie. Seit 2009 arbeitet sie in der Schwangerenkonfliktberatung des Diakonischen Werks Hamburg. Als Mitglied der Kommission 'Weltanschauung, Staat und Religion' engagiert sie sich bei den Hamburger Grünen. O-Ton 27 (Canan Ulufer): Meine Mutter wollte mal Lehrerin werden. Na ja, im Zuge der Migration nach Deutschland, mein Opa war der Erste, der hier war, haben sie gesagt, gut, wir haben es nicht geschafft, aber unsere Kinder sollen 's schaffen. O-Ton 28 (Juliette Brungs): Natürlich, wenn man so aufwächst, dann möchte man auch mal so dazugehören, aber die Problematik des ... Nicht-Dazugehörens, des Andersseins ... also in meinem Falle auf jeden Fall ... wurde von Zuhause mitgegeben, aus der Erfahrung meiner Mutter, die … ein child surviver ist, die den Holocaust überlebt hat und ... Musik Zitatorin: Juliette Brungs ist in der DDR, in Ost-Berlin aufgewachsen und hat später in den USA an der University of Minnesota promoviert. Aktuell arbeitet sie in der Extremismus-Prävention im Rahmen der Beratungs- und Bildungsstelle 'Annedore', wieder in Berlin. O-Ton 29 (Juliette Brungs): Dann bin ich auch noch in der DDR aufgewachsen. Wir waren sowieso schon wenige, und man musste sich so ein bisschen vorsehen, in welchem Zusammenhang man was sagt. Das war ja sowieso so in der DDR, aber das mit dem Judentum war nochmal so 'ne spezielle Geschichte. O-Ton 30 (Sabine Hark): Zugehörig fühle ich mich zunächst erst mal zu der Person, mit der ich mein Leben teile … zu dem Kreis von Freund*innen, die ich gerne auch als meine Wahlfamilie beschreiben würde … das sind Freundschaften und Beziehungen, die über viele Jahrzehnte gewachsen sind, die basieren auf gemeinsamen politischen Erfahrungen … Zitatorin: Sabine Hark ist Professorin für interdisziplinäre Formen und Geschlechterforschung an der technischen Universität Berlin und leitet dort das 'Zentrum für interdisziplinäre Frauen- und Geschlechterforschung'. O-Ton 31 (Sabine Hark): Glaube ich nicht, dass Zugehörigkeit etwas ist, was sich auf Dauer stellen lässt und auf Dauer gestellt sein kann, sondern nur etwas, was erlebt, erfahren und insofern auch flüchtig ist. Der grundlegende Skandal des menschlichen Daseins ist, dass wir die anderen brauchen, um selber zu sein. Zitatorin: Gemeinsam mit Paula-Irene Villa hat sie das Buch geschrieben über die ambivalenten Verflechtungen von Rassismus, Sexismus und Feminismus in der Gegenwart 'Unterscheiden und herrschen'. O-Ton 32 (Sabine Hark): Ich komme aus 'nem kleinen Dorf … ich komme aus einem, was die Bildungssoziologie einen bildungsfernen Haushalt nennen würde. Ich war die erste, nicht nur in meiner Familie sondern in der gesamten Verwandtschaft, die Abitur gemacht hat, die studiert hat, die diese Art von Karriere eingeschlagen hat … die vom katholischen Dorf in die … lacht … protestantische, atheistische Metropole Berlin gegangen ist, die ein lesbisches Leben führt … also da gibt es unendlich viele Momente in meiner Biographie, die eher Momente von Fremdheit, von Nichtzugehörigkeit sind. Sprecher: Ich gehöre dazu. Hier, zu dieser Straße, zu diesem Stadtteil. Schließlich leben wir seit zwölf Jahren hier. Okay, wir mieten nur … dagegen besitzt die Familie nebenan auch noch das Mehrfamilienhaus gegenüber und die Wiese beim Spielplatz, ach ja, und das leere Grundstück hinter unserem Haus, glaube ich, auch. Die Leute schräg gegenüber haben jetzt das Haus am Ende der Straße, in dem ihre Eltern wohnten, neu renoviert. Eingezogen ist die Cousine mit Familie. Gehöre ich dazu? Wir wohnten schon ein paar Jahre hier, als ich mal auf der Straße stand im Gespräch mit der Nachbarin von gegenüber, die fragte, ob wir denn nicht Sehnsucht nach unserer Heimat hätten (wir kommen aus Stuttgart). Ich erklärte ihr, dass wir freiwillig hergezogen seien, einfach weil es uns hier gefällt, wir vermissen nichts. Stille. Sie schaute fragend und meinte: Also wenn wir uns dann vollends integriert hätten, dann könnten wir ja auch mal zum Stadtteil-Stammtisch kommen. …Also, wenn Integration schon am Schwäbisch-Sein scheitert, was sollen andere da sagen? Musik O-Ton 33 (Mareice Kaiser): Also wird man ja ganz oft: "Wird 's ein Mädchen oder ein Junge?", als wenn es was zu bedeuten hätte. Dann ist ja immer so eine der Reaktionen: "Ach, Hauptsache gesund". So, also ich glaube, wenn gesund, dann ja … lacht … wenn nicht gesund, dann Fragezeichen. Zitatorin: Mareice Kaiser schreibt auf ihrem Blog 'Kaiserinnenreich' über Inklusion und die Erlebnisse mit ihrer Tochter, die mit einer seltenen Chromosomenerkrankung zur Welt gekommen war. Musik O-Ton 34 (Mareice Kaiser): Bei meiner ersten Tochter, meiner Tochter mit Behinderung, war ’s zum Beispiel so, dass uns fast niemand gratuliert hat zur Geburt, und das war bei meiner nicht-behinderten Tochter anders. Wenig. Wenig Karten. Wenig Karten. Wenig bis gar keine Glückwünsche. Ein Pfleger im Krankenhaus, der uns zu ihr gebracht hat kurz nach der Geburt, der hat uns gratuliert, und das war dann auch so der Moment, in dem ich gecheckt hab, ah ja stimmt, ich bin ja gerade Mutter geworden, also weil halt alles ganz anders war. Sie war nicht bei uns, sondern ist sofort auf die Intensivstation gekommen, aber auch danach, ja da waren einfach ganz viele unsicher, weil eben dieses "Hauptsache gesund" war bei uns halt nicht, das konnte man nicht sagen. Also, das war halt irgendwie … Hauptsache Mensch … lacht … aber eben anders als erwartet. Und ich glaube, da sind dann einfach auch viele aufgeschmissen und wissen nicht, was sie da sagen sollen, und viele haben dann einfach nichts gesagt. Sprecher: Der Anteil der Menschen mit schwerer Behinderung liegt in Deutschland in der Gesamtbevölkerung bei knapp 10%. Nur ein Bruchteil, nämlich 4% kam schon mit einer Behinderung zur Welt. 96% hatten erst im späteren Lebenslauf einen Unfall oder eine Krankheit, die zur Behinderung führte. Musik Sprecher: Ungefähr 28% der in Deutschland lebenden Menschen sind katholisch, knapp 26% protestantisch, 6% muslimisch, 2% christlich-orthodox und 200.000 sind jüdischen Glaubens, das entspricht 0,25%. Die deutlich größte Gruppe von knapp 40% ist konfessionslos. Und wer hat ein institutionalisiertes Mitspracherecht in politischen und öffentlich-rechtlichen Gremien? Auch wenn die Mehrheit hier geboren ist, also nie selbst migriert ist, statistisch hat ungefähr jede vierte in Deutschland lebende Person eine Migrationsgeschichte: Zitatorin: "Zur Bevölkerung mit Migrationshintergrund zählen alle Menschen, die die deutsche Staatsangehörigkeit nicht durch Geburt besitzen oder mindestens ein Elternteil haben, auf das dies zutrifft.", definiert das Statistische Bundesamt. Vertriebene und Spätaussiedler*innen gehören explizit nicht dazu. Sprecher: Jedes fünfte Kind in Deutschland ist von Armut betroffen. Nimmt man die relative Armut als Bezugsgröße, ist es sogar jedes vierte Kind. Diese grundlegende gesellschaftliche Schieflage kann nur deshalb vernachlässigt werden, weil sie in sozialen und städtebaulichen Randlagen spielt, wo die Mehrheitsgesellschaft, nicht so genau hinschaut, nicht gerne hinsieht. Können die 10% der Bevölkerung mit Behinderung eine Minderheit sein? Oder die 20 Millionen Menschen mit Migrationsgeschichte? Die 20, 25% Kinder, die in Armut leben? Was ist das für eine Normalität, die weite Teile der Wirklichkeit einfach ausblendet, ausgrenzt? Wieso akzeptiert die Mehrheit nur solche Körpermaße als 'normal*, denen grade mal zwei bis fünf Prozent der Menschen und nur mit Mühe genügen können … und reproduzieren sie in der Mode, in Werbung und Filmen als erstrebenswertes Ideal? Für alle? Wessen Realität soll das abbilden? Musik Sprecher: Und weiter: wie konnte es dazu kommen, dass ein Wirtschaftssystem als 'normal' und allgemeingültig gilt, verteidigt wird, von dem auch in der westlichen Welt nur verhältnismäßig wenige profitieren und im globalen Maßstab eine eigentlich lächerlich kleine Minderheit? Das reichste 1% der Bevölkerung in Deutschland besitzt gut 30%, während die ärmere Hälfte gerade einmal über 1,3% des Gesamtvermögens verfügt, Stand 2017. Und die Ungleichheit hat sich in den vergangenen Jahren immer weiter verschärft. Normal ist: Zitatorin: … ein Adjektiv, der Norm entsprechend, vorschriftsmäßig, oder: so beschaffen, geartet, wie es sich die allgemeine Meinung als das Übliche, Richtige vorstellt. Sprecher: Normal ist: O-Ton 35 (Canan Ulufer): Wenn ich seh', wie mein Bruder heute oder meine Brüder mit den Kindern umgehen, was die Kinder alles bekommen, ja nicht nur diese Kinder, mit wie viel … eigentlich ja die Liebe unserer Eltern uns bis hier hin getragen haben, weil sie konnten mit uns nicht deutsch lernen, sie konnten keine Diktattexte lernen, wir konnten nicht zum Schwimmen und Klavierunterricht gehen. O-Ton 36 (Mareice Kaiser): Da kann ich aus meiner persönlichen Geschichte ja vor allem erzählen und denke da an Situationen, die wahrscheinlich alle Eltern kennen: Man geht irgendwie mit dem Kind spazieren im Kinderwagen und so eine „normale“, in Anführungszeichen, Reaktion ist dann ja, dass Leute in den Kinderwagen gucken und sagen „Ach, wie süß, wie niedlich“ und bei unserer Tochter war das dann eher so reingucken und dann – oh, und das ist natürlich dann eine Reaktion bei der man merkt … hm … lacht … da hat sich jetzt jemand was anderes vorgestellt. O-Ton 37 (Canan Ulufer): Und wenn ich sehe, was die Gastarbeitergeneration hier geleistet hat. Viele von ihnen kamen ja aus bildungsfernen Zusammenhängen. Mein Großvater hatte das Glück, er war nicht bildungsfern, er hatte als Bankangestellter gearbeitet, hätte sogar Politiker werden können, aber meine Urgroßmutter wollte das dann nicht so gerne, hat gesagt, nee, das wirste dann nicht. Und er hat zwei Mal einen Brief bekommen, dass er nach Deutschland kommen kann, dass er als Gastarbeiter angenommen wurde, und meine Urgroßmutter hat den Brief zwei Mal zerrissen. O-Ton 38 (Mareice Kaiser): Ja vielleicht bei so typischen Baby-Eltern-Sachen also, was macht man, wenn man gerade ein Kind bekommen hat, zur Babymassage gehen oder PEKiP, oder wie diese ganzen Kurse heißen. Und das war am Anfang mit unserer ersten Tochter schwierig, wir haben es dann trotzdem einfach probiert, dabei zu sein, das hatte gute und schlechte Momente, gute waren zum Beispiel wenn dann alle anderen Babys ohne Behinderung das irgendwie ziemlich uncool fanden, und unsere Tochter aber eingeschlafen ist bei der Babymassage und ich immer wusste, ich kann währenddessen die Rückbildung machen und mein Kind ist es auf jeden Fall nicht, das schreit, gleichzeitig waren dann aber natürlich immer Blicke, also wir waren halt immer anders als die anderen. O-Ton 39 (Michel Arriens): Ein Moment kann einen Menschen ziemlich weit zurückwerfen. Es ist, ich sprech da, glaub ich, auch nicht nur für mich, auch für Eltern zum Beispiel, die ein Kind mit Kleinwuchs bekommen, die einfach auch noch nicht so gefestigt sind und ihr Leben noch nicht mit so vielen positiven Beispielen untermauert haben. Da kommt halt so 'ne Feder und stupst mal eben diese kleine, dünne Mauer wieder um. Das ist bei mir einfach, die Mauer ist gefestigter, weil ich so viele Dinge schon erlebt habe, die so toll sind in meinem Leben und die ich erreicht habe und so viele Menschen kennengelernt habe, für die das vollkommen normal ist, dass wir alle unterschiedlich sind. O-Ton 40 (Canan Ulufer): Und er war sehr stark, er hat sich durchgesetzt, er ist hergekommen, andere Sprache, andere Kultur, andere Religion und andere Zeit, also sie war auch nicht digitalisiert. Das ist 'ne ganz andere technologische Zeit gewesen in den 50er Jahren mit dem Zug, mit dem Flugzeug, 60er Jahre. Und ich glaube, dass ihm wirklich sehr viel Respekt und Anerkennung gebührt, weil ich immer wieder sage, ohne die Gastarbeiter wäre Deutschland heute nicht das Land, was es ist. Das sag ich ganz selbstbewusst. O-Ton 41 (Mareice Kaiser): Also, was so einen Unterstützung oder Betreuung von einem Kind mit Behinderung angeht, ist es halt schwierig, weil man wenig angeboten bekommt und alles einfordern muss. Und da sind die meisten Eltern von Kindern mit Behinderung inklusive mir am Anfang überhaupt gar nicht fähig dazu. Also, da gibt ’s ja erst mal ganz, ganz viele andere Dinge, die da passieren. Also erst mal die Trauer darum, dass da nicht das Kind geboren wurde, das man sich vielleicht erhofft oder erwartet hat und eine Akzeptanz davon und in dieser Zeit ist es aber schon wichtig zu gucken, wie man entlastet wird, und das schaffen ganz viele Eltern gar nicht. O-Ton 42 (Michel Arriens): Man kann es am Beispiel der Kinder, die auf mich zukommen und fragen, warum bist du kleinwüchsig, oder Kinder, die mich einfach nur angucken und sagen: "Mama, guck mal, der ist aber klein." Das ist etwas, was mich natürlich schon kurz aus der Bahn wirft und mir wieder klar macht, ah ja, du bist ja kleinwüchsig. Ganz vergessen. Aber das ist nicht so etwas, was mich langfristig in meiner Persönlichkeit also beschränkt beziehungsweise mir wieder deutlich macht, dass ich nicht Teil der Gesellschaft bin, sondern nur, ja, dass ich halt nicht die in Anführungszeichen "Norm" bin, aber das heißt halt noch lange nicht, dass dieses Kind daraus herleitet, dass ich ein schlechterer Mensch bin, oder dass ich etwas nicht kann oder was auch immer. O-Ton 43 (Mareice Kaiser): Gleichzeitig waren dann aber natürlich immer Blicke, also wir waren halt immer anders als die anderen. Und es hat schon manchmal so auch ins Herz gestochen, manchmal war das dann okay und irgendwann ist man dann in der Rolle und liebt ja auch dieses Kind und es ist irgendwie in Ordnung anders zu sein, aber es gab immer wieder Momente, in denen es auch nicht so schön war und auch Tage, an denen ich dann auch eher nicht mit ihr einkaufen gegangen bin, weil ich die Blicke an dem Tag nicht aushalten wollte. O-Ton 44 (Katrin & Jens): J: Sieht ja witzig aus, kleiner schwarzer Junge auf der Schulter von 'nem weißen Papa mit seinen Dreadlocks und daneben die weiße Mutter. Und dann war das wohl kurios genug für die Leute drum herum und fingen dann an, mit dem Handy von uns Fotos zu machen. Wir fallen halt auf, das ist so. Das ist eben nicht das Normale. Und die Blicke kommen immer. Ich denk, ich kann mittlerweile ganz gut drüber hinwegsehen. Also ich … hängt natürlich drauf an, in welcher Tagesverfassung ich bin. Manche sind aufdringlicher, manche weniger aufdringlicher, also wirklich, wenn der Kopf so mitgeht, ne, das ist dann immer … ist dann schon … dann mach ich mir immer oft 'nen Spaß draus. Musik Zitatorin: Katrin und Jens leben in Freiburg, er ist Ingenieur, sie arbeitet als Sozialpädagogin. 2015 haben sie ein Waisenkind aus Haiti adoptiert. O-Ton 45 (Katrin & Jens) J: Der ganze Prozess hat drei Jahre gedauert, also vom Sommer 2012 bis April, nee Juni 2015, ein sehr, sehr anstrengender Prozess. Also hab immer gesagt, man zieht sich halt komplett aus, also man … psychologisches Gutachten, finanzielle Situation, Lebensbericht, das war noch das Spannende, dass man selber einen Lebensbericht schreibt. Ja sehr, sehr langwieriger Prozess, wobei der Kindervorschlag zu Benson kam sehr, sehr schnell. Nach sechs Monaten hatten wir den Kindervorschlag etwa, sechs, sieben Monate … sind auch dann sofort nach Haiti gereist. Also das gehört halt zum Adoptionsprozess dazu, dass man drei Wochen in dem Ursprungsland verbringt, mit dem Kind zusammen, unter Beobachtung steht. Alles gut und schön, das Problem ist nur, dann sind wir in 'ne Verfahrensumstellung reingerutscht und wir mussten dann selber auf die Abholung 13 Monate warten. K: Ja. Das war … die Wartezeit war für uns ein großer Kraftakt, emotional. J: Und das ist auch, also da sind wir durch ein riesen, riesen Tal gegangen, also emotional auch, man muss sich das so vorstellen, man verbringt drei Wochen mit dem Kind vor Ort und dann reist man ab. Und das fängt dann an, also dieses Gefühl, jemanden so im Stich zu lassen, also das - mich hat das zerrissen, absolut zerrissen, diese 13 Monate, aber natürlich auch 'ne sehr, sehr gute Grundlage geschaffen, also das Loch ohne ihn wurde immer größer, und als er dann da war und da reingepasst hat … es musste auch so ein, also anders durfte es gar nicht sein. Also jetzt ungeachtet der Tatsache, dass ich natürlich im jungen Alter viel mehr Zeit mit ihm verbracht hätte, aber da ist es halt jetzt nicht zu gekommen. O-Ton 46 (Tupoka Ogette & Stephen Lawson): T: Thema, also bei den Adoptiveltern ist ja auch dieses Doppelte … dass … dadurch dass das Kind schwarz ist und die Eltern meistens weiß, ähm, noch mal auch da die Zugehörigkeit immer und immer wieder neu bewiesen werden muss oder in Frage gestellt wird. Also dass die Kinder immer wieder erleben: "Okay, wie kann denn das sein, dass ihr 'ne Familie seid, dass ihr zusammen gehört?" Sprecher: Die einzelnen Organisationen mögen das unterschiedlich handhaben, bei HELP a child e.V. gehört zum Adoptionsprozess zwingend auch ein Sensibilisierungs- und Empowerment-Seminar in Sachen Rassismus, zum Beispiel mit Tupoka Ogette und Stephen Lawson. Denn nur so werden sie in die Lage versetzt, ihre Kinder zu schützen und zu stärken. O-Ton 47 (Tupoka Ogette & Stephen Lawson): S: Na, sie kommen schon mit einem Bedürfnis, weil viele davon schon Kinder haben und merken, dass das Kind mit schweren Belastungen oder irgendwelchen Irritationen nach Hause kommt, die es vielleicht nicht so gut artikulieren kann und auch teilen kann. Und durch den Workshop werden so die Augen und die Wahrnehmung geöffnet für Dinge, die sonst den Eltern, den Waiseneltern entgehen. Und eben auch diese Ablehnung, die vielleicht erst mal entsteht, oder dieses runter, abwiegeln, ach, hast du dir das vielleicht eingebildet. T: Und ich glaub, es sind so zwei Sachen, die so schockierend sind. Also einmal diese Erkenntnis, Rassismus ist real, Rassismus ist ständig um uns rum in allen Kontexten, in denen wir uns bewegen, und auch ich selbst bin nicht frei davon, egal wie sehr ich das möchte und auch trotz, obwohl ich ein schwarzes Kind adoptiert hab, ich selbst hab Sachen internalisiert. Und dann die andere Erkenntnis, ja so 'ne gewisse Ohnmacht zu erkennen, ich kann mein Kind nicht davor schützen. Also das ist die zweite Aussage: alle schwarzen Menschen per se machen in unserer Gesellschaft Rassismuserfahrungen. Und das Ziel ist nicht, dass wir, dass diese nach dem Workshop keine mehr machen werden, sondern im Gegenteil, sie werden sie machen, aber das Wichtige ist, dass Eltern lernen, sie zu erkennen und die Kinder aufzufangen usw. Einspieler 12: Atmo … Mein Name ist Tupoka, ich hab den Namen als Kind echt gehasst. Ich war in Leipzig das einzige Schwarze Kind weit und breit und ich hab das Gefühl gehabt, keiner kann diesen Namen aussprechen, der ging in keinen Kopf hinein, kam aus keinem Mund wieder raus. Ich wollte gerne Anna heißen oder Sarah. Eine Geschichte ist, dass ich in die Schule kam, in die weiterführende Schule in Berlin, ins Gymnasium, erster Tag, grauer Tag, graues Riesengebäude, erste Stunde, Latein bei Herrn Berger, sehr streng, sehr autoritär, stand vorne, und wir zitterten in unseren Bänken, und er las die Namen vor und er sagte Tupooka. Und ich dachte so … hm … und dann hab ich die ganze Stunde dagesessen und an mir gearbeitet, wie ich ihm jetzt sage, dass ich Tupoka heiße und nicht Tupooka. Und dann bin ich nach vorne gezittert nach der Stunde: "Herr Berger, ich heiße Tupoka und nicht Tupooka." Und dann sagte er: "Nein, wir sind hier im Lateinunterricht, tupoca, tupocarum, tupocatus …", hat das durchdekliniert, und ich war dann eben fünf Jahre lang die Tupooka. So oder so ähnlich, aber auf jeden Fall kürzer, weil wir so 'ne riesige Runde sind, wünsch ich mir, dass jeder und jede von euch irgendwas zu eurem Namen sagt, wenn ihr wisst, warum ihr den bekommen habt, oder wie 's euch als Kind mit dem Namen ging, es kann auch positiv sein, oder wenn ihr wisst, was der Name bedeutet, irgendein Detail, bitte, bitte haltet euch kurz, ich darf so lange reden weil … okay … Atmo (Help a Child-Workshop mit Tupoka Ogette und Stephen Lawson) O-Ton 48 (Tupoka Ogette & Stephen Lawson): T: Diese Zielgruppe, es sind Adoptiveltern, die haben meistens schon einen ganz langen Weg überhaupt, um, bis das Kind dann da ist. Dann kam diese Vorstellung, ja nur die Liebe zählt, quasi. Und dann haben sie ihr Kind und dann merken sie aber, irgendwie gibt 's doch Schwierigkeiten, können sie aber nicht genau benennen und dann im Workshop sind sie auch erst so, ach wir beschäftigen uns mit Rassismus, das ist eigentlich nicht ein Thema, was wir haben. Und dann so im Laufe des Tages merkt man, wie so ein Prozess in Gang gesetzt wird. Und der geht mit Überraschung, Ängste, Frustrationen, Sorge … also eine Teilnehmerin sagte einmal: "Ich hab das Gefühl, da ist ein Tornado durch meinen Kopf gegangen irgendwie, am Ende des ersten Tages." Und ich glaub, das beschreibt schon das, was, wie es ganz vielen geht. S: Ja, es sind ganz unterschiedliche Eltern da. Manche die wirklich, ja, mit verschränkten Armen so dasitzen und sagen, ja gut, wir haben jetzt doch ein Kind adoptiert, und was sollen wir hier? Und andere wieder, das andere Spektrum, die wirklich vielleicht schon zum zweiten Mal bei so 'nem Workshop sind und sich wirklich auseinandergesetzt haben, ja die Notwendigkeit sehen, sich mit anderen Eltern auszutauschen, sich zu stärken, dass die Kinder sich kennen, denn es gibt ja auch unterschiedliche Aspekte von Rassismus. Einspieler 13: Atmo … Hautfarbe spielt für mich gar keine Rolle … Gemurmel … - Und bestimmt haben ganz viele gesagt: Ja, das ist so, mir ist ganz egal, ob jemand weiß, schwarz, grün, blau oder lila ist, irgendwie kommen dann oft auch noch solche Farben. Und das finde ich erst mal nett … lacht … und ich glaube auch und bin auch überzeugt davon, dass alle Menschen, die hier heute sitzen, ganz stark das Bewusstsein haben oder den Wunsch haben, dass anhand von diesem Marker 'Hautfarbe' kein Ausschluss geschieht, dass eure Kinder keine anderen Erfahrungen machen als ihr und dass, also keine negativen anderen Erfahrungen machen, und dass diese Kategorie 'Hautfarbe' keine ist, die irgendwie das Leben negativ beeinträchtigt, ja? Ich nehme an, dass wir alle diesen Wunsch teilen. Realität ist ja, wenn du und ich wieder auf die Straße gehen, werden, sind wir mit anderen Vorurteilen konfrontiert, haben wir andere Chance auf dem Arbeitsmarkt, wenn wir uns um 'ne Wohnung bewerben, ja, vielleicht noch nicht am Telefon, beim Namen … öh … sobald sie mich, uns beide sehen … hm … ja, wir haben andere Sicherheitsempfindungen in ganz vielen Kontexten in diesem Land und nicht nur im Osten, wo wir gucken müssen, fühlen wir uns hier sicher, geht 's uns hier gut, müssen wir gleich rennen oder nicht, so. Und solange das so ist, finde ich dieses Statement: "Hautfarbe spielt für mich keine Rolle" lieb gemeint, aber nicht hilfreich … Atmo (Help a Child-Workshop mit Tupoka Ogette und Stephen Lawson) O-Ton 49 (Katrin & Jens): J: (Flugzeug, laut) Also, es war also wir sind ja dann hinten … es kam halt der Anruf: "Okay, ihr könnt ihn holen, die Papiere sind fertig, er hat nen deutschen Reisepass, ihr könnt ihn halt abholen und die Vereinbarung zwischen Katrin und mir war, dass wir dann alles liegen und stehen lassen, ich die Flüge buche und wir dann da rüber fliegen. (Flugzeug leiser) Der Punkt war … Katrin wusste morgens, wenn sie zur Arbeit ging, nicht, dass das ihr letzter Arbeitstag für die nächsten zwei Jahre ist. K: Hmh, man darf auch nicht vergessen, das sind auch Kinder, die sind auch traumatisiert, ne? Also die haben alle einiges erlebt, alle. Geschichten hinter sich und - muss man sich auch mit auseinandersetzen, also - das ist nicht nur Adoptionsromantik und irgendwie, sondern man muss sich echt damit auseinandersetzen, auch vorher, also. Und auch hinterher und immer wieder und sich auch dessen bewusst sein und … ja, ich denk das ist auch lebenslang Arbeit, sich damit auseinanderzusetzen. O-Ton 50 (Tupoka Ogette & Stephen Lawson): T: Gleichzeitig ist es aber so, dass die so ganz sehr das Bedürfnis haben, es richtig zu machen. Ja diese Reise, bis das Kind da war ist so sehr lang und mitunter ja auch super schmerzhaft gewesen und viele Herausforderungen durchgangen und dann endlich, also das ist ja auch ne Bürde, dieses, na, das ist auch, ja dieser Adoptionsprozess dauert lang und ist mit Warten verbunden, mit Hoffen und Ängsten usw. Und dann ist das Kind da und dann läuft es immer noch nicht so ganz, also die sitzen da mit Stift und Zettel und erwartungsvoll und ich hab kaum Workshops, in denen, wir haben kaum Workshops in denen die Eltern so sehr das nutzen, dass sie uns quasi als Thinktank, also unsere Erfahrungen nutzen. Ich bin mitunter die erste Schwarze Frau mit der sie je sprechen und dieses Thema genauer, ja tiefergehend über dieses Thema, sie nutzen das, wenn sie es ganz unterschiedlich dann sind. O-Ton 51 (Katrin & Jens): J: Schön war der Moment, als wir dann bei uns in Freiburg in unsere Wohnung angekommen sind, aufgeschlossen haben, und er ist wie selbstverständlich reingelaufen und hat gedacht: "Okay, das … ich glaub, hier kann ich 's aushalten", das war sehr, sehr schön. Schlimm war dann wieder, wir waren gerade eine halbe Stunde da, und er hat, die ganze Zeit war er schon krank, sehr dehydriert, wir haben halt die ersten zwei Nächte in Freiburg hat er im Krankenhaus verbracht. Im Nachhinein muss ich aber sagen, weil du halt die, also Katrin die zwei Tage rund um die Uhr bei ihm warst, das hat, das war eigentlich auch ein sehr, sehr guter Schlüssel, weil er hat gemerkt, mir geht 's sehr, sehr schlecht, aber Katrin ist ja jetzt, also meine Mama ist jetzt für mich da, 24 Stunden, zwei Tage lang, und das war, das war glaube ich auch nochmal ein riesen Türöffner. K: Wir durften nicht … im Türrahmen sind wir eingeschlafen, ich … J: Im Krankenhaus, ne? K: Ich musste nur, nur tragen, nur … also liegen durfte ich nicht mit ihm, und dann sind wir im Stehen eingeschlafen, also im Krankenhaus, das war irgendwie so diese Nähe, diese tragende Nähe, die war wichtig. Die brauchte er. Das waren so die ersten 24 Stunden und … genau, das war so ankommen, ja. und … J: Ja, das war so … ihr wart im Krankenhaus, ich hab abends mit ner Flasche Bier auf dem Balkon gesessen und mir sind eigentlich die Tränen gekommen, also am - zu realisieren, er ist da, er ist da einmal, jetzt ist er schon im Krankenhaus, aber dann auch gleichzeitig das Gefühl, “OK das gehört auch einfach dazu”, ne? Weil das ist jetzt halt Familie. Also es - ich hätt 's mir jetzt zwar vielleicht ein bisschen später gewünscht, nicht direkt in den ersten 24 Stunden aber es war halt so ein Gesamtpaket, ne, dass dann so auf mich auch echt eingeprasselt ist. Und dann saß ich da heulend am Balkon bei 'ner Flasche Bier. Aber war gut. Sprecher: Kinder lernen, die Welt zu verstehen, indem sie Kategorien erkennen und selbst bilden: Hat vier Beine und bellt… Hund. Hat vier Beine, rennt weg und macht 'miau' … Katze. Hat auch vier Beine, rennt nicht weg, macht kein Geräusch und ich kann mich drauf setzen … Stuhl. Kategorien formen unser Denken und letztlich auch die Art und Weise, wie wir auf andere Menschen zugehen. Kategorien auf unsere Mitmenschen angewendet, bedeutet, Gruppen zu bilden: Wir und die Anderen. O-Ton 52 (Sabine Hark): Gesellschaft funktioniert ja darüber, dass sie uns alle von Anfang an in unterschiedliche Kategorien steckt ... also Geschlecht ist eine davon, Herkunft ist natürlich ... soziale Herkunft ist eine andere ... Ethnizität ... Religion, körperliche, geistige Befähigungen … all diese Differenzierungsmerkmale bahnen auch sozusagen die Wege, die ein Leben nehmen kann und organisieren, zu welchen Gruppen, zu welchen Wirs jemand gehört oder gehören kann. Sprecher: Wenn wir Menschen ganz automatisch und selten hinterfragt in Gruppen einteilen, dann sind auch die unbewussten Wertungen nicht weit. Seit Henri Taijfel und John C. Turner in den 1970er Jahren ihre Theorie des sozialen Identität entwickelt haben, erforscht die Sozialpsychologie, was passiert, wenn Menschen in Gruppen eingeteilt werden, das kann willkürlich geschehen durch Münzwurf oder anhand bestimmter Kriterien wie Musikgeschmack oder Augenfarbe, letztlich ist der Anlass der Einteilung egal, die Folgen sind dieselben: Je mehr Zeit die neu gebildeten Gruppen untereinander verbringen, gemeinsam Aufgaben lösen, Erfolgserlebnisse, Enttäuschungen teilen, ins Gespräch kommen, desto stärker wird die Identifikation der Einzelnen mit der Gruppe, es bildet sich eine sogenannte ‚Eigengruppe‘. Mit der Zeit steigt das Bedürfnis, sich von den Anderen, der ‚Fremdgruppe‘ abzugrenzen und mehr noch: deren Leistungen, Arbeitsergebnisse und Entscheidungen abzuwerten. Während sich die Gruppenmitglieder sich besser kennenlernen und das Gefühl entwickeln, mit starken, eigenständigen Individuen zusammen zu sein, scheinen ihnen ‚die Anderen‘ immer gleichförmiger, einander ähnlicher - sie sehen, überspitzt formuliert, irgendwie auch alle gleich aus, vertreten scheinbar dieselbe Meinung und werden so zu einer homogenen Masse. Doch so individuell die Mitglieder der eigenen Gruppe auch scheinen, ist es tatsächlich so, und auch das konnte in vielen Studien immer wieder nachgewiesen werden, dass wir alle unseren persönlichen Geschmack, unsere Ansichten und Meinungen dem Gruppenkonsens angleichen. Wir passen uns an, geben unsere Individualität ein Stück weit auf, um dazuzugehören. Bloß nicht anders sein und plötzlich außerhalb der Gruppe stehen. Das Gefühl von Eigenständigkeit und Unabhängigkeit ist ganz oft nur eine Illusion. Musik: Sprecher: Normalität ist die Übereinkunft der eigenen Gruppe. Eine verallgemeinernde Festlegung, die den Zweck hat, die Eigengruppe zu stärken und abzugrenzen von den Anderen, der Fremdgruppe. Und immer geht es dabei um Privilegien und Macht. Wer 'normal' definiert, hat die Macht zu bestimmen, was richtig ist und was falsch, wer dazugehört und wer nicht. Fußballverein? Musikgeschmack? Nordstadt, Südstadt? Rechts vom Fluss oder links? Herkunft, Religion, Geschlecht? Politische Haltung? Vegetarisch, vegan? Alkohol oder nicht? Jung, alt, arm, reich? Hauptschule, Gymnasium, Ausbildung oder Studium? O-Ton 53 (Mareice Kaiser): Ja mir fällt gerade was ein, ich sag’s einfach … lacht … Das Gleiche gibt ’s dann ja auch andersrum, also wir haben zum Beispiel eine Gruppe für kleine Kinder gesucht, die inklusiv ist, wo Kinder mit und ohne Behinderung zusammen sein können, und für unsere erste Tochter haben wir dann eine sogenannte inklusive Krabbelgruppe gefunden, in der dann aber nur Kinder mit Behinderung waren und lustigerweise hieß sie Krabbelgruppe, obwohl keins der Kinder krabbeln konnte … lacht … aber das war auch irgendwie so komisch, weil ja, also da haben wir uns natürlich dann zugehörig gefühlt, weil da ausschließlich Familien mit behinderten Kindern waren, die eben nicht in so ein Raster passen von U-Heft und dann muss das Kind sich drehen und dann muss das Kind sprechen und so. O-Ton 54 (Michel Arriens): Wir reden von der Integration, sprich, wir haben bunte Bälle in der Mitte, die Gesellschaft, und blaue Bälle am Rand. Und wir nehmen sie quasi mit in unseren Kreis, aber sie bleiben immer noch ihr eigener Kreis. Und die Inklusion macht es ja so, dass die blauen Bälle quasi untergehen mit allen andern Bällen, und wir eine bunte Gesellschaft sind. Es gibt keine Normen mehr, es gibt nur noch bunte Bälle und das sind wir. O-Ton 55 (Mareice Kaiser): Also das war dann schon auch sehr befreiend, da über einfach über so einen ganz anderen Alltag mit einem Kind zu reden, aber gleichzeitig dachte ich dann auch so, so verstehe ich Inklusion dann auch nicht, dass nur die Kinder mit Behinderung zusammenkommen und deren Eltern und letztendlich führt sich das ja dann so fort, also du kommst halt in so einen Sonderweg, wo dann die Kinder, die dann irgendwann Menschen mit Behinderung werden, nur unter sich bleiben und das ist ja auch so, ich weiß jetzt nicht wie das jetzt in deinem Alltag ist, aber höchstwahrscheinlich gehörst du auch zu denen, die Menschen mit Behinderung hauptsächlich in Gruppen treffen. Und so ist es halt schwierig miteinander in Kontakt zu kommen und so wird Inklusion nie lebbar sein, wenn man so Leben nebeneinander her lebt. O-Ton 56 (Katrin & Jens): K: Ja, was wir schon erlebt haben, ist leider auch von offizieller oder institutioneller Seite, also wir hatten schon die erste Einschulungsuntersuchung und dann ist da gleich von 'ner Zweisprachigkeit ausgegangen, weil der Vater wahrscheinlich oder die Annahme war, dass der Vater schwarz ist, also ich mein, dass das Kind zweisprachig ist, nur weil es Schwarz ist. Da war ich auch erst mal baff. Und dann liegt 's an uns Eltern, wie wir darauf reagieren auch im Beisein des Kindes dann darauf … also wie sollen wir darauf reagieren, ohne dem Kind zu vermitteln, dass es jetzt keinen Fehler gemacht hat, und ja, wichtig ist erst mal der Schutzraum für unsern Sohn und eventuell erst mal fallen lassen und dann zu überlegen, was machen wir daraus, also - genau. Und schützen können wir ihn nie, das, das muss man erkennen, das muss man auch akzeptieren und das wird auch noch wahrscheinlich schmerzhaft für uns werden, das für uns alle zu akzeptieren irgendwo. Musik: O-Ton 57 (Canan Ulufer): Was wäre eigentlich, wenn wir Deutsche gewesen wären, was wäre eigentlich, wenn unsere Eltern deutsch gewesen wären? Ich weiß nicht, was für ein Mensch ich geworden wäre. Ich glaube, ich wäre nicht der Mensch, der ich heute bin. Und ich bin eigentlich sehr glücklich, dass ich der Mensch bin, der ich heute bin. Aber ich glaube, wenn ich als Deutsche auf die Welt gekommen wäre, hätte ich vielleicht mehr Kindheit gehabt, vielleicht, vielleicht 'ne gewisse Leichtigkeit, weniger Auseinandersetzung, weniger Rechtfertigung, weniger Erklärung, weniger Definition. Sprecher: ​ In dieser ersten Stunde der langen Nacht, ging es ums Ankommen, in eine Gruppe hineinwachsen, herausfinden, ob man dazugehört. Und darum, was es überhaupt bedeutet, dazuzugehören, richtig oder normal zu sein. Zu Wort kamen Mareice Kaiser, Dalibor Markovic, und Ferda Ataman, Gianni Jovanovic, Sabine Hark, Anne Taube und Juliette Brungs, Katrin und Jens, Michel Arriens, Tupoka Ogette, Stephen Lawson und Canan Ulufer: O-Ton 58 (Canan Ulufer): Und so merk ich eigentlich, dass ich manchmal zwischen den Welten lebe, so 'ne Grenzgängerin bin zwischen Abend- und Morgenland, zwischen Orient und Okzident. Und ich weiß immer gar nicht, wohin ich wirklich gehöre. Und daher ist für mich auch Zugehörigkeit nicht ein Ort, ein Land, sondern Zugehörigkeit entsteht durch Menschen. Sprecher: In der kommenden Stunde dieser Langen Nacht der Zugehörigkeit(en) geht es dann um die Kunst, auch weiterhin dazuzugehören. Wenn man es einmal geschafft hat, was muss frau tun, um den Status des Gruppenmitglieds nicht wieder zu verlieren? Um auf Dauer dazuzugehören? Musik 2. Stunde Musik O-Ton 59 (Tupoka Ogette & Stephen Lawson): S: Normalität ist ja, einfach sein zu können, wie man will, und nicht zwanghaft zu versuchen: Ich will jetzt irgendwo dazugehören. T: Es wird immer neu ausgehandelt, Zugehörigkeit, oder? S: … eigentlich ist die Welt so, dass wir erkennen müssen, dass Zugehörigkeiten nicht starr sind, und das viel Bewegung immer schon stattgefunden hat. O-Ton 60 (Mareice Kaiser): Also, wenn ich so über das Wort 'normal' nachdenke … ich weiß nicht, das sagt mir nichts, glaub ich, außer dass es was ist, was wahrscheinlich ziemlich viele Menschen unter Druck setzt … O-Ton 61 (Michel Arriens): Gesellschaftlich gesehen ist normal das, was am meisten vorkommt, somit wir als kleinwüchsige Menschen nicht. Für mich ist normal, dass wir alle verschieden sind. O-Ton 62 (Sabine Hark): Also es gibt viele Momente in Berlin ... im Berliner Alltag ... so ruppig er ist ... aber wo ich denke, ich bin nicht in Berlin geboren und aufgewachsen, aber ich lebe ja jetzt schon dreißig Jahre hier, und da gibt es viele Momente, wo ich sage, ja, Berlin ist meine Stadt. Man kann hier einfach sein. Ohne, dass man groß … hier sind so viele unterschiedliche Leute, das nehme ich schon öfter wahr, wenn ich in kleineren Städten bin oder gar in dem Dorf, aus dem ich komme, dass natürlich die Gelassenheit im Umgang mit unendlich verschiedenen Menschen … es gibt sicherlich andere Orte der Bundesrepublik, wo es auch der Fall ist, aber das ist in Berlin schon außergewöhnlich, wie unterschiedlich die Menschen hier sein können. O-Ton 63 (Canan Ulufer): Normal ist miteinander, ohne das Hervorstechende. Normal ist, wenn ich nicht nach einem Terroranschlag mit gesenktem Kopf durch die Straßen laufen muss oder ich damit konfrontiert werde. O-Ton 64 (Mareice Kaiser): Es fühlt sich nicht so richtig, aber vielleicht wäre so ’n Synonym dafür für mich 'langweilig', also es interessiert mich nicht … mich interessieren eher Ecken und Kanten und alles das, was vielleicht eher als nicht normal gilt. O-Ton 65 (Michel Arriens): Also es gibt für mich im Grunde genommen eigentlich keinen Normbegriff mehr. O-Ton 66 (Mareice Kaiser): Also klar, letztendlich ist jeder Mensch, der auf die Welt kommt, Teil der Gesellschaft, die Frage ist ja: "Wer entscheidet das überhaupt?“ Also ich glaube, mit dem Dasein ist man dann einfach da, und dann hat die Gesellschaft damit umzugehen! O-Ton 67 (Tupoka Ogette & Stephen Lawson): T: Ich finde in der Situation immer wichtig, dass der Satz zu Ende gesprochen wird, also: er ist anders als du. Das Kind ist nicht per se anders. Es gibt immer 'ne Perspektive, es gibt keine Objektive, die dann suggeriert wird. Und um das aufzubrechen, find ich es für Eltern wichtig, auch zu Hause wenn sie sprechen oder auch wenn ich mit Kindern spreche, immer zu sagen: "Okay, ja, das Kind hat andere Haare als du", und nicht nur zu sagen: "Du bist anders." … Du bist anders als er, und du bist auch anders, und er ist anders als du, und alle sind voneinander anders, und doch seid ihr alle Kinder, und doch geht ihr alle in die Kita, und doch mögt ihr alle Eis … also beide Aspekte, immer wieder, gebetsmühlenartig, Sprecher: Vieles lässt sich im familiären Umfeld und einer sensiblen Kita-Umgebung noch ausgleichen, vielleicht sogar verhindern, der Eintritt in die Schule mit ihren Erwartungshaltungen, Bewertungsmaßstäben und Noten ist für die meisten Kinder ein prägendes Erlebnis und erster selbständiger Schritt hinein in die Gesellschaft. Schule ist dabei kein neutraler Lernort, hier geht es eben nicht nur um Rechnen, Grammatik und unumstößliche naturwissenschaftliche und historische Fakten. Ganz selbstverständlich, nebenbei und viel zu selten hinterfragt, werden hier die mehrheitsgesellschaftlichen Regeln verinnerlicht und Machtstrukturen reproduziert: wer ist in Schulbüchern und Unterrichtsthemen repräsentiert, was wird eher unter den Teppich gekehrt? Wer bekommt Anerkennung und wer fällt auf? O-Ton 68 (Tupoka Ogette & Stephen Lawson): Wir gucken, wenn wir Kitas und Schulen aussuchen für, also der Kleine, da raste und ruhe ich nicht, bis ich 'nen Kontext finde, der sagt, äh wir, also ich will keinen Kontext der sagt: "Ohh, wir haben keinen Rassismus, bei uns ist das ganz egal, und wir haben so was halt nicht als Thema“, sondern ich möchte, ich hab mich für den entschieden, die gesagt haben: "Wir wollen an den Barrieren in unserem Kopf arbeiten, wir sind nicht perfekt, aber wir möchten Vielfalt haben, wir möchten, dass es irgendwie … wir wissen um die Realität und wir wollen damit umgehen." Sprecher: Die Schule ist vor allem ein symbolhafter Ort. Natürlich finden viele der Aushandlungsprozesse außerhalb statt, zwischen unterschiedlichen Schulformen und Stadtvierteln, in Vereinen, aber auch im Virtuellen, in Musik und Filmen, Social Media und auch später noch an den Universitäten und Hochschulen, im Berufsleben O-Ton 69 (Michel Arriens): Ich war auf 'ner Regelschule, aber auf einer Schule, die ein integratives Modell hatte, das heißt, wir hatten, ich war in der, so blöd, in der "Regelklasse" in Anführungszeichen. Und dann gab es quasi eine Parallelklasse, das waren Menschen mit Lernschwierigkeiten vor allem. Und mit denen haben wir ganz viel zusammen gemacht, das heißt im Kunstunterricht, im Werkunterricht, viel auch Deutschunterricht zusammen gemacht und so weiter und so fort, quasi so ein bisschen wie der heutige Inklusionsgedanke zumindest ausgelebt wird. Und das war sehr schön. O-Ton 70 (Mareice Kaiser): Da gibt ‘s eben ein Argument, das heißt, gerade für schwerst-mehrfach-behinderte Kinder ist es besser, wenn die unter sich bleiben, in Sonderschulen gehen, weil sie da eben die Förderung bekommen, die sie brauchen. Und auch da gibt ’s aber auch mittlerweile schon Studien, dass das erstens nicht wahr ist, und zweitens find ich auch immer wichtig, so alle Perspektiven abzudecken, nicht nur die von den Kindern mit Behinderung, wie sie am allerbesten gefördert werden, sondern, was macht das eigentlich mit den anderen Kindern, die mit den Kindern mit Behinderung zusammen sind. O-Ton 71 (Michel Arriens): Das merkt man auch, dass an unserer Schule ganz viele Leute auch in den sozialen Bereich gegangen sind, weil sie, glaub ich, ein ganz anderes Menschenverständnis von Grund auf mitbekommen haben. Ja, sie haben einfach von Anfang an gemerkt, dass wir alle im Kunstunterricht auch Spaß hatten, und da einfach auch die Grenzen zwischen Lernschwierigkeiten und … uns, so blöd, so zwei Gruppen zu benennen, ist ja eigentlich das Ziel der Inklusion, nicht mehr die Gruppen benennen zu müssen und zu wollen, dass die Gruppen dann vermischt wurden und diese Grenzen halt nicht mehr da waren. O-Ton 72 (Mareice Kaiser): Und da kann ich aus meiner Erfahrung erzählen, dass die Kinder in der Kita, in der meine Töchter waren, wahnsinnig davon profitiert haben, dass meine behinderte Tochter da war, und profitiert jetzt nicht im Sinn von, weiß ich nicht, irgendwelchen Bewerbungen mal fürs spätere Leistungsgesellschaft-Erwerbsleben, sondern einfach so, die haben Vielfalt kennengelernt und haben kennengelernt, dass es Kinder gibt, die nicht gesund zur Welt kommen, und dass es Kinder gibt, die nicht laufen können, und dass es Kinder gibt, die nicht so essen, wie sie das kennen und dass die aber trotzdem eben Teil der Gesellschaft sind. Und wenn diese Person dann fehlt, weil sie zum Beispiel stirbt, und sie haben gelernt, auch Kinder sterben, dann tut es weh, und dann fehlt, fehlt ein Teil. Und ich glaube, das sind Erfahrungen, die die gemacht haben, die sie für ihr Leben begleiten werden und ich glaub auf eine gute Art und Weise. Sprecher: Die so unterschiedlichen Menschen, die in dieser Sendung zu Wort kommen, sind alle erfolgreich, stehen zum Teil in der Öffentlichkeit und wissen ihre Stimme zu nutzen. Wie sehr sie dazu gehören, wie schnell das wieder kippen kann und vor allem wie weit der Weg dorthin war, davon erzählt diese zweite Stunde der Langen Nacht der Zugehörigkeit(en). Musik Sprecher: Immer schwingt die Gefahr mit, dass die Erfolge derer, die hier zu Wort kommen, zum Argument und Vorwurf werden all jenen gegenüber, die es nicht bis dahin geschafft haben: Ja, es ist möglich, aber es ist eben nicht normal, nicht die Regel, sondern die Ausnahme. Und dass das immer noch so ist, hat die Mehrheitsgesellschaft zu verantworten mit ihrer zunehmend engen Vorstellung von Normalität, mit ihren unausgesprochenen Regeln, ihrer Definition von Zugehörigkeit und ihren subtilen Ausgrenzungsmechanismen. Sprecher: Zu mir sagt niemand, dass ich aber gut Deutsch kann. Ich muss mich nicht rechtfertigen, für nichts. Was auch immer ein eifernder weißer Mann verbrochen haben mag, wie entwürdigend und unmenschlich überzogen die Forderungen radikaler christlicher Gruppen auch sein mögen, ich muss mich nicht positionieren, muss nichts klarstellen, im Gegenteil, ich werde noch gelobt, wenn ich mich zum Beispiel, ganz untypisch für einen Mann, um meine Kinder kümmere. Musik Sprecher: Die ganzen Diskussionen um Leitkultur und Deutschtum … die Mehrheitsgesellschaft ist gut darin zu postulieren, was ganz bestimmt nicht dazu gehört. Aber gibt es eine positive Definition und Klarstellung, die ohne Ausgrenzung auskäme? Es ist mein grundlegendes Privileg, dass ich mich mit der Frage nach Zugehörigkeit gar nicht befassen muss, weil sie mir nicht gestellt wird, und meinen Eltern und Großeltern auch schon nicht gestellt wurde. Mich mit meiner Stellung, meinen Privilegien zu befassen, ist keine gesellschaftliche Notwendigkeit und Aufforderung, allenfalls ein innerer Impuls, dem ich mich ganz einfach entziehen kann, auch in dieser Sendung. Und es gibt immer wieder gute Gründe, zum Beispiel: ich möchte mich nicht in den Mittelpunkt stellen, sondern andere zu Wort kommen lassen. Und das stimmt auch … bleibt trotzdem irgendwie Selbstschutz … und überhaupt: wer möchte denn meine Geschichten zur Zugehörigkeit hören? Musik O-Ton 73 (Juliette Brungs): Ja, es ist schon … es sieht so aus wie so 'ne Weitergabe, das Nicht-Dazugehören. Ich hatte viele Gespräche, das fällt mir jetzt ein, viele Gespräche mit meiner Mutter, weil ich natürlich als Kind schon nicht verstanden habe, warum Zugehören, Dazuzugehören offensichtlich nicht der Fall sein konnte oder keine Option war. O-Ton 74 (Yansn) Also das Ding ist, ich war immer schon ein Einzelgänger. Und ich habe eben früh schon, ich kann das gar nicht sagen, warum, vielleicht wird das auch vererbt oder so, es gibt ja alle möglichen Studien von so was. Aber meine Mutter und ihre Familie, die sind ja auch als quasi Flüchtlinge hierhergekommen, als sie drei war, weil die aus Brasilien raus mussten. Und da waren die halt die Familie aus dem Dschungel, gehörten also nicht dazu. Zitatorin: Yansn ist Musikproduzentin und Rapperin aus Berlin außerdem unterrichtet sie an einer Schule. Vordergründig geht es dabei um Rap, aber das eigentliche Thema ist Empowerment und Selbstermächtigung, das Gefühl zu entwickeln, etwas zu können, es wert zu sein. O-Ton 75 (Yansn): Ich glaube, das hat auch was mit Prägung zu tun einfach so, also ich glaube, dass viele auch schon so aufwachsen, dass sie irgendwie ständig das Gefühl haben, dass sie irgendwo nicht dazugehören. Ich fühle leider eine ganz intensive, schreckliche Nicht-Dazugehörigkeit, wenn ich in Brasilien bin, weil meine Eltern kommen ja aus Brasilien. Und ich hab ganz viel Familie da und ganz viele Geschwister. Und mein Vater hat da auch bis zum Ende seines Lebens gelebt. Wenn ich dort bin, fühl ich mich immer so deutsch und merke so, ich kenn nicht deren Kinderlieder und bin immer sehr traurig, wenn ich nicht so richtig dazugehöre. Musik: die zeit ist der weg, die reise ist das leben jeder tag sind tausend meilen und jeder atemzug bewegt dich stetig durch die unzähligen sphären unserer erde und den unendlichen weiten deines daseins dein freier fahrschein für den abenteurpark mit der achterbahn aus wahrhaftigen tagen, die dir viel krassere flashs verpassen, als jede fantasie es je vermag und will dein magen dir mal sagen, er kann was nich vertragen denn auf jeder reise gibt 's passagen, die führen durch 'n haufen scheiße und dreck durch eiseige winter, die bitter schmecken dann fliegen wir durch die wolken und über alle gewitter hinweg einfach der sonne entgegen, kuck ma das glück wächst an den bäumen du musst nur die hand danach strecken (Yansn - Reise deines Lebens) O-Ton 76 (Juliette Brungs): Ich bin ziemlich überzeugt davon, dass die Erfahrung des Andersseins, des Nichtdazugehörigseins, dass das lange in meine Mutter hinein gebrannt war, bevor … schönes Wort an dieser Stelle … bevor ich des Weges kam … also nicht nur im Exil geboren und versteckt worden und unter wirklich gefährlichen Umständen gerettet und dann antisemitischen Angriffen ausgesetzt schon als Kind, ja. Also … und nichts so richtig mit den Deutschen was anfangen können, auch kein deutsch richtig können, wenn sie also nach Deutschland kommt, da sind so viele Komponenten von Sich-nicht zugehörig-Fühlen schon mitgegeben: Sprache, Kultur, plus nach Deutschland kommen als Jüdin, aber eben weil der Vater hier ist, ja, das ist sozusagen vorprogrammiert. O-Ton 77 (France Damian): Also wir wurden schon in einen Topf geschmissen, einfach, ich muss mal kurz zurückdenken, zurücküberlegen, weil wir sind, meine Eltern sind '87 geflohen. Ich war '88, ein Jahr später, und da gab es nur nicht diese große Welle. Erst als, genau, als Rumänien in die EU kam, kamen auch sehr viele Roma nach Deutschland. Und dann wurde das von ganz vielen so, Roma und Rumänien, hat ja den gleichen Wortstamm, ist also das Gleiche. Musik Zitatorin: France-Elena Damian arbeitet als freie Theaterregisseurin in Berlin, Magdeburg, Coburg oder Darmstadt. Sie hat den Verein Pro Quote Bühne mitgegründet, der sich für eine 50%ige Frauenquote in allen künstlerischen Theaterressorts einsetzt. Außerdem gehört sie zum künstlerischen Leitungsteam des tak - Theater Aufbau Kreuzberg. O-Ton 78 (France Damian): Und das war schon nicht immer einfach, also mir war 's ein Stück weit völlig egal, also als Rumänin oder Roma bezeichnet zu werden, weil ich da keine großen Unterschiede mache, und ja, ich komm nun mal aus Rumänien, und wenn die Leute da Vorurteile haben, dann haben sie die. Und wenn sie mich kennenlernen, können sie halt überlegen, ob sie die behalten wollen oder ob sie offen sind. O-Ton 79 (Yansn): In gewissen Teilen meines Lebens waren meine Mutter und ich alleine, und da waren wir auch irgendwie immer Sonderlinge. Und ich war auch in der Schule immer ein Sonderling. Also die hatten alle ihre Gruppen. Ich hatte schon meine Freunde aber ich hatte zum Beispiel nie eine Clique. Die ganzen Cliquen die es gab, da gehörte ich nicht dazu. Ich hatte vielleicht aus jeder Clique einen Freund, und ich war auch in den meisten Schulen akzeptiert, aber so richtig dazugehört hab ich nie. O-Ton 80 (France Damian): Und auch wenn ich mit meinen Klassenkameraden gern was gemacht und gerne mit ihnen rumgehangen wäre, es gab da kein Herankommen an diese Leute, weil es für sie in dem Zeitpunkt wahnsinnig wichtig war, cool zu sein und in diesen Cliquen zu sein und angesagt zu sein und diese ganzen Begriffe. Und auch diese Art der Clique kannte ich aus Rumänien in der Art einfach überhaupt nicht. O-Ton 81 (Yansn): Aber ich hab mich auch daran gewöhnt. Und in der Pubertät hatte ich einfach ein sehr großes Leiden an 'ner schrecklichen Welt und fand halt sowieso alle Menschen so oberflächlich und egoistisch, da fühlte ich mich sehr überhaupt nicht zugehörig zu der Welt. Musik: wir fahren durch felder, geschichten und bilder mal schnell, mal gechillt und wieder wilder wo es schön ist, bleiben wir einfach hängen gehen in mucke baden und unter palmen pennen wir sammeln muscheln, momente und menschen, gesichter denen wir erst noch begegnen, oder die wir schon lange kennen die reise ist das ziel, und das leben ist der sinn offenheit ist der einsatz, das universum der gewinn die welt ist ein baukasten, such dir die coolsten steine aus und lass uns das geilste haus basteln und nichts auslassen wo soll ich dich raus lassen? und wenn 's soweit ist, und du willst wieder einsteigen dann sag bescheid, und ich heiz vorbei, und wir beide reisen gemeinsam weiter denn das leben ist 'ne reise (Yansn - Reise deines Lebens) O-Ton 82 (Juliette Brungs) Ich fühlte mich nie wohl in dieser Klasse, auf jeden Fall die ersten vier Jahre nicht. Ich fand den Ort Schule auch sehr rigide und zwar quasi über Strukturen gewalttätig. Das konnte ich natürlich damals noch nicht bezeichnen, aber wenn ich jetzt an das Gefühl denke, das wurde dann einfach immer noch stärker und dann wurde es klarer, was hier eigentlich abläuft, aber ich habe dass schon sehr früh so empfunden … ja und dann kam halt von zuhause: "Was kümmert 's dich?! Musst du durch!" O-Ton 83 (Michel Arriens): Also ich glaub, ich hab das schon viel früher gelernt, dass ich anders bin, aber so richtig realisiert hab ich 's eigentlich wirklich erst in der Pubertät, wo es dann darum ging, meine Klassenkameraden haben kleine Liebesbriefchen bekommen oder haben im Sportunterricht die Mädchen gejagt oder so was in die Richtung. Und das war schon der Moment, wo die Schere einfach weiter auseinandergegangen ist, als sie vorher schon war. O-Ton 84 (Juliette Brungs) Ich war anders. Ich habe keine Ahnung, warum, aber das war schon mit dem ersten Schritt in die Schule: ich war anders. Ich hab mir sicherlich Gruppen angesehen, es hat schon im Teenageralter so eine, heute würde ich sagen, Sozialstudiencharakter und ich konnte mich da nicht wiederfinden und es hatte auch mit den Themen zu tun, die ich in der Zeit schon mit mir herumtrug, ohne mit ihnen wirklich klarkommen zu können, das nicht meistern zu können. Und es könnte damit zu tun gehabt haben, dass ich, für mich war die Welt die Familie, ich fand es da draußen sehr eigenartig. Und ich war sehr still und sehr introvertiert, und man wollte mich ja auch nicht einschulen deswegen. O-Ton 85 (Michel Arriens): Vorher konnte man es immer irgendwie auf-, abpuffern. Und in dem Moment war 's dann einfach so. Ich mein, du kannst ja niemand dazu zwingen, dir einen Liebesbrief zu schreiben oder mit dir Fußball zu spielen, weil die Mitschüler wollen nun mal ab dem jugendlichen Alter auch Leistungssport beziehungsweise Leistungsfußball mit Toren spielen. Und das war schon eine schwere Zeit. Zusätzlich war ich noch sehr dick, und das zusammen hat mir dann einfach auch … also das war 'ne Zeit, und auch das sagen meine Eltern heute immer noch, das war das erste Mal, dass du in deinem Leben so einen Bruch auch erlebt hast, so quasi so 'ne Kindheitsdepression durchgemacht hast. O-Ton 86 (France Damian): Und ich musste mich erst mal eine ganz lange zurechtfinden. Wo bin ich hier eigentlich? Was sind das für Werte, die hier gelten? Oder auch, in Rumänien ist es halt auch so, weil wir halt eben auch keinen Kapitalismus haben, ich bin ja aufgewachsen während des Ceausescu-Regimes, und gab es immer auch diese ganze Vielfalt auch nicht an Möglichkeiten. O-Ton 87 (Canan Ulufer): Also die Lehrer hatten wirklich nicht den Glauben daran, dass ich 's schaff. Wiederum auch Gastarbeiterkind. Und Gastarbeiterkinder schaffen es doch irgendwie alle nicht, was mich einerseits motiviert hat, aber einerseits auch sehr früh mit bestimmten Realitäten, Wahrheiten, gesellschaftlichen Prozessen konfrontiert hat. Das ist so im Nachhinein betrachtet, bedeutet es, dass man eigentlich sehr schnell erwachsen war. O-Ton 88 (Tupoka Ogette & Stephen Lawson): S: ich erinnere mich noch an eine Situation als Kind, als Sechsjähriger. In der Grundschule beim IQ-Test hat dann der Grundschullehrer irgendwie mit Stolz die gut abschneidenden Leute vorgelesen und dann kam ich dran und der sagte: "Jetzt hab ich aber was, worüber ich mich ganz besonders gefreut habe“, und hat da so ausgeholt … und ich hätte mich eigentlich freuen können so, dass ich also drittbester war, aber dann wurde das aus dieser Normalität herausgenommen, dass das was ganz Besonderes ist, und alle Augen auf mich so und dann hat er versucht zu sagen "Ja, weil diese Menschen immer so…“ hat irgendwie rumgeschwafelt, und es war mir so peinlich. O-Ton 89 (Gianni Jovanovic): Und ich war übrigens direkt auch in einer Sonderschule gelandet, das muss man auch wissen, dass ich bis zur siebten Klasse in der Sonderschule gewesen bin, weil ich ja ein Roma-Kind bin und nicht die deutsche Sprache sprechen konnte und auch völlig traumatisiert war. Musik Zitatorin: Gianni Jovanovic ist Dentalhygieniker mit eigener Praxis in Köln. Nach Sonderschule, Hauptschule, Realschulabschluss und Abitur auf dem zweiten Bildungsweg hat er nun sein Studium mit einem Bachelor of Science abgeschlossen. O-Ton 90 (Gianni Jovanovic): Also dass aus mir mal ein selbständiger Unternehmer wird, das haben die niemals gedacht, das haben die ja niemals geglaubt. Und es ist passiert, trotz dieser ganzen Schwierigkeiten. Deshalb sage ich, dass schulische Bildung super wichtig ist, sie formt einen sehr, und das ist ja auch das, was unserm Volk ja auch so unterstellt wird, dass wir nicht gebildet sind. Das finde ich so eine Anmaßung, das ist so anmaßend zu sagen, ja nur weil ihr nicht in der Schule gewesen seid und nicht lesen und schreiben könnt, seid ihr dumm. Musik Zitatorin: In einem zweiten Leben ist Gianni Jovanovic Comedian und engagiert sich in Vereinen und eigenen Projekte für die Rechte der Roma-Minderheiten ein, insbesondere homosexueller und trans- oder intersexueller Roma. Einspieler 14: - Und Schule. Du musst aus dieser Förderschule raus. Was sagen denn deine Eltern dazu, dass du in diese Förderschule gehst? - Nix. - Die wissen gar nicht, dass das eine Förderschule ist. Und was sagen die? Aber wie geht ’s dir denn dabei? - Der lernt nicht. - Du gehst wahrscheinlich auch gar nicht hin, oder? - Der geht nur, die zu … - … um da zu sein. Wie ist denn dein Zeugnis? - Katastrophe. - Warum? Weil du nichts machst. - Die machen nichts … - Die haben doch wahrscheinlich auch kein Interesse an dir. Aber du willst doch was werden! Hör mal zu. Weißt du, was du machst? Wenn du heute Abend ins Bett gehst, machst du deine Augen zu, und egal ob du Roma bist, ob du jetzt in 'ner Sonderschule bist oder nicht in der Sonderschule bist, stell dir einfach das vor, was du willst. Nur das was du willst. Willst du ein großer Mann werden, dann arbeite darauf, ein großer Mann zu werden. Und es ist scheißegal, ob du Sonderschule hast. Ich hab genau die gleichen Voraussetzungen wie du gehabt. Meine Eltern haben mir auch nicht geholfen. Ich hab nicht mal Geschwister gehabt, ich bin Einzelkind, Einzelkind. War keiner, der mir helfen konnte. Die Einzige, die mir geholfen hat, war meine Lehrerin. Und den Rest hab ich selber gemacht. (Gianni Jovanovic im Gespräch mit jungen Roma in Saarbrücken) Musik O-Ton 91 (Canan Ulufer): Und dieses schnell Erwachsensein hat dazu geführt, mich mit mir, meiner Identität, meiner Herkunft, meiner Religion auseinanderzusetzen, weil das Gefühl, okay, irgendwie bin ich anders, warum bin ich eigentlich anders, oder warum schreibt man mir zu, dass ich 's nicht schaffe, woran liegt es, weil meine Eltern Gastarbeiter sind? Bin ich hier richtig mit meinem Wesen, mit meinen Gedanken, mit meinen Wünschen? Und das ist natürlich für so einen kleinen Wurm mit elf, zwölf, dreizehn, doch 'ne ganz große Herausforderung, na. Ich hab mal gesagt, während Mädchen in meinem Alter die Bravo gelesen haben, hab ich mich mit andern Sachen irgendwie auseinandergesetzt. O-Ton 92 (Juliette Brungs): Meine Variante war, okay, ich setz mich jetzt damit auseinander, aber natürlich: dieses Grundgefühl, das nicht Dazugehören und nie Dazugehörenwerdens ist älter als ich. Und dann kann man darüber nachdenken, ob es ein kollektives ist, aber … also die ständige Verfolgung und so weiter, natürlich hinterlässt das Spuren. Man erlernt natürlich auch … also es kann dir jederzeit passieren, wenn irgendwas nicht hinhaut, gesellschaftlich oder wie auch immer, braucht man immer 'nen Escape Code, es ist so, es ist immer so gewesen. Du musst dir nicht einbilden, dass es zu deinen Lebzeiten irgendwie anders sein wird. Bereite dich darauf vor. Und das ist so die Haltung, mit der man aufwächst oder dann natürlich auch dagegen ankämpft: "Was hab ich denn damit zu tun?" Und natürlich hat man was damit zu tun … ist ja klar. O-Ton 93 (France Damian): Und wenn man als Elfjährige hierherkommt und gar nicht weiß, wie diese Welt funktioniert und erst mal überhaupt nicht weiß, was Markenklamotten sind, ganz blöd so, oder was der Unterschied ist zwischen der Bild-Zeitung und der FAZ und all diese Dinge, dann ist man irgendwie wie der Ochs vorm Berg und die Leute sagen: "Ja, wie siehst du denn aus? Du siehst ja total scheiße aus, deine Eltern, die sind bestimmt Sozialhilfeempfänger, und dein Papa liest bestimmt die Bild zuhause." Und ich hatte keine Ahnung, was das bedeuten soll, ich merkte nur, da ist eine Distanz da, und merkte, ich komm da nicht hin. O-Ton 94 (Juliette Brungs): Aber wiederum … ich meine, man ist natürlich auch zu den jüdischen Deutschen … oder den Juden gehört man ja nicht wirklich, weil man kommt ja aus einer kommunistischen Familie und um die Sache noch ein wenig schwieriger zu machen, sehr starke linke Traditionen und atheistisch. Also du kanntest quasi den Code natürlich nicht, also deswegen hat es mich auch so interessiert, deswegen wollte ich hebräisch lernen etc. etc. Gibt es eine Verbindung, war glaube ich weniger die Frage. Gibt es eine Möglichkeit der Zugehörigkeit? Ich wollte einfach Sachen wissen. O-Ton 95 (France Damian): Es war ein sehr, sehr, für mich ein langer Prozess. Ich glaub, es hat ungefähr zehn Jahre gedauert, dass ich zu dem Entschluss gekommen bin, dass ich Teil der Gesellschaft sein möchte. Weil vorher war ich, ich wurde ja nicht gefragt, willst du mitkommen. Meine Eltern waren halt weg und da musste ich halt hinterher, so. O-Ton 96 (Michel Arriens): Und ich weiß auch noch, als mein Vater beziehungsweise meine Eltern insgesamt, hatten immer die Angst vor dem Moment, wo ich sage, ich möchte ausziehen, von Anfang an. Und ich weiß noch den Moment, weil das war auch das Letzte bei mir, dass ich meine Socken und Schuhe nicht anziehen konnte. Und als ich diese Lösung mit meinem Vater zusammen gefunden hab, weiß ich noch genau den Moment, mein Vater saß auf dem Bett und ich hab mir die Socken angezogen und dann die Schuhe, und mein Vater ist ein Meter vierundneunzig groß und eher harte Schale so, und auf einmal saß er da auf dem Sofa und hat angefangen zu weinen, einfach, weil es für ihn so emotional und so schön war, dass er von jetzt an nicht mehr den Gedanken haben musste, mein Kind wird später mal nicht alleine leben können. Auch wenn es so gewesen wäre, wär das für ihn nicht schlimm gewesen. Aber diese Angst war immer da, es war 'ne gewisse Unwissenheit, was wird mein Kind denn später machen, wird es alleine leben können oder nicht. Und in dem Moment war es für ihn klar, es geht alleine. Und der Weg geht in die Richtung weiter. Und das war schon heftig. Ich bin auch niemand, der viel weint oder schnell weint, aber wenn dann der Vater irgendwie ein Mal in deinem Leben bisher geweint hat, dann neben dir sitzt und weint, das war schon sehr emotional. O-Ton 97 (Canan Ulufer): Der erste türkische, nein, er war der erste Deutsche mit Migrationshintergrund im Bundestag, da war ich glaub ich zwölf, dreizehn, als er in den Bundestag gewählt wurde, und da dachte ich, wow, ein Türke im Bundestag? Heißt auch noch Özdemir, und ich bin auch ne halbe Özdemir. Da muss doch noch irgendwas gehen. Er war Erzieher, er war Sozialpädagoge, und ich merkte so, ach ich glaub, das kann ich auch machen. Ich glaub, ich kann auch Erzieherin werden, ach, ich studiere nochmal Sozialpädagogik. O-Ton 98 (Michel Arriens): Mein Prozess des Sockenanziehens also. Ich ziehe meinen Socken über so einen Plastikkegel und dann schlüpf ich quasi von oben rein und dieser Kegel ist quasi in der Mitte hohl, da kann ich meinen Fuß dann reinschieben, und dann zieh ich diesen Kegel, der ist unten offen, quasi oben raus und dann justiere ich den Socken mit so 'nem kleinen Stab, den wir selbst gebaut haben, das ist ein alter Schlagzeugstick mit so einem kleinen Metallhaken, diesen Haken kann ich so ein bisschen, der bleibt dann immer an dem Socken hängen, damit kann ich dann quasi meinen Socken so ein bisschen noch nachjustieren, einfach, weil ich nicht an meine Füße rankomm. Das geht super. Also, das war so 'ne super, super, simple Lösung eigentlich, kostet, keine Ahnung, in der Anschaffung drei Euro Material, aber es hat mir einfach die Welt eröffnet. O-Ton 99 (Canan Ulufer): Und da hatte ich einen ganz, ganz tollen Berufsberater, Herr von Lehe, bin ein Mal mit so einem Aufsatz zu ihm hingegangen. Ich weiß nicht, da muss ich so vierzehn gewesen sein, und dann sagte ich, wollen sie sich den mal durchlesen? Sagt er, worum geht 's da? Da hab ich gesagt, es geht um das Wahlrecht von Ausländer*innen, pro und contra. Er las sich diesen Aufsatz durch, schmunzelte, lächelte und sagte, wollen sie mal Politikerin werden? Meinte ich, ja. Sagt er, aber das können sie nicht studieren, aber sie können Sozialpädagogin werden. O-Ton 100 (Gianni Jovanovic): Ja, Christiane Börnecker, Christiane Börnecker … das war meine Mutter. Wenn diese Frau nicht in mein Leben gekommen wäre, dann hätte ich wahrscheinlich ganz vieles heute vermisst in meiner Person, weil die hat mich so geprägt, die Frau Börnecker … "Du kannst das!", hat sie immer gesagt. "Ich glaub an dich, Gianni". Und die hat dafür gesorgt, dass ich das Gefühl, dass ich was bin, in mir aufgeweckt habe. Die hat dafür gesorgt, dass ich irgendwann den Übergang an die Hauptschule geschafft habe. Sie hat gesagt: "Du gehst jetzt in die Hauptschule, Gianni". Und ich hab so geweint. Ja, was soll ich denn da, was soll ich denn da? Ich will zu ihnen, ich will hier bleiben. Nein, du gehst jetzt in die Hauptschule, dafür haben wir gekämpft, dafür hast du gearbeitet. Du gehst jetzt in die Hauptschule, und da wirst du deinen Abschluss machen, und wenn, dann gehst du weiter zur Schule. O-Ton 101 (Canan Ulufer): Und dann zeichnet er so auf einen Zettel so meinen Bildungsweg. Also damals war ich auf der Hauptschule. Kinderpflegerin, also Realschulabschluss, Erzieherin, Fachhochschulreife, Studium. Da hab ich gedacht, nee, das schaff ich nicht. Irgendwie hatte ich gar nicht den Glauben, dass ich's schaffen könnte. Ich bin ja auch gleich zur Hauptschule gegangen, obwohl ich hätte auch auf die Realschule gehen können, aber das Vertrauen der Lehrer war nicht so intensiv, und ich dachte, gut, meine Kameraden gehen alle auf die Hauptschule, gehe ich mit denen zusammen auf die Hauptschule. O-Ton 102 (Gianni Jovanovic): Ich bin immer so gerne mit ihr in der großen Pause zum Lehrerzimmer gelaufen, weil ich mich immer so gerne mit ihr unterhalten hab. Und sie sagte zu mir, einmal hat sie mich gesehen, dass ich ein bisschen gebückter gelaufen war. Da hat sie gesagt, wie läufst du? Wieso, was ist denn? Du läufst grade!, Du läufst grade, hat sie gesagt. Wenn du grade läufst, läufst du wie auf dem Catwalk hat sie gesagt. Aber tu ja nicht, als würde es so aussehen. Du läufst grade und ruhig. Und das hab ich dann echt mit ihr geübt. Das war so geil! Die hat mir gezeigt, wie man grade geht. Und da hab ich sie gefragt, ja warum, geh ich denn nicht gerade? Ja, wenn du so grade gehst, dann sieht es aus als hättest du ein Scheißleben. Im Rückblick würde ich sagen, ich hatte da auch ein Scheißleben. Aber nein, du läufst grade, auch wenn es dir schlecht geht, du läufst grade. O-Ton 103 (Michel Arriens): Genau, es war, in dem Moment war es für ihn auch klar, so jetzt kann er halt auch ausziehen und wird es halt auch tun, so. das spielte sicherlich 'ne Rolle mit. Aber ich glaube in dem Moment war es einfach die Gewissheit, ja er kann alleine leben, braucht uns … also ich hab viel Hilfe auch von meinen Eltern beansprucht als auch gebraucht, vor allem als ich jünger war. Aber meine Kleinwuchsform geht einfach damit einher, dass ich nicht laufen kann beziehungsweise nur ganz wenig. O-Ton 104 (Canan Ulufer): Schaff ich's überhaupt? Aber er sagte, doch, ich glaube schon, weil wer so einen Aufsatz schreibt, weiß was er verändern will. Da dachte ich, so o.k., ich wusste gar nicht, dass das, was ich geschrieben hab - gut war. Und dann hab ich gedacht, gut, schauen wir mal. Bin dann, ich glaube, sehr fragend und nachdenklich nach Hause gegangen. Meine Mutter sagte, was ist denn mit dir los. Ich sagte, Mama, ich war beim Berufsberater, der sagte, werde doch Sozialpädagogin. Und meine Mutter guckte mich an und sagte, willste das werden? Ich sagte ja. Sagt sie, dann wirst du das auch. Musik O-Ton 105 (Yansn): Es ist so dass ich eben, ja, ich hatte eine sehr turbulente Kindheit und Jugend, und da ist ganz viel passiert. Ich hab sehr oft die Schule gewechselt, ich bin mit 14 zuhause ausgezogen, ich bin halt in die Drogenszene abgerutscht, und ja, ich war zweimal in meinem Leben, bis ich 23 war, würd ich sagen, war ich zweimal echt ganz unten und genau, das hat auch mit Sucht zu tun und auch, ich hatte keine Wohnung mehr und bin eben sehr schlecht mit mir umgegangen. Abende füllendes Thema, aber ich bin sehr, sehr froh, dass ich das dann irgendwann wirklich verstanden habe und dass ich verstanden habe, dass der wirkliche Weg daraus nur ist, erstens abstinent zu sein und dann sich wirklich mit sich und seinem Inneren anzufreunden, also sich alles ganz genau anzugucken. Damals hätte ich noch gesagt, den Monstern ins Gesicht zu sehen und sie dann zu beruhigen und ihnen dann die Hand zu geben. O-Ton 106 (France Damian): Und dieser Punkt, sich für etwas zu entscheiden, sich zu entscheiden, Teil dieser Gesellschaft zu werden, war für mich auch extrem wichtig. Weil ich am Anfang immer dachte, ich bin halt hier in Deutschland auf Urlaub und immer, wenn ich Ferien hatte, bin ich nach Rumänien, und hab immer versucht, dort mit meinen Freundinnen den Faden dort aufzunehmen, wo ich ihn verlassen hatte, als wär nichts dazwischen passiert, als würde ich eigentlich immer noch in Rumänien leben. O-Ton 107 (Yansn): War ich vier Monate in der Klinik nachdem ich Entzug gemacht habe usw. Du, das war wirklich toll, also es waren wundervolle vier Monate, und ich habe so wahnsinnig viele Erkenntnisflashs gehabt, die so Zusammenhänge gemacht haben. Also, was hab ich und all diese anderen Menschen in dieser Klinik, was haben wir eigentlich gemeinsam. Und wie kommt das alles und ganz viel, was mir auch früher eine wunderbare Pädagogin gesagt hat, mit der ich zusammengelebt hab, die quasi so eine Dritte Mutter war, die jetzt auch gestorben ist, dass im Endeffekt wir mit dem inneren Kind nicht umgehen gelernt haben und halt all diese inneren Defizite man dann versucht hat eben mit Drogen, Alkohol mit allen möglichen Stoffen versucht hat auszugleichen. O-Ton 108 (France Damian): Obwohl das in der Realität gar nicht so war und erst, ich glaub, so ungefähr nach 10 Jahren hab ich irgendwann beschlossen, nee, ich will hier glücklich werden, und wenn ich hier glücklich werden will, muss ich gucken, was bietet mir dieses Land, und was sind das für Leute und was sind ihre Werte und worum geht es ihnen. Und so war eigentlich der Weg, es ging mit dieser klaren Entscheidung einher. O-Ton 109 (Juliette Brungs): Vielleicht eine einzige Situation: Es gab 1988 einen Rabbiner aus Westberlin, der Issac Newman, der in die Ostberliner Gemeinde kam und dann auch sehr stark anfing, Jugendarbeit zu machen, der ist dann auch gleich nach drei Monaten kollidiert und musste dann wieder gehen, also mit der Staatssicherheit und so weiter. Und da war vielleicht mal so eine Möglichkeit, da hätte es ein Wir-Gefühl geben können, also zu dem Zeitpunkt hatte man das auch noch nicht, aber man hatte so Ideen, man könnte das auch mal machen innerhalb der jüdischen Gemeinde. O-Ton 110 (Yansn): Ja, und das war viele Jahre Arbeit an mir selbst, aber ich war fleißig und ich hab 's geschafft. Ich hab 's geschafft, eine Stärke aufzubauen und mich mit mir selbst zu befreunden und mich wirklich um mich zu kümmern. Und das hat ganz viel damit zu tun, auch gute Gedanken zu haben. Also ich hab noch immer schlechte Gedanken und ich hab schlechte Tage, meinetwegen auch schlechte Wochen. Aber was ich mir auf jeden Fall aufgebaut hab, ist so ein Handwerkszeug im Kopf, wie ich so einen positiven Teil meiner selbst habe, der dem andern Teil gut zuredet und eine Hand reicht. O-Ton 111 (Juliette Brungs): Jüdisch sein in der DDR hat ja durchaus viele Facetten. Es ging mir nicht ums Dazugehören. Ich wollte Hebräisch lernen, ich wollte mich quasi, was man religionswissenschaftlich nennt, damit auseinandersetzen, ich wollte wissen, was dann jetzt eigentlich das ist und hebräisch zu kennen ist dabei ganz hilfreich. Und dann kam der Newman und sagte: „ja und wir werden Sprachkurse, wir werden dies machen, wir werden das machen“ und natürlich fanden wir das alles toll. O-Ton 112 (Yansn): Ich würde sagen nachdem ich eben wirklich aus dem inneren und äußeren Sumpf ausgetreten bin fing für mich wirklich ein besseres Leben an, ein Leben in dem ich klar kam und in dem ich eben an mich selber beschützen zu können und mich selber einfach besser zu fühlen. Aber als ich da 2011 eine weitere Erleuchtung hatte nämlich wo‘s darum ging dass ich diesen Traum den ich quasi wie eine törichten Traum getragen habe, nämlich Rapperin sein zu wollen, der wurde 2011 ganz plötzlich zum realistischen Plan und das war dann plötzlich das von dem ich wusste was ich machen will und machen muss. O-Ton 113 (France Damian): Ja, ich fühle mich überintegriert auf 'ne Art. Nee, es gab eine große Zeit, wo es darum ging, wer bin ich und auch ein großer Wunsch, deutsch zu sein mit alldem, was das bedeutet und in erster Linie mit der Sprache. Ich habe im Kindergarten in Rumänien Deutsch gelernt, weil meine Mutter deutschstämmig war, und ich durfte dort im deutschen Kindergarten sein. Ich hab auch die Grundschule, hab ich auch auf Deutsch gemacht. Trotzdem gab es viele grammatikalische Sachen, wo ich gemerkt habe, es fließt, die Sprache fließt halt nicht so. O-Ton 114 (Yansn): Und in diesem Moment wurde mir halt so viel klar, und in diesem Moment wurde auch so viel einfacher. Weil ich war nicht mehr der verlorene Geist, der jetzt versucht, hier in der Welt klarzukommen, sondern ich hatte plötzlich, das ist meine Aufgabe, und es ist 'ne schöne Aufgabe. Ja und seitdem läuft eigentlich alles total gut, also seitdem hat sich alles ergeben, wie es sich eben ergeben hat. Ich hab nicht mehr gefragt: "Darf ich das und das machen?", sondern ich hab einfach … ich bin auf die Bühne gegangen und hab mich gezeigt und für jedes Mal Bühne kam wieder jemand und hat gesagt: "Ey das war geil, kannst du auch mal hier spielen?" O-Ton 115 (France Damian): Und das war auch was Körperliches, dass ich, wenn ich Deutsch gesprochen habe, irgendwie immer zurückhaltender war, als wenn ich Rumänisch gesprochen habe, und die ganze Energie floss eigentlich nicht, es war eher ein Staccato, auch wenn ich deutsch konnte, aber es war so 'ne Reserviertheit. Und ich wollte das loswerden, indem ich immer besser und besser und besser wurde. Bis ich irgendwann an den Punkt gekommen war, dass ich so gut war, dass ich dachte, nee, das ist es nicht, du musst eigentlich zurück zu deinen Wurzeln. Und auch wenn du mal was nicht perfekt aussprichst und nicht das richtige Wort findest, es ist egal. Denn die Leute verstehen dich. Es geht darum, dass du wieder mit deiner ganze Kraft hier bist, so. Und diese beiden Teile zu vereinen, also nicht nur das Deutsch-, sondern auch das Rumänisch-Sein wieder zurückzugewinnen und zusammenzupacken, das war ein Prozess, so. Musik: Sprecher: Integration, Teilhabe, Zugehörigkeit … diese Begriffe stehen meist als unausgesprochene Forderungen im Raum. Da ist eben die Gruppe, die Mehrheitsgesellschaft, das Normale, und wenn der oder die Einzelne sich nur genügend anstrengt und lernt und anpasst und zurücknimmt und freundlich, höflich, zuvorkommend, nett ist, dann klappt das schon mit dem Dazugehören. Wir sind doch eine offene Gesellschaft! - So steht es schließlich auch im Grundgesetz, dass alle Menschen vor dem Gesetz gleich sind, ihre Würde unantastbar, und wir alle das Recht haben auf die freie Entfaltung der Persönlichkeit. Sprecher: Und doch wird jede Gruppe für sich bleiben, wenn da keine Menschen sind, die Brücken bauen, die Kontakt suchen, andere einladen und vor allem die eigenen Mitglieder davon überzeugen, wie wichtig es für die Eigengruppe ist, offen zu sein, andere Gewohnheiten, Perspektiven, andere Normalitäten zuzulassen und aufzunehmen. O-Ton 116 (Juliette Brungs): Was mache ich, was tue ich, damit sich andere nicht ausgeschlossen fühlen? Das ist ne Frage der Haltung und auch das Zurücktreten, des Raumgebens. Muss ich immer den ganzen Raum einnehmen oder kann ich es aushalten, dass andere sich dort bewegen? O-Ton 117 (Yansn): Also ich glaube dadurch, dass ja alle Menschen irgendwie dazugehörig sein wollen, das ist ja ein Thema, was jeden von uns immer irgendwie begleitet, wenn immer wir in einen neuen Raum kommen oder eine neue Szene oder neue Beziehung oder neue Angelegenheit. Grundsätzlich wünscht man sich ja dazuzugehören, und ich glaub wenn man sich bewusst macht, dass alle halt den gleichen Kampf kämpfen, dann macht es das Ganze schon weniger schlimm. Und ich glaub, ich bin eher immer in der Position, dass ich mich darum kümmere, dass alle sich dazugehörig fühlen. O-Ton 118 (Juliette Brungs): Wenn ich mich in die Privatheit zurückziehen würde, also ich hätte wahrscheinlich das Gefühl, dass ich zum Opfer werde der Umstände, und Opfer sein, kann man gar nicht gut, gerade zweite Generation … Opfer sein geht überhaupt nicht. Und da setzt man sich sehr viel mit auseinander und man setzt sich auch zur Wehr, und dann hat man nicht mehr viele Möglichkeiten, also dann musst du halt aktiv werden. O-Ton 119 (Yansn): Also meine Lösung ist es, immer zu teilen, Menschen ansprechen. Mich mit ihnen unterhalten, meistens was Positives bei denen noch rausholen. Es kommt mir eigentlich so einfach vor, den Leuten schnell ein gutes Gefühl zu geben. O-Ton 120 (Bärbel und Dieter Reindl): B: Also ich glaube, was ganz wichtig ist oder was für viele Leute natürlich auch schwierig ist: aufeinander zugehen. das kann nicht jeder. Also ich zum Beispiel hätte überhaupt keine Probleme, auf fremde Leute zuzugehen und zu sagen: "Hallo, guten Tag, ich freue mich, sie zu sehen, kann ich was für sie tun?" O-Ton 121 (Yansn): Man kann immer daran arbeiten, anderen Menschen mehr das Gefühl zu geben, dazugehören oder sich selbst darum kümmern. Und ich glaube, dass das eine Sache ist, die man jeden Tag verändern kann. O-Ton 122 (Bärbel und Dieter Reindl): D: Man muss andere Leute, wenn sie sich selbst bemühen, zulassen. Man muss sie wirklich hineinlassen in eine Gruppe, man darf sich da nicht abschotten. Tun viele. Gibt es, du hast du auch schöne Beispiele aus der Katholischen Frauengemeinschaft - wo dann so Kleingruppen sind, die sich nach außen völlig abschotten. Da kommt man nicht rein und dann hat man auch keine Lust. Aber in einer großen Gruppe kann man sich durchaus willkommen fühlen und zugehörig. Selbst wenn man persönlich immer so ein bisschen am Rande mitläuft. O-Ton 123 (Yansn): Das ist so ein kleiner Trick: Handschlag, in die Augen gucken, ein kleines Nettes Wörtchen, am besten ein Lächeln vielleicht, das wirkt einfach Wunder. Und dann fühl ich mich gleich dazugehörig und die andern fühlen das auch. O-Ton 124 (Michel Arriens): Was tu ich, um mich noch zugehöriger zu fühlen? Um mich noch zugehöriger zu fühlen, ich lebe, also ich glaube, jeder Mensch, der auf der Welt lebt mit einer Behinderung oder mit dunkler Haut, heller Haut, roter Haut, mit Brille, Lernschwierigkeiten, was auch immer, lehrt automatisch in der Begegnung andere Menschen im Umgang mit Verschiedenheit. O-Ton 125 (Canan Ulufer): Ich möchte den Menschen offen gegenübertreten, damit ich auch Offenheit von ihnen bekomme. Ich glaube, nur das, was ich selber vorlebe, kann meinem Gegenüber helfen, sich auf mich einzulassen. O-Ton 126 (Mareice Kaiser): Total viel, glaub ich kann jeder einzelne Mensch machen, und, also, ich würde sogar sagen, da gibt es ein Rezept, und das ist der Perspektivwechsel. Sich einmal wirklich empathisch zu versuchen in die andere Person zu versetzen, wenn man das macht, gibt’s ganz viele Barrieren untereinander nicht, da bin ich der ganz festen Überzeugung. O-Ton 127 (Juliette Brungs): Tikum ha'olam die will einen besseren Ort machen als man sie vorgefunden hat. Ich glaube, unserer Generation ist das nicht besonders gut gelungen. Es gibt so im Judentum die Idee, dass du deinen Teil beiträgst. Du musst nicht die ganze Welt auf deinen Schultern tragen, aber deinen Teil tun. O-Ton 128 (Canan Ulufer): Ich glaub, in diesem Wir, und das schreib ich manchmal bewusst groß, liegt sehr viel Kraft, sehr viel Potenzial. O-Ton 129 (Juliette Brungs): Da sind wird wieder bei der Partizipation, das ist immer wieder dieselbe Frage; wie vereinbaren wir, wie können wir miteinander verhandeln, dass alle, die da sind, 'ne Stimme haben und dass alle Stimmen zählen? Das ist so unglaublich schwierig und komplex … ja aber ja … ich meine, man setzt sich ja dann immer wieder ein und manchmal ist man müde... dann setzt man sich nicht ein, dann ärgert man sich hinterher, manchmal fällt es einem gar nicht auf, da braucht man dann 'ne Woche, dann ärgert 's einen noch mehr ne, das ist halt, schwierig. O-Ton 130 (France Damian): Es geht mir so, dass ich wirklich Vorbilder suche oder da Gefühl habe dass wir in einer Zeit sind, wo es kaum noch positive Vorbilder gibt. Sondern wir reproduzieren auch im Theater ganz oft die Wirklichkeit. Und ich hab den Eindruck, wo man die Wirklichkeit reproduziert, verändert man sie nicht. Man zeigt zwar einen Spiegel auf aber man reproduziert eigentlich nur das was man sieht. Und ich hab eine ganz, ganz große Sehnsucht danach, eigentlich alternative Modelle aufzuzeigen oder zumindest es zu versuchen einen anderen Blickwinkel aufzuzeigen, einen Weg zu zeigen, der vielleicht nicht üblich und vielleicht jetzt nicht möglich ist, aber denkbar. O-Ton 131 (Michel Arriens): Ich würde mich nicht, niemals als Vorbild bezeichnen sondern als exemplarisches Beispiel, wie es sein kann. Und jeder soll sein Leben so leben, wie er möchte. Und das ist auch vollkommen o.k. Aber es ist gut, manchmal Lösungen zu hören, um nicht immer das Rad neu erfinden zu müssen. Auf der einen Seite hilft es, glaub ich, anderen Menschen, meinen Lebensweg zu hören, wie es sein kann und wie man 's machen könnte. Weil ich auch selber davon gelebt habe, dass mir Beispiele gezeigt haben von anderen Menschen, wie Lebenswege aussehen können und auch ich davon ganz viel genommen habe und ganz viel gelernt hab. Und deshalb ist es für mich schon legitim auch über meinen Kleinwuchs und über mich zu sprechen, über meinen Lebensweg. Ich mein, mein Lebensweg ist genauso individuell wie jeder andere auch. O-Ton 132 (Canan Ulufer): Und ich denke, trotz dieser Umstände, mit denen ich aufgewachsen bin, mit denen wir Migrantenkinder aufgewachsen sind, dass wir heute an den Stellen sind, wo wir sind, das erfüllt mich mit unglaublich viel Stolz, wenn ich das sagen darf. Also ich bin immer so unbeholfen, stolz sein auf was. Aber mich erfüllt es mit sehr viel Stolz, wenn ich sehe, dass, ja, ich hab keine bio-deutschen Eltern, sie sind keine Akademiker gewesen, ich hatte keinen Klavierunterricht, aber ich bin meinen Weg gegangen, und darauf bin ich stolz, weil keiner an mich geglaubt hat, an uns geglaubt hat. Und wenn ich heute hier sitze, auch bei der Diakonie, dann hab ich mehr dafür leisten müssen. Musik Sprecher: So wie der Eintritt in die Grundschule und mehr noch der Übergang in die weiterführende Schule einen ersten bedeutsamen Schritt hinein in die Gesellschaft markieren, bedeuten Rente und Pensionierung für viele, dass sie nicht mehr automatisch und selbstverständlich dazugehören, dass sie auf einmal ausgeschlossen sind aus wesentlichen gesellschaftlichen Bereichen, der Normalität. "Wer bist Du?" wird allzuoft über den Beruf definiert. Aber was bleibt in dem Fall, wenn die Erwerbsarbeit als Thema und Identifikationsmöglichkeit wegfällt? O-Ton 133 (Georg Damian): Ohne Arbeit ist nicht zu schaffen … dazuzugehören ist nicht zu schaffen ohne Arbeit. Sprecher: Darum wird es in der dritten Stunde dieser Langen Nacht gehen: zugehörig bleiben, weiter teilhaben an der Gesellschaft, auch wenn das durch Alter, Krankheit oder eingeschränkte finanzielle Möglichkeiten nicht mehr so einfach ist, die eigene Unabhängigkeit und Selbständigkeit schwinden Musik:´ Sprecher: Wir und die Anderen. In dieser zweiten Stunde der Langen Nacht der Zugehörigkeit(en) kamen zu Wort: Tupoka Ogette und Stephen Lawson, Mareice Kaiser, Michel Arriens und Sabine Hark. Canan Ulufer, Juliette Brungs, Yansn und France-Elena Damian. Gianni Jovanovic, Georg Damian, Bärbel und Dieter Reindl. Musik 3. Stunde Musik O-Ton 134 (France Damian): Ich glaube, es ist ein ganz wichtiger Punkt, sich irgendwann für etwas zu entscheiden. Das ist auch der Unterschied, wenn ich so zurückdenke an die Biographie meiner Mutter und meines Vaters. Meine Mutter wollte nach Deutschland, mein Vater ist hinterhergekommen, also er ist mitgekommen. Und dadurch konnte meine Mutter sich viel, viel schneller integrieren, weil sie wollte hier sein, sie wollte in dieser Gesellschaft sein. Mein Vater hat natürlich erst mal mit der Sprache, er ist Rumäne, die Sprache lernen, musste erst mal sich umorientieren, beruflich gucken, wo kann ich was machen. O-Ton 135 (Georg Damian): Ja, ich heiße Georg Damian, bin 65 Jahre alt. Ich komme aus Rumänien. Vor 30 Jahren kam ich mit Frau hier, als Ausbildung bin ich Balletttänzer gewesen in Rumänien. Zitatorin: Georg Damian ist der Vater der Theaterregisseurin France Damian. O-Ton 136 (Georg Damian): Dass wir hier kamen, war sie zehn Jahre alt und sie war schon in der Ballettschule in Bukarest. Und nach einem Jahr ungefähr haben wir geschafft, sie hier zu holen, weil da waren die Zeiten so, dass wir als Verräter gestempelt wurden, dass wir weggegangen sind. Da war Ceausescu auch noch als Präsident und da war der ganze Apparat, und die haben uns die Tochter erst nach einem Jahr ungefähr, '88 im Juli ist sie gekommen. Das war nicht leicht, sie zu kriegen, musste ich zwei Briefe schreiben, einen an Ceausescu persönlich mit der Hand und auch bei der Geheimpolizei, der Chef von Kronstadt, wo wir gelebt haben und auch andere Dinge. Meine Familie hat schon Probleme gehabt, weil ich weg war. Musik Zitatorin: Nach der Flucht aus Rumänien musste Georg Damian erst einmal Deutsch lernen und dann zur Eingliederung in den ersten Arbeitsmarkt eine Ausbildung auf dem Bau, kein Ballett mehr, kein Tanz. Wirklich ankommen und glücklich werden konnte Georg Damian erst durch eine Umschulung in die Altenpflege. O-Ton 137 (Georg Damian): Wir waren sehr euphorisch. Wir haben einfach gedacht, das ist der Paradies, es ist fantastisch. Alles war einfach glitzernd und licht und warm, die Leute waren sehr, sehr nett und sehr bemüht uns eine … wir waren fast ein Jahr in einem Hotel untergebracht in Stuttgart, aber konnten nicht arbeiten weil unsere Papiere waren nicht so einfach zu machen. Acht Monate hat es gedauert, bis die Papiere zu Ende waren und acht Monate waren wir wie Bettler bei Sozialamt. Also so schön war es von dieser Seite nicht, weil wir wollten weiterarbeiten, wir wollten gleich weiter und konnte man nicht mit dieser Duldung, dass man nur ein paar Monate, drei Monate war Duldung. Und da musste je drei Monate wieder gehen, weiterverlängern. Sprecher: In dieser letzten Stunde, zum Abschluss der Langen Nacht der Zugehörigkeit(en) soll es um die Frage gehen, wie es gelingen kann, zugehörig zu bleiben, wenn sich die Lebensumstände verändern und liebgewonnene Gewohnheiten wegfallen. Das kann eher vorübergehend sein bei einem Umzug oder einem Wechsel des Arbeitsplatzes oder mit dem Übergang in den Ruhestand, wenn es nicht mehr so leicht fällt, für sich selbst zu sorgen: Wie Menschen mit dieser neuen Situation umgehen … können, hängt auch davon ab, wie sie früher einmal angekommen sind und angenommen wurden, wie sehr sie Teil dieser Gesellschaft waren beziehungsweise werden durften. O-Ton 138 (Georg Damian): Das ist nicht leicht für ein Fremder in einem Land, wo alles so geregelt ist, so perfekt an der Schiene gebaut ist. Schwieriger hier war es für uns damals, dass keiner uns etwas gesagt hat, was ist der nächste Schritt. Das war total im Dunkel. Die haben gar nicht gewusst, wie man mit uns, was mit uns macht, die musste man ständig in Nürnberg anrufen von Stuttgart hier, Ausländeramt, um zu fragen, wie geht es weiter mit uns. Die haben überhaupt keinen Plan gehabt, was macht man mit deutschstämmigen aus Osteuropa. Auch Freunde, die wir hatten, die schon lange da waren, die wussten auch nicht, was könnte wir weiter machen. Also Anfänge sind sehr schwer oder waren damals sehr schwer. Wir haben nur zwei Koffer gehabt. Kleider musste man Sozialamt betteln. Weil wir kein Geld hatten und diese waren alle Informationen, niemand sagte was. O-Ton 139 (Bärbel & Dieter Reindl): D: Ja, Zugehörigkeit. Wir fühlen uns hier tatsächlich zugehörig. Und wir haben es uns ausgesucht, wir sind nicht hier hergekommen weil wir gedrückt waren oder das Gefühl hatten, es muss was passieren. Im Gegenteil, vier Jahre bevor wir hier hergezogen sind, haben wir den Beschluss gefasst, 2017 ziehen wir ins Augustinum. Haben uns darauf vorbereitet haben Möbel entsprechend umgestellt (Gong) damit das hier alles so funktioniert, wie wir das gerne möchten, haben aufgehört, Geschirr zu kaufen, wir brauchten nicht mehr so viel. Und dann sind wir Mitte 2016 hier zu der Frau Decker hingegangen und haben gesagt: "Machen sie uns ein Angebot, dem wir nicht widerstehen können.“ Das hat sie getan. Musik: Zitatorin: Bärbel und Dieter Reindl leben in Bonn. Sie haben sich schon früh entschieden, in eine betreute Wohnanlage für Senior*innen zu ziehen, ohne drängende Notwendigkeit, sondern im Bewusstsein der Vorteile und auch der möglichen Schwierigkeiten. O-Ton 140 (Bärbel & Dieter Reindl): D: Da sind wir umgezogen. Und seitdem gehören wir hier zu diesem Haus, es ist sehr häufig die Rede von der augustinischen Familie … das ist so nicht so kirchlich gemeint, wie es klingt. Aber wir sind tatsächlich eine große Familie. Es gibt ja überall Ausnahmen, das ist klar, aber die Auswahl der Menschen, mit denen man zusammen sein mag hier in diesem Haus, ist deutlich größer, als draußen Zitatorin: Dieter Reindl war Pilot bei der Luftwaffe. Bärbel Reindl blieb zuhause und kümmerte sich um die gemeinsamen Kinder und den Haushalt. Für sie war das richtig und normal, wie für die allermeisten Frauen ihrer Generation. O-Ton 141 (Bärbel & Dieter Reindl): D: Wir haben angefangen mit zwei Koffern B: Jeder hatte einen Koffer voller Kleidung und damit haben wir angefangen, und wir hatten auch nicht mehr. Und wir haben da ein sehr intensiv mit dem, was wir hatten tatsächlich auch gehaushaltet. Wir haben immer ein moderates, sparsames Auto gefahren, sodass wir uns eigentlich mit sehr viel ja auch Engagement ein eigenes Leben aufgebaut haben und auch einen eigenen Rückhalt. Also alles ist uns nicht in den Schoß geworfen worden, wir haben auch nicht geerbt, sondern wir haben eigentlich aus dem, was wir hatten, möglichst viel gemacht. O-Ton 142 (Georg Damian): Danach war ich ja arbeitslos und nicht kurz, sondern ziemlich lang und ich habe die Erfahrung gemacht, dass man in der bei der Sozialamt gehen muss und Geld aufs Geld warten und immer Formulare schreiben, das war peinlich. Wir waren in Rumänien Künstler und bekannt in einer kleiner Stadt, in Kronstadt, wo die Leute auf der Straße und gekannt hatten und begrüßt hat und gerne in Theater kamen - das war ich ja gewöhnt mit Anerkennung und plötzlich war nichts mehr hier. Niemand kannte mich, niemand wusste, was ich könnte, machen könnte und was ich bin. Das war sehr schwer. O-Ton 143 (Bärbel & Dieter Reindl): D: Es fing eigentlich damit an dass wir beide aus Bielefeld stammen. Bielefeld war nie ein Standort für Soldaten, aber Bielefeld hatte damals eine große Textilindustrie. Und du bist in der Textilindustrie ursprünglich berufsmäßig angesiedelt gewesen. so und dann kamen wir jetzt ins Rheinland und da gab es nichts. B: also ich hab eine Ausbildung in Bielefeld gemacht als Laborantin. Und als wir dann hier ins Rheinland kamen und auch Kinder hatten und überlegten, wie geht's weiter, da ergab sich die Möglichkeit, Erzieherin zu werden und ich bin dann praktisch noch einmal zur Schule gegangen, obwohl wir schon zwei Kinder hatten und habe eine weitere Ausbildung gemacht, als staatlich geprüfte Erzieherin. Und dann kamen aber weitere Versetzungen und dann ist dann nicht mehr so sehr viel Berufstätigkeit drangegangen, noch so drei, vier Jahre, aber das war es dann auch D: Ja dann waren wir erst längere Zeit im Ausland und dann als wir zurückkamen hast du die Leitung eines Kindergartens übernommen und da kam ich nach Brüssel. und da passte das auch wieder nicht so ganz, weil ich meine Frau brauchte für repräsentative Aufgaben. Dann kam die Politik. B: dann kam die Politik und das passte auch alles irgendwie zusammen, aber meine Berufstätigkeitsjahre waren nicht so sehr groß, deswegen bin ich immer so ein bisschen irritiert, wenn jemand sagt "ach ja, die war ja nicht berufstätig". Das klingt immer so, als die hätte nicht gearbeitet. Und davon kann nun wirklich nicht die Rede sein, im Gegenteil. Aber das ist natürlich so, dass das rentenmäßig natürlich dann nicht so niederschlägt. D: Das war praktisch alles Ehrenamt. O-Ton 144 (Georg Damian): Meine Frau unzufrieden, dass ich zuhause war. Sie hatte schon Arbeit in dieser Schule, war in einer Musikschule, wo eine Abteilung Ballett hatte, in Weilderstadt und dort hat sie unterrichtet, hat sie wenig verdient aber sie war beschäftigt, sie hatte Anerkennung, und ich war wie ein Penner zuhause. Erst als ich ein Führerschein gemacht habe, zum Glück konnte ich auch noch schaffen, da konnte ich ein bisschen mich bewegen, sie zur Arbeit bringen und zurück. Und somit habe ich erfahren von einer Kundin von ihr, die zwei Kinder bei ihr in Ballett hatte, dass man diese Schule gibt, diese Altenpflegeschule. Und diese Frau hat mich mitgenommen in eine Pflegeheim, wo ich drei Tage gearbeitet habe, natürlich ohne Geld, um zu sehen, ob es mir gefällt. und nach dieser drei Tage, wo ich einen Zettel bekommen habe von der Chefin dort, dass ich das gemacht habe und von meinem Arzt ein Attest, dass ich geeignet wäre, dann bin ich in diese Ballettschule aber ausschlaggebend war diese Möglichkeit rauszukommen, mit Leuten zu sprechen, mit Leuten, ja in Verbindung zu sein. Und wenn man alleine ist und keine Möglichkeit hat, dann hat man nicht leicht. O-Ton 145 (Bärbel & Dieter Reindl): B: Also ich bin ursprünglich gar nicht unbedingt ein politischer Mensch gewesen, aber ich habe mich geärgert über seinerzeit die Schulsituation in Nordrhein-Westfalen. Da hab ich mich ganz massiv geärgert. Und während ich dann Zuhause Dampf abließ und durch die Wohnung wanderte vor lauter Wut, da sagte mein Mann " ja dann tu doch was - kannste dich hier rumärgern, dann beweg was." und daraufhin bin ich in den in die örtliche CDU gegangen, die hatte als nächstes eine Veranstaltung hab mich da lauthals beschwert und wie immer das dann so ist, die kennen das vielleicht bei solchen dingen, jemand der ganz laut redet wird hinterher gefragt ob er nicht Lust hat mitzumachen. und so ist das also tatsächlich passiert. Ich bin dann Mitglied der CDU geworden und eh ich mich versah hatte ich irgendwelche Positionen und war dann nach ganz kurzer Zeit Mitglied der Bezirksvertretung Bonn und nach weiteren fünf Jahren warn ich dann im Anschluss daran zehn Jahre noch Mitglied des Rates der Stadt Bonn. Und habe an der Schulpolitik Nordrhein-Westfalen nichts ändern können. Aber doch örtlich gesehen hab ich dann doch festgestellt, dass man eine ganze Menge machen kann und das man doch sehr intensiv mit den Leuten zusammen arbeiten kann und kann dann doch dies und jenes bewegen kann. D: ja und dann darf man nicht vergessen, die letzten fünf Jahre warste Bürgermeisterin, das bedeutete sehr viele Abende, die du nicht zuhause warst. O-Ton 146 (Georg Damian): Ich war einfach verloren und die Unzufriedenheit war so lange, bis ich in der Schule war, also in dieser Altenpflegeschule hat mir die Gelegenheit gegeben und die auf einmal hatte ich ja Mut gehabt. Ich habe Geld bekommen von Arbeitsamt, wie wurde ich auch bezahlt für die Schule, was fantastisch war. Niemand glaubte mir, dass ich eine Schule mache und sogar Geld kriege. Es war nicht viel Geld, aber zum Leben konnte ich mich von meiner Frau trennen, konnte ich diese Wohnung, wo ich jetzt seit zwanzig Jahre bin, bezahlen, die Miete, obwohl ich ja Schüler war, nach einem Jahr schon Altenpflegeschule, also das war sehr wichtig, ja die Selbstständigkeit kriegt man oder wenn man etwas ja, eine Miete zahlen konnte. O-Ton 147 (Bärbel & Dieter Reindl): D: Es zeichnete sich ab, dass ich pensioniert werden würde und wir hatten beide das Gefühl, dass wir lange genug Zweitwohnungen und Wochenendehe geführt haben und hatten das Gefühl, wollten dann auch wirklich wieder mal zusammen leben, nicht abends dann wechselweise nicht da sein B: Ja wir hatten überlegt, dass wir aus irgendeinem Grund irgendwann mal geheiratet haben, der müsste doch noch da sein. denn wir haben 35 Jahre lang Wochenendehen geführt praktisch in unserer Ehe und dann haben wir überlegt irgendwas war doch damals als wir geheiratet haben, wir haben uns wieder gesucht und gefunden. O-Ton 148 (Georg Damian): Also die Sache hat sich sehr viel geändert in Gute für dazuzugehören das ist das wichtigste nach wie vor Arbeit. Das Wichtigste ist, sich in Arbeitswelt zu integrieren, sich beweisen, das ist das wichtigste für mich. Wenn man keine Arbeit hat, ist einer der verloren ist. Ich habe dieses Gefühl gehabt. Lange. Ich wusste es gar nicht, wohin. Es geht nicht hier um das Geld zu haben, weil eigentlich vom Sozialamt hat man schon fürs Leben gekriegt, sogar Kleider und in der Wohnung etwa Möbel oder das war nicht schlecht, das war fantastisch. Aber die Tatsache, dass man alleine ist in seiner Wohnung, allein ist in der Schule oder so. Gut in der Schule kann man etwas Verbindungen machen, was ich ja auch getan habe. Aber trotzdem ohne Arbeit ist nicht zu schaffen - dazuzugehören ist nicht zu schaffen ohne Arbeit. O-Ton 149 (Bärbel & Dieter Reindl): D: Ich glaub, wir haben eigentlich unser Leben gar nicht so sehr viel geändert. B: Nein, wir haben unser Familienleben, unser Zusammenleben wieder strukturiert, wir waren bis zum Schluss getrennt, das heißt wir zogen dann wieder ständig in eine Wohnung! D: In eine gemeinsame Wohnung. Da mussten die Aufgaben neu sortiert werden, das haben wir gemacht, das war überhaupt völlig stressfrei, und ich hatte auch kein keine Probleme persönlich beim Übergang ich meine sie hat ja ihr Leben fast nicht geändert … bei mir schon. Aber ich hab dann angefangen, Ehrenamtliches zu tun. Das fing an im Ort - es wurde bekannt ich werde pensioniert und schon hatten alle gute Ideen, da ist einer, der hat Zeit, schon hatten alle gute Ideen, was der machen könnte, nach dem Motto: "Mach du doch mal den Vorsitzenden vom Feuerwehrverein, ja." B: So ging das dann, das ging alles eigentlich ziemlich nahtlos alles ineinander über. Was wir festgestellt haben, man hatte ja durchaus mehr Zeit, das heißt, das, was man tat, wurde nicht mehr so eng getaktet, wie früher , das machen wir auch heute nicht mehr. O-Ton 150 (Georg Damian): Also direkt nicht, sondern schleichend ist es, diese Gewissheit gekommen. Je besser du dir das Leben für mich war, je unkomplizierter war je unproblematischer, so kam es, also ist nicht auf einmal. Ich habe nicht in Erinnerung etwas, das man auf einmal so ein , ein etwas das man mich mit diese Gedanken macht. Ich hab die Gedanken aber die sind langsam in mir so peu a peu hochgekommen, dass ich hier gehöre, dass die Leute mich verstehe, dass viele sagen, dass ich ein gute Deutsch habe, was mich sehr freut und diese Dinge dass ich ja integriert im Arbeitswelt und geschätzt das ist sehr wichtig. Also Schätzung von anderen Menschen von den Kollegen ist für mich sehr wichtig. Ohne das konnte ich mich ja nicht als integriert fühlen, als dazugehörend fühlen. Sprecher: In der oft so genannten Rush Hour des Lebens, zwischen 25 und 45 Jahren, stehen viele wichtige Entscheidungen an: Kinder, die Vereinbarung von Familie und Beruf, Wohnort, und was soll und kann neben der Erwerbstätigkeit noch sein, ehrenamtliches Engagement, Hobbys, Lebensträume …? Da werden Weichen gestellt, die noch lange nachwirken, Gewohnheiten entstehen, eine Normalität bildet sich heraus, die dann plötzlich und grundsätzlich in Frage steht. Wie geht es weiter? Was fällt weg? Kommen neue Aufgaben und Verpflichtungen dazu? Überwiegen die Gefühle des Verlustes oder ist ein Neuanfang denkbar? O-Ton 151 (Georg Damian): Es ist tatsächlich ein Problem für viele alte Menschen, wenn die durch einen Sturz oder durch eine Krankheit in einem Pflegeheim kommen und die alleine sich fühlen. Ich habe oft gesehen und erlebt, wie die geweint haben, ich habe oft gehört, wie die unzufrieden waren, dass die Kinder nicht sie nicht besuchen. Ich habe oft erlebt, dass diese Menschen traurig sind, und dass sie diese Menschen nicht mehr leben wollen. Habe oft gesprochen und ich habe sehr gerne gehabt, mit den Mensch zu sprechen, und die wollten einfach nicht mehr leben in diesem Zustand, dass die nicht mehr brauchbar sind und niemand Interesse hat. Zitatorin: Anfang Mai bekam Edward, mein Mann, die Diagnose: Darmkrebs. Seither ist nichts mehr, wie es war. Eine Krebstherapie ist ein Fulltimejob, 24 Stunden, sieben Tage die Woche. Eine Krebstherapie erfordert Beistand. Unterstützung. Hilfe von außen und innen, bezahlte und unbezahlte. Edward ist Amerikaner und spricht kein Deutsch. Er wird von einem Heer von Spezialist*innen betreut. Da ist zunächst unsere Hausärztin ("Im besten Fall ist es eine Colitis."), dann der Gastroenterologe ("Und jetzt hab‘ ich leider keine so gute Nachricht."), ein Chef-Proktologe ("Wir müssen den Tumor zuerst schrumpfen, bevor wir operieren können. Aber Voraussetzung ist, dass Sie zunehmen."). Noch ein Proktologe ("Keine Metastasen!"). Ein Onkologe für die Chemo ("Sie müssen unbedingt zunehmen, wenn Sie das überstehen wollen. Essen Sie Sahne, Eis, Fritten, Burger. Essen Sie so viel und was Sie wollen, aber essen Sie!"), eine Radiologin für die Bestrahlung ("Sie müssen unbedingt zunehmen!") Und deshalb auch eine Ökothrophologin ("Keine Fritten, kein rotes Fleisch, kein Zucker! Essen Sie Vollkorn, rote Früchte, Gemüse, Hühnchen, Bio, frisch."). Musik Zitatorin: Ulrike Pfaff ist Journalistin und war viele Jahre lang in der PR- und Öffentlichkeitsarbeit tätig, seit Anfang 2020 ist sie im Ruhestand und wollte sich eigentlich noch einmal neu erfinden, ein Unternehmen gründen für Frauen, 'Exxpertinnen', die auch nach der Rente gerne noch arbeiten möchten oder müssen, um ihren Lebensstandard halten zu können, weil ihre Erfahrung gebraucht wird. Dann kam die Coronavirus-Pandemie und dann die Krebsdiagnose ihres Mannes, jetzt schreibt Ulrike Pfaff Tagebuch. Zitatorin: Und dann gibt es noch mich. Die übersetzt, einkauft, organisiert, die Termine koordiniert. Die chauffiert, berät, mit der Krankenkasse spricht. Die kocht und wäscht und putzt und den Papierkram erledigt. Die am Rad dreht. Die ihn erinnert und nicht vergisst. Die aushält, wenn er schreit, und sich freut, wenn er seine Nerven behält. Ich bin seine Hoffnung, seine seelische Auffangstation. Aber auch seine Watschenfrau. Sein Blitzableiter. Ich bin sein. Aber kaum noch ich. Ich führe ein verborgtes Leben. O-Ton 152 (Bärbel & Dieter Reindl): D: Aber es ist schon richtig. Man wächst mit den Lebenserfahrungen. Wir haben einen schwerstbehinderten Enkelsohn. Einen von den vielen Enkelkindern. Der sitzt im Rollstuhl, ist seit der Geburt schwerstbehindert. Das war ein völliger Umbruch in unserer Familie wie man sich vorstellen kann. Das war etwas was keiner von uns vorher kannte. B: Zumindestens nicht in dem Rahmen D: Nicht in dem Rahmen, nein. B: Es hat sich gesenkt mit der Situation, wussten wir schon. D: … das ist klar, aber … wie man selbst damit konfrontiert wird, ist noch 'ne ganz andere Sache. Das hat die Familie sehr stark zusammengeführt, und wir sind im Prinzip an diesem, nein, nicht Problem, an dieser Aufgabe sind wir alle gewachsen. Natürlich beschäftigt uns das auch. das ist ja auch zeitlich eine Aufgabe, denn die Eltern haben Beruf und können sich nicht immer kümmern, und dann ist man einfach automatisch gefordert. Das ist eine Verantwortung, die kann man nicht einfach abstreifen. Ich weiß dass es, gerade die Großeltern, die ja eine Generation entrückt sind, in solchen Fällen durchaus häufig tun. Das kann man nicht verantworten. O-Ton 153 (Georg Damian): Ich sage jetzt von der Leute, die gesund waren, ja, hier wenn die kommen in dem Pflegeheim oder können die das nicht mehr so machen, auch wenn sie zuhause wären, aber auch dann konnte man irgendwas im Hause machen. Die Tatsache, dass die nicht mehr machen müssen, ist sehr schwer. Die lassen die Leute, die machen von der Leute traurige, Traurigkeit, Einsamkeit, ich habe es oft versucht, diese Menschen zu eine sogenannte Aktivierung zu holen. Von zwanzig Leute, da konnte man eine oder zwei gewinnen. Die wollen gar nichts mehr machen. Es fehlt diese tägliche Zugehörigkeit und Brauchbarkeit. Also die wollen, wie auch die anderen, wie ich als ich kam, etwas tun. Ohne etwas Nützliches. O-Ton 154 (Bärbel & Dieter Reindl): B: Es ist doch erfreulich, dass wir feststellen können, das alles das, was wir selber auch an - an Freude oder auch an - ja, menschlicher Wärme an unsere Kinder und die Enkelkinder gegeben haben, das wir das jetzt im Grunde genommen alles wiederkriegen. Ich finde das ganz toll. ein gutes Verhältnis zu haben zu Kindern, zu Schwiegerkinder, Enkelkindern ist was ganz Außergewöhnliches und ich stelle fest, dass viele Leute das so nicht haben können. Zum Teil auch nur, weil man eben nicht - so nah an einander wohnt. Wir wohnen also mehr oder weniger alle im Großraum Bonn und das ist natürlich dann besonders gut, weil die Wege kurz sind. D: Als die Enkel groß wurden, da war ich schon pensioniert B: Beinahe, nicht ganz … D: Beinahe, ja. Und da haben wir sehr, sehr viel von den Enkeln gehabt. Sehr, sehr viel. Und das war sehr schön. Jetzt ist ein Urenkel da. Den sehen wir auch jede Woche. B: Ja, donnerstags ist Urenkeltag. D: Ja heute morgen war auch wieder Urenkeltag, toll. Kleiner, gerade fünfzehn Monate, fängt … ist heftig am Laufen, und dann rast er durch den Supermarkt und der Urgroßvater hinterher, damit die Regale nicht ausgeräumt werden. ist wunderbar. Zitatorin: Edward hat die ersten Nebenwirkungen. Der Daumen tut weh und hat einen blauen Fleck, der über Nacht dahin gekommen ist. "Der Daumen tut weh", sagt Edward auf dem Weg zur Radiologie in Bonn. Wir fahren heute endlich eine wieder frei gewordene Sperrung und sind dadurch um mindestens 5 Minuten schneller in der Klinik. Im Moment ist die Lage entspannt, anders als am Vormittag. Da ging es um zwei weich gekochte Eier. Da Edward wirklich wenig Energie hat, koche ich. Auch das Frühstück bereite ich zu. Er muss zunehmen. Wiegt weniger als 50 Kilo. Er muss die Chemo überstehen und die Bestrahlung. Das treibt mich zum Wahnsinn, denn er kann stur sein wie ein Esel und braucht immer ein festes Gerüst, einen festen Ablauf, bloß keine „Distraction“. Anyway – die Eier. Er will sie drei Minuten. Ich koche sie drei Minuten. "Drei Minuten bei kochendem Wasser, erst wenn das Wasser kocht die Eier reinlegen und nur drei Minuten." Okay. Das Wasser kocht, ich lege die Eier rein. Schalte die Herdplatte runter, das Wasser simmert, Edward betritt die Küche, der Streit beginnt: "Das Wasser muss kochen!" – "Das Wasser kocht." – "Das Wasser kocht nicht – die Eier müssen in brodelndem Wasser kochen". Inzwischen sind drei Minuten um, die Zeituhr piept. PIEP PIEP PIEP. "Drei Minuten sind um", sage ich, aber Edward fängt grade erst an, sich innerlich hochzuschrauben, jetzt fängt er an zu schreien, er tut das immer, wenn er sich aufregt und die Aufregung ist sein ständiger Begleiter. Die Schreierei ist schwer auszuhalten. Sie schraubt sich weiter nach oben und ich denke: "Scheiße, die Nachbarn", und ich denke auch: Ich muss den Nachbarn erklären, dass alles in Ordnung ist. Keine Polizei, es ist der Krebs. Die Nerven. Und vor dem Krebs die Schreierei war eben vor dem Krebs. Jetzt isses aber der Krebs. Inzwischen sind die Eier bereits fünf Minuten im Wasser und ich wähne sie kurz vor dem Hartwerden. Edward ist immer noch auf 180. Schreit und spielt sich als Lehrer auf, der seiner Schülerin den Unterschied zwischen Kochen und Kochen beibringen will. Gleich sind die Eier hart und er wird mir die Schuld dafür geben, dass sie hart geworden sind. Immer sind die anderen Schuld. Die anderen, das bin ich. In der Regel. Und in der Ausnahme. Die Eier sind jetzt aus dem Wasser, ich habe die Küche längst verlassen. Edward hält mir jetzt die „perfekten drei Minuten Eier“ unter die Nase, die fünf Minuten gekocht haben. No Comment. Was ihn noch mehr auf die Palme bringt. Aber jetzt sind wir ja auf dem Weg in die Radio. O-Ton 155 (Georg Damian): Es ist eine fantastische Zeit für mich, auf einmal nicht täglich zur Arbeit zu gehen, es ist etwas, wie eine Befreiung, etwas wie Kind sein, machen können, was man will. Diese … auf einmal dachte ich: "Boa, das kann ich machen, was ich will, das ist nicht normal, man kriegt Geld und macht nichts, also das geht doch nicht." Es geht, natürlich verdiene ich auch nicht so viel, dass ich ja genug habe, dass mir so bräuchte. Ich muss noch zwei Nächte, oder besser gesagt, weil drei Tage im Monat arbeiten, für 450-Euro-Basis. Mit diesem Geld kann ich ja zurecht kommen. Ohne dieses Geld wird es schwierig, und ich bin an der Grenze zur Sozialhilfe fast. So ist es, die Situation, aber bin glücklich, dass mich die Leute noch schätzen und mich die haben arbeiten zu lassen, noch. Ich mache zur Zeit zwei Nächte, die sind zehn Stunden Arbeit in der Nacht und mit 41 Patienten ist nicht leicht, aber ich schaffe vor allem jetzt, wenn ich ja keine andere Arbeit habe, das ist einfach Okay, ist perfekt. O-Ton 156 (Bärbel & Dieter Reindl): B: Wir sind auch heute … leben wir in sehr starkem Maße nach dem Motto 'live your age'. Wenn man also seinem Alter gemäß lebt, müssen wir feststellen, geht 's uns richtig gut, weil man sich anpasst. Man ist auch in manchen Dingen nicht mehr so schnell und man will es auch gar nicht sein. Das, wenn man sich überlegt … man fragt sich ja heute manchmal: "Wie hab ich das eigentlich alles gemacht damals, wie hab ich das alles zusammen gekriegt, wie … das geht eigentlich gar nicht." Und heute zieht man die Dinge etwas auseinander und das macht eigentlich … gibt einem sehr viel Seelenfrieden. Und wiederum macht das dann auch das eigene Erscheinungsbild wieder angenehmer, weil man nicht so zu diesen gestressten oder verbitterten oder verkrampften älteren Leuten gehört, sondern man gehört zu den positiven, zu den fröhlichen, zu den netten, die auch mal Zeit haben, die auch mal stehen bleiben, mit jemandem, schwatzen, auch mal jemanden fragen: "Wie geht's ihnen?“ Und das haben wir ja auch hier um Haus in besonderer Weise erlebt. Das ist ausgesprochen angenehm und darum geht's uns auch eigentlich so gut. O-Ton 157 (Georg Damian): Also in dem tagtägliches Leben brauch mittlerweile nichts besonders. Ich bin zufrieden, wo wir so läuft, vor allem die, die auch politische Sache, die Demokratie, das hier erlebt wird, das macht mich sicherer und auch, auch aufmerksamer. Ich bin einer, der bei alle Wahlen waren, seit '87 war ich überall jedes Mal, wenn es gewählt wurde, wurde ich dabei einer von den ersten, weil mir wichtig war, mitzumachen, das heißt Demokratie ist für mich sehr wichtig und besser als alles Andere. O-Ton 158 (Bärbel & Dieter Reindl): D: Wir sind das ältere Segment der Gesellschaft. Wir sind zwar sehr viele, aber es ist ganz klar, es gibt Bereiche, da gehören wir einfach nicht mehr hin und es gibt sogar Bereiche, da würde man uns wahrscheinlich nicht mal mehr reinlassen, wenn ich so an Discotheken denke. Ich hätte auch gar nicht das Gefühl, ich müsste da unbedingt hin. Das ist das, was du eben gesagt hat. Zugehörigkeit ist aber noch etwas mehr. Ich erinnere mich, es war einmal die Rede davon, als wir noch in Buschdorf wohnten - das ist ein Ortsteil im Norden von Bonn, da gehörten wir zu der evangelischen Gemeinde Hersel. Hersel ist Bornheim. Das war historisch so gewachsen. Und irgendwann war die Rede davon, dass man die Kirchenkreise neu aufteilen wollte. Und Buschdorf sollte von Hersel getrennt werden. Da hatten wir plötzlich das Gefühl, man will uns Heimat rauben. Das war ein sehr merkwürdiges Gefühl und wir haben damals auch laut protestiert - jetzt stellen wir fest, es hatte auch sehr viel zu tun mit der Person des Pfarrers, und nachdem dieser jetzt demnächst in den Ruhestand geht, haben wir uns von der Gemeinde ein wenig entfernt, haben jetzt hier auch unseren eigenen Seelsorger, den wir sehr, sehr schätzen. Das ist auch eine Art von Zugehörigkeit. Zitatorin: "Cramps". Edward stützt sich mit einer Hand am Küchenboard ab und hält sich mit der anderen den Bauch. "Scheiße", sag ich, und geh innerlich in Deckung. Dabei hatte der Tag so gut angefangen. Die Krankenkasse bezahlt die Fahrtkosten zur Therapie, Zuzahlung maximal 10 Euro pro Fahrt. Ich bin erleichtert. Heute ist Feiertag. Nicht für den Krebs. Die Chemo geht weiter, ich koche. Gefühlt stehe ich nur noch in der Küche: koche, presse Saft aus Karotten und frischem Ingwer, spüle (die Spülmaschine ist kaputt, auf den Austausch der Wärmepumpe warten wir seit Wochen), friere ein, taue auf, verwahre Lebensmittel im Kühlschrank, schichte um, werfe Lebensmittel weg. Wir haben unsere Nahrung komplett umgestellt. Die Ökotrophologin hat uns überzeugt. Jetzt essen wir zuckerfrei, auch keine Bananen, keinen Zuckerersatz, dafür vollwertig, wenn Brot dann nur Dinkelbrot, stärken unsere Mitte, kein rotes Fleisch, Hühnchen und Fisch ja, Himbeeren ja, Erdbeeren nein, Blaubeeren sind gut für den Darm, Tomaten gut gegen Krebs. Alles frisch, alles Bio. Täglich gibt’s frisch gepressten Karottensaft mit Ingwer aus unserem lärmenden Entsafter. Das bedeutet: tägliches Schleppen von zwei Kilo Karotten, die der Entsafter für zwei Gläser Karottensaft braucht. Das bedeutet auch: Längere Wege für mehr echtes Bio. Das letzte Suppenhuhn riss 28,29 EUR ins Portemonnaie. Läuft. Musik: Sprecher: Sorgt das Alter dafür, dass jemand am Rand steht, die Herkunft, die Leistung, der Dialekt oder die Ausbildung? Geschlecht, Hautfarbe, Kontostand … Zugehörigkeit hängt ab von den Möglichkeiten, teil zu haben. Wer keine Rolle spielt, nicht gehört wird, nicht gesehen wird, nicht mitsprechen kann, fühlt sich nicht zugehörig, egal wie lange sie oder er einer Gruppe von außen zugewiesen wurde. Aber wer entscheidet darüber, wer gehört wird, was normal und was anders ist? Und wer hat ein Interesse daran, dass die Norm durchgesetzt wird, dass das Abweichende, Untypische an den Rand gedrängt, unsichtbar wird, bis es nicht mehr gehört wird? O-Ton 159 (Tupoka Ogette & Stephen Lawson): S: Also 'ne Norm wird geschaffen, um irgendwie das, was abweicht von der festgelegten Norm, von irgendeiner Größe, von wie auch immer, das wird ja kreiert und hat immer was mit der Person zu tun oder Gruppe, die das festlegen kann und die die Macht hat, die Norm herzustellen. Wenn man das einmal begriffen hat so, sieht man, dass alle Normen künstlich sind oder hergestellt werden, künstlich und auch teilweise aufrechterhalten werden müssen. T: Ja und ich, bei Norm find ich auch, das hat mit Macht zu tun. Also bei Norm hör ich eben das, was du sagst, Macht und Unsichtbarkeit. Also die Macht liegt in der Unsichtbarkeit, dass es nicht benannt werden muss. Dass weiße Menschen sich nicht positionieren müssen als weiß, und ich als Schwarzer Mensch, oder Menschen die POC sind, dass die sich ständig, genötigt werden, sich zu positionieren als irgendwie, ja, wie wollt ihr genannt werden, wie seid ihr denn und warum seid ihr denn immer zu spät und weiße Menschen müssen das nicht. Und bei Normen, das gibt 's ja in allen Kategorien, nicht nur bei Rassismus. O-Ton 160 (Sabine Hark): Es fängt damit an, ein Kind wird geboren und es gehört rechtlich zu einer Familie, zu einem oder zwei Elternteilen, rechtlich gesehen, es bekommt einen Namen, es bekommt ein Geschlecht und es gehört damit zu einer nationalen Gemeinschaft... in der Regel, darüber, dass es dazu zueinander, zu einer Gemeinschaft gehört, hat es bestimmte Rechte oder auch nicht. Es wird in eine Sprachgemeinschaft hinein sozialisiert, in kulturelle Werte in kulturelle Praktiken und Routinen. O-Ton 161 (Tilman Eckloff): Ich glaube, dass dieses Thema Respekt im Moment halt 'ne große Brisanz erfährt, weil wir halt mit zunehmender Geschwindigkeit mit mehr Vielfalt konfrontiert sind, also weil jede Bürgerin, jeder Bürger in dem Staat mehr mit Vielfalt zu tun hat, als vielleicht noch vor zehn Jahren, als noch vor zwanzig Jahren, und dass auch aufgrund der Medien eben diese Vielfalt sehr viel mehr rangebracht wird an den Einzelnen. Und aus meiner Sicht ist eben Respekt, also horizontaler Respekt ne, eine Antwort, eine mögliche Antwort da drauf, wie man das integrieren kann. O-Ton 162 (Canan Ulufer): Uns geht manchmal das Gefühl füreinander verloren, weil wir so miteinander mit uns beschäftigt sind. Da red ich auch von mir selber. Aber eigentlich, wenn wir mal ehrlich sein wollen, ist es doch alles viel schöner, wenn wir verstanden werden. Ich glaube, ich bin als Mensch auch der Mensch, weil ich das Glück hatte, verstanden zu werden. Und wenn ich nicht verstanden werde, dann ist es immer so eine Bring- und Holschuld. Was kann ich dafür tun, dass man versteht? Keiner ist wie jeder andere. Auch nicht jeder Bio-Deutsche und jede Muslima mit Kopftuch ist homogen. Genauso wie ich nie auf die Frage kommen würde, zu fragen, warum tragen sie kein Kopftuch oder warum tragen sie eine Mütze, sollten die Menschen vielleicht weg vom Fragen kommen, einfach das akzeptieren, das respektieren. Ich glaube Respekt ist etwa ein guter Wegweiser für uns. Ich muss das nicht verstehen. Ich verstehe vieles auch im familiären Zusammenhang nicht, aber ich respektiere die Haltung, die Lebenseinstellung. Und wenn Respekt fehlt, dann fehlt Achtung, wenn Achtung fehlt, kann keine Zugehörigkeit entstehen, entsteht keine Zugehörigkeit. O-Ton 163 (Tilman Eckloff): Also 'ne, die Frage, wie geh ich eigentlich mit dem Anderen um, wenn er 'ne andere Meinung hat. Wie geh ich mit dem Jüngeren um, wenn der 'ne andere Meinung davon hat, wie das Handy zu gebrauchen ist, ob man das bei Tisch benutzen darf oder nicht, was ja 'ne Konvention ist und erst mal nicht Ausdruck von Respektlosigkeit sein muss, aber eben so empfunden werden kann. Und wie geh ich damit um, wenn sich eben diese Gewohnheiten verändern oder unterschiedliche, subkulturelle Gewohnheiten aufeinander treffen und da dann eben 'ne Form zu finden, die den andern als gleichwertig anerkennt, das steckt eben im Kern von horizontalem Respekt. Musik Zitatorin: Tilman Eckloff, ist Professor für Sozialpsychologie und Wirtschaftspsychologe. Er lehrt an der Businessschool in Berlin und hat in Hamburg die Respect-Research-Group gegründet. O-Ton 164 (Tilman Eckloff): Mir ist wichtig, dass eben diese Form von Auseinandersetzung stattfindet und eben nicht in der Gesellschaft, was wir erleben, so ne zunehmende Segmentierung, dass man eben wirklich nur noch in seiner einzelnen Blase lebt und sich eben gar nicht mehr auseinandersetzt, was in der andern Blase passiert, was übrigens auch der Grund ist, warum ich bei meinem Facebook teilweise Personen nicht stillgeschaltet habe, die sehr konträre Meinungen zu mir vertreten, einfach um zu wissen, was die denken und um noch ein bisschen ein Gefühl dafür zu kriegen, was da, was da draußen vor sich geht. O-Ton 165 (Sabine Hark): Naja, das hat eben unter anderem was damit zu tun, dass wir Zugehörigkeit so organisieren, dass wir glauben, es muss sozusagen eine positiv identifizierbare Grundlage geben, ob die dann die Basis ist, mit wem ich ein Wir sein kann. Empirisch ist es offenkundig so, nicht immer, aber oft genug, dass in Unterscheidungen von normal und abweichend verhandelt wird, ist vielleicht ein Mechanismus, mit dem wir versuchen, zu verleugnen, dass wir zunächst, ja, alle voneinander abhängig sind. O-Ton 166 (Canan Ulufer): Natürlich können wir als Politik oder als Politiker bestimmte Rahmen setzen, Rahmenbedingungen. Aber ich glaube, wir brauchen Vorbilder. Ich glaube, wir brauchen Menschen, die das vorleben. Denn was nützen Rahmenbedingungen, die Gesetze, wenn es da keine Seele gibt, kein Herz gibt, keine Haltung gibt, kein Identifizieren gibt. Wir haben heutzutage viele Gesetze und wenn man sich die Kriminalitätsrate anguckt, scheint es ja so, da halten sich nicht alle dran. Und wenn wir uns die Jugendlichen angucken, dann brauchen die Jugendlichen was anderes, als Gesetze. Sie möchten mitgenommen werden in ihrer Kultur, in ihrer Identität. Und das schaffen wir nicht immer, die Menschen mitzunehmen oder sie zu akzeptieren und zu respektieren, so wie sie sind. Ich glaube, wenn wir das schaffen würden, in unterschiedlichen Bereichen unserer Gesellschaft, den Jugendlichen, den Kindern, allen Menschen, die leben, fühlen, denken, das Gefühl zu geben, ja ihr seid ein Teil des Ganzen. O-Ton 167 (Yansn): Ach ich glaube ich denke schon dass es sehr viele Gesetze gibt die das erschweren, also was weiß ich, wenn ein Mensch hier illegal ist, wie soll er sich dazugehörig fühlen, das ist total schwer. er kann vielleicht eine Gruppe von Menschen finden, die ihm das Gefühl geben, aber grundsätzlich kannst du das nicht. Wenn dir auf dem Papier gesagt wird, dass du hier nicht dazugehörst, wie sollst du dich da dazugehörig fühlen? Ws politisch gesehen wichtig ist, dass ganz viel Geld in Bildung und Kultur geht. Dass einfach Erzieher und Sozialpädagogen und alle Menschen die eben früh an den heranwachsenden Menschen sich betätigen können und eigentlich dafür da sind, dass was manche Familien vielleicht eben verpassen. Oder dazu eben nicht Ressourcen haben, die Möglichkeit oder einfach nicht den geistigen Blick jetzt auf die Welt so sondern halt leider ganz ganz furchtbar antigesellschaftlich denken, denk ich, dass da die große Möglichkeit besteht Menschen… dass das zu fördern, dass Menschen grundsätzlich selbstsicherer sind und gleichzeitig offener und toleranter. O-Ton 168 (Sabine Hark): Wenn niemand für sich alleine existieren kann, wenn niemand für sich alleine überleben kann, und das sozusagen erst mal die, wenn man so will … der grundlegende Skandal des menschlichen Daseins ist, dass wir die Anderen brauchen, um selber zu sein. Und diesen Skandal versuchen wir unter anderem dadurch ungesehen zu machen, dass wir genau dieses, dass wir von den Anderen abhängig sind, wer immer diese im Einzelfall sind, gewissermaßen ungeschehen machen wollen. O-Ton 169 (Tilman Eckloff): Also man kann Respekt eigentlich nicht einfordern, in dem Sinne, dass dann das was daraus entstünde dann irgendwie Respekt wäre, denn Respekt trägt in sich dass objektgeneriert ist, dass also der Andere freiwillig das Gefühl hat, dass das Sinn macht, diese Person zu respektieren. Wenn ich jemandem, wenn ich einfach von jemandem die Fußballleistung schlecht finde, dann wird dieser Respekt sich in mir auch nicht auftun, wenn er sagt, ich soll ihn üfr seine Fußballleistung respektieren. Wenn ich einen Politiker einfach schlecht finde, dann kann der noch so viel mir irgendwie sagen, ich soll ihn jetzt respektieren; ich würde ihn erst respektieren in dem Moment, in dem ich das Gefühl habe, dass, also jetzt vertikal respektiert, wenn ich das Gefühl habe, dass tatsächlich er Leistung bringt, die dann meine Bewunderung hervorrufen, so. O-Ton 170 (Sabine Hark): Weil wir in einer Welt leben, die mir sagt: "es ist wichtig, den Unterschied zwischen fremd und eigen zu markieren“. Ja, das geht natürlich nur dann, wenn man jeweils gewissermaßen ein Merkmal irgendwie absolut setzt oder verallgemeinert, man kann so sehen. Frauen sind demografisch gesehen auch die Mehrheit, fühlen sich deswegen alle Frauen als Gruppe? Frag das meine Studierenden oft: "Was ist das erste, was euch über euch einfällt?" Und Geschlecht ist das eigentlich nicht unbedingt, was die als erstes über sich sagen würden. O-Ton 171 (Canan Ulufer): Wir haben viele Bilder im Kopf, mit den Gastarbeitern, mit den Ausländern, mit den Muslimen, mit den Türken, mit den Geflüchteten. Wir müssen uns mal frei von unseren Bildern machen. Ich sage nicht, dass ich sie nicht habe. Ich habe sie auch, auf- und abwertend. Aber ich glaube, wir müssen uns damit auseinandersetzen, weil da liegt die Kraft, da liegt die Versöhnung, da liegt der Zauber. Wenn wir das nicht tun, möchte ich nicht als alte, gießgrämige Frau irgendwie zu Gott. Also das möchte ich nicht. Ich möchte schon mich tagtäglich mit meinen Gedanken auseinandersetzen. Und das wünsch ich mir eigentlich auch für die Gesellschaft - wünsch ich mir das. O-Ton 172 (Juliette Brungs): Wir haben eine Gesellschaft produziert, die auseinander driftet, das war übrigens ein Grund, warum ich in die USA gegangen bin, weil es auffiel und es hat mir nicht gefallen. Es gab irgendwie keine... ich weiß nicht... keine gemeinsamen Werte mehr, um die man sich gestritten hat oder über die man sich geeinigt hätte... ich bin jetzt wirklich nicht diejenige, die der DDR ne Träne nachweint und so mein ich es auch nicht und es geht nicht darum, die Uhr zurückzudrehen, aber wir haben was Wichtiges verpasst und ich bin mir nicht sicher, ob wir es noch abfangen. Ich hoffe es aber - ich hoffe, dass wir in der Lage sind, es anders darzustellen, als andere europäische Länder... aber dann darf man natürlich auch nicht unterschätzen, welcher Druck quasi aus den anderen europäischen Ländern kommt. O-Ton 173 (Bärbel & Dieter Reindl): D: Wir fühlen uns sehr zugehörig zu der Gesellschaft im Allgemeinen. Und deswegen sehen wir auch mit Sorge, dass das ein bisschen auseinanderläuft. Wir registrieren, dass die Leute weniger bereit sind, sich zu binden. Wenn eine Aufgabe ansteht, ist es meistens überhaupt kein Problem, jemanden zu finden, der mit anpackt, aber sich zu binden und zu sagen ich spanne mich ein und hier ist meine Unterschrift und dann bin ich dabei, das ist schwerer. O-Ton 174 (Sabine Hark): Dieses Land quält sich ja fast mit dieser Frage von Zugehörigkeit, von Integration der Anderen, wer immer die anderen jeweils sind. O-Ton 175 (Juliette Brungs): Also ich muss sagen, dass mich wirklich bekümmert hat, seit ich zurückgekommen bin, das Bashing einer europäischen Identität, was hier stattfindet und stattgefunden hat. Die große Lehre des zweiten Weltkrieges oder der großen Kriege des zwanzigsten Jahrhunderts in Europa, dass man die so verheizt, dass man die so einfach aus dem Fenster wirft ist ne Katastrophe. Wie viele Menschen in Europa deswegen gelitten haben, dass es zu dieser Erkenntnis kam, dass es einen gemeinsamen europäischen Gedanken geben müsste, und wie man dann sagen kann, zwei Generationen später nicht mal, „brauchen wir nicht mehr, überfällig, gehört auf den Trümmerhaufen der Geschichte“ oder so. O-Ton 176 (Bärbel & Dieter Reindl): B: Ich bin also mit dem Gedanken schon von meinem Vater groß geworden, die Gesellschaft sind nicht die anderen, sondern die Gesellschaft bist du, und wenn du etwas ändern willst oder wenn du willst, dass die Gesellschaft funktioniert, musst du dich einbringen. Und zwar auch für unsere Kinder, um einen Eindruck zu haben, dass eben Gesellschaft etwas Lebendiges ist, etwas wofür man auch was tun muss, was nicht automatisch da ist. Und, dass man sich auch einbringen kann mit dem, was man an Werten vermittelt. O-Ton 177 (Sabine Hark): Ich habe meine eigene Tätigkeit als Wissenschaftlerin und meine Arbeit an der Universität und in der Lehre auch immer sehr stark begriffen als etwas, dass es um etwas geht, Räume zu schaffen für diejenigen, die da nicht vorgesehen waren, wie mich selbst beispielsweise. Es war nicht vorgesehen, dass jemand wie ich an der Universität ist, mit der sozialen Herkunft, aus der ich komme. Die Soziologie der sechziger Jahre hatte dafür den Begriff der katholischen Arbeitertöchter vom Land. Heute sind das die jungen Menschen mit Migrationshintergrund, das sind diejenigen, die nicht vorgesehen sind an den Orten, an denen ich selber bin, bei aller Fremdheitserfahrung, die auch ich da immer noch mache... also das ist ja nicht so, dass die Hochschulen, die Universitäten ein Ort sind, in dem soziale Herkunft beispielsweise keine Rolle spielt. O-Ton 178 (Tilman Eckloff): Und da glaub ich braucht 's halt 'nen breiten gesellschaftlichen Dialog, um dann die Form, diese Struktur eben, diesen Veränderungen in der Gesellschaft auch anzupassen. Und da hoffe ich halt sehr, dass die Dialogbereitschaft nicht aufhört, und dass quasi diese verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen weiterhin miteinander sprechen und miteinander ihre unterschiedlichen Positionen austauschen, miteinander in Kontakt treten. Denn ich glaube, das Gefährlichste, was uns passieren kann, ist eben, dass wir abdriften in Subgesellschaften innerhalb unserer Gesellschaft, wo die Wahrnehmung entsteht, dass keine Möglichkeit des Dialogs mehr stattfindet, also dass vielleicht sich abgehängte Bevölkerungsschichten sagen, ja die da oben, die machen doch eh was sie wollen. Wir müssten uns zusammensetzen und dieses Zusammensetzen muss so sein, dass wir in diesem Zusammensetzen uns auseinandersetzen, dass quasi in diesem Dialog anerkannt wird, dass die Anderen eben ganz andere Meinungen haben und dass die auch in ihrer Unterschiedlichkeit wahrgenommen werden. Ich glaub, dass das Gefühl oft ist, wenn uns zusammensetzen, dann bin ich, komm ich nicht mehr vor, dann werd ich quasi vereinnahmt von den Andern. Und dieses in dem Zusammensetzen sich auseinanderzusetzen, um dann eben Lösungen zu finden, die eben die Unterschiedlichkeit anerkennt, das ist glaub ich, das wär so die Form von respektvollem Dialog, den ich mir da wünschen würde. O-Ton 179 (Michel Arriens): Wir müssen da am Ball bleiben, dass auch ein Don Leone kleinwüchsig sein kann oder ein Supermarktverkäufer blind sein kann in einem Spielfilm James Bond oder was auch immer. Und ich glaub, das wird ewig unser Auftrag bleiben, immer wieder dafür zu arbeiten. Aber es macht auch Spaß, ehrlich gesagt. Grade wenn du auf Menschen triffst, die willig sind, dazu zu lernen. Genau. Also People First, also meinen in erster Linie sind wir ja Menschen wie jeder andere auch, und der Kleinwuchs ist eine unserer Eigenschaften, deshalb Menschen mit Kleinwuchs. Manche sagen auch Kleinwüchsige, ist für mich auch o.k. und für die meisten anderen o.k. Was halt nicht geht ist Zwerg oder Liliputaner oder so was in die Richtung, weil das sind Fabelwesen, und wir sind ja doch aus Haut und Knochen. O-Ton 180 (Tilman Eckloff): Das Argument zu sagen, nur weil unsere Gesellschaft dann komplexer wird, muss man bitteschön diese Gruppen weiterhin unterdrücken oder nicht wahrnehmen, wäre für mich eben kein valides Argument. Trotzdem gibt es dann, entsteht für mich darin das Dilemma zwischen Vielfalt, Einbeziehen und Komplexität reduzieren, also dass man sagt, wir müssen in dieser Gesellschaft in bestimmten Entscheidungsprozessen, auch politischen Entscheidungsprozessen, muss Komplexität reduziert werden, weil es in dieser Vielfalt gar nicht bewältigbar ist. Und gleichzeitig muss trotzdem eben auch, auf der andern Seite, dafür gesorgt werden, dass, wie in dem Beispiel eben, diese ganzen unterschiedlichen Minderheiten auch ihr gleiches Recht auf freie Entfaltung bekommen. Und nur weil für mich persönlich jetzt eben 'ne bestimmte Minderheit nicht so wichtig ist, weil ich der vielleicht nicht angehöre und zu der Mehrheit der Gesellschaft gehöre und sich für mich sich da nichts ändert und das dann als störend empfinde, wenn die da jetzt auch noch ihre Rechte wollen, heißt das ja noch lange nicht, dass die nicht das gleiche Recht auf freie Entfaltung haben. Weil in andern Punkten bin ich ja auch so eine Minderheit, die ja auch irgendwie ihr Gehör und ihr Recht auf freie Entfaltung haben möchte. O-Ton 181 (Ferda Ataman): Also der Weg … oder ich hätte gern, dass wir in Deutschland irgendwann soweit sind, dass Leute wie ich nicht mehr darauf angesprochen werden, dass ich doch ach so gut deutsch könne und trotzdem studiert habe und ob ich denn dieses Brötchen auch wirklich essen will und so, wenn das irgendwann mal so 'ne Lockerheit angenommen hat, dass man sagt, okay, offenbar ist es 'ne Atheistin oder offenbar ist sie muslimisch, hat aber kein Problem mit Schweinefleisch und Alkohol, was es ja alles auch gibt. Dann wär 's schön. Musik Zitatorin: Ferda Ataman ist Autorin und Journalistin und lebt in Berlin. Im März 2019 erschien ihr Buch: 'Ich bin von hier. Hört auf zu fragen!'. Sie ist Mitbegründerin und eine der Vorsitzenden des Vereins 'Neue Deutsche Medienmacher', außerdem Sprecherin des Trägervereins 'Neue Deutsche Organisationen'. O-Ton 182 (Ferda Ataman): Und auf diesem Weg dahin, also bis man so 'ne kulturelle Flexibilität entwickelt hat, zu sagen, ich weiß gar nicht, was mein Gegenüber denkt und will, nur weil ich weiß, dass er oder sie Türkin ist oder türkische Eltern hat. Auf dem Weg müssen wir wahrscheinlich solche Gespräche noch führen. Also ich glaub jetzt gar nicht, dass irgendein Interview, dass Sie mit mir führen oder ich mit jemandem führe oder irgendein Artikel, den ich schreibe, wahnsinnig viel bewegen kann oder 'ne völlige Bewusstseinserneuerung in die Gesellschaft reinträgt, das nicht, aber es ist 'n zäher Prozess, der vermutlich damit zu tun hat, dass ich noch hundert weitere Male gefragt werde, wo ich herkomme. Und irgendwann feststellen werde, dass ich 's vielleicht nicht mehr so oft gefragt werde, hoffentlich. O-Ton 183 (Anne Taube): Also von diesen 69, die jetzt abgeschoben wurden zu Seehofers 69. Geburtstag, da waren mehrere von unseren Schülern dabei. Und das war für die überraschend, die waren ja in der Nacht dann da geholt worden, ein Dienstag war das, und am Freitag davor, da hatte ich noch mit einem anderen Schüler zusammen eine Tasche genäht. Der war schon lange bei uns, fast zweieinhalb Jahre, und der hatte immer erzählt, dass er als Kinderarbeiter in Teheran in einer kleinen Taschenwerkstatt viele Jahre gearbeitet hätte und schließlich also von dort sich auf den Weg nach Europa gemacht hätte. Und dass er eben einfach Taschen nähen kann, das ist das, was er gelernt hat in seinem Leben, der hat dann auch immer aus Pappe Taschen gebastelt, und mit dem wollte ich immer mal eine Tasche nähen, weil ich sehen wollte, wie gut er das kann und was er für Taschen näht. O-Ton 184 (Tilman Eckloff): Eine Mehrheitsgesellschaft oder die Mehrheit hat natürlich auch das Recht, für ihre freie Entfaltung auch einzutreten und dafür eben auch zu kämpfen, und das ist ja sehr, sehr legitim. Demokratie und darin ist es ja normalerweise ja auch so, dass sie sehr erfolgreich sind und die Gesellschaftsstrukturen schon eh so geschaffen sind, dass sie die Mehrheit eben auch privilegiert. Und, genau. Vor dem Hintergrund begrüße ich eher diese Vervielfältigung und zu sagen, jede noch so kleine Minderheit soll das Recht haben eben für ihre Rechte einzutreten und dann eben gesamtgesellschaftlich zu kucken, wie man das sichern kann. Und ich finde, dass da dieser Ansatz des Grundgesetzes, zu sagen, dass da erst mal alle Menschen vor dem Gesetz gleich sind, find ich einen wunderbaren Ansatz, weil der ja eben unabhängig von Religion, ethnischem Hintergrund, sexueller Orientierung usw. anerkennt, das Individuum als gleichwertig dem andern Individuum. Und das wäre ja so die kleinste Einheit, also jeder Mensch als Minderheit dann, wo ich denke, ja genau darum geht es ja, jedem Menschen in dieser Gesellschaft die Möglichkeit zu geben der Teilhabe und des gleichen Rechts auf freie Entfaltung in dieser Gesellschaft. Insofern kann es da eigentlich nicht komplex genug werden. O-Ton 185 (Anne Taube): An dem Freitag davor, da haben wir tatsächlich so eine Tasche genäht aus einer alten Wandkarte, die wir wegschmeißen müssen an der Schule, und ich hab immer gedacht, oh das wär doch toll, wenn Abdulazim daraus Taschen nähen würde und dann könnte man das verkaufen, vielleicht auf dem Flohmarkt, und dann könnte das Geld in die Klassenkasse gehen oder so. Und während wir da genäht haben bzw. er hat genäht und ich hab zugeguckt, da haben wir uns unterhalten und ich hab ihn gefragt nach seinem Leben in Teheran und wie das war, und dann hat er mir erzählt, dass er ungefähr mit 15 oder so angefangen hätte da in dieser Werkstatt zu arbeiten, einfach als kleiner Hilfsjunge, und erstmal saubermachen musste, und dass sie immer mehrere Lagen übereinander gelegt hätten um das zuzuschneiden und andere hätten dann genäht und an, an harten Tagen hätten sie bis zu 100 Taschen an einem Tag genäht und dann wäre das da auf einem Basar verkauft worden. O-Ton 186 (Georg Damian): Nachdem ich in der Schule in der Altenpflegeschule über Testament gelernt, habe, habe gleich eines Tages auch einen gemacht, wo ich geschrieben habe, möchte gerne in Rumänien begraben. Aber war damals noch diese ja, ich gehöre noch in Rumänien. Aber nachher nachdem ich die im Beruf schon in Robert-Bosch-Krankenhaus? angefangen habe zu arbeiten und Geld zu verdienen und noch hier besser fühlen, da habe diese Gedanken nicht mehr. Ich fühle mich tatsächlich mehr als Deutscher mittlerweile, auch wohl wissend, dass meine Aussprache, mein Akzent nicht richtig ist, so wie man hier gerne hätte, dass jeder alte Mann, der bei mir im Krankenhaus treffe fragt mich gleich, ob ich ihn nicht aus Ostdeutschland komme, also ich, man kann sich nicht verstecken. Aber in meinem Herzen mittlerweile bin ich ja sicher, ich bleibe hier bis zu Ende. O-Ton 187 (Ferda Ataman): Also ich persönlich hatte nie die Wahl zu entscheiden, ob ich als Fremder oder als Migrant irgendwo leben will, meine Mutter hat das entschieden, als sie hierher gekommen ist, und mein Vater. Und meine Mutter hat für sich irgendwann entschieden, dass sie das auch nicht mehr erträgt, und ist vor fünf oder sechs Jahren zurück gegangen. Was ich nie gedacht hätte, weil sie 'ne alleinerziehende Frau ist und total weltoffen und sie hier immer ins Kino gegangen ist und mit ihrem Geld, das sie verdient hat, ganz viel Kultur genossen hat, in Konzerte gegangen, und wirklich als alleinstehende Frau relativ freizügiges Leben gelebt hat, das sie wahrscheinlich so entspannt in der Türkei nur in einer Großstadt wie Istanbul oder Ankara hätte führen können. Und sie ist trotzdem in 'ne Kleinstadt gegangen und lässt sich lieber, also hat so abgewogen, was sie eher erträgt, ihre Freiheit einzuschränken oder zu sagen, ich bin einfach, ich hab kein Bock mehr, der Ausländer zu sein, so und mir sagen zu lassen, dass ich doch gar nicht so schlecht deutsch spreche oder dass es toll ist, was ich mache. O-Ton 188 (Anne Taube): Und dann hatte ich mich gefreut, hey jetzt haben wir die Tasche und toll, jetzt stellen wir die in einen Schaukasten in der Schule und sagen, das hat Abdulazim gemacht, der kommt aus dem Iran, ist eigentlich Afghane und kann diese Sachen nähen und dachte, jetzt steigen wir vielleicht in die Produktion ein oder so, und am Dienstag war sein Platz leer, und auch der von einigen Mitschülern und es hieß er ist abgeschoben worden. Und jetzt hatte ich zufällig die Nummer von Abdulazim und hab ihn auf WhatsApp angefunkt und hab gefragt, wie geht’s dir, was machst du? Und er ist jetzt halt in Kabul und hat große Angst, er hat niemanden, seine Mutter ist tot, seine Schwester verheiratet und hat viele Kinder, und sein Vater hatte neu geheiratet und sich nicht mehr um ihn gekümmert um diesen Sohn aus erster Ehe, und er hat einen Onkel, wo er aufgewachsen war, der ihn schlecht behandelt hatte, in der Nähe von Ghazni, und das ist nichts wo er hin zurück kann. Und er ist jetzt in Kabul und fühlt sich sehr elend, weil er nichts hat, wo er hin kann und weil er Angst hat. Also, er sagt es wären ständig Anschläge irgendwo, er wüsste nicht, wo er hin könnte und er hätte kein Geld, er ist einfach ratlos. Und er hat jetzt gerade noch genug Geld für ein Hotel, und da muss er am Mittwoch jetzt raus. Und in dem Hotel hat er auch Internet und dadurch schreiben wir uns jetzt manchmal. O-Ton 189 (unbekannter Passant): Bin für Köln zuständig, für Bonn bin ich zuständig, hier ist der alte Bürgermeister, da ist der Kölner Bürgermeister, und da ist der neue Bürgermeister. Ich hab die Bahn in der Hand, da ist immer kaputt. Musik Sprecher: Mitten im Interview mit Dalibor Markovic in der Siegburger Fußgängerzone kommt plötzlich ein älterer Mann auf uns zu. Er trägt ungewaschene, zerrissene Kleidung, stellt sich zu uns und möchte offensichtlich dazugehören, seinen Teil dazu beitragen, gehört werden. O-Ton 190 (unbekannter Passant): Die Linie 66 ist kaputt, die 17 ist kaputt und da nach Köln ist das auch kaputt. Da ist mein Auftrag die Bahnen in Ordnung halten, und wenn das nicht tut, bezahlt die Fahrscheine, 500 Euro? Und die Scheibe ist kaputt 30.000 Millionen Euro bezahlt jeder Kunde. Und das ist doch schlimm so was, immer muss ich kontrollieren, immer ist was. O-Ton 191 (Anne Taube): Er ist einfach ratlos, er weiß nicht was er machen soll. Und ich? Musik: O-Ton 192 (Dalibor Marcovic): Kommt das häufiger vor, dass Leute was sagen wollen? Vor allem: ich komme gleich wieder, gehen sie nicht weg. Das war schön. O-Ton 193 (unbekannter Passant): Ich kriege jeden Tag Tabletten, morgens und abends, die brauch ich gar nicht mehr, bin ein kluger Mensch und ich bin kein behinderter Mensch. Ich bin doch da, ich kann doch denken, politisch denk ich doch. Der Schaum auf den Lippen kommt von den Tabletten. Ist das denn richtig, findest du das richtig? Ich bin ein politischer Redner ich möchte euch allen danken die ganze Welt hab ich in der Hand, ich hab ein Sender im Kopf, deinen Sender, in Frankfurt überall sind Sender, Mainz wie es singt und lacht, und Köln sagt "helau, helau, Karneval Karnevalist. Sprecher: All die Menschen, die in dieser Langen Nacht zu Wort kamen, sind auf ihre ganz persönliche Weise zu Expertinnen und Experten in Sachen Zugehörigkeit(en) geworden, weil sie nicht immer und nicht einfach so und unhinterfragt dazugehören. Sie haben die Regeln und Mechanismen von Zugehörigkeit studiert, studieren müssen, weil sie immer wieder aufs Neue Gefahr laufen, ausgegrenzt zu werden, um einen Weg zu finden hinein in diese Gesellschaft Darf ich mitspielen? Gehöre ich dazu? Oder werde ich ausgegrenzt? Die größten Dummheiten im Leben machen wir wahrscheinlich dann, wenn wir unbedingt dazugehören wollen und uns dafür anpassen, verbiegen, gar nicht wirklich wir selbst sind. Richtig sein … falsch sein, die Suche nach der eigenen Identität ist in der Kindheit und der Pubertät ganz normal, auch der Widerstand anderer Menschen ist dabei wichtig. Wenn dieser Widerstand aber nicht aufhört, sondern zum ständigen Begleiter wird im weiteren Leben, bedeutet das alltäglichen Stress und Unzufriedenheit. Je enger die herrschenden Normen gezogen werden, desto größer wird auch der Anpassungsdruck, für immer mehr Menschen, desto weniger eigenes Ich ist möglich. Je mehr Anderssein in einer Gruppe als Normalität anerkannt und gewünscht wird, je größer die Diversität wird, desto leichter wird es für die Einzelnen, dazu zu gehören und sich zugehörig zu fühlen. O-Ton 194 (Tupoka Ogette & Stephen Lawson): Verletzungen zwischen Menschen gibt ’s immer, aber ich merke, dass ich entspannter bin in 'nem Raum, wo Unsicherheit herrscht. Also konkret: Wenn ich in 'nen Raum komme, und alle sind irgendwie, verschränken die Arme und wissen: "Oh, da kommt die Schwarze, und wir wissen ja, wie die so ist, und die ist 'ne Frau und die ist so und so …“ Dann ist das ’n Raum, wo ich wenig Luft hab. Wenn ich aber in 'nen Raum komme, wo Menschen irgendwie sagen: "Whoa, wir wissen, es gibt was, wie Rassismus, und es gibt Sexismus, und es gibt viele andere Diskriminierungsformen und die wirken, und wir wollen ’s aber irgendwie auflösen und wir wollen daran arbeiten und so …“, dann ist da s’n Raum, wo Unsicherheit vielleicht herrscht. Die wissen vielleicht nicht: "Boah, wie nenn ich dich jetzt?“ Oder: "Was sag ich?" Oder: "Was mach ich?" oder ... aber es ist ’n Raum, wo Möglichkeit ist zum Dialog und wo ich mehr atmen kann und wo wir uns dann austauschen können und wo wir dann gemeinsam wachsen können und das heißt ja auch, dass ich, ich mach auch jeden Tag Dinge falsch und sag Sachen falsch oder mach Fehler, verletze Menschen, bewusst, unbewusst, eher unbewusst aber … ja. Lange Rede. T: Also, wenn ich noch mal darf: Gesellschaft soll genau das, also Gesellschaft …ich wünsche mir, dass diese Gespräche, die wir jetzt hier führen, Gespräche sind, die etabliert werden, dass wir es lernen, diese unangenehmen Gespräche zu führen. Immer und immer wieder im kleinen Kontext, im großen Kontext, mit der Nachbarin nebenan, ähm, genauso wie mit, äh, das irgendwie im politischen Kontext, also dass wir lernen, über diese Sachen zu sprechen, über die Norm, über Ausgrenzungserfahrungen, dass wir lernen, einander zuzuhören, ohne in die Defensive zu gehen. Und das ist schwer, für alle, aber ich denke, das ist der erste Schritt irgendwie, das anzuerkennen und nicht zu denken: "Lalala, das gibt ’s alles gar nicht, und wenn wir nicht drüber reden, dann wird ’s schon alles gut sein“ … wird ’s nicht. Weil Menschen machen jede Tag Rassismus-Erfahrungen, Sexismus-Erfahrungen und so weiter. Und nur wenn wir ’s lernen, darüber zu reden, und diese Gespräche sind schmerzhaft und mit Scham verbunden und mit Trauer und auch mit Abschied, also Abschied nehmen von … ja, Kindheitserinnerungen, Büchern, Filmen …ja, Ansichten. Aber es lohnt sich, das wär mein erster Schritt. S: Perfekt. Musik Zitatorin: ​ Wir und die anderen. Eine Lange Nacht der Zugehörigkeiten. Von Almut Schnerring und Sascha Verlan. ​ Mit Mareice Kaiser, Dalibor Markovic und Ferda Ataman. Gianni Jovanovic, Sabine Hark und Anne Taube. Mit Juliette Brungs, Canan Ulufer, Michel Arriens, Tupoka Ogette & Stephen Lawson. Mit Katrin & Jens, Yansn und France Damian. Georg Damian, Bärbel & Dieter Reindl und Tilmann Eckloff. Es sprachen: Demet Fey und Hüseyin Michael Cirpici Regie: Almut Schnerring und Sascha Verlan. Redaktion: Dr. Monika Künzel Eine Produktion der Wort & Klang Küche 2020 Musik: instrumental, als Trenner und zur Strukturierung O-Ton 195 (Canan Ulufer): Ich hatte so 'ne Begegnung in der U-Bahn, da guckte mich so ein kleines Mädchen mit ganz großen, blauen Augen sehr lange an und wir konnten irgendwie nicht voneinander. Wir haben uns die ganze Zeit angeguckt und sie war auf dem Schoß ihrer Mutter, sie wollte zu mir und die Mutter war so ein bisschen unbeholfen, wusste jetzt nicht so richtig. Dann bin ich aufgestanden, bin zu dem kleinen Mädchen, meinte, sie hat gar keine Angst vor meinem Kopftuch, und dann sagte der Vater, Kinder schauen nicht auf das Kopftuch, Kinder fühlen Menschen. Es hat mich so berührt und so bewegt, mir schossen die Tränen in die Augen und ich merkte, da fühlte ich mich zugehörig. Musik Musikliste 1.Stunde Titel: Lass dich gehen Länge: 02:46 Interpret: Manges Komponist: Markos Koderisch, Benjamin Brust Label: KEHLKOPF AUFNAHMEN Best.-Nr: 004CD Plattentitel: Regenzeit in der Wüste Titel: tägliche Routine Länge: 06:45 Interpret: Manges Komponist: Markos Koderisch, Benjamin Brust Label: KEHLKOPF AUFNAHMEN Best.-Nr: 004CD Plattentitel: Regenzeit in der Wüste Titel: S.I.E.H. Länge: 02:15 Interpret: Manges Komponist: Markos Koderisch, Benjamin Brust Label: KEHLKOPF AUFNAHMEN Best.-Nr: 004CD Plattentitel: Regenzeit in der Wüste 2.Stunde Titel: Wupp Dek Länge: 10:30 Interpret: Robag Wruhme Komponist: Gabor Schablitzki Label: Pampa Records Best.-Nr: PAMPACD002 Plattentitel: Thora Vukk Titel: Pnom Gobal Länge: 05:18 Interpret: Robag Wruhme Komponist: Gabor Schablitzki Label: Pampa Records Best.-Nr: PAMPACD002 Plattentitel: Thora Vukk Titel: Tulpa Ovi Länge: 04:00 Interpret: Robag Wruhme Komponist: Gabor Schablitzki Label: Pampa Records Best.-Nr: PAMPACD002 Plattentitel: Thora Vukk Titel: Prognosen bomm Länge: 03:36 Interpret: Robag Wruhme Komponist: Gabor Schablitzki, Robag Wruhme Label: Pampa Records Best.-Nr: PAMPACD 002 3.Stunde Titel: Reise deines Lebens Länge: 02:10 Interpret: Yansn Komponist: Yana Görisch Label: Springstoff Best.-Nr: CD-YAEP-0069 Titel: Menschsein Länge: 03:58 Interpret: Yansn Komponist: Yana Görisch Label: Springstoff Best.-Nr: CD-YAEP-0069 Titel: Stranger Things Länge: 01:00 Interpret: V.A. Komponist: Kyle Dixon, Michael Stein Label: LAKESHORE RECORDS Best.-Nr: keine Literatur Dalibor Marcovic fragil mich nicht In: Und Sie schreiben auf Deutsch? Voland & Quist. ISBN 3-863911-46-1 1:00 min Tanasgol Sabbagh Von überall her. In: Wir sind gekommen, um zu schreiben (Hrsg. Sulaiman Masomi). Satyr-Verlag ISBN 3-947106-24-0 8 1:40 min