Feature / Hörspiel / Hintergrund Kultur Dossier Die Agenda-Verlierer - wie Billigjobs die Gesellschaft spalten Autorin: Agnes Steinbauer Redaktion: Ulrike Bajohr Produktion: Dlf 2017 Erstsendung: Freitag, 02.06.2017, 19.15 Uhr Sprecher: Kerstin Fischer, Bettina Scholmann und Franz Laake Ton und Technik: Eva Pöpplein und Oliver Dannert Regie: Ulrike Bajohr Urheberrechtlicher Hinweis Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Die Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in §§ 44a bis 63a Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. (c) - unkorrigiertes Exemplar - O-Ton Monika: "Das Jobcenter ist ein unendlich anstrengendes Geschäft für jemanden, der arbeitssuchend ist, weil man muss immer alles offenlegen - von Konto bis nach dem Motto ‚Was haben Sie halt gemacht...haben Sie Ihre Bewerbungen', man muss da immer in Anführungszeichen auf der Hut sein, weil ein Fehler dann fatale Folgen hat, dass nämlich Kürzungen, von dem wenigen, was man da hat und wo man eigentlich gar nicht davon leben kann, dass da diese Kürzungen immer noch als Schwert über einem hängen." O-Ton Susanne Neumann: "Ich denke mal die kleinen Leute, die kleinen Arbeiter, müssen mehr vertreten werden und ich sach Euch ma auch - einfach ma Tacheles reden. Diese Agenda 2010 umkehre - es geht einfach nicht in unserem Land so weiter..." [Applaus] O-Ton Mohr ".... Hunderttausende von Menschen wandern in Deutschland ein, Menschen, die noch nie etwas für unser Land geleistet haben, deren Vorfahren keinerlei Arbeit und keinerlei Anteil am Aufbau und Wohlstand unseres Landes geleistet haben, und trotzdem erhalten diese Menschen innerhalb kürzester Zeit vergleichbare Leistungen wie Einheimische, die viele Jahre lang malocht haben und dann möglicherweise unverschuldet arbeitslos werden." Ansage: Die Agenda-Verlierer. Wie Billigjobs die Gesellschaft spalten Ein Dossier von Agnes Steinbauer Sprecherin: Eigentlich geht es uns gut: Die deutsche Wirtschaft brummt. Die Arbeitslosenquote ist im europäischen Vergleich niedrig. Die Nachfrage nach qualifizierten Arbeitskräften steigt. Der Konsum wächst und die Deutschen sind weiterhin in Verbraucherlaune. Wir haben allen Grund zur Zuversicht meint Karl Brenke, Arbeitsmarktexperte im Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW): O-Ton Karl Brenke: "Generell kann man sagen, dass seit der Finanzkrise bzw. demÜberwinden der Finanzkrise wir einen deutlichen Beschäftigungsaufschwung in Deutschland hatten, der Arbeitsmarkt hat sich also unter dem Aspekt recht gut entwickelt und parallel dazu sehen wir auch einen gewissen Abbau der Arbeitslosigkeit und wenn man sich die Arbeitsverhältnisse ansieht, dann kann man eigentlich feststellen, auch hier hat es sich in den letzten Jahren zum Besseren gewendet..." Sprecherin: Noch um die Jahrtausendwende galt Deutschland als "kranker Mann Europas" - nicht wettbewerbsfähig, mit ausufernden Staats- und Sozialausgaben, der Arbeitsmarkt zu unflexibel. Die Konjunkturaussichten waren trübe, die Neuverschuldung war so hoch, dass Brüssel die Einhaltung der Maastricht-Kriterien forderte. Im Jahr 2005 erreichte die Zahl der Arbeitslosen ihren Zenit. Über fünf Millionen Menschen waren auf Jobsuche. Diese Zahl hat sich halbiert, es gibt deutlich mehr sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze und weniger Minijobs. Seit dem 1. Januar 2015 haben wir den gesetzlichen Mindestlohn: O-Ton Brenke: "Was man auch beobachten kann: Wir hatten lange Zeit eine Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt, dass nicht wenige Personen aus der Not heraus sich selbständig gemacht haben - dieser Trend ist auch seit 2012 gebrochen.Die Zahl der Selbständigen insbesondere der Alleinunternehmer nimmt ab und das ist ein Indiz für mich dafür, dass man eben solche Beschäftigungsverhältnisse nicht mehr in der Weise nötig hat, wie es früher gewesen ist, sondern dass man jetzt relativ gute Chancen hat, eine reguläre sozialversicherungspflichtige Beschäftigung zu finden, und was prekäre Arbeitsverhältnisse anbelangt, kann man eigentlich auch Entwarnung geben, wir haben die Tendenz, dass Zeitverträge eher an Bedeutung verloren haben..." Sprecherin Trotzdem wächst die Armut. Bereits 12,9 Millionen Menschen - über 15 Prozent der Bevölkerung - leben in Deutschland unter der Armutsgrenze. Laut Definition des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung ist arm, wer weniger als 60 Prozent eines mittleren Einkommens zur Verfügung hat. Vom Armutsrisiko betroffen sind nicht nur Arbeitslose, sondern zunehmend auch Menschen, die in unsicheren, schlecht bezahlten Jobs arbeiten und später zu wenig Rente haben. Susanne Neumann, gewerkschaftlich aktive Reinigungskraft aus Gelsenkirchen, kennt sich in diesem Bereich aus. Dem Sender N24 sagte sie im Mai 2016: O-Ton Neumann: "Von mir gibt es Hunderttausende in diesem Niedriglohnsektor, mit diesen blöden Arbeitsverträgen - die werden geschunden, befristete Menschen werden gegängelt. Die Mädels sitzen dann in der Rechtschutzabteilung von der IG-Bau...und die paar Überstunden, die denen zustehen, können sie nicht einklagen, weil sie befristet sind. Am Arbeitskampf können sie nicht teilnehmen, weil sie befristet sind - immer diese Angst, das macht die Menschen krank." Sprecherin: Susanne Neumann redet gernTacheles - nicht nur im Fernsehen. In ihrem Buch Frau Neumann haut auf den Putz beschäftigt sich die 58jährige mit der Frage, "warum wir ein Leben lang arbeiten und trotzdem verarmen" und schildert ihre Erfahrungen nach fast 40 Jahren Berufsleben. O-Ton Neumann: "Ich hab vor zehn Jahren gesagt: Noch schlimmer kann es nicht kommen, aber ich muss heute sagen: Et wird immer noch `ne Schippe draufgelegt. Der Kunde macht den Preis, der nimmt den Billigsten, auch die Kommunen, und wir haben es umzusetzen." Sprecherin: Der Tariflohn in der Gebäudereinigung beträgt derzeit zehn Euro pro Stunde - 2010 betrug der Durchschnittsverdienst unter sieben Euro. Tarife und Mindestlohn werden aber oft durch Arbeitsverdichtung und unbezahlte Überstunden unterlaufen. In der Branche hat die Leiharbeit stark zugenommen, befristete Arbeitsverträge und Dumpingpreise sind gang und gäbe. O-Ton Neumann: "Es ist ein unheimlicher Stress, dem wir ausgesetzt sind ...man schafft jetzt nicht zehn Klassenzimmer mit Heizung und Toiletten mit allem Drum und Dran in einer Arbeitsstunde, ...diese sieben, acht Stunden, sind selten an einem Arbeitsplatz. Das heißt, morgens um fünf Uhr bis acht Uhr in die Büroreinigung, in der Mittagszeit vielleicht irgendwelche Flure putzen, das heißt, um 17.00 Uhr wieder arbeiten, weil dann die Büros leer sind. Dann werden irgendwelche Versetzungsvorschläge gemacht, die utopisch sind, und das ist unser riesengroßes Problem, ein Mädel, was spät nachmittags geputzt hat, weil dann der Mann zu Hause ist und auf die Kinder aufpasst - morgens um sechs soll sie dann ihre Arbeit leisten, was einfach familienmäßig gar nicht geht." O-Ton Gerhard Schröder: "Wir haben versucht, Arbeit und das Schaffen von Arbeitsplätzen attraktiver zu machen, um endlich aus der Phase der wirtschaftlichen Stagnation herauszukommen." Sprecherin: Unter der Bezeichnung "Agenda 2010" setzte Gerhard Schröders rot-grüne Bundesregierung zwischen 2003 und 2005 tiefgreifende Sozial- und Wirtschaftsreformen in Gang. Sie basieren auf den Vorschlägen einer Arbeitsmarktkommission unter dem damaligen VW-Manager Peter Hartz: Zitator: "Das Arbeitslosengeld I wird auf ein Jahr begrenzt, für Ältere auf 18 Monate. Danach gilt Arbeitslosengeld II - auch Hartz IV genannt: eine steuerfinanzierte Grundsicherung, die dem früheren Sozialhilfeniveau entspricht. Hartz-IV-Empfänger müssen ihre Vermögensverhältnisse offenlegen - einschließlich Rücklagen fürs Alter und Kindersparbücher. Bis auf einen kleinen Freibetrag muss Ersparnisse aufgebraucht haben, wer ALG II beansprucht. Wer vom Jobcenter angebotene Beschäftigung ablehnt, hat mit Sanktionen zu rechnen." Atmo: Demo gegen Hartz IV Sprecherin: Den Beschlüssen folgten Montagsdemonstrationen - und die Spaltung der SPD. Einer der schärfsten Agenda-Kritiker war seinerzeit der SPD-Sozialexperte Ottmar Schreiner: O-Ton Ottmar Schreiner: "Wenn in Zukunft ein arbeitsloser Diplomingenieur nach einem Jahr gezwungen werden kann, Toilettenwächter zu werden - wenn er es nicht tut, kriegt er keine Leistung - dann geht das nicht ,es darf nicht Arbeit um jeden Preis sein, zwei oder drei Euro Stundenlöhne, es geht nicht..." Sprecherin: Am 22.Mai 2005 verlor die SPD die Landtagswahlen in ihrer Hochburg Nordrhein-Westfalen. Daraufhin bot Schröder für den Herbst Bundestags-Neuwahlen an, die er verlor. Seine Nachfolgerin wurde Angela Merkel: O-Ton Angela Merkel: "Sie haben mit der Agenda 2010 und vielem anderen Marksteine gesetzt, an denen wir anknüpfen können und ich sage das, obwohl wir nicht immer einer Meinung waren..." Sprecherin: Die Wirtschaftsreformen der Agenda 2010 sollten Arbeitgeber anregen, Arbeitsplätze zu schaffen. Das taten sie. Nach Berechnungen des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung wuchs der Markt für billige Arbeit zwischen 1995 und 2015 um sieben Prozent. Heute umfasst der Niedriglohnsektor über 23 Prozent aller Arbeitsverhältnisse. O-Ton Steffen Mau: "Wir haben im Prinzip seit Ende der '80er-Jahre in fast allen westlichen Gesellschaften einen Trend zu einer Vergrößerung von Ungleichheit. Wir hatten nach dem zweiten Weltkrieg eine Phase der relativ ausgeglichenen Einkommens- und auch Wohlstandsverteilung. Und die ist jetzt offensichtlich beendet, und es gibt einen Zusammenhang zwischen Deregulierung, zunehmender Beschäftigung und natuürlich dann dem Entstehen von prekären oder weniger attraktiven Beschäftigungsmöglichkeiten." Sprecherin: ...konstatiert Steffen Mau, Professor für Makrosoziologie an der Humboldt Universität Berlin. Zitator: Deutschland gehörte mit der Agenda 2010 zu den Vorreitern beim Abbau von Arbeits- und Sozialstandards in Europa und verdankt seine Wettbewerbsfähigkeit nicht zuletzt den niedrigen Löhnen bei einem Großteil der Beschäftigten. Sprecherin: ... schreibt der Diplomvolkswirt und Wirtschaftsjournalist Caspar Dohmen in seinem Buch Profitgier ohne Grenzen. O-Ton Caspar Dohmen: "McKinsey, die Unternehmensberatung, die haben sich mal angeschaut, wie sich denn der Profit der 30.000 größten Konzerne entwickelt hat ...und die kamen zu den Zahlen, dass er sich seit 1989 verfünffacht hat - nach Abzug von Steuern und Zinsen für Kredite. Die Umsätze haben sich mehr als verdoppelt, und wenn sich der Umsatz verdoppelt und der Gewinn in der gleichen Zeit jedoch verfünffacht, heißt das logischerweise, dass die Kosten drastisch gesunken sein müssen und das sind sie dann eben auch." Sprecherin: Das ökonomische Prinzip lautet: Sparen auf Kosten der Beschäftigten. Durch: Auslagerung von Arbeit in Subunternehmen, ungleichen Lohn für gleiche Arbeit mittels Einsatz flexibler, leicht kündbarer Leiharbeiter. Arbeitsverdichtung, Behinderung gewerkschaftlicher Arbeit. Kurz: durch verschärften Wettbewerb um Jobs. O-Ton Dohmen: Da steht auch Deutschland nicht alleine, das ist auch eine gesamteuropäische Entwicklung. In diesem klassischen Normalarbeitsverhältnis Festangestellt, Vollzeitstelle, also 40 Stunden die Woche, bezahlter Urlaub und so weiter, das ist eben drastisch gesunken, heute sind in Europa noch sechs von zehn Leuten in solchen Jobs tätig. Sprecherin: Working Poor - das Phänomen wird auch in Deutschland immer mehr zur Normalität. Jobbende Studenten und Rentner mitgezählt, sind rund acht Millionen Menschen im Billiglohnsektor tätig: In Fastfood-Ketten, im Hotel- und Gastronomiegewerbe, im Versand- und Einzelhandel - oder eben in der Gebäudereinigungsbranche. Niedrige Löhne führen direkt in die Altersarmut. Bei der SPD-Wertekonferenz im Mai 2016 berichtete Susanne Neumann, wie sich das anfühlt: O-Ton Neumann: "Ich bin mittlerweile durch meine Krebserkrankung auch soweit, dass ich wahrscheinlich meine Rente einreichen muss, weil ich es einfach nicht schaffe, wieder sieben Stunden buckeln zu gehen. Gebäudereinigung ist ein schwerer Job. So, jetzt hab ich mir natürlich die Berechnung schicken lassen, wat die mir alles abziehen, das heißt, für 38 Jahre, Steuerklasse fünf, bekomme ich - aber auch nur, weil mir aus meiner ersten Ehe Rentenanwartschaften übertragen wurden, 725 Euro - so, hätte ich jetzt nicht meinen tollen lieben Ehemann, müsste ich eine Aufstockung beantragen." Sprecherin: Christoph Butterwegge, Professor für Politikwissenschaft an der Universität Köln, benennt drei Gründe für das Auseinanderdriften der deutschen Gesellschaft: Demontage des Sozialstaats und Absenkung des Rentenniveaus, Steuerpolitik zu Gunsten der Besserverdiener, Deregulierung des Arbeitsmarktes. O-Ton Christoph Butterwegge: "Es sind mehr Beschäftigungsverhältnisse entstanden. Quantitativ sind ja so viele Menschen erwerbstätig wie noch nie heute, aber zum Teil haben sie eben auch mehrere Beschäftigungsverhältnisse, so genannte Multijobber, die eben mit einem Beschäftigungsverhältnis überhaupt nicht über die Runden kommen. Auch die Teilzeit hat stark zugenommen, ein Bereich, der dann eben auch dazu führt, dass die Menschen von dem, was sie da an Lohn oder Gehalt bekommen, nicht leben können. Und auf diese Art und Weise sind viele Menschen relativ am Wohlstand der Gesellschaft, abgesunken..." Sprecherin: Wie konnte es soweit kommen? Vorreiter waren in den 1980er-Jahren Großbritannien und die USA - getreu dem Motto: Alles ist gut, was Arbeit schafft, sagt Steffen Mau: O-Ton Mau: "Es ist sozusagen ein Siegeszug der neoliberalen Ideologie gewesen. Das Sozialbudget in Großbritannien ist nicht erheblich geschrumpft unter Maggie Thatcher, aber die ideologischen Konsequenzen und das langsame Diffundieren bestimmter Vorstellungen, also die Superiorität des Marktes, die Frage des schlanken Staates, die Kritik an überbordenden Sozialausgaben - das alles hat sich doch in den Köpfen festgesetzt, auch so ein bestimmter Glaube an die heilsamen Wirkungen deregulierter Märkte, und das ist bis ins gesamte Parteienspektrum vorgedrungen." O-Ton Schröder: "Wir werden, meine sehr verehrten Damen und Herren, Leistungen des Staates kürzen, Eigenverantwortung fordern und mehr Eigenleistung von jedem einzelnen abfordern müssen." Demo: "Nieder mit Hartz IV, das Volk sind wir ..." O-Ton Mann auf Demo: "Da habe ich gedacht: Das kann doch nicht wahr sein, dass das ein Sozialdemokrat macht - der ist dabei die CDU rechts zu überholen - das ist nicht mehr meine Partei..." Sprecherin: Schröders Agenda-Politik bescherte der SPD schon im ersten Halbjahr 2003 über 20.000 Parteiaustritte; sie ist heute ein Stachel im Fleisch der Sozialdemokraten. Im Bundestagswahlkampf 2017 will die SPD mehr Gerechtigkeit wagen. Arbeits- und Sozialministerin Andrea Nahles stellte im März den Entwurf des aktuellen Armuts- und Reichtums-Berichts der Bundesregierung vor: O-Ton Andrea Nahles: "Die unteren 40 Prozent der Beschäftigten haben 2015 real weniger verdient, als Mitte der '90er-Jahre. Wenn sich harte Arbeit für die, die klein anfangen müssen, kaum auszahlt und gleichzeitig hohe Vermögen häufig ohne eigene Leistung zustande kommen, ist das nicht nur für die Betroffenen ungerecht, es schadet uns allen..." Sprecherin: Wir haben verstanden ... signalisiert auch Kanzlerkandidat Martin Schulz: O-Ton Martin Schulz: "Es gibt keine Gerechtigkeit, solange auch nur einem einzelnen Menschen in unserer Gesellschaft Unrecht widerfährt und wir nicht alles tun, dieses Unrecht zu beseitigen, solange wir das nicht tun, gibt es keine Gerechtigkeit, aber ich will, dass es Gerechtigkeit in unserem Lande gibt..." Sprecherin: Die Ärmsten werden immer ärmer und die Reichen reicher. Was wie eine Phrase linker Sozialpolitiker klingt, lässt sich an den Einkommensdaten gut ablesen. Markus Grabka, wissenschaftlicher Mitarbeiter im Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung, verfolgt die Statistik: O-Ton Markus Grabka: "Schaut man sich die Entwicklung der verfügbaren Haushaltseinkommen seit 1991in Deutschland genauer an - für die einzelnen Einkommensgruppen, also zum Beispiel die 10 % Einkommensstärksten in unserer Bevölkerung - so hat deren Einkommen seit 1991um 27 Prozent real zugenommen, währenddessen die untersten Einkommensbezieher, also die zehn Prozent mit den geringsten Einkommen, haben im gleichen Zeitraum real acht Prozent weniger Einkommen - was im Ergebnis bedeutet, dass schlicht und einfach die Schere zwischen arm und reich deutlich auseinander gegangen ist." Sprecherin: Und die Mittelschicht hat laut DIW einen Realeinkommenszuwachs von 12 Prozent - nimmt aber als Bevölkerungsgruppe ab. O-Ton Grabka: "Und so kann man befinden, dass diese Einkommensmittelschicht seit Mitte der '90er-Jahre deutlich geschrumpft ist, um etwas mehr als sechs bis sieben Prozentpunkte und wir mit Daten aus dem Jahr 2015 derzeit einen Bevölkerungsanteil an der Einkommensmittelschicht von etwa nur noch 56 Prozent haben." Sprecherin: Eine starke Mittelschicht gilt als Indikator für eine gesunde Ökomomie - und sie ist das Rückgrat einer funktionierenden Demokratie. Menschen aus der Mittelschicht, bezahlen das Gros an Steuern, sind Träger bürgerlichen Engagements und kaufkräftige Konsumenten. Eine schrumpfende Mittelschicht ist Indiz für das Verschwinden normaler Arbeitsverhältnisse. O-Ton Butterwegge: "Dass gleichzeitig die einen nach oben und die anderen nach unten fahren, hat mit einem strukturellen Zusammenhang zwischen Armut und Reichtum zu tun." Sprecherin: Christoph Butterwegge nennt diesen Zusammenhang "Paternoster-Effekt". O-Ton Butterwegge: "Niedrigere Löhne bedeuten hohe Gewinne und hohe Renditen... Wenn das reichste Geschwisterpaar unseres Landes, Susanne Klatten und Stefan Quandt im Mai 2016 alleine 994,7 Millionen Euro nur an Dividenden aus ihren BMW-Aktien bezogen haben, dann ist klar, wer ein solches Unternehmen besitzt, der profitiert natürlich von der Ausweitung der Leiharbeit in der Automobilindustrie und dass Leiharbeiter geringere Löhne bekommen als die Kernbelegschaften, zahlt sich aus in Gestalt einer solch unvorstellbar hohen Dividende." Sprecherin: Verantwortlich für wachsende Ungleichheit ist für Butterwegge auch die Steuerpolitik: O-Ton Butterwegge: "Es ist eine Steuerpolitik von allen Bundesregierungen in den letzten Jahrzehnten gemacht worden, die eher solche Steuerzahler entlastet hat, die hohe Gewinneinkommen oder auch hohe Gehälter haben. Spitzenverdiener sind durch die Senkung des Spitzensteuersatzes entlastet worden. Diejenigen, die vom Kapitalvermögen leben, sind entlastet worden durch Absenkung einerseits der Körperschaftssteuer, also der Einkommensteuer der Kapitalgesellschaften, andererseits, dadurch dass die Kapitalertragssteuer gesenkt worden ist auf heute nur noch 25 Prozent." Sprecherin: Die Vermögenssteuer hatte 1997 schon die CDU-Regierung unter Helmut Kohl abgeschafft - und so ist es geblieben. Unter Kohl betrug der Spitzensatz in der Einkommenssteuer noch 56 Prozent - in der Schröder-Ära sank er auf 42 Prozent. Anderseits wurde am 1. Januar 2007 die Mehrwertsteuer erhöht - von 16 auf 19 Prozent. Das trifft vor allem Menschen mit geringen Einkommen, die das meiste Geld in Alltagskonsumgüter stecken müssen. O-Ton Butterwegge: "Viel stärker, als ein Spitzenverdiener, selbst, wenn der sich eine Luxusjacht kauft, ist der von seinem Einkommen nicht so stark betroffen von der Mehrwertsteuer.Wenn man eine solche Steuerpolitik macht, wird die Gesellschaft stärker gespalten und sie wird ungerechter und ungleicher." Demo: "Nieder mit Hartz IV, das Volk sind wir..." Sprecherin: Unter Menschen in prekären Arbeitsverhältnissen haben es Gewerkschafter schwer. Caspar Dohmen hat das während eines Streiks in einem Logistikzentrum von Amazon in Bad Hersfeld erlebt: O-Ton Dohmen: "Als aber dann die Frage kam: Wer geht denn jetzt als Streikposten vor eines dieser zwei Logistiklager? Da blieben eigentlich alle Finger unten, und dann haben die Vertrauensleute so richtig werben müssen bis dann mal so ein paar Leute bereit waren, als Streikposten vor so eine Halle zu gehen und wenn ich mich mit den Leuten unterhalten habe, warum sie denn so ängstlich sind, dann haben viele erzählt von Hartz IV-Erfahrungen, da waren eben viele Menschen, die solche Erfahrungen gemacht hatten und wer einmal eine solche Erfahrung gemacht hat, der klebt natürlich an seinem Arbeitsplatz, der tut alles dafür, dass sein befristeter Arbeitsplatz möglichst auch in einen unbefristeten umgewandelt wird und das führt zu Angst und dazu, dass sich die Leute nur bedingt für ihre Rechte einsetzen." Sprecherin: Monika kennt diese Angst. Die heute 58jährige erlebte über 20 Jahre lang ein Auf und Ab zwischen Phasen von Arbeitslosigkeit, Qualifizierung und befristeten Arbeitsverhältnissen. 1993 schloss sie ihr Studium der Kunst- und Literaturwissenschaften mit Bestnoten ab - und fand als geschiedene Mutter zweier Kinder keine feste Stelle: O-Ton Monika: "Dann hab ich ganz, ganz lange versucht, einen Fuß an den Boden zu bekommen, war natürlich auch beim Jobcenter gemeldet, zu der Zeit gab es noch die Sozialhilfe, dass ich dann für die Kinder Sozialhilfe beantragen musste. Eine Frau mit zwei kleinen Kindern hat auf dem Arbeitsmarkt - auf dem damaligen und ich denke auch heutigen immer noch keine guten Chancen, irgendwo reinzukommen. Das war immer das Problem, dass ich alleinerziehend mit zwei Kindern nicht das abdecken konnte, was der Arbeitgeber wollte, sprich Flexibilität." Sprecherin: Monika reihte eine Weiterbildung an die andere, engagierte sich ehrenamtlich, wechselte den Wohnort, arbeitete in Projekten mit... häufig interessante Tätigkeiten, sagt sie, aber ... O-Ton Monika: "... am Anfang waren es immer zwei Jahre, dann immer Ein-Jahres-Verträge, dann einen Vertrag für ein Jahr in einer Kirchengemeinde, wo ich auch in der Öffentlichkeitsarbeit gearbeitet habe...das war dann so, dass ich dort zehn Jahre lang so einen Minijob hatte, nur 20 Stunden im Monat - da hat man mir gleich am Anfang gesagt, dass ich da keine Aussicht habe, dass das halt aufgestockt wird. .Man gibt alles, das, was man gelernt hat und macht, fand ich, gute Arbeit, kriegt dann ab und an mal zu hören: Ja, das war gut, aber in der Kasse hat das nie gestimmt." Sprecherin: Seit kurzem hat Monika ihre erste richtige Stelle - in einem Bereich, in den sie sich gut einfühlen kann. Sie arbeitet als sozialpädagogische Betreuerin von Arbeitslosen, die sich nicht mehr beim Jobcenter melden. Bei ihren Hausbesuchen erlebt sie nicht selten Menschen, die aufgegeben haben. Die sich von der Außenwelt abschotten, weil sie sich ihres Daseins schämen und sich gesellschaftlich nicht mehr akzeptiert fühlen: O-Ton Monika: "Es gibt sogar einen Menschen, der, sobald er einen Brief vom Jobcenter bekommt, Panik bekommt und nicht mehr aus dem Haus gehen mag, weil er so angstfixiert ist, dass er da jetzt hin muss. Wenn das in eine solche Schieflage kommt, dann läuft das vollkommen falsch..." Sprecherin: Monika selbst hat überwiegend gute Erfahrungen mit ihrem Arbeitsvermittler gemacht. Allerdings kennt auch sie Offerten, die gar nicht zu ihr passten: O-Ton Monika: "Ein Jobangebot, was ich bekommen habe, war irgendwann als Busfahrerin, aber da fühlte ich mich dann vollkommen überfordert. Erstens, ich habe einen Führerschein, ja, habe aber keine Fahrpraxis und habe noch nie so ein großes Gerät gefahren, habe auch große Bedenken, in einem so großen Bus zu sitzen, die Verantwortung zu übernehmen, für die vielen Menschen, die da drinsitzen - das fand ich absolut abwegig." Sprecherin: Immer wieder hat Monika Menschen getroffen, die frustriert waren, weil sie unpassende Jobs annehmen oder sinnlose Qualifizierungsmaßen durchlaufen mussten, um weiter Unterstützung zu bekommen. Vor allem aber verletze das Vorurteil, das Arbeitslosen häufig begegnet. O-Ton Monika: "Das ist schon eine Situation, in die ich auch manchmal geraten bin, wo mir gesagt wurde: Wenn man Arbeit will, kriegt man auch welche. Und das ist etwas, was auf Dauer natürlich frustriert. Dazu passt vielleicht eine Geschichte, dass ich irgendwann mit Freunden im Restaurant saß und eine Bekannte war dabei, die dann weil sie wusste, dass ich noch arbeitssuchend bin, mir dann sagte: Dass es Dir immer noch so gut geht, verstehe ich gar nicht...dann hab ich gestutzt und hab gesagt: Wie bitte? Okay, ich bin arbeitssuchend. Das ist das, was ich in der Zeit gelernt habe und ich glaube, da ist dann meine psychische Struktur dass ich immer ein positiv denkender Mensch war und auch geblieben bin - auch in dieser Zeit - halt mir sehr geholfen hat..." Sprecherin: Nicht alle bringen so viel Widerstandskraft und Optimismus auf wie Monika. Arbeits- und Sozialministerin Andrea Nahles zitiert noch eine Studie zum Armuts- und Reichtums-Bericht der Bundesregierung: O-Ton Nahles: "...dass gerade ärmere Menschen sich aus der demokratischen Gemeinschaft zurückziehen, nicht mehr wählen gehen - auch, weil sie erfahren: Je mehr Menschen mit hohem Einkommen eine bestimmte Meinung vertreten, desto wahrscheinlicher ist eine politische Entscheidung in ihrem Sinn..." Sprecherin: Diese Aussage hat die Union nicht in den Armuts- und Reichtumsbericht übernommen - sie sei faktisch nicht belegbar. Der Politologe und Bundespräsidenten-Kandidat der Linkspartei, Christoph Butterwegge, hält dagegen: O-Ton Butterwegge: "Die Ärmeren, die sozial Benachteiligten, das ist empirisch untersucht und festgestellt worden, gehen immer weniger zur Wahl und wenn das so ist, dann ist natürlich auch ihr politischer Einfluss geringer. Das heißt aber, wenn die Wohlhabenden und Reichen weiterhin eine hohe Wahlbeteiligung haben, aber auch andere Möglichkeiten, Gesetze zu beeinflussen - durch lobbyistische Einflussnahme, durch Parteispenden und vieles andere mehr...dann ist ganz klar, dass der politische Einfluss der Reichen und Hyperreichen dazu führt, dass diese Kluft zwischen Arm und Reich sich weiter vertieft." Sprecherin: Wer in den Sog der sozialen Abwärtsspirale gerät - oder sich auch nur davor fürchtet - fühle sich irgendwann fremd im eigenen Land, warnt Christoph Butterwegge. Gute Arbeitsmarktdaten spiegeln offensichtlich nicht die Realität eines großen Teils der Bevölkerung wider. O-Ton Butterwegge: "Und das gilt ganz besonders dann, wenn die Ärmeren das Gefühl haben, die etablierten Parteien vertreten nicht mehr ihre Interessen. Wenn man so will, ist die Agenda 2010 auch der Nährboden gewesen, auf dem Rechtspopulisten jetzt ihre Erfolge feiern. Also die neoliberalen Reformen der Zeit unter Gerhard Schröder haben eine soziale Eiseskälte geschaffen und diese soziale Eiseskälte wird jetzt von techten Demagogen benutzt, um sozusagen für eine nationale Nestwärme zu sorgen oder sie zumindest zu versprechen..." O-Ton Alexander Gauland: "Wir wollen das Land behalten,was wir von unseren Vätern und Müttern ererbt haben, wir wollen unsere Heimat behalten, unsere Identität behalten und wir sind stolz darauf, Deutsche zu sein." Sprecherin: Beim Kölner AfD-Parteitag im April 2017 verbreitete Alexander Gauland nationale Nestwärme. Nach monatelangen Flügelkämpfen wandte sich die Partei von der Strategie ihrer Chefin, Frauke Petry, ab. Sie wollte die Wählbarkeit der AfD durch ein liberaleres Image steigern. Wahlkampf-Spitzenduo wurden aber der Rechtsaußen-Politiker Gauland und die neoliberale Betriebswirtin Alice Weidel. O-Ton Alice Weidel: "Wir werden uns als Demokraten und Patrioten trotzdessen nicht den Mund verbieten lassen, denn die politische Korrektheit gehört auf den Müllhaufen der Geschichte!" Sprecherin: So etwas zieht nicht nur den "Volkssturm" am rechten Rand an, sondern auch Menschen aus der Mitte der Gesellschaft, Menschen wie Peter aus München. O-Ton Peter: "Das, was sich in der AfD wiederfindet, das sind Leute, die sich schon lange, lange ärgern, die mal ne Zeit lang gsagt ham, ich geh da eh nicht mehr hin, ich geh halt einfach nimmer wählen, weil es is eh wurscht...diese ganzen Dinge, die unter der Oberfläche so liegen bleiben und keiner packt die an, die kochen irgendwann hoch." Sprecherin: Peter, Ende 50, ist IT-Experte, gebildet und politisch interessiert. Früher war er links, interessierte sich für grüne Ideen. Eine Weile engagierte er sich für die Piraten. Warum er nun eine deutschtümelnde Partei für wählbar hält, die den Klimawandel leugnet und in der zumindest einzelne Personen offen rechtsradikale Positionen vertreten, begründet er so: O-Ton Peter: "Mir geht es gar nicht so sehr drum, dass die meine Traumpartei sind, ich hab nur des Gfühl, die sind die einzigen, wos halbwegs in eine richtigere Richtung geht." Sprecherin: Etwa in der "sozialen Frage"? Was hat eine Partei, die sich als Stimme der Entrechteten positioniert, hier zu bieten? O-Ton Markus Mohr, AfD-Ratsherr in Aachen: "Liebe Dresdner, liebe Patrioten, vielen Dank für diesen herzlichen Empfang ..." Sprecherin: Markus Mohr, AfD-Ratsherr in Aachen, ist am 17. Januar 2017 Gastredner der "Jungen Alternative Sachsen" in Dresden - sein Thema: "die soziale Frage": O-Ton Mohr: "Die weiße Welt wurde zum Pionierführer der Menschheit...der deutsche Wissenschafts- und Erfindergeist trat auf den Plan. Deutsche Ingenieure, Physiker, Biologen und Chemiker nahmen Maß für eine neue Welt..." Sprecherin: Es dauert eine ganze Weile, bevor Mohr sich der sozialen Frage widmet. Vorher blickt der junge Mann ausführlich in die deutsche Heldengeschichte zurück: O-Ton Mohr: "Es ist der Genius eines Volkes, das der Welt noch viel zu sagen haben wird..." [Applaus] Sprecherin: Markus Mohr, gelangt nach einer Eloge auf die bismarcksche Sozialpolitik schließlich zur Gegenwart: O-Ton Mohr: "...Das sonst von deutschen Kaufleuten geprägte Prinzip des Leben-und-Leben-Lassen weicht immer mehr einem kalten und rücksichtslosen Faustrecht-Kapitalismus, in dem Ausbeutung und Gewinnmaximierung an der ersten Stelle stehen. Denken wir an die Einführung der sogenannten Hartz-IV-Reformen durch Gerhard Schröder, seitdem ist es egal, ob Sie zwei Jahre gearbeitet haben oder 20 Jahre. Nach kürzester Zeit der Arbeitslosigkeit müssen Sie mit dem absoluten Existenzminimum auskommen und Ihre Ersparnisse aufbrauchen... oder nehmen wir das Thema Leiharbeit...oder nehmen wir das Elend mit den befristeten Arbeitsverträgen. Wie viele Arbeiter oder auch Akademiker hangeln sich heute von einem Zeitarbeitsvertrag zum nächsten...." Sprecherin: Das klingt, als kapere die AfD linke Positionen und verpacke sie in rechtsnationaler Kapitalismuskritik. Aber so eindeutig ist das nicht. Die Ökonomin und Publizistin Katharina Nocun analysierte im Auftrag der Heinrich Böll-Stiftung Sachsen die AfD-Politik über mehrere Jahre. Und fand: Beim Thema Hartz IV stand eine ganze Reihe von AfD-Politikern lange Zeit nicht an der Seite der sozial Benachteiligten. Mehrere AfD-Landesverbände befürworteten das Modell "Bürgerarbeit" für Arbeitslose - etwa die AfD Baden-Württemberg im Landtags-Wahlprogramm 2016. Im Februar 2015 plädierte Parteichefin Frauke Petry in einer Pressemitteilung der sächsischen Landtagsfraktion gegen eine Erhöhung der Hartz IV-Sätze. Sie gefährdeten den Sozialstaat. Im Bundes-Wahlkampfmodus von 2017 klingt das ganz anders: Zitator: "Die AfD setzt sich bei einer Vollbeschäftigung von mindestens zehn Jahren für eine längere Bezugsdauer von Arbeitslosengeld I ein und für höhere Arbeitslosengeld II-Leistungen, sofern diese im Anschluss daran zu gewähren sind...Dies ist ein Gebot der Gerechtigkeit, um unterschiedliche Erwerbsbiografien bei Arbeitslosigkeit differenziert zu behandeln." Sprecherin: Den ökonomischen Konzepten der AfD bescheinigt Katharina Nocun nach wie vor eine "deutlich neoliberale Handschrift". So sagte etwa im Februar 2016 der wirtschaftspolitische Sprecher im Thüringer Landtag, Stefan Möller: Zitator: "Bürokratie und schwere Eingriffe in die unternehmerische Entscheidungsfreiheit sind die klassischen Folgen der Überregulierung, unter der alle Wirtschaftsbereiche in unserem Land mehr oder weniger stark leiden." Sprecherin: Ähnlich klingt das auch im Bundestagswahlprogramm 2017. Die Passage über Wirtschaftspolitik ist neun Zeilen lang. Darin heißt es: Zitator: "Die Afd will ein investitions- und innovationsförderndes Umfeld. Wir wollen auf breiter Front Bürokratie abbauen und deregulieren." Sprecherin: Deregulierung ist aber ein Schlagwort neoliberaler Konzepte, die in vielen Ländern zu massivem Stellenabbau geführt haben. In punkto Leiharbeit und Mindestlöhne zum Beispiel fand die Ökonomin Nocun in der AfD widersprüchliche Positionen. Noch vor einem Jahr hat sich Beatrix von Storch - stellvertretende AfD-Bundesvorsitzende, Berliner Landesvorsitzende und Europapolitikerin - gegen Mindestlohn und Gesetzesverschärfungen bei Leiharbeit ausgesprochen. Im Interview mit der Internetplattform "Abgeordnetenwatch" sagte sie am 11. Mai 2016: Zitatorin: "Der Staat hat nicht die Aufgabe, konkrete Löhne festzusetzen. Die Tarifverträge werden zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern ausgehandelt." Sprecherin: Im selben Interview hielt es von Storch für grundsätzlich vertretbar, dass Leiharbeiter weniger verdienen als die Stammbelegschaft eines Unternehmens. Die AfD Baden-Württemberg plädiert in ihrem Landtagswahlprogramm 2016 einerseits für Zitator: "...sachgerechte Weiterentwicklung der bestehenden Regeln...und für wirkungsvolle Kontrollen..." Sprecherin: Anderseits strebt sie nach ... Zitator: "einer Flexibilisierung des Arbeitsmarktes in Verbindung mit Entlastungen bei Steuern und Abgaben für Arbeitnehmer und Unternehmen." Sprecherin: Die AfD in Sachsen will laut ihrem Landtagswahlprogramm 2014 Zitator: "Missbräuche in den Bereichen Zeit- und Werkvertrag abstellen." Sprecherin: Im Mai 2015 vertritt dieselbe Landtagsfraktion in einer Presseerklärung eine unternehmerfreundliche Position: Zitator: "Die derzeitige Wirtschaftspolitik ist alles andere als Werbung für Unternehmensgründungen, beispielhafte Hemmnisse sind Mindestlohn, Entgeltgleichheitsgesetz und Überregulierungen bei der Zeitarbeit." Sprecherin: Und nun, 2017, auf ihrem Bundesparteitag, fordert die AfD eine Obergrenze für Leiharbeit von 15 Prozent in allen Unternehmen. Und die AfD befürwortet den gesetzlichen Mindestlohn: Zitator: "...da er bei den jetzigen Verhältnissen die vergleichsweise schwache Position der Niedriglohnempfänger gegenüber den Interessen der Arbeitgeber stärkt..." O-Ton Mohr: "...oder nehmen wir als drittes Beispiel, die drohende Altersarmut - hier hat die Politik total versagt, während Sie früher nach einem arbeitsreichen Leben davon ausgehen konnten, dass Sie einen finanziellen sorgenfreien Ruhestand verbringen konnten, droht jetzt millionenfache Altersarmut..." Sprecherin: Als AfD-Politiker Mohr in Dresden versucht, die Probleme der Altersarmut zu vermitteln, erntet er von den Jungen Alternativen eher verhaltenen Applaus - Richtig Stimmung kommt erst beim nächsten Thema auf: O-Ton Mohr: "Und neben all diesen politischen Fehlentscheidungen kommt dann auch noch hinzu die Bedrohung von außen durch illegale Einwanderung..." [Rufe: Abschieben! Abschieben! Abschieben!] O-Ton Peter: "Die haben diese Dinge ausgesprochen. Es gibt doch natürlicherweise eine Obergrenze, spätestens dann, wenn man sich gegenseitig auf die Zehen steigt, muss man sagen: Jetzt dürfen wir aber keinen mehr hereinlassen, weil... wir stehen uns eh schon auf den Zehen gegenseitig. Da braucht man keine hohe Bildung, um zu wissen, dass Zahlen eine Rolle spielen...und dass es zum Beispiel einen Begriff gibt wie Überfremdung...ich spüre das auch in München, wenn ich da in die Stadtmitte fahre, dann gibt es da Viertel, die sind fest in türkischer Hand. Es wäre wichtig, so etwas wie ein gesundes Nationalbewusstsein wieder zu kriegen oder sowas wie Patriotismus. Das ist in Deutschland seit dem Zweiten Weltkrieg irgendwie ein Unwort - das Einzige, was wir uns trauen, ist, wenn Deutschland bei der Fußball-WM spielt: Dann trauen wir uns Deutschland, Deutschland zu schreien...Des ist wirklich des einzige Ventil, wo wir mal Flagge zeigen oder mal Deutschlandfähnchen ans Auto heften dürfen. Man braucht innerhalb einer Gesellschaft Bindung der einzelnen Teile aneinander. Das geht los damit, dass man Bindung zu seiner Mutter verspürt,dass man Bindung verspürt zu dem Ort, wo man aufgewachsen ist - also so was wie Heimat..." O-Ton Mau: "Es gibt eine große Dynamik der gesellschaftlichen Veränderung. Das eine ist die Frage der sozialen Ungleichheit, die viele Personengruppen als soziale Deklassierung empfinden, also dieses Abgehängtsein, diese Verlustgefühle. Dasselbe gibt es auch auf der soziokulturellen Seite, das, was man Diversitätsstress nennen könnte, also das Gefühl, dass sich sehr viel um sie herum verändert, was auch ihr Lebenskonzept, das stärker auf Ordnung, Homogenität, Übersichtlichkeit, lokale Bezüge ausgerichtet ist, dass das auch in Frage stellt... Das heißt, man hat eigentlich zwei Typen von ‚Entwertungserlebnissen' - das erste ist das sozioökonomische, das zweite ist das soziokulturelle." [Rufe: Abschieben! Abschieben! Abschieben!] O-Ton Mohr: "...und es kommt mittlerweile ja sogar noch schlimmer, wir haben stellenweise sogar schon die Situation, dass Fremdstämmige sogar den Einheimischen gegenüber bevorzugt werden. .Ich bin Ratsherr in Aachen und während arbeitslose Deutsche sich ihren Internetbreitbandanschluss von ihren kargen Leistungen vom Munde absparen müssen, diskutieren wir in Aachen jetzt ernsthaft darüber, Flüchtlingen kostenloses WLAN und Internet zur Verfügung zu stellen..." O-Ton Brenke: "Für das politische Bewusstsein spielt eine bestimmte Rolle, dass man sich konkret benachteiligt fühlt - nicht nur als einzelner, sondern als Teil einer Gruppe, das hat oftmals gar nichts mit den konkreten Arbeitsbedingungen zu tun, das zweite, was damit zusammenhängt ist, dass man das Gefühl hat, dass man mit seiner Lebenswelt und seinen Sorgen eventuell nicht mehr wahrgenommen wird, von denen, die politisch entscheiden ." Sprecherin: Die Frage, wie eng soziale Lage und Siegeszug des Rechtspopulismus verknüpft sind, ist umstritten. Der Arbeitsmarktexperte Karl Brenke vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung bezweifelt, dass man durch prekäres Dasein automatisch radikal wird. Der Politologe Christoph Butterwegge ist dagegen überzeugt, dass die gesellschaftspolitischen Entwicklungen der letzten Jahre durchaus mit sozialen Veränderungen zu tun haben. Man muss das Parlament nicht auseinanderjagen und eine Diktatur errichten, um die Gesellschaft in eine falsche Richtung zu treiben. O-Ton Butterwegge: "Es wird von Rechtspopulisten vor allem die Angst in der Mittelschicht aufgegriffen, die Angst vor dem sozialen Abstieg, und wenn Menschen Angst haben, sozial abzustürzen, dann sind sie offen für Parteien, die sich neu gründen, für Parteien, die außerhalb der etablierten Parteien stehen, für Außenseiter, für Demagogen und häufig in Deutschland eben ganz besonders für rechte Parteien. Das gilt für die NSDAP, die ihren Aufstieg nicht zuletzt der Weltwirtschaftskrise 1929/1932 zu verdanken hatte, genauso wie für die NPD, die nach der Rezession, der ersten Wirtschaftskrise in der alten Bundesrepublik 1966/67 in sieben Landtage einzog und fast 1969 in den Bundestag gekommen wäre, und das gilt heute für die AfD, die ihren Aufschwung auch nicht nur den Flüchtlingen und der vermehrten Fluchtmigration, die sie natürlich benutzt, um Ängste zu schüren, verdankt, sondern auch der Tatsache, dass viele Menschen durch die zunehmende Spaltung in arm und reich fürchten, selber in den Strudel nach unten gezogen zu werden." Sprecherin: Was bedeutet das für die Demokratie? Sie sei zur Zeit im "Stresstest", meint der Soziologe Steffen Mau. Die Parteienlandschaft ist in Bewegung geraten. Schwerfällige große Volksparteien sind nicht mehr gefragt. Koalitionen, die jahrzehntelang nicht denkbar waren, können möglich werden. O-Ton Mau: "Ich glaube, dass die Parteien doch gezwungen sind, ihre Fenster und Türen mehr zu öffnen, frischen Wind herein zu lassen, in eine andere Art von Gespräch mit der Gesellschaft zu kommen, dass Väter und Mütter mit Kindern das Gefühl haben: Es lohnt sich einen Babysitter zu organisieren und zu einer Veranstaltung hinzugehen, weil hier die wichtigen Fragen unserer Zeit auf eine Art und Weise debattiert werden, dass ich mich angesprochen fühle." Sprecherin: Sigmar Gabriel bekam im Mai 2016 bei der SPD-Wertekonferenz in der Diskussion mit Susanne Neumann eine Retourkutsche auf seine Frage, was er denn jetzt machen solle - rausgehen aus der Koalition? O-Ton Neumann: "Also, wenn `ne Reinigungskraft dir das sagen könnte, wie du das hinkriechst...[Applaus, Lachen]...ich würde es tun, ich würde es wirklich tun." Absage: Die Agenda Verlierer - wie Billigjobs die Gesellschaft spalten Sie hörten ein Dossier von Agnes Steinbauer Es sprachen: Kerstin Fischer, Bettina Scholmann und Franz Laake Ton und Technik: Eva Pöpplein und Oliver Dannert Regie und Redaktion: Ulrike Bajohr Eine Produktion des Deutschlandfunks 2017 25