DEUTSCHLANDFUNK Sendung: Hörspiel/Hintergrund Kultur Dienstag 09.09.2014 Redaktion: Karin Beindorff 19.15 ? 20.00 Uhr Gasrausch im ewigen Eis Unterwegs auf russischen Gasfeldern jenseits des Polarkreises Von Suzanne Bontemps und Sophie Panzer Co-Produktion DLF/RBB/ORF URHEBERRECHTLICHER HINWEIS Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Jede Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in §§ 45 bis 63 Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. © Deutschlandradio - Unkorrigiertes Manuskript - Übersetzer: ----- Original Message ----- From: ???????? ?.?. To: i.skomorokhov@gazprom.ru Sent: Friday, December 06, 2013 2:31 PM Subject: Fw: RE: ??????? ?????, ????? ??????? ?? ??????????. ?????? ??????? ????? ????????, ????? ???? ????????? ? ?????????? ?? ?? ??? ????-?????? ??? ???????????? ? ???? ??, ????? ??? ?????????. Übersetzer: Ich denke, man kann Sie unterstützen. Nur müsste zuerst das Ziel der Reportage geklärt sein und ob wir schon mal diesen Radiosender irgendwohin hingeschickt haben, und wenn ja, mit welchem Resultat. Freitag, 6. Dezember 2.32. pm, Igor Michajlovitsch Volubujev Autorin: Nach zahllosen Anfragen und Mails endlich im vergangenen Dezember grünes Licht aus der Gazpromzentrale in Moskau. Wir dürfen in das größte Erdgasabbaugebiet Russlands fahren, das für Ausländer eigentlich gesperrt ist. Nein, vor uns war noch keine Kollegin oder Kollege vom Deutschlandfunk, vom RBB und ORF dort, mailen wir an die Zentrale zurück. Ansage: Gasrausch im ewigen Eis Unterwegs auf russischen Gasfeldern jenseits des Polarkreises Ein Feature von Suzanne Bontemps und Sophie Panzer ATMO: Flugzeugansage aus der Russischen S7 Airlines Autorin: Nicht mit Gazpromavia, sondern mit der Russischen S7 Airlines fliegen wir nach Nóvy Urengóy, einer Großstadt nahe am nördlichen Polarkreis, 2340 Kilometer nordöstlich der russischen Hauptstadt. Fast dreieinhalb Stunden dauert der Flug, fast dreieinhalb Stunden endlose Weite, Schneefelder, so weit das Auge reicht. Nur hin und wieder eine kleine Siedlung oder der Schein einer Gasfackel. Dann mitten in der Schneewüste die Silhouette von Novy Urengoy: Rauchende Schornsteine und 10-stöckige Plattenbauten. Ohne Gulnáz Kolokólova, eine freundliche Mitarbeiterin von Gazprom, und ohne den schrankenöffnenden Própusk, den Passierschein, der uns als Gäste des Energiekonzerns ausweist, wäre unsere Reise trotz Visum und Hotel-Voucher an der Passkontrolle zu Ende gewesen. Denn auch die Stadt ist für Ausländer gesperrt. Vor dem Flughafen auf dem Parkplatz eine digitale Temperaturanzeige: minus 45 Grad. Die Brille vereist, atmen tut weh, die Kabel der Aufnahmegeräte sind nach kürzester Zeit steif gefroren. Weißer Atem vor dem Gesicht, weißes Gewölk aus den Auspuffrohren der Autos. Alle parken mit laufendem Motor und vernebeln die Sicht. In dieser weißen Wüste im Nirgendwo wird niemals ein Motor abgestellt, auch wenn man stundenlang auf einen Mitfahrer warten muss. ATMO AUTO Autorin: Gazprom hat für uns ein minutiöses Reiseprogramm zusammengestellt. Zuerst werden wir zu den Gasfeldern gebracht, die Großstadt am Polarkreis sehen wir zunächst nur im Vorbeifahren. Farbige Plattenbauten entlang der breiten, schneefreien Boulevards. Wie überall auf der Welt auch hier auf den Straßen Lastwagen, Busse, Privatautos. Der Verkehr rollt flüssig an diesem Vormittag, wir kommen im komfortablen Gazprom-Taxi zügig voran; dennoch wirkt die Stadt seltsam leer, und es dauert, bis uns klar wird, was fehlt. Wo sind die Bewohner von Nóvy Urengóy? Die Stadt am Polarkreis ist doch eine Großstadt, geht es uns durch die Köpfe. Es kommt uns vor, als führen wir durch eine Kulissenstadt. Atmo Café O-TON Kirill Übersetzer: Wenn ihr morgens zu Hause ein Tässchen Kaffee trinken möchtet, den Gasherd anstellt, und es gibt kein Gas, dann wisst Ihr jetzt, dass etwas in Nóvy Urengóy passiert sein muss. Autorin: Kirill, ein Gazprommitarbeiter, beseitigt unsere Zweifel, ob Novy Urengoy wirklich existiert oder nicht vielleicht eine Fata Morgana ist. Doch genau überprüfen können wir das erst später, jetzt schickt uns der Konzern auf die Gasfelder von Novozapoljárnoje, 220 Kilometer in nord-östlicher Richtung von Nóvy Urengóy. An der Stadtgrenze ein Straßenposten. In diesem strategisch wichtigen Gebiet wird jeder kontrolliert, der sich von A nach B bewegen möchte, nicht nur der Besucher aus dem Ausland. ATMO Auto nach GP 16 Autorin: Eine weiße, grenzenlose Schneewüste. Der Blick wird durch nichts festgehalten und endet erst am Horizont. Es gibt keine Hügel, Wälder oder Ortschaften. Abwechslung in diese monotone Landschaft bringen nur die stählernen, vereisten Überlandmasten und vereinzelte Gasfackeln ? das Signum von Gazprom. Bei polarer Kälte und niedrig stehender Sonne erscheinen kerzengerade bunte Lichtsäulen am Himmel, die die Schneewüste endgültig in eine surreale Kulisse verwandeln. Ganz real dagegen sind die vielen Laster, Busse und Geländewagen, die über diese eisige Trasse nur in Kolonne fahren ? jedenfalls solange das Thermometer nicht unter 40 Grad minus fällt. Dann steht hier alles still. ATMO Gas Autorin: 66.44.18 nördlicher Breite, 79.32.55 östlicher Länge, 60 Kilometer oberhalb des nördlichen Polarkreises in Westsibirien, im sogenannten Autonomen Kreis der Jamalo-Nenzen. Hier fällt das Quecksilber bis zu minus 60 Grad. Inmitten dieser Schneefelder GP -2S, eine der 12 Gasaufbereitungsanlagen der GmbH Gazpróm Dobýtscha Jámburg, einer hundertprozentigen Tochtergesellschaft von Gazpróm. Nach einer erneuten Ausweiskontrolle dürfen wir das eingezäunte Betriebsgelände betreten. Aus Sicherheitsgründen müssen wir einen Helm tragen. O-TON Azat Übersetzer: Wir fördern hier am Polarkreis 130 Milliarden Kubikmeter Gas im Jahr. Das entspricht dem jährlichen Gasverbrauch in Deutschland. Autorin: Azát Guméry ist der stellvertretende Leiter der Gasaufbereitungsanlage GP-2S, einem Industriekomplex mit einem 17 Kilometer langen Röhren- und Leitungssystem. Er arbeitet schon seit Jahren auf den westsibirischen Gasfeldern von Gazpróm, ist ein alter Hase um die Vierzig, ist hier zuhause. ATMO Gazprom-Ode Autorin: Gazpróm, bis 1992 dem Ministerium für Erdöl und Gaswirtschaft unterstellt, ist seitdem eine Aktiengesellschaft. Der Staat hält 50 Prozent und eine Aktie und im Aufsichtsrat die Mehrheit der Sitze. Mit seinen rund 445.000 Beschäftigten ist Gazpróm der größte Arbeitgeber des Landes und unterstützt den russischen Staatshaushalt mit Milliardenüberweisungen, ist zudem wichtigster Devisenlieferant des Landes. Deutschland bezieht 37,5 Prozent seines Gasenergiebedarfs von Gazpróm, 35 Milliarden Kubikmeter Gas. ATMO Gas Autorin: Rund um die Gasaufbereitungsanlage wurde die Tundra unzählige Male angebohrt, um das Erdgas aus bis zu 3.000 Metern Tiefe an die Oberfläche zu befördern. In den Gasflözen herrscht ein sehr hoher Druck, und so sprudelt das Gas von selbst nach oben. Über riesige aufgebockte Röhren wird das Gas in eine fast menschenleere Fabrikhalle gepumpt. Keine menschlichen Stimmen sind hier zu hören, nur das monotone Rauschen und Pfeifen der Maschinen. Ein Gewirr von großen und kleinen farbigen Röhren, Turbinen, Tanks und Messapparaturen, die Menge, Dichte, Druck und Temperatur prüfen. ATMO: Gas Autorin: Zuallererst wird die Zusammensetzung des Gases gemessen. O-TON Azat Übersetzer: Das geförderte Gas ist hochwertig, es besteht zu 99,8% aus Methan. Die Rückstände Propan, Butan und Sticksoff sind minimal. Und Wasser haben wir auch nicht viel, nur 200 Gramm auf tausend Kubikmeter geförderten Gases. Autorin: Azát Guméry führt uns herum, nicht ohne Stolz. Für die Beseitigung der Rückstände ist viel Technik erforderlich. Auch in der nächsten Halle ein ähnliches Bild: endlose Röhren verschiedener Durchmesser durchziehen in unterschiedlichen Höhen den Raum. Auch hier Zischen und Pfeifen. Das Gas wird gereinigt und getrocknet. ATMO Gas Autorin: Heute ist GP ? 2S fast ein klinisch sauberer Betrieb. Die Rückstände werden auf speziellen Deponien entsorgt, das Wasser recycelt. Alle Vorgänge werden per Computer gesteuert. Tag und Nacht verfolgen im so genannten ?Herzen? der Anlage zwei IT-Spezialisten an großen Bildschirmen die einzelnen Produktions-Schritte der Gasaufbereitung. Die Computer schlagen Alarm, wenn Störungen auftreten. ATMO Gas O-TON Azat Übersetzer: Von den Fördertürmen im autonomen Kreis der Jamalo-Nenzen bis nach Deutschland braucht das Gas sieben Tage. Und da Österreich neben Deutschland liegt braucht das Gas dorthin ebenfalls sieben Tage. Autorin: Gearbeitet wird auf der GP-2S rund um die Uhr. Von der Chefetage bis hin zum hoch spezialisierten Facharbeiter arbeiten alle nach der ?wáchtovy métod?, das heißt im Schichtwechsel: zwölf Stunden am Tag oder zwölf Stunden in der Nacht, ohne Sonn- und Feiertage, einen Monat lang. Dann fahren die Gasarbeiter na zémlju, auf die große Erde, wie man hier den Teil Russlands außerhalb des Polarkreises nennt. Einen Monat lang dürfen sich die Angestellten in einem milderen Klima erholen, dann geht es zurück in die Kälte des Polarkreises. O-TON Maxim Übersetzer 2: Wenn wir hier sind, im Schichtwechsel, ist immer Montag, jeder Tag Montag. Zu Haus angekommen, ist immer Samstag und Sonntag, so ist die Einteilung! ATMO Schuhe im Schnee Autorin: Ganz in der Nähe von GP-2S wurde 2001 Novozapoljárny, eine moderne und komfortable Siedlung für die 4.000 Mitarbeiter gebaut. Ein großzügiger Boulevard mit Grünstreifen und Bürgersteig durchzieht die Siedlung, neun Monate im Jahr schneebedeckt bei Temperaturen bis zu minus 60 Grad. Entlang der Hauptstraße stehen dreistöckige Häuser, alle mit der gleichen Fassade, alle rosa gelb gestrichen. Gusseiserne, altertümliche Straßenlaternen beleuchten mit ihrem fahlen grünen Licht die Siedlung. Glänzende Versorgungsrohre queren den Boulevard. Links und rechts kurze Straßen, namenlos, stattdessen anfeuernde Losungen auf Bannern und Plakaten, nicht mehr im sozialistischem Rot der UdSSR, sondern in gazprom-blau - nur der patriotische Ton ist geblieben. Und dann noch die Heldentafeln mit Porträts von den Erbauern und verdienten Mitarbeitern der Siedlung. ATMO Hymne auf Gazprom Übersetzer: ?Da strástvuyut trudoýye dostizhéniya gasovikóv!? Hoch leben die Leistungen der Gasarbeiter ?Enérgiyu nedr Rossíi!? Energie, die Lebensader Russlands ?Slava trudu? -?Ruhm der Arbeit?! ?Zapolyjárnoje 130 Milliarden m3 Gas im Jahr?! ATMO SCHNEEKATZE Autorin: Zum Leben erwacht die Siedlung nur morgens und abends zum Schichtwechsel. Hausmeister haben die Treppenstufen gefegt, die Schneekatze den Neuschnee beseitigt. Knarzende Schritte im Schnee. Ingenieure, Techniker und IT-Spezialisten eilen zu den blauen Gazprombussen, die sie zu ihrem Arbeitsplatz bringen. Bei Temperaturen um minus 48 Grad geht keiner längere Strecken zu Fuß. Bis auf die laufenden Motoren ist es still. In dieser Kälte tut reden weh. Und der Winter ist lang, 284 Tage im Jahr. Die Tage im Dezember und Januar sind extrem kurz, der kürzeste Tag dauert gerade mal 1 Stunde und 7 Minuten. Aber der ?dlínny rubl - der lange Rubel? lockt tausende junger Männer und Frauen in diese klimatisch extremen Bedingungen auf die Felder von Gazprom. Ais ist 33 Jahre alt, Vater von drei Kindern, ihn hat es aus den südlichen Steppen Kalmückiens an den Polarkreis gezogen. Ais arbeitet als Chauffeur und will uns herumfahren, die Siedlung zeigen, in der es eigentlich wenig zu sehen gibt. Woher er von uns gehört hat, wollen wir wissen. O-TON AIS Übersetzer: Geheimdienst! Autorin: Wenig später gerät Ais ins Schwärmen: O-TON AIS: Übersetzer: Diese Arbeit schafft Ansehen, hohes Ansehen und der Verdienst ist gut, bemerkenswert gut, den findest du kaum irgendwo. Der Verdienst ist wirklich gut. Ich habe zum Beispiel 3 Kinder, einen Jungen und zwei Mädchen ? ich muss doch in jedem Fall meine Familie ernähren. Und dann noch die Unterstützung, wie Kuraufenthalte in Sanatorien. Das Sozialpaket ist klasse, Unterstützung für die Familie, kostenlose Reisen ans Schwarze Meer, auch für die Kinder, und Prämien. Autorin: Exakte Angaben über die Höhe der Gehälter verrät uns keiner der Gazprommitarbeiter, auch später in der Zentrale in Novy Urengoy gibt es keine Zahlen für uns. Aber alle Befragten bestätigen, dass das Gratifikationspaket, d.h. das Gehalt plus Sonderleistungen mehr als doppelt so hoch seien wie der übliche Verdienst zu Hause. O-Ton Eddie Übersetzer: Für mich und meine Mitarbeiter ist Gazprom wirklich eine Familie, die uns eint, liebt, sich um uns kümmert in sozialer, finanzieller und kultureller Hinsicht. O-Ton Zimmerfrau Übersetzerin: In der Werbung im Fernsehen hört man oft, dass Gazprom Träume wahr werden lässt?. Und das ist wirklich so. Autorin: Die Rolle Wladimir Putins in der internationalen Politik und die russische Energiepolitik, im Westen ein Dauerbrenner der Russlandkritik, sind für die Gazpromfamilie kein Thema. ATMO Volleyball Autorin: Die Mehrzahl der Mitarbeiter lebt in zwei neu erbauten Wohnmodulen. Von der großzügigen Eingangshalle mit Wintergarten, Aquarium, Flachbildschirm und zahllosen Geldautomaten zweigen ein Sportsaal, die Kantine, ein Billardzimmer und Fitnessstudios ab. Von der zentralen Halle gelangt man in die Schlaftrakte. Hier ist Platz für 1000 Bewohner. Ein- und Zweibettzimmer reihen sich entlang endloser Gänge. ATMO Schritte im Schnee Autorin: Das Leben in der Schichtwechselsiedlung ist streng reglementiert. Die Mitarbeiter dürfen die Siedlung nicht verlassen, dürfen keinen Besuch von Freunden oder Verwandten bekommen. Zapfenstreich ist um 22 Uhr, auch wenn er nicht mehr mit Trommel, Horn oder Trompete signalisiert wird. Alkohol auf dem ganzen Gelände und Rauchen auf den Zimmern sind strengstens verboten. Zahlreiche Ordnungshüter in den Wohnmodulen, meist Frauen, sorgen dafür, dass diese Regeln auch eingehalten werden. ATMO Lachen Eddie Autorin: Der 44-jährige Eduard Kondratjev hat gut lachen, er hat eine Bilderbuchkarriere bei Gazprom hingelegt. O-TON Eddie Übersetzer: Ich habe immer Glück! Autorin: Eduard war erst acht Jahre alt, als seine Eltern Mitte der 70er-Jahre mit ihren drei Kindern aus dem Süden Russlands an den Polarkreis zogen, um hier, wie Tausende anderer Russen beim Aufbau der Gasindustrie anzupacken und Geld zu verdienen. Heute leitet Eduard Kondrátjew als Chef die Energieversorgung bei Gazprom Dobýtscha Jámburg. In einem großen Büro empfängt er Arbeitskollegen und Gäste. O-TON Eddie Übersetzer: Ich erinnere mich genau wie alles damals war. In den ersten Jahren lebten wir in sogenannten Fässern, aufgebockten Waggons, keine großen Gebäude. Ja, und in den Wohnfässern und Waggons lebten drei, vier Familien mit ihren Kindern zusammen, jede auf acht, vielleicht 10 Quadratmetern. Und die Eltern fuhren morgens zur Arbeit und die Kinder blieben zurück mit selbst gebasteltem Spielzeug aus Konservendosen. Das sind wirklich nachhaltige Kindheitseindrücke. Autorin: Bis auf die Studienzeit hat Eduard Kondrátjew diesen Bezirk nie verlassen. Hier hat er seine Frau Lena kennengelernt, wurden seine Kinder Jurij, Alexandra und Katharina geboren. Er hat miterlebt, wie im Laufe der Jahre aus den Behelfs-unterkünften stattliche Wohnmodule wurden. Er war dabei, als aus einer kleinen Ansiedlung die nördliche Metropole Nóvy Urengóy wuchs, wie Mikrorayons und Straßenzüge in den Permafrost gehauen, Gas und Elektroleitungen verlegt wurden, die die Bewohner mit Licht und Wärme versorgen. O-Ton Eddie Übersetzer 2: Die Freiheit des Nordens. Man muss nur aus dem Fenster schauen und sehen, was hier passiert. Alles ist groß. Die Natur ist riesig, die Räume, die Weite unfassbar groß. Hier ist die Arbeit grenzenlos, die Produktion ist groß, groß, eine Riesentechnologie. Viele Schätze, die im Boden verborgen sind. Das ist alles interessant. Und die Menschen? Sie sind enger zusammengerückt, leben freundschaftlicher miteinander. Auf der großen Erde leben die Menschen sicherlich entspannter: Wärme, Wein, Blumen (lacht) und das Meer. Die Menschen dort sind anders, haben eine andere Erziehung. Unsere Erziehung ist eine andere, eine des Nordens. Autorin: Über den sévernyj tschelovék, den Nordmenschen, hören wir viel auf unserer Reise zum Polarkreis. Er sei gutmütig, offen und sehr, sehr hilfsbereit. Und warum er so ist oder vielleicht auch sein muss ? darauf hat Kirill die Antwort. O-TON Kirill Übersetzer: Wahrscheinlich ist es sehr schwer, hier allein zu sein. ATMO Bad im Eisloch Autorin: Eduard Kondrátjew genießt alles, was die eisige Natur bietet. Die Rentiere, die er bei seinen Fahrten unterwegs entdeckt und fotografiert, die Schneehühner und weißen Polarfüchse, die er natürlich nicht jagt, sondern nur beobachtet. Er sei auch gern mit von der Partie, wenn Arbeitskollegen sich ein Bad bei minus 36 Grad im Freien gönnen. ATMO Sport Volleyball Autorin: Zentraler Treffpunkt der Siedlung ist das Sportzentrum, 2011 errichtet. Ein gigantischer Bau. Es gibt einen Konzert-und Theatersaal, 230 Plätze, mit neuester Beleuchtungs- und Tontechnik. In der Bar werden keine Cocktails gemixt, sondern Wasser und selten mal Bier ausgeschenkt. In dem Schwimmbecken von 25 Meter Länge kann man mit Blick in die weiße Polarlandschaft seine Bahnen ziehen. In der Fußball- und Volleyballhalle werden Turniere zwischen den Abteilungen ausgetragen. Fitnessstudio, Billard, Dart, Tischtennis, es wird alles geboten. ATMO Wintergarten Autorin: Wir sind bereits ziemlich beeindruckt von all den Annehmlichkeiten in dieser kargen Natur: doch der Wintergarten im Sportzentrum übertrifft alles bisher gesehene. Hier wachsen Hunderte weißer und rosafarbener Orchideen, Bougainvillen, Mandelbäumchen blühen und kleine Zitronen und Mandarinen reifen an zierlichen Bäumen. Die Erde dampft. Und mitten durch diese subtropische Pracht im eisigen Norden plätschert ein Bächlein. Statt launischer Forellen tummeln sich hier Frösche und behäbige Schildkröten. Gazproms schöne neue Welt in der Eiswüste. O-TON Gärtner Übersetzer: 8 Monate im Jahr Winter! Da sehnt sich der Mensch nach Grün, nach dem Sommer. Dann kommst du hierher: ein Garten, Blumen blühen und so ein Duft ? das hebt die Stimmung, dir wird leicht ums Herz. Autorin: In dieser grünen Polaridylle haben wir Ljoscha und Stas zu einem Bier eingeladen. Kristina kommt dazu. Sie hat sich selbst ein Bier organisiert. O-TON Kristina Übersetzerin: Bier zu trinken ist absolut verboten ? das können wir nur heimlich tun. O-TON Ljoscha Übersetzer: Aber wenn man uns erwischt, ja dann ist es durchaus möglich, dass wir rausfliegen. Autorin: Der 25-jährige Stas aus Orenburg, Typ cooler Nerd, ist ein absolutes Greenhorn in dieser Siedlung. Erst seit 6 Tagen arbeitet er hier als IT-Spezialist. O-TON Stas Übersetzer: Ich fürchte nichts, hab´ keine Angst, vor nichts. Ich bin eher ein verbindlicher Typ. Für mich ist das hier eine neue Etappe in meinem Leben. Alles ist interessant. Klasse! Aber kalt. Aber ich kann mich schnell anpassen, und der technische Standard ist hier auf höchstem Niveau. Autorin: Ljoscha, sein Kumpel, 27 Jahre alt, kommt aus Krasnodar, also aus dem Süden Russlands. Schon seit sieben Jahren arbeitet er hier. O-TON Ljoscha Übersetzer: Ich komme aus einer Erdöldynastie, mein Onkel, mein Großvater waren Geologen aus Tadschikistan, meine Mutter, mein Vater haben hier gearbeitet, auch meine Schwester. Eine große Dynastie. Davor habe ich mich bei der Luftwaffe ausprobiert. Drei Jahre habe ich gedient. Entscheidend für den Wechsel war, wie wohl bei den meisten, die finanzielle Seite. Ja, und dann sind die Bedingungen hier gut, die Arbeit ist interessant. Was man verbessern könnte? Der Einfluss der Gewerkschaft könnte höher sein, sie ist doch eine Organisation der Arbeiter. Und mehr Gehalt! Lachen Das ist wohl überall die brennendste Frage. Autorin: Ljoscha ist der einzige, der den Konzern nicht ausschließlich lobt. Doch offene Kritik könnte möglicherweise den Arbeitsplatz kosten, vermuten wir. Er ist wie über 90 Prozent der Mitarbeiter von Gazprom in der Gewerkschaft. Für die Gewerkschaft eigentlich eine traumhafte Quote. Doch auch wenn die Technologie in den meisten Betrieben auf höchstem Niveau ist, die russischen Gewerkschaften sind bis heute keine modernen schlagkräftigen Organisationen. Auch von der Gazprom-Gewerkschaft ist nicht bekannt, dass sie sich für bessere Bezahlung oder gar für mehr Mitbestimmung eingesetzt hätte. Was hat Kristina an den Polarkreis getrieben? O-TON Kristina Übersetzerin: Ich wollte unbedingt hierher, weil ich herausfinden wollte, wie es sich anfühlt, wenn 24 Stunden lang die Sonne scheint, wollte erleben, was es mit diesem Polarlicht auf sich hat, wollte Rentiere sehen und die Zelte der Nenzen. Autorin: Kristina ist 23, kommt aus Saránsk, der Hauptstadt Mordowiens. Sie gehört zu einem neunköpfigen Team, das mit einem Kulturprogramm Abwechslung in den Alltag bringen soll. Es gibt einen Chor, eine Theater- und Tanzgruppe, einen Filmclub. Kristina entwirft Theaterkulissen und Kostüme für Shows im Konzertsaal, malt Poster und dekoriert den Saal, in dem jeden Samstag der Eisbär steppt. In ihrem kleinen Atelier bietet sie Kurse in Malen und Sticken an. Mit dem Geld, das sie hier verdient, finanziert Kristina ihr Fernstudium zur Kunsterzieherin. Für Ljoscha, Stas und Eduard sind nicht Kälte und Dunkelheit das Härteste am Leben und Arbeiten am Polarkreis. O-TON Ljoscha Übersetzer: Das Schwierigste ? ich habe meine Frau hier kennenglernt, eine Schichtwechsel-Romanze, eine große Liebe. Wir haben geheiratet. Dass die geliebte Frau nicht an deiner Seite ist, das ist schwer. O-TON Stas Übersetzer: Die Liebsten sind weit weg, 3000 Kilometer. Ehrlich, ich weiß nicht wie lange diese Etappe meines Lebens dauern wird. Autorin: Für Eduard und seine Frau Lena dauert diese Schichtwechselbeziehung schon länger als 20 Jahre. Zusammen mit ihrer Tochter Katja lebt Lena in Novy Urengoy, eigentlich nicht weit entfernt vom Arbeitsplatz ihres Mannes und doch unerreichbar fern. Noch nie hat Lena während all der Jahre Eduard hier besucht. Und sie kann uns auch nicht erklären, warum das so ist. ATMO: Teetassengeklapper Autorin: Lena hat uns zu sich nach Hause eingeladen. Die achtjährige Katja empfängt uns in einem rosa Tutu. Uns zu Ehren! Sonst laufe die Tochter noch weniger bekleidet in der Wohnung herum. Verständlich in diesen überheizten Räumen. O-TON Lena Übersetzerin 2 Wir haben uns an Novy Urengoy gewöhnt. Das ist unsere Heimat. Wir mögen sie. Wenn du in den Urlaub fährst, zieht es dich nach einer Weile wieder nach Hause. Ich bin nicht hier geboren ...als ich hierhergekommen bin aus der großen Stadt... Wie viele junge Leute hier waren, wie viele Kinder. Und die waren wirklich anders. Alle waren so offen und herzlich. Autorin Lena Kondrátjewa zog als junges Mädchen zusammen mit ihrer Familie aus Chisinau, dem heutigen Moldawien hierher. Zusammen mit Tochter Katja und alle vier Wochen auch mit ihrem Mann Eduard lebt sie in einer Eigentumswohnung in einem grauen zehnstöckigen Plattenbau. Das Treppenhaus ist dunkel, feucht und heruntergekommen. Die Briefkästen im Eingangsbereich sind zerbeult und aufgebrochen, die Wände beschmiert. Ein Niemandsland. Keiner fühlt sich für den kollektiven Raum verantwortlich. Hinter einer schweren Eisentür dann das gemütliche Paradies der Kondratjews. Die standardisierte 3-Zimmer-Wohnung haben sie in ein modernes, farbenfrohes Eigenheim verwandelt ? bestens ausgestattet mit TV-Flachbildschirm, Stereoanlage, Computer-Ecke, Kochfeld, Geschirrspüler und Whirlpool im Bad. O-TON-MIX Übersetzer 3: Als Kind war die Wohnung meiner Eltern der schönste Platz auf der Welt, heute mein eigenes, gemütliches Nest. Übersetzerin 2: Wo mein Lieblingsplatz ist in Novy Urengoy? Natürlich mein Haus! Übersetzer 1: Ganz sicher mein Haus. Musik O-TON Sergey Übersetzer 1: Die Stadt Novy Urengoy gibt es nur, weil es hier das Urengoy-Gasfeld gibt. Ohne dieses Gasfeld gäbe es die Stadt nicht. Man nennt unsere Stadt oft auch Erdgas-Hautstadt oder Gazprom-City ? sie ist der Brückenkopf für viele Gasfelder in der Umgebung und wird es noch lange bleiben. Autorin: Sergey Tschernezky ist der Pressesprecher von Gazprom Dobycha Yamburg, ein smarter, braungebrannter Typ um die 50. Sergey ist entspannt, er ist gerade von einem sechswöchigen Urlaub aus der Dominikanischen Republik zurückgekehrt. Und dieser Urlaub wird nicht der letzte in diesem Jahr gewesen sein. ATMO Gazpromhyme Autorin: Über 40 Jahre ist es her, dass im autonomen Kreis der indigenen Yamálo-Nenzen, das Urengoy-Gasfeld ? eines der größten Gasfelder der Welt ? entdeckt wurde. Nóvy Urengóy ist heute eine Großstadt mit ca. 130.000 Einwohnern, Tendenz steigend. Es gibt eine Müllverbrennungs- und eine Kläranlage, eine orthodoxe Kirche und eine Moschee, ein Gas-Museum, einen Kulturpalast mit Konzertsaal, Theater, Sporthallen, Kinos und Jugendclubs. Architektonische Höhepunkte gibt es in der jungen Stadt keine, dafür in Eis gehauene Skulpturen ? das Kolosseum und die Akropolis im Miniaturformat. Ein ewiges Feuer erinnert an gefallene Soldaten des 2. Weltkriegs, des Großen Vaterländischen Krieges gegen die deutsche Wehrmacht. Ein Mahnmal für Gulaghäftlinge dagegen fehlt. 1947 hatte Stalin den Bau einer 1459 Kilometer langen Eisenbahnlinie zwischen Workutá und Igárka in Auftrag gegeben. Hunderttausende Häftlinge arbeiteten an dieser Trasse unter grauenhaften Bedingungen. Zig-Tausende starben. Für die Vergangenheit, stellen wir fest, interessiert man sich hier nicht. Die Stadt am Polarkreis ist jung, das Durchschnittsalter beträgt 32,5 Jahre, jeder dritte Bewohner ist unter 16 Jahre alt. 70 Prozent der Einwohner arbeiten bei Gazprom oder in einem der Tochterunternehmen. Und wer nicht direkt bei dem Riesenkonzern angestellt ist, sorgt als Arzt, Lehrer, als Frisör, oder Kellnerin dafür, dass in der Erdgas-Hauptstadt ein normales Alltagsleben stattfindet. ATMO: Auto O-TON: Katja: Kinderstimme Mein Lieblingsort in der Stadt ist Gudzón. Da gibt es viele Läden, da sind 2 Cafés, und unten gibt es Kinderkleidung und Spielzeug. Autorin: Lenas Tochter Katja verlässt gern mal die eigenen vier Wände, aber naturgemäß nicht auf einen Abenteuerspielplatz. Die Mall Gudzón ist eine von vielen Einkaufszentren in Novy Urengoy. Ein dreistöckiger Glaspalast, wie es ihn in jeder europäischen Großstadt geben könnte. Der Supermarkt ist hervorragend bestückt: Nudeln aller Art, Überraschungseier, Kefir, französischer Cognac, Kakis und Kiwis Bio-Produkte ? alles da. Es gibt riesige Handy-Geschäfte, einen Baby-Ausstatter und, und, und ... O-TON Sergey Übersetzer: Wir sind kein Wohltätigkeitsverein, wir nehmen nur die Besten der Besten. Aber es ist durchaus möglich, dass wir in 5 Jahren keine Goldfischchen mehr aus dem Teich fangen können. Autorin: Sergey, der Pressesprecher ist nicht gerade optimistisch, was die Aussichten für die benötigten Gasspezialisten betrifft. Wenn die Goldfischchen wegbleiben, muss Gazprom im Teich eben neue züchten. O-TON Sergey: Übersetzer: Fluktuation der Mitarbeiter? Das gibt es auch bei uns. Gerade in der letzten Zeit sind viele, nein, nicht viele, sondern einige Mitarbeiter in unabhängige Unternehmen gewechselt, weil sie dort mehr verdienen. Autorin: Sergey verweist auf Aktionen, mit denen Nachwuchskräfte angeworben werden sollen. Der Konzern organisiert an den größten technischen Universitäten mit Schwerpunkt Gasgewinnung / Verarbeitung in Ufá, Kazán, Krasnodár, Tjumén und Moskau einen Tag der offenen Tür und lädt die Interessenten zu einem Gespräch in die Erdgashauptstadt ein. Was wird neben besten Fachkenntnissen verlangt? O-TON Sergey Übersetzer: Stressresistenz Anpassungsfähigkeit, Verantwortungsbewusstsein, Ehrlichkeit. ATMO Dima singt Autorin: Der 16-jährige Dima ist zu unserer Überraschung Fan der deutschen Teutonenrocker Rammstein und Schüler der Gazprom-Klasse des städtischen Gymnasiums, die im vergangenen Jahr eingerichtet wurde. Im Klassenraum, der in den Konzern-Farben blau-weiß gestrichen ist und wo das Fackel-Logo über der interaktiven Tafel prangt, werden die Besten der Besten von Spezialisten auf eine mögliche Arbeit im Konzern vorbereitet. 2,5 Millionen Rubel, mehr als 50.000 Euro kostet eine Gazpromklasse im Jahr und es soll solche Klassen in naher Zukunft im ganzen Land geben. Sie sollen für den dringend benötigten Nachwuchs sorgen. Denn der Konzern weiß sehr genau, dass er in Zukunft mehr Geld in die technische Entwicklung stecken muss, um nicht länger von westlichen Spezialfirmen abhängig zu sein. Ganz normale Schüler treffen wir hier, nur wissen sie schon mit 16 Jahren ziemlich genau, was sie mal werden wollen und warum. O-Ton Gymnasiast Übersetzer: Das ist eine großartige Perspektive in der Zukunft für Gazprom zu arbeiten. Das Gehalt ist sicher und hoch. Sehr gute Aussichten! Das ist der Weg für eine große Zukunft. ATMO Kindergarten Autorin: Kinderstimmen und fröhliches Geschrei, solche Geräuschkulisse hört man wegen des extremen Klimas in den Straßen von Novy Urengoy fast nie. Den Mangel an Bewegungsmöglichkeiten im Freien versucht die Stadt auszugleichen: Sporthallen und Schwimmbassins wurden in alle Kindergärten integriert und Wald und Feld im Miniformat als Wintergärten angelegt. Die Kitas liegen inmitten der Wohnblocks abseits vom Straßenverkehr. Die Fläche zwischen den Plattenbauten, eigentlich geplant für gemeinschaftliches Beisammensein, ist zu einem Parkplatz mutiert. Kein Kind muss länger als ein paar Minuten zu seinem Kindergarten gehen. Die Stadt tut viel, um ihre Kinder in einem menschenfeindlichen Klima zu schützen. Aber Gazprom tut mehr. ATMO Kindergarten /Schwimmbad Autorin: Acht eigene Kindergärten unterhält der Gaskonzern, zwei mit dem besonderen Profil ?Prophylaxe?. Das sind Belosnézhka ? ?Schneeflöckchen? im Süden und Morózko ? ?Kleiner Frost? im Norden der Stadt. In Morózko ? er wurde als bester Kindergarten Russlands ausgezeichnet - kümmern sich 72 Erzieherinnen, Köchinnen und Küchenhilfen, HNO- und Kinderärzte, Sprach- und Physiotherapeuten um das Wohlergehen von 220 Kindern. Natürlich auch hier Schwimmbassin, Sporthalle und Theatersaal. Die Spielzimmer sind hell und geräumig: Bücher, Puzzles, Brettspiele, Bauklötze, Lego, Puppen, Puppenwagen, Puppenstuben, Autos, Malstifte und Musikinstrumente. Von allem reichlich und von bester Qualität. Und dann gibt es noch etwas, es ist so etwas wie ein Sahnehäubchen, das I-Tüpfelchen, das diesen besten aller Kindergärten zum aller-, allerbesten macht. O-TON Tatjana Borisova Übersetzerin: Wir hier im Norden kämpfen mit Sauerstoffmangel. Und deshalb bekommen unsere Kinder einen Sauerstoffcocktail, um das, was fehlt, zu ergänzen. ATMO Kindergarten, Sektgläser Autorin: Willkommen im Raumschiff Novy Urengoy, und wir sind mitten drin. Gern trinken wir den luftigen Sauerstoffcocktail, kredenzt in einem Sektglas. Er tut auch bei uns seine belebende Wirkung. Später nachgefragt, erklären uns russische und deutsche Wissenschaftler, dass der Sauerstoffgehalt am Polarkreis nicht niedriger ist als sonstwo auf der Welt. Egal, auch wir haben an die Mär vom Sauerstoffmangel geglaubt. ATMO Lied Nascha armija Autorin Unsere Armee ist stark, so stark, unsere Armee ist kühn, so kühn, unsere Armee ist tapfer, so tapfer ? trällern helle Kinderstimmen aus den Lautsprechern über die Flure von Morózko zu Ehren des bevorstehenden Feiertags, des Tages der Verteidiger des Vaterlandes. Die Hymne aus dem Kindermund bringt den verwirrten Gast aus der sauerstoffarmen Umlaufbahn zurück in die Atmosphäre eines dann doch ganz normalen russischen Kindergartens, in dem schon die Kleinsten lernen sollen, die Armee zu achten und das Heimatland zu lieben. Wie lange kann das alles noch dauern, angesichts der Endlichkeit des fossilen Brennstoffes Gas, fragen wir uns und unsere Gastgeber? O-Ton Sergey Übersetzer: Klar wird das Gas Jahr für Jahr weniger. In Novosapolyarnie befinden wir uns nun auf dem Höhepunkt ? noch etwa. 5-6 Jahre. Dann geht die Gasförderung zurück. Es gibt die Sicherheit, dass Gazprom hier bis 2030 200 Milliarden m³ Gas im Jahr fördern kann. Wenn wir in Zukunft weiter im Norden neue Gasfelder erschließen, werden keine neuen Städte gebaut werden, sondern nur kleine Siedlungen für den Schichtbetrieb. Novy Urengoy bleibt der einzige Brückenkopf. Autorin: Die Einwohnerzahl steigt, sagt man uns voraus, die Stadt breitet sich aus. Schritt für Schritt wird das Land der Ureinwohner, der Nenzen in Erdgasfelder und Stadtgebiet verwandelt. 41.000 Nenzen, nomadische Rentierhirten, Jäger und Fischer, die bis heute ihre eigene Sprache sprechen, leben im autonomen Kreis der Jamalo-Nenzen, einem Gebiet, das doppelt so groß wie Deutschland und neun mal so groß wie Österreich ist. O-TON Sergey Übersetzer: Ob wir es wollen oder nicht, jede Produktionsstätte ist ein Eingriff in die Natur. Autorin: Der Pressesprecher Sergey weiß, dass der Abbau von Bodenschätzen Umweltschäden zur Folge hat und dass auch die dort ursprünglich ansässige Bevölkerung davon berührt ist. Wortreich betont er das gute Verhältnis zwischen den Nenzen und dem Gasgiganten und verweist auf die Maßnahmen, mit denen Gazprom die annektierten Weidegründe der Ureinwohner zu ersetzen versucht. Dazu zählt er die Siedlungen für die Nomaden nördlich von Novy Urengoy, ein vom Konzern gesponsertes Internat und kostenfreie Ausbildungsplätze für Jugendliche. Gern feiere man auch gemeinsam die traditionellen Feste der Nomaden, das Fest des Rentierzüchters oder das des Fischers. Das klingt beinahe wie eine Idylle, ist es aber nicht. Hinter dem zur Schau gestellten guten Willen stehen massive wirtschaftliche Interessen. Wegen seiner Aktivitäten in Sachen Ölförderung in der Arktis hat Gazprom Anfang des Jahres in Davos den Schmähpreis ?Public Eye Award? bekommen. ATMO Startender Motor Autorin: Zum Abschluss unserer Reise besuchen wir noch den Friedhof. Er liegt vor den Toren der Stadt. Neun Monate lang ist er tief verschneit. Neun Monate lang können hier keine Gräber ausgehoben und gepflegt werden. Aber in dieser Stadt am Polarkreis, in der sogar die Luft zum Atmen manchmal künstlich ist, ist Sterben ja eigentlich auch nicht vorgesehen. Alle, wirklich alle Menschen, mit denen wir gesprochen haben, wollen im Alter weg aus dieser Stadt, alle träumen von einem Leben danach, einem richtigen Leben na zemljé in Russland. Und Gazprom hat diesen Traum in seinem Lebensentwurf für die Mitarbeiter einkalkuliert. Der Konzern bietet ein betriebliches Sparmodell an. O-TON Tatjana Borisova Übersetzerin: Es gab und gibt so eine Aktion, dass Gazprom für langjährige Mitarbeiter die Wohnung finanziert. Ich zum Beispiel habe eine riesige Drei-Zimmerwohnung in Russland, für die ich selbst nur einen kleinen Teil zahlen musste. Autorin: Wie das Wunschhaus auszusehen hat, wird an allen Küchentischen Novy Urengoys in den langen Wintermonaten hin und her entworfen. Musik O-TON Ira: Übersetzerin: Ich habe schon Pläne für die Pension ? welche? ... Das wichtigste ist, ein Haus zu bauen, eine Villa, es soll auf jeden Fall zwei Etagen haben, so dass mich die Kinder und Enkel jederzeit besuchen kommen können und jeder seine kleine Ecke hat. Auf jeden Fall werde ich einen großen Hund im Haus haben und auf jeden Fall draußen einen Wachhund. (Ehemann in Hintergrund: Zwei Hunde werden wir haben??!) (Lachen) Ja ? zwei Hunde werden wir haben! Und eine Katze, ein riesiges Aquarium...(Tochter untermauert: ja, ja, ja ? auf jeden Fall!)- ... und viele Blumen werden am Haus blühen. Ich will einen Garten anlegen mit Blumen, Büschen, Beeren, keinen Kartoffelacker, wo man einen Tisch und Stühle hinstellen kann....einen Samowar...und abends trinkt man Tee, die Kinder rennen umher und wenn es warm ist, kann man im Pool schwimmen. Und irgendwo steht da ein Grill und die ganze Familie kommt zusammen (Zwischenruf: So ein Haus wollen wir alle haben!). Es muss so gemütlich sein, dass alle immer wieder gern nach Hause kommen wollen. Absage: Gasrausch im ewigen Eis Unterwegs auf russischen Gasfeldern jenseits des Polarkreises Ein Feature von Suzanne Bontemps und Sophie Panzer Sie hörten eine Co-Produktion des Deutschlandfunks mit dem Rundfunk Berlin-Brandenburg und dem Österreichischen Rundfunk 2014. Es sprachen: Frauke Poolmann, Claudia Mischke, Jochen Langner, Constance Craemer, Simon Roden, Anna Marx und Mark Zak Ton und Technik: Daniel Dietmann und Katrin Fidorra Regie: Wolfgang Rindfleisch Redaktion: Karin Beindorff 1