COPYRIGHT Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von Deutschlandradio Kultur benutzt werden. Deutschlandradio Kultur Zeitfragen/Literatur "Ich lief von einem Verlag zum andern" Jack London und seine deutschen Übersetzungen Autor/in: Christian Blees Redakteurin: Dorothea Westphal Sendetermin: 18.11.2016 Besetzung: Erzähler (Kommentar), Zitator Regie: Stefanie Lazai 1. O-TON: LUTZ WOLF Jede Übersetzung ist eine Interpretation. Das ist so ähnlich wie, sagen wir, Beethovens Fünfte: Das Musikstück, die Noten, stehen fest, stehen auf dem Papier. Jeder Dirigent wird sich daran halten. Aber trotzdem ist jede Aufführung ein Unikum- und dementsprechend auch was Besonderes. MUSIK 2. O-TON: PETER FRIEDRICH Ich war eigentlich von Kindheit an ein Jack-London-Fan. Angefangen habe ich, Jack London zu lesen, in den sechziger Jahren mit "Abenteurer des Schienenstranges". Und das war so, für einen Zehn-, Zwölfjährigen - war das, ja, so ein richtiger "Lockruf der Wildnis" sozusagen. ERZÄHLER Peter Friedrichs Leidenschaft für Jack London hat im Laufe der Jahrzehnte kaum nachgelassen. Inzwischen lebt und arbeitet Friedrich, Jahrgang 1956, als Übersetzer für englischsprachige Literatur in Altdorf bei Nürnberg. Dass er diesen Beruf einst überhaupt ergriffen hat - dafür ist letzten Endes auch Jack London mit verantwortlich. 3. O-TON: PETER FRIEDRICH Irgendwann ist mir klargeworden, dass er ja auf Englisch geschrieben hat und jemand ihn übersetzt haben muss. Und dann habe ich vorne nachgeschaut in den Büchern, wer das war - und das war eben immer Erwin Magnus, zur damaligen Zeit. ERZÄHLER Mitte der 1980er Jahre, während des Studiums, erwächst in Peter Friedrich der Wunsch, mehr über Erwin Magnus zu erfahren - jenen Mann also, der als Übersetzer in so ziemlich allen Jack-London-Büchern genannt wird, die Friedrich bis dahin in die Finger bekommen hatte - vom "Abenteurer des Schienenstranges" über den "Lockruf des Goldes" bis hin zum "Seewolf". In einer Zeit, in der das World Wide Web noch nicht existiert, ist ein solches Vorhaben aber gar nicht so einfach. Peter Friedrich findet lediglich heraus, dass Erwin Magnus 1947 in Kopenhagen gestorben ist. Der Durchbruch bei seinen Recherchen gelingt Friedrich erst mehrere Jahre später mithilfe des Internets. 4. O-TON: PETER FRIEDRICH Dann bin ich auf die Website von Erwin Magnus' Sohn, Michael Freud-Magnus, gestoßen, der ein Künstler und Maler war, in Dänemark, und hab' mich an ihn gewendet - ohne genau zu wissen, ob er mit Jack London etwas zu tun hat. MUSIK ZITATOR Altdorf, den 3. Dezember 2007. Sehr geehrter Herr Freud-Magnus, ich interessiere mich seit langem für Ihren Vater Erwin Magnus, den deutschen Übersetzer von Jack London. Die Lektüre von Jack London hat mir in einer bestimmten Lebenssituation sehr geholfen, aber natürlich war mir als Kind nicht klar, dass er mit der Stimme von Erwin Magnus zu mir sprach. Ich freue mich jedenfalls, Ihnen zu sagen, dass Ihr Vater, obwohl ich ihn nicht kennenlernen konnte, zu einem Zeitpunkt meines Lebens sehr wichtig für mich war und ich deshalb gerne mehr über ihn erfahren würde. ERZÄHLER Bei Michael Freud-Magnus handelt es sich tatsächlich um den Sohn des Übersetzers. Zwischen den beiden Männern entwickelt sich eine rege Korrespondenz. Und eines Tages wird Peter Friedrich von Michael Freud-Magnus sogar zum Besuch nach Dänemark eingeladen. 5. O-TON: PETER FRIEDRICH Die Dokumente über Erwin Magnus müssen jahrzehntelang auf dem Dachboden gelegen haben in Dänemark, bei Michael Freud-Magnus - und sind, soviel ich weiß, erst wieder rausgekramt und zusammengesucht worden, wie ich mich bei Michael gemeldet habe, um mich nach seinem Vater zu erkundigen. ERZÄHLER Erwin Magnus, so erfährt Peter Friedrich, kam am 24. November 1881 in Hamburg zur Welt. Er wächst in einer großbürgerlichen, jüdischen Familie auf. Nach dem Ersten Weltkrieg verschlägt es Magnus nach Dänemark. Dort lernt er innerhalb weniger Wochen nicht nur, fließend Dänisch zu sprechen, sondern auch noch Schwedisch, Norwegisch und Englisch. 6. O-TON: PETER FRIEDRICH 1919 hat er die erste deutsche Übersetzung von Adam Oehlenschlägers "Aladdin oder die Wunderlampe" gemacht. Und Oehlenschläger ist ja sozusagen der dänische Dichter der Romantik. Also, das war schon eine bedeutende Übersetzung. Und das hat, glaube ich, seine Karriere dann begründet und ihm auch die weiteren Aufträge verschafft. ERZÄHLER Letzten Endes wird Erwin Magnus ab Mitte der 1920er Jahre damit beginnen, die Werke Jack Londons fast komplett ins Deutsche zu übertragen. Dass er nicht alle Bücher des berühmten Autors übersetzt, hat unter anderem damit zu tun, dass ihm jemand um einige Jahre zuvorgekommen ist. MUSIK ZITATOR Lieber Mr. London, mit Ihrem neuem Buch möchte ich gerne etwas ausprobieren. Und zwar will ich es in besonderer typografischer Ausstattung herausbringen und auch eine große Summe in die Werbung stecken. Damit möchte ich letztlich nicht nur den Verkauf Ihrer bereits bei mir veröffentlichten Bücher fördern, sondern auch den Absatz der noch folgenden. Darum schwebt mir vor, Ihnen für den aktuellen Titel ausnahmsweise keine Umsatzbeteiligung anzubieten, sondern ein einmaliges Pauschalhonorar in Höhe von zweitausend Dollar. ERZÄHLER Das Angebot, das der New Yorker Verleger George Platt Brett im März 1903 seinem Autor Jack London unterbreitet, muss diesem äußerst verlockend erscheinen. Denn der 27-jährige Nachwuchsautor hat zu diesem Zeitpunkt nicht nur eine Ehefrau und zwei kleine Töchter zu ernähren, sondern muss auch seine Mutter finanziell unterstützen. Und weil Brett bis dahin der einzige Verleger ist, der überhaupt an sein schriftstellerisches Talent glaubt, ist Jack London nur allzu gerne bereit, auf Bretts Angebot einzugehen. Wie sich herausstellen wird, hat er damit das wohl schlechteste Geschäft seines Lebens gemacht. Denn CALL OF THE WILD - so heißt das Buch, um das es hier geht - wird gleich nach seinem Erscheinen zum Bestseller. 7. O-TON: LUTZ WOLF Als die Buchausgabe gemacht wurde, gab's schon 35.000 Vormerker. Das heißt also: Die ersten Auflagen sind also beim Verlag nur so rausgeflitscht. Das Komische war, oder das ein bisschen Ironische war, dass dieses vielleicht erfolgreichste Buch von ihm mit einem Pauschalhonorar abgegolten worden ist. ERZÄHLER Der Übersetzer Lutz Wolf hat für den Deutschen Taschenbuch Verlag, dtv, die wichtigsten Romane Jack Londons seit 2013 neu ins Deutsche übertragen, darunter auch CALL OF THE WILD. Laut Wolf lässt sich der überraschende Erfolg des Buches aus heutiger Sicht leichter verstehen, wenn man den historischen Kontext kennt. 8. O-TON: LUTZ WOLF Also, es hat ja gegen Ende des 19. Jahrhunderts nach den Büchern von Darwin ein ganz großes Interesse an der Biologie und an der Tierwelt gegeben. ERZÄHLER CALL OF THE WILD markiert Jack Londons Durchbruch als Schriftsteller. Der nicht besonders umfangreiche Roman, von London ursprünglich als Kurzgeschichte angelegt, schildert die Geschichte eines Hundes Namens Buck. 9. O-TON: LUTZ WOLF Und dann haben sich gleich mehrere Autoren angefangen, Gedanken darüber zu machen, wie Tiere eigentlich leben und empfinden und was für ein Dasein es sein muss, wenn man eben nicht sprachbegabt und Mensch ist und sich nicht für die Krone der Schöpfung hält. Dazu gehört unter anderem natürlich Rudyard Kipling mit dem "Dschungelbuch". Und Jack London hat Kipling gekannt und ungeheuer verehrt, sowohl die Seefahrtgeschichten, als auch die Tiergeschichten. ERZÄHLER Buck wächst zunächst als Haustier in Kalifornien auf. Später wird er in die Wildnis Alaskas verpflanzt, wo er lernt, sich der neuen Umgebung anzupassen. Am Ende des Buches schließt sich Buck, von den Menschen mittlerweile völlig entfremdet, einem Wolfsrudel an. Das Besondere, das Londons Roman auf Anhieb zum Bestseller macht, ist die Erzählperspektive: Durch sie lässt der Autor die Leser unmittelbar an der Gedankenwelt seines tierischen Protagonisten teilhaben. MUSIK ZITATOR Auf unbestimmte Art erinnerte er sich an die Jugend seiner Rasse zurück, an die Zeit, als die wilden Hunde noch in Rudeln durch die Urwälder streiften und ihr Beutefleisch hetzten und töteten. Er lernte rasch, mit Riss und Biss und dem schnellen Schnappen der Wölfe zu kämpfen. So hatten schon seine längst vergessenen Ahnen gekämpft. Sie weckten das alte Wesen in ihm wieder zum Leben, und die alten Tricks, die sie ins Erbgut der Rasse gelegt hatten, wurden zu seinen Tricks. Ohne Anstrengung oder Entdeckung standen sie ihm zur Verfügung, als hätten sie ihm schon immer gehört. ERZÄHLER Der Erfolg des Romans, der1903 in den USA erscheint, bleibt jenseits des Atlantiks auf Dauer nicht unbemerkt - so unter anderem auch in Deutschland. 10. O-TON: LUTZ WOLF Dieses Buch hat als Seelenverwandter Hermann Löns entdeckt. Hermann Löns wird oft unterschätzt. Man hält ihn so für einen Heimatdichter oder so was. Der Mann war Sozialdemokrat und politisch durchaus wach, Journalist. Und der hat seinem Verlag empfohlen, doch den "Ruf der Wildnis" ins Deutsche übertragen zu lassen und hat auch gleich dann die passende Übersetzerin gehabt, nämlich seine Ehefrau. Und so ist dann Jack London zuerst nach Deutschland gekommen. ERZÄHLER Ob Jack London tatsächlich von dem sogenannten Heidedichter Hermann Löns für den deutschen Markt entdeckt worden ist, ist nicht wirklich geklärt. Fest steht zumindest, dass CALL OF THE WILD 1907 erstmals auch auf Deutsch erscheint. Die wörtliche Übersetzung lautet eigentlich RUF DER WILDNIS. Stattdessen trägt die deutsche Erstausgabe den Titel WENN DIE NATUR RUFT. Übersetzt hat das Buch Hermann Löns' Ehefrau, Lisa Löns-Hausmann. 11. O-TON: HEINRICH THIES Lisa Löns ist die Tochter eines hannoverschen Landschaftsmalers und ist in einer sehr liberalen, materiell gut ausgestatteten Familie aufgewachsen - zum Beispiel mit einem amerikanischen Musiklehrer, mit englischen Gastschülern. ERZÄHLER Heinrich Thies, Autor einer Romanbiografie über das Ehepaar Hermann und Lisa Löns. WENN DIE NATUR RUFT erscheint schließlich im Sponholtz-Verlag, Hannover. Und wie bereits die US-amerikanische Originalausgabe vier Jahre zuvor, stößt auch die deutsche Ausgabe auf begeisterte Resonanz. MUSIK ZITATOR Endlich kam ein Wolf näher. Es war ein alter, magerer, halb lahmer Geselle; er hob die Nase schnuppernd in die Luft und kam dann, freundlich knurrend, näher. Da erkannte Buck in ihm seinen wilden Bruder, mit dem er eine ganze Nacht und einen Tag durch die Wildnis gezogen war. Dann trat ein alter, mit Narben bedeckter Wolf herzu, der anscheinend auch freundlich gesinnt war. Buck aber fletschte die Zähne und knurrte grimmig. Da setzte sich der Wolf, richtete die Nase empor zum Mond und stieß ein jämmerliches Geheul aus. Buck horchte auf. Das war der Ruf, jetzt erkannte er ihn genau, und eine unbestimmte Macht zwang ihn hervorzukommen, sich neben den Alten zu setzen und einzustimmen. ERZÄHLER Nach dem erfolgreichen Auftakt hätte Adolf Sponholtz, der Verleger aus Hannover, eigentlich Grund genug, möglichst rasch die Übersetzung eines zweiten Jack- London-Romans in Auftrag zu geben - zumal der Autor in den USA bereits zwei weitere Besteller vorgelegt hat. Doch stattdessen wird noch eine ganze Weile vergehen bis der nächste Jack-London-Roman in Deutschland erscheint. MUSIK ERZÄHLER Im Dezember 1904 schreibt Jack London an seinen Verleger, George Platt Brett: ZITATOR Lieber Mr. Brett, ich habe eine tolle Idee für mein nächstes Buch, das ich Anfang kommenden Jahres schreiben will. Keine Fortsetzung, sondern eine Art Begleitband zu CALL OF THE WILD. Es wird den Entwicklungsprozess umkehren. Anstatt Devolution beziehungsweise De-Zivilisierung eines Hundes werde ich dessen Evolution, seine Zivilisierung, beschreiben. Es wird um Domestizierung, Treue, Liebe, Moral und andere Vorzüge und Stärken gehen. Es wird ein angemessenes Begleitwerk werden - im selben Stil, in ähnlich direktem Zugriff. Ich habe die Grundzüge der Geschichte zum Teil schon festgelegt. Es wird eine komplette Antithese zu CALL OF THE WILD. Und mit diesem als Vorläufer dürfte das Ganze ein Riesenhit werden. ERZÄHLER Als der angekündigte Roman schließlich erscheint, trägt dieser den Titel der Hauptfigur: WHITE FANG. Lutz Wolf hat das Buch 2013 für dtv neu übersetzt. 12. O-TON: LUTZ WOLF Klar - die Kritiker haben gesagt: "Na ja, das ist aber doch wiederum sozusagen eine Spiegelung dieses ersten Romans" und so. Dem Publikum war das egal, die haben das Buch toll gefunden. Und es ist ja auch die große Begegnung mit der Natur, dieses Begreifen, in was für einer wunderbaren Landschaft man da lebt. Dass man das eben auch respektieren kann, dass man da eben nicht bloß Totschießen, Totschlagen, Abholzen betreiben konnte. Das muss für die Amerikaner schon auch ein Durchbruch gewesen sein - und eine Erkenntnis. ERZÄHLER Als WOLFSBLUT endlich auch in Deutschland auf den Markt kommt, sind dort seit dem Erscheinen von WENN DIE NATUR RUFT ziemlich genau vier Jahre vergangen. Doch wird die deutsche Ausgabe diesmal nicht - wie der Vorgänger - bei Sponholtz erscheinen. Stattdessen taucht er im Programm eines Verlages auf, der sich vor allem an ein jüngeres Publikum richtet. Lutz Wolf vermutet, dies könnte mit dem Image zu tun haben, welches Jack London seinerzeit allgemein zugeschrieben wird. 13. O-TON: LUTZ WOLF Weil Tierbücher eben gerne von jungen Menschen gelesen werden, wurde er sozusagen als Jugendautor schon in Amerika ein bisschen eingestuft, und bei dem Karl May Verlag ist dann "Wolfsblut" erschienen - von einer Übersetzerin, deren Name mir im Moment nicht präsent ist. ERZÄHLER Der Name der Übersetzerin, der Lutz Wolf nicht einfallen will, lautet Marie Laue. Über sie ist heute so gut wie nichts bekannt - außer, dass sie um 1910 herum im preußischen Königsberg gelebt haben muss. Dies geht aus Papieren hervor, die sich im Archiv der Huntington Library im Kalifornischen San Marino befinden. Dort wird ein Teil des Jack-London-Nachlasses aufbewahrt - darunter auch ein Brief von Jack London an Marie Laue, datiert vom 1. Februar 1910. Darin heißt es: MUSIK ZITATOR Einer meiner Freunde verhandelt zurzeit mit verschiedenen deutschen Verlagen über die Übersetzung und Veröffentlichung meiner Bücher in Deutschland. Sein Plan - den ich voll und ganz unterstütze - sieht vor, dass alle meine Bücher in Deutschland von einem einzigen Verlag herausgebracht werden sollen. Und wie Sie wissen, handelt es sich bei WHITE FANG um eines meiner besten Bücher. Es wäre insofern wohl sehr schwierig, einen deutschen Verleger dazu zu bringen, alle meine Romane zu veröffentlichen und ausgerechnet WHITE FANG auszusparen. ERZÄHLER Jack London unterbreitet Marie Laue einen Vorschlag: Diese solle die Übersetzung von WHITE FANG in Angriff nehmen - und sich doch bitte irgendeine Zeitschrift suchen, die den Roman dann in Form von Fortsetzungen veröffentlichen will. Falls er selbst in der Zwischenzeit einen deutschen Verlag findet, der zusätzlich eine Buchausgabe herausbringen will, soll Marie Laue dafür dann die von ihr angefertigte Zeitschriften-Übersetzung zur Verfügung stellen. Tatsächlich erscheint Marie Laues deutsche Übertragung von WHITE FANG schließlich im Herbst 1911 als Buch beim Freiburger Verlag Friedrich Ernst Fehsenfeld. Dieser hat sich bis dahin vor allem durch die Veröffentlichung der Karl-May-Romane einen Namen gemacht. Der Titel der deutschsprachigen Erstausgabe: WOLFSBLUT. MUSIK ZITATOR Dunkler Tannenwald dräute finster zu beiden Seiten des gefrorenen Wasserlaufs. Der Wind hatte kürzlich die weiße Schneedecke von den Bäumen gestreift, so dass sie aussahen, als drängten sie sich unheimlich düster in dem schwindenden Tageslicht aneinander. Tiefes Schweigen lag über dem Lande, das eine Wildnis war, ohne Leben, ohne Bewegung, so einsam, so kalt, dass die Stimmung darin nicht einmal traurig zu sein schien. Vielmehr lag es wie ein Lachen darüber - ein Lachen, schrecklicher als jede Traurigkeit, freudlos wie das Lächeln der Sphinx, kalt wie der Frost und grimmig wie die Notwendigkeit. Es war die echte Wildnis, die ungezähmte, kaltherzige Wildnis des Nordens. ERZÄHLER Zu dem Zeitpunkt, als WOLFSBLUT erscheint, sind Jack Londons Verhandlungen mit deutschen Buchverlagen in eine Sackgasse geraten. Das Vorhaben des Autors, seine Bücher auf Deutsch möglichst komplett von einem einzigen Verlag veröffentlichen zu lassen, scheint nicht aufzugehen. Zumindest Friedrich Ernst Fehsenfeld zeigt an einer derartigen Werkausgabe keinerlei Interesse. Die Gründe dafür teilt er Jack London Ende 1912 in einem Brief mit. MUSIK ZITATOR In höflicher Beantwortung teile ich Ihnen mit, dass Fräulein Marie Laue am 29. September 1911 im Krankenhaus in Königsberg gestorben ist. In einer einstweiligen Verfügung erwähnte sie unter anderem, dass sie bei einer etwaigen Neuauflage des Buches zu Gunsten des Autors auf das Honorar verzichte und das dafür zu zahlende Honorar Ihnen auszuzahlen sei. Da aber bis heute eine Neuauflage nicht nötig war und auch vorerst dazu noch keine Aussicht vorhanden ist, so wäre dieser Punkt vorerst erledigt. Das Buch hat unter dem deutschen Publikum allgemeinen Anklang gefunden und wurde von den Zeitungen im Allgemeinen gut rezensiert. Doch der Absatz ist im Allgemeinen ein sehr mäßiger. Mit vorzüglicher Hochachtung, Friedrich Ernst Fehsenfeld. ERZÄHLER Insgesamt erhält Jack London von dem Verleger aus Freiburg für WOLFSBLUT Tantiemen in Höhe von sechs britischen Pfund ausbezahlt, außerdem zwei Belegexemplare des gedruckten Buches. Was London zu diesem Zeitpunkt nicht ahnen kann: Einige Jahre später wird es doch noch zu der von ihm erhofften deutschsprachigen Werkausgabe kommen. Doch als es so weit ist, weilt der Schriftsteller schon nicht mehr unter den Lebenden. 14. O-TON: LUTZ WOLF Jack London war außerordentlich körperbewusst und hielt sich für von Grund auf gesund. Und deswegen hat er geglaubt, dass ihm nichts fehlt, dass er alles persönlich körperlich leisten und reißen kann und lösen kann, alle Probleme. Dass er körperlich krank war, ist mehr durch Zufall entdeckt worden - als nämlich sein Blinddarm raus musste und ihm die Ärzte sagten: "Ja, also das sieht gar nicht so gut aus bei Ihnen. Also, Ihre Nieren sind in einem schrecklichen Zustand. Ihre Leber ist auch nicht das, was sie sein sollte" - und so fort. ERZÄHLER Jack London stirbt, bedingt durch eine jahrzehntelange Alkoholabhängigkeit und diverse andere Krankheiten, am 22. November 1916. Er ist nur vierzig Jahre alt geworden. Zu diesem Zeitpunkt ist von ihm, außer WENN DIE NATUR RUFT und WOLFSBLUT, kein weiteres Buch in deutscher Übersetzung erschienen. Ändern wird sich dies erst gut sechs Jahre später - und zwar durch Erwin Magnus. MUSIK ZITATOR Berlin, den 12. Mai 1923. Zwischen dem Gyldendalschen Verlag, Berlin, und Herrn Erwin Magnus, Berlin-Wilmersdorf, wird folgende Vereinbarung getroffen: Paragraph eins - Herr Magnus wird vom Gyldendalschen Verlag als ausschließlicher Übersetzer der Werke Jack Londons verpflichtet. 15. O-TON: PETER FRIEDRICH Was die Jack-London-Übersetzungen betrifft, hatte Erwin Magnus einen Verlagsvertrag und einen Vertrag mit der Witwe von Jack London, von dem man heute eigentlich als Übersetzer nur träumen kann. ERZÄHLER Beide Verträge, die Peter Friedrich erwähnt, hat er im Nachlass des Übersetzers in Dänemark entdeckt. 16. O-TON: PETER FRIEDRICH Also, er hatte die Exklusivrechte an der Übersetzung von Jack London. Und er hatte einen Tantiemen-Anteil am Brutto-Verkauf von den Jack-London-Büchern in Höhe von über 3,5 Prozent. Das ist also bei einem deutschen Verlag heute für einen Übersetzer undenkbar. Man bekommt eher 0,8 Prozent, und wenn dann 50.000 Stück verkauft werden, dann sinkt der Tantiemen-Satz, er steigt nicht etwa. Insofern war das ein unglaublich guter Vertrag, den Erwin Magnus damals abgeschlossen hat. ERZÄHLER Erwin Magnus wird sich ab Mitte 1923 daranmachen, fast das gesamte Werk Jack Londons ins Deutsche zu übertragen. Die Grundlage dafür bildet ein Vertrag, den Magnus mit Jack Londons Witwe abgeschlossen hat. Dieser räumt ihm die exklusiven Übersetzungsrechte des Autors in die deutsche Sprache ein. Das Vorhaben entwickelt sich für Erwin Magnus zu einem gewaltigen kreativen Kraftakt. Denn in Paragraph drei seines Vertrages mit dem Verlag heißt es: MUSIK ZITATOR Herr Magnus ist verpflichtet, jedes Jahr mindestens die Übersetzung von zwei abgeschlossenen Werken Jack Londons einzureichen. Die Reihenfolge der zur Veröffentlichung bestimmten Übersetzungen setzt der Verlag fest. Sollte Herr Magnus durch höhere Gewalt an der rechtzeitigen Einreichung der Manuskripte verhindert sein, so steht es dem Verlag frei, für die Übersetzung der fälligen Produktion einen anderen Übersetzer zu wählen. ERZÄHLER Die Erwin-Magnus-Übersetzungen erscheinen im Berliner Universitas Verlag - einem Ableger des dänischen Verlagshauses Gyldendal, mit dem Magnus im Mai 1923 seinen ursprünglichen Vertrag abgeschlossen hat. Von dem vorgeschriebenen Arbeitspensum offenbar unbeeindruckt, macht sich Erwin Magnus umgehend ans Werk und bedient sich dafür modernster Bürotechnik. 17. O-TON: PETER FRIEDRICH Um das in dieser kurzen Zeit zu schaffen, hat er sich einer Technik bedient, die für Übersetzungen damals bahnbrechend war. Er hatte eines der ersten Drahtspulen- Tonaufzeichnungsgeräte, auf die er seine Übersetzungen diktiert hat, und später hat es eine Sekretärin für ihn abgetippt. Also, es war voll professionell durchorganisiert - entspricht etwa dem, wenn man heute als Übersetzer mit einem Spracherkennungs- Programm arbeitet. Er hat sich der damaligen HighTech bedient, um diese Übersetzungen in der nötigen Zeit zu schaffen. ERZÄHLER Ab 1927 steigt das Pensum der Jack-London-Übersetzungen deutlich an. Erwin Magnus verpflichtet sich nun vertraglich dazu, sechs - anstatt, wie ursprünglich vereinbart, zwei - Jack-London-Bände pro Jahr zu übersetzen. Denn das Interesse an den Büchern des US-amerikanischen Autors ist gut zehn Jahre nach dessen Tod rasant angestiegen - als hätten die deutschen Leser auf Jack Londons spannende Alaska- und Südsee-Abenteuer geradezu sehnsüchtig gewartet. Dabei hatte Erwin Magnus noch ein paar Jahre zuvor bei vielen deutschen Verlagen vergeblich die Klinken geputzt, um diesen seine Übersetzungen anzudienen. So wird er sich später erinnern: MUSIK ZITATOR Ich hatte Jack London gewissermaßen für Deutschland entdeckt, wenn auch zwei seiner Bücher schon vorher erschienen waren, die damals aber kaum Beachtung fanden. Es war in der Inflationszeit, und ich lief von einem Verlag zum andern. Aber entweder hatten die Leute kein Geld oder sie meinten: "Wenn einer Jack London heißt, kann es nur Kitsch sein." Oder sie wollten, wie Ullstein, drei oder vier Bücher erwerben, ohne sich für die übrigen zu interessieren. ERZÄHLER Mit Ausnahme von WENN DIE NATUR RUFT und WOLFSBLUT, die bereits von Lisa Löns beziehungsweise Marie Laue übersetzt worden waren, werden die Erwin- Magnus-Übersetzungen für die deutschen Jack-London-Ausgaben stilbildend. Der dtv-Übersetzer Lutz Wolf: 18. O-TON: LUTZ WOLF Ich muss sagen, dass seine Übersetzungen sehr solide und dauerhaft sind. Erwin Magnus war ein sehr freier, ein sehr selbstständiger Geist. Er fühlte sich dem Jack London, glaube ich, durchaus ebenbürtig. Der war ja damals auch noch kein Klassiker. Und dementsprechend hat er dann eben den Text so zu gestalten versucht, dass er hier angenehm lesbar war. Und dann hat er eben mal einen Absatz ein bisschen zusammengezogen, hat auch mal ein paar Sätze weggelassen, die ihm lästig erschienen. Das ist in gewisser Hinsicht auch nachvollziehbar, aber würde man heute natürlich nicht mehr machen, weil Jack London heute natürlich als Klassiker - möchte man wirklich das, was er geschrieben hat, auch lesen. ERZÄHLER Das Geld, das Erwin Magnus mit seinen Jack-London-Übersetzungen verdient, ermöglicht ihm einen luxuriösen Lebensstil mit eleganter Wohnung im Berliner Dichterviertel Friedenau sowie mit schnittigem Wagen. 19. O-TON: PETER FRIEDRICH Soviel ich weiß, waren die Jack-London-Übersetzungen damals in Deutschland die bestverkauften ausländischen Bücher überhaupt. Erwin Magnus hat dort ein ziemlich großes Haus geführt. Ich habe die Gästebücher gesehen, und das ist ein Who Is Who der damaligen Größen in Berlin, von Asta Nielsen über Gustaf Gründgens. Also, jeder war bei Erwin Magnus zu Besuch, und diese Jack-London-Übersetzungen haben ihn wirklich reich gemacht, würde ich sagen. ERZÄHLER Als die Nationalsozialisten im Januar 1933 an die Macht kommen, ist das ausschweifende Leben für Erwin Magnus beendet. Als Jude erhält der Übersetzer Berufsverbot und flieht nach Skandinavien. Ende März 1947 stirbt Erwin Magnus, inzwischen völlig verarmt, in Kopenhagen. Seine Jack-London-Übersetzungen immerhin bleiben bis ins 21. Jahrhundert hinein lieferbar - herausgebracht unter anderem als Lizenzausgaben so renommierter Verlage wie Diogenes, Random House oder dtv. Dass Lutz Wolf 2013 damit begonnen hat, Klassiker wie DER SEEWOLF oder LOCKRUF DES GOLDES für dtv nach und nach noch einmal aufs Neue ins Deutsche zu übertragen, hat folgenden Grund: 20. O-TON: LUTZ WOLF Letztlich geht es oft, dem Text wieder näher zu kommen sozusagen. Also, das ist dann wie bei einem Gemälde, was halt durch die Verehrung in den Kirchen und vom Kerzenrauch her geschwärzt ist, das muss halt irgendwann mal abgewaschen und gewischt werden. Und dann sagt man plötzlich: Meine Güte, das waren ja ganz leuchtende Farben. Das war ja gar nicht so düster und feierlich, wie wir's in Erinnerung hatten. Also, das ist, was man bei einer Neuübersetzung macht. ERZÄHLER Peter Friedrich, der selbst als Übersetzer englischsprachiger Bücher arbeitet, nötigt das, was Erwin Magnus einst geleistet hat, nach wie vor allerhöchsten Respekt ab. 21. O-TON: PETER FRIEDRICH Also, um einen Vergleich zu geben: Ich übersetze heute sehr viel - und mit modernster Technik, Spracherkennungs-Technologie, Computer natürlich, wo die Überarbeitung wesentlich einfacher ist. Und ich schaffe maximal sechs Romane im Jahr. Und das ist schon sehr viel. Also, ich denke, die meisten Übersetzer machen vielleicht vier oder weniger. Insofern ist das, was Erwin Magnus damals, in den zwanziger Jahren, gemacht hat, eine sehr große Leistung gewesen. 1