KULTUR UND GESELLSCHAFT Reihe : Literatur Titel : 23. Open Mike 2015. Wettbewerb junger deutschsprachiger Literatur in der Literaturwerkstatt Berlin AutorIn : Irene Binal Redakteurin : Dr. Jörg Plath Sendetermin : 15.11.2015 Regie : Roswitha Graf Besetzung : Autorin Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Jede Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in den §§ 45 bis 63 Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig (c) Deutschlandradio Deutschlandradio Kultur Funkhaus Berlin Hans-Rosenthal-Platz 10825 Berlin Telefon (030) 8503-0 MUSIK 1: "Black Baby" Interpret: Kruder & Dorfmeister Komponist: Richard Dorfmeister & Peter Kruder Label: SBC, LC-Nr. 10879 OT 01 Ziegler Ja, das ist schön, wir sind am Ziel. MUSIK 1 kurz hoch OT 02 Schmidt Aus Sicht der Lektoren ist der OM eine jährlich wiederkehrende Sensation, ob man in der Vorjury ist oder nicht. MUSIK 1 kurz hoch OT 03 Mora Mora: Ich nenne jetzt sechs Namen, unter denen sich dann die drei Preisträger befinden werden, auch damit zu zeigen wie absolut schwer wir uns getan haben, und ich stehe hier ein bisschen zitternd, weil es halt ist wie es ist. MUSIK 1 kurz hoch, unter TEXT stehenlassen, fade out Preisverleihung beim Open Mike 2015 am vergangenen Sonntag im Heimathafen Neukölln in Berlin. Vier Preise werden vergeben, vier Stimmen gekürt von 20, die Prosa und Lyrik gelesen haben. Vier junge Leute haben die Jury überzeugt, mit ihren Texten, ihren Ideen, ihrem Mut. Da trifft etwa kein Geringerer als H. C. Artmann bei einer Zeitreise auf den Serienmörder Fritz Haarmann: OT 04 Lesung Philip Krömer 1, 28 sec. Ho. Hoho. Dem Artmann entweicht ein Kichern, wie dem Trauerredner ein abgehender Wind: sehr unpassend. Blutbeschmierten Mundes schreckt der Haarmann von seinem unheiligen Tun auf und faucht (in bester Monsterfilmmanier): "Wer da?" Mit Karloff hätte man das nicht besser einrichten können: der Flackerschein der einzelnen Kerze, all das Rot, das offene Fleisch und darüber gebeugt der Täter, ertappt, enttarnt, gewarnt, dass seiner polizeilichen Nachstellungen harren. Ein andermal geht es um Natur- und Jahreszeitenlyrik: OT 05 Lesung Andra Schwarz 1, 21 sec. Ich komme aus den wäldern so wie du vor mir die niederung: das moorland aus weichem moos & dichtem bewuchs nie zu erreichen, weil es so tief geht außer im winter frisst sich frost in die lungen legt sich der schnee und vergisst wer du warst Oder um zwei Menschen, die durch die Welt reisen und eine Kluft zwischen sich spüren: OT 06 Lesung Theresia Töglhofer 1, 20 sec. Die Vergangenheit war nie unsere Form, war höchstens auf Facebook, sonnengebräunt, für unsere guten Freunde einsehbar. Wir waren so gegenwärtig, dass es keine Zeit gab für die Erinnerung, und keine Notwendigkeit. Bringt doch nichts, zu vermissen, was nicht mehr, was nicht da ist, die Großeltern, und die Freunde auf anderen Kontinenten, besser besuchen, wenn es günstige Flugtickets gibt. Und es geht um die Schwierigkeiten einer Schwangeren, um die Angst vor dem Muttersein: OT 07 Lesung Jessica Lind 1, 26 sec. Da ist Ada und dort ist noch mehr Ada. Ada hört gar nicht mehr auf. In Ada drinnen, da ist noch etwas anderes, das auch irgendwie Ada ist, aber auch ein bisschen Theo, der Ada, und das weiß Ada, ohne dass sie darüber geredet hätten, um diese Nähe, diese Verbindung beneidet und deswegen diese Nähe von außen sucht. Aber es ist zu viel, manchmal, die Nähe von innen und von außen auch, gleichzeitig, gerade jetzt. MUSIK 1 einblenden in OT 08 Atmo draußen Aber beginnen wir am Anfang: Am Samstag ist noch alles offen. 20 hoffnungsvolle Nachwuchsautoren treten diesmal an, 20 neue Stimmen in der literarischen Welt. Vor der Startplatzauslosung sind die Kandidaten nervös, die meisten wären gern schon am ersten Tag an der Reihe: OT 09 Startplatzwünsche, (Sachse) Nicht der erste, aber relativ am Anfang. (Lewkowicz) Ich hätte gern einen der ersten, weil ich dann durch wäre und frei hätte. (Wilpert) Also auf jeden Fall heute, aber nicht im ersten Block. (Klambauer) Ich könnte auch anfangen, glaube ich, dann hätte ich es hinter mir. Dann wäre die Party heute Abend auch eher anpeilbar. (von der Beek) Wann ich dran bin ist mir eigentlich mittlerweile relativ egal, ich glaube, jeder Termin hat so seinen Vorteil und ich werde dann ihn schätzen lernen, aber wenn man an die Party denkt, wäre es schon schön, wenn ich heute drankomme. Auch für ihre Lektoren wird es jetzt spannend. Sie sind oft in einem Verlag angestellt, sie haben die Texte für das Finale ausgewählt und stehen bereit, um ihre Autoren zu loben, zu tadeln oder ihnen auch mal die Seele zu streicheln. Doris Plöschberger, Lektorin beim Suhrkamp- Verlag, schickt drei Jungautoren ins Rennen: OT 10 Plöschberger Ich bin jetzt so in einer ganz angeregten Stimmung und sehe dem Ganzen jetzt mit großen Erwartungen entgegen und mit Spannung, und dann wird man am Sonntagnachmittag bilanzieren und wird sehen, wie sich die drei in dem Fall und die anderen eben auch geschlagen haben. Sandra Heinrici von Kiepenheuer & Witsch ist nicht so locker, wie sie erwartet hätte: OT 11 Heinrici Ich muss gestehen, ich bin ein bisschen aufgeregter, als ich gedacht hätte, weil man dann ja doch mitfiebert mit den Kandidaten. Also ich hätte eigentlich gedacht, dass ich ein bisschen gelassener bin, aber bin ich gar nicht. Noch kennen die jungen Autoren und ihre Lektoren sich nicht persönlich. Tatjana von der Beek und Margarita Iov hatten mit Doris Plöschberger nur Kontakt per E-Mail oder Telefon: OT 12 van der Beek Wir haben uns noch nicht gesehen, das findet dann glaube ich heute statt, aber wir haben vorab einmal telefoniert, um noch kleine Rückmeldungen zu dem Text zu geben und einige Korrekturen hat sie mir empfohlen, das war eigentlich der Kontakt bisher. Es ist auf jeden Fall eine sehr interessante Person und ich freue mich darauf, sie kennenzulernen. OT 13 Iov Lob Ich fand sie am Telefon total angenehm, sachlich, und sie war sofort total im Text und das war - also fand ich sehr gut. Musik 1 kurz hoch Dann geht es los mit der Verteilung der Startplätze. Wie immer entscheidet das Los und Thomas Wohlfahrt, der Leiter der Literaturwerkstatt Berlin, gibt die Glücksfee: OT 14 Auslosung, ca. 30 bis 40 sec., evtl. mehr Also los geht's: Tatjana von der Beek. Plöschberger die Lektorin. Aufmachen, uns zeigen, dem Fotografen zeigen (nestelt am Umschlag) - Sieben. Anja Braunwieser aus Wien... (nesteln) - ... Und dann treffen die jungen Literaten erstmals ihre Lektoren. Die meisten jedenfalls - denn ein Lektor fehlt: Andreas Rötzer vom Verlag Matthes & Seitz Berlin ist nicht erschienen und seine Kandidatin Hilde Drexler macht sich Sorgen: OT 15 Hilde Drexler macht sich Sorgen, 15 sec. Ich hoffe, dem guten Mann ist nichts passiert, also ich habe eher Sorge, dass der - weiß nicht, dass da ein Unfall war oder sonst, also ich hoffe, dem geht's gut... Ich hoffe, dass ich trotzdem noch zum Gespräch komme mit ihm, auch wenn er jetzt nicht da ist, und ich hoffe, es löst sich auf und es ist alles gut mit ihm, er ist einfach nur zu spät oder verschlafen oder was auch immer. Vorerst versammeln sich Andreas Rötzers Kandidaten um die freie Lektorin Christiane Schmidt, die sich mit ihnen vertraut macht, um sie notfalls auf der Bühne vorstellen zu können: OT 16 Christiane Schmidt Vorbereitung, ca. 1 min 12 Schmidt: ...Jetzt haben wir vorhin überlegt, dass wir das vielleicht auffangen, ich vermute ein bisschen, dass er das Kleingedruckte nicht gelesen hat und einfach um 14 Uhr hier ist und Sie einführt. Aber das kann ich nicht sicher wissen, insofern gucke ich mal schnell in Ihre... 83 in Wien, fünf Schwestern, das ist ja klasse. Und in welcher Reihenfolge sind Sie? - Hilde: Ich bin sozusagen in der Mitte, ich habe eine ältere Schwester, eine Zwillingsschwester und zwei jüngere Schwestern. - Schmidt: Ah ja. Meine Güte, ein Frauenhaus... Voller Bücher, und auch noch ganz viele Bücher, nicht nur Schwestern, sondern auch noch Bücher... (weiter unter Text stehenlassen) Kiepenheuer & Witsch-Lektorin Sandra Heinrici gibt ihren Schützlingen hilfreiche Tipps für den Auftritt - und warnt davor, die vorgegebene Lesezeit von 15 Minuten zu überschreiten: OT 17 ...Also nur bloß nicht da drüber lesen, es gab mal eine Situation, da wurde das für alle Beteiligten so ein bisschen unangenehm, als doch immer weitergelesen wurde, trotz Weckerklingeln, das war dann irgendwann unfreiwillig komisch. Und ansonsten einfach genießen und auch Spaß haben ... (unter Text stehenlassen) Lyriklektor Reto Ziegler von der edition korrespondenzen erklärt seinen Kandidaten, wie man es auf keinen Fall machen sollte: OT 18 Reto Ziegler ...und da hat einer der Lyrik-Teilnehmer hat dann während eines Gedichts Gummihandschuhe ausgepackt und angezogen und das hat aber nicht ganz funktioniert so wie er das wollte glaube ich, es ging relativ mühsam und es ist bei der Jury extrem schlecht angekommen, also auf die Sprache konzentrieren, würde ich empfehlen... MUSIK 2: Mango Interpret+Komponist: Sascha Funke Label: SME Media, LC-Nr. 02604 OT 19a Atmo drinnen unter Text stehenlassen Mittlerweile ist der Saal gefüllt und die Juroren sind auf ihren Plätzen. Es ist eine hochkarätig besetzte Autorenjury: Klaus Merz, Terézia Mora und Jan Brandt. Während Mora guter Dinge ist, macht sich Brandt über seine Verantwortung als Juror Gedanken: OT 20 Jan Brandt Das ist eine schwierige Situation, finde ich, sich als Kollege gewissermaßen anzumaßen, die Texte von anderen - ja, zu beurteilen; ich - das kann ich schon, aber natürlich ist es auch eine Machtposition, in der man sitzt, und das ist glaube ich etwas, was problematisch ist, für mich und wo ich noch nicht so genau weiß, wie das sein wird, wenn es jetzt losgeht. OT 21 Terezia Mora Ich zweifle nicht daran, dass ich eine gute Entscheidung treffen kann, was einfach damit zusammenhängt, dass ich in der Lage bin, Texte zu lesen oder einen Text zu sehen und auch schnell zu sehen ob der was taugt, und ich kann das auch immer begründen, schlimm wäre es natürlich, wenn zehn sehr sehr gute sind, denn dann komme ich in die Bredouille oder wenn alle sehr sehr schlecht sind, weil was willst du dann machen? Aber das ist auch nicht sehr wahrscheinlich. Auch Andreas Rötzer ist endlich da - die Bahn war schuld an seinem Zuspätkommen: OT 22 Rötzer Ich war in Darmstadt bei der Preisverleihung an Esther Kinsky, der Kranichsteiner Literaturpreis ging an Esther Kinsky und da war ich gestern Abend. Und der Zug hatte Verspätung. Rötzers Kandidatin, die Österreicherin Hilde Drexler, ist gleich als erste an der Reihe. Eigentlich ist Drexler Leistungssportlerin, Judo macht sie, hat ihr Land 2012 sogar bei den Olympischen Spielen vertreten. Nun wagt sie sich auf ein ganz anderes Terrain: OT 23 Hilde Drexler Also ich bin schon nervös, aber ich glaube, das liegt an sich daran, dass ich da gleich auf eine Bühne trete und da lese, andererseits, ich finde es eigentlich nicht so schlecht, erstens weiß ich noch nicht, was ich alles falsch machen kann, und dann hat man es hinter sich und kann das Ganze genießen, also kann die anderen Teilnehmer verfolgen. Mein Problem ist, ich habe die Neigung, wenn ich nervös bin, zu gähnen, ich hoffe, das passiert mir nicht bei meinem eigenen Text... Nein, sie muss nicht gähnen - vielmehr sorgt sie für einen fulminanten Auftakt des Wettbewerbs, mit einem humorvollen Text, in dem es um die Schwierigkeiten geht, einen literarischen Text zu schreiben: OT 24 Lesung Hilde Drexler, 38 sec. Wenn das mal nicht komisch wirkt ... ach, viel zu schwülstig, viel zu schwülstig. Wortbombast, so wird man nicht Literatur, so wird man bestimmt nicht Literatur, viel zu pathetisch, das ist nicht in, Kitsch, wird es heißen und: Stabreimobsession, hmm, besser wäre so vergeistigtes Gefasel: in ihrem Kopf mäanderten die Gedanken oder so was ... viel zu harmlos alles ... ach schlecht, alles schlecht! Ort unbestimmt und Zeit unbestimmt und ganz auf Märchen, keine politische Aktualität, kein moralischer Zeigefinger, keine Körperflüssigkeiten, also keine Literatur, KEI-NE LI-TE-RA-TUR, Fantasy, Etikett: Fantasy ... keine Literatur, tz, ganz ohne Drachen ... oder noch schlimmer: gar keine Schublade und nicht zu veröffentlichen, ach, verdammt! Ein Text, der Lektor Andreas Rötzer überzeugt hat: OT 25 Rötzer Der Text hatte dadurch eine Stärke, dass er sich eben nicht ausruhte auf der guten Formulierung, sondern immer wieder sozusagen innehielt, immer wieder das Neue suchte und diesen literarischen Suchweg transparent machte. Das ist kein ganz neues Verfahren, aber das ist irgendwie total frisch und mutig von ihr in Szene gesetzt worden. Und auch den Mut zu haben, das Wohlformulierte nicht vorzuführen, sondern immer wieder sich zu unterbrechen und neu zu überlegen, und das hat diesen Text eben für mich zu einem reflexiven, interessanten Stück Literatur gemacht. Und ein Text, der ankommt, beim Publikum wie auch bei ausgewiesenen Literaturkennern. Bei Frauke Meyer-Gosau etwa, einer ehemaligen Literaturkritikerin, die seit zwei Jahren als Lektorin beim C. H. Beck- Verlag tätig ist: OT 26 Meyer-Gosau Der hat mir gefallen in seiner Selbstreflexion, in seiner Selbstironie, in seinem wirklich lustigen Spiel mit Erwartungen an gegenwärtige Literatur, ich fand das sehr souverän, fabelhaft vorgetragen auch, ganz schön! Der Lohn der Mühe lässt nicht lang auf sich warten: Im Lauf des Tages kommen mehrere Agenten auf Hilde Drexler zu, auch Verlage zeigen sich interessiert und eine Literaturzeitschrift will Drexlers Text veröffentlichen. Drexler, die bislang kaum Erfahrungen mit der Literaturszene hat, ist ganz begeistert: OT 27 Hilde Drexler Sehr schön, sehr schmeichelhaft, sehr überwältigend, ich glaube, ich habe keinen geraden Satz mehr herausgebracht, weil das alles einfach so auf mich eindringt irgendwie, das ist ganz neu halt, ja, mal sehen, mal sehen was das bringt... Musik 2 kurz hoch Nach diesem Beginn ist es nicht ganz einfach, das Niveau zu halten - auch wenn sich die jungen Autoren redlich Mühe geben. Felix Kracke etwa, der Kunsttheorie und Theaterregie studiert. Lektorin Sandra Heinrici hat seinen Text mit dem Titel "Bist'n good boy, Matze" ausgesucht: OT 28 Sandra Heinrici Den finde ich klasse, weil der Witz und Rhythmus und Drive hat und alte Mythen und neue Erzählangebote auf ganz verrückte Weise kombiniert, und man sich am Ende die ganze Zeit fragt, aber welche Erzählung stimmt denn jetzt. OT 29 Lesung Felix Kracke, 40 sec. Wir sagen, wie es ist und bleibt, denn was nützt hier noch Fiktion. Du warst'n good boy, Matze, doch du warst es nicht für jeden, wir sprechen straight jetzt auf geschrubbtem Deck. Die Sonne steht hoch und brennt tief in Holz und Boys. Kennt wie immer kein Pardon, wie du, wenn die Drähte glühten und der Pegel stieg, wenn du kein Ende kanntest und kein Ziel, wenn man deinen Namen rief, als die Böen kamen, wenn es schwer zuging auf wilder See, wenn man Matze rief und kein Echo kam, wenn man Matze rief und es egal war, wer wie heißt und welcher Name wessen ist - wenn es stürmt und peitscht, wenn es heißt: HAU RUCK und LEINEN LOS, wenn der Kompass wirr und die Sinne stumpf sind, da sind die alle gleich, sind vom gleichen Stamm, sind sie nautisch Verwandte, Familientreff auf hoher See. Auf Felix Kracke folgt Tatjana von der Beek, die in Hildesheim literarisches Schreiben studiert, mit einem Text, den Lektorin Doris Plöschberger entdeckt hat, einer Erzählung über Familienmythen und den Sprengstoff, der sich hinter der heilen Fassade verbergen kann: OT 30 Plöschberger Für dieses an und für sich klassische Motiv hat Tatjana von der Beek ein sehr schönes Bild gefunden, das der Erzählung auch den Titel gibt, "Sternenkinder", denn es geht darum, dass die Kinder in dieser Familie sehr oft die Namen von Sternen bekommen, die gewissermaßen über die individuelle Existenz hinaus weiterexistieren und als Stern ja selbst dann noch existieren, wenn sie eigentlich schon nicht mehr leuchten, weil das Licht bekanntlich eine Zeitlang braucht um hier bei uns einzutreffen. OT 31 Lesung Tatjana von der Beek, 46 sec. Sonntags, wenn wir vom Tisch aufgestanden waren und es noch nicht Zeit für den Nachtisch war, versammelten wir uns um Großmutter, die ganz und gar nach Braten roch und uns von der alten Kneipe erzählte. Sie erzählte uns von den Tagen, an denen Großvater und sie den Sternenhimmel unter die Decke der Kneipe gemalt hatten, millimetergenau, und immer wieder hatte Großvater dabei vom Sternehimmel in Texas erzählt, der so klar und hell war wie nirgends sonst; als sie zwischen Umzugskartons ein großes Abschiedsfest für Tante Mira gaben; wie sie den Kneipennamen Zum Dreigestirn mit ihrer Verlobung besiegelt hatten. Und manchmal weinte sie, wenn sie von Tante Mira, Sarin, Leonis, Navi und den anderen sprach, von den Abschieden und den Festen, dann wuschen wir zum Trost ihre Tränen und das Geschirr ab. Es sind ordentliche, solide Texte, die hier vorgetragen werden - aber auch Texte, die nicht für große Begeisterung sorgen. Etwas verhalten bleiben die Reaktionen, vom Glanz vergangener Jahre ist wenig zu spüren. Immerhin ein Beitrag polarisiert und wird in der Pause im Foyer kontrovers diskutiert - nämlich der Text des Weltenbummlers Dominique Klevinghaus mit dem Titel: "Die Villa am Meer". Eine phantastische Erzählung in einer kunstvollen, manchmal fast altertümlichen Sprache, in der es um die Begegnung des Erzählers mit einem König des Meeres geht: OT 32 Lesung Dominique Klevinghaus, 47 sec. Wir ließen uns nieder, und von der Seite betrachtete ich ihn. Er starrte ins tanzende Flackern, rötlich glühten seine nassen Wangen. Seine Züge waren gleichmäßig, sauber und glatt. Perlen von Wasser hingen noch an seinem Kinn. Langsam schob er die Hände hervor und streckte seine schwarzen Finger aus über der Flamme, dass die Handflächen gelb leuchteten und die Handrücken matt schienen vom fernen Himmelsblau. "Woher kommst du wirklich? Es gibt gar nicht mehr viele Könige auf der Erde." "Ich entstamme einem anderen Raum. Ich bin zu Hause, da zwischen den Wesen, die schwerelos kreuzen die Gefilde der ewigen Nacht. Ich wollte einmal an Land und das Feuer sehen, denn mir ist es fremd und schaurig zugleich, eine große Ausnahme, eine Freude. Bei uns ist nur immer Düsternis und alles ist nass." Manche mögen gerade die eigenwillige Sprache und die phantastischen Elemente, andere halten Klevinghaus' Text für einen literarischen Ausrutscher - aber das will niemand offen sagen, solang ein Mikrophon in Sichtweite ist. Klevinghaus' Lektor Andreas Rötzer ist von den kontroversen Reaktionen nicht überrascht. OT 33 Rötzer Das hatte ich mir bei der Auswahl schon gedacht, weil er sozusagen das Wohlformulierte sucht, sozusagen dann ein Märchenmotiv, also etwas sozusagen Unzeitgemäßes versucht, also sowohl in der Form der Sprache, als auch in der Form des Motivs, des Erzählplots. Und auch daher finde ich war er herausstechend und interessant. Und das ist ein interessanter Umgang mit Sprache, und eben einer, der nicht gewöhnlich ist. Dominique Klevinghaus selbst fühlt sich wohl in der Rolle des Provokateurs: OT 34 Klevinghaus Super, oder? Kann ich gut mit leben, weil, man will ja auch Feedback haben, was das angeht, also wenn jetzt alle sagen würden, super, total gut, das bringt einem ja nix, oder? Und was ist mit der Lyrik? Das Losglück hat dafür gesorgt, dass sie erst am zweiten Tag des Open Mike, am Sonntag so richtig zum Zug kommt. Nur Germanistikstudent Eckhart G. Waldstein hat bereits am Samstag seinen großen Auftritt mit einer Textcollage, deren Titel einigermaßen verschnörkelt ist: OT 35 Waldstein Gedichttitel, 09 sec. "Wunschfee-à-la-Hashtagwunder im Unfassbar-Reich & brrr - es zittert mich, sprach Zarathustra" (Leim auf Wand in 15 Minuten) Was sich dahinter verbirgt, klingt dann so: OT 36 Eckhart G. Waldstein Lesung, 26 sec. Generation "#nextlevel" ritzt sich das Lebensgefühl von Jahrhunderten in die abtätowierten Unterarme. wir verlieren unsere Unschuld in cyberspezialen Sümpfen ohne Grund, die wir nicht kontrollieren können & wollen - und doch wichsen wir verkrüppelte Kulturpflanzen uns den Frust auf Pornoseiten von der Seele während Vater nackte Frauen in arte-Filmen feiert, als wäre Mutter nur ein Flüchtigkeitsfehler. Nach diesem Parforceritt durchs Wortgestrüpp ist der Autor froh, dass er ohne größere Patzer durchgekommen ist: OT 37 Waldstein Ja, also als ich von der Bühne gekommen bin, muss ich ehrlich sagen, da ist mir einfach ein ganz großer Stein vom Herzen gefallen, und das eine oder andere Mal ist eine Betonung vielleicht nicht ganz so gelaufen wie ich sie mir erwünscht hätte, aber das waren alles Kleinigkeiten und wenn man erstmal irgendwie in diesem ganzen Lichtkontext gefangen ist, und dann sich in seinem eigenen Text verlieren kann, verlieren darf, dann läuft es auch und das fand ich eigentlich sehr schön. OT 38 Atmo Auch der berühmte Wecker kommt zum Einsatz - so ganz klappt es nicht immer mit der Textlänge. Der Österreicher Paul Klambauer muss seinen Text "Trou de Loup" ein paar Sätze früher beenden: OT 39 Lesung Paul Klambauer mit Wecker, 22 sec. Jafar schluckt das Zeug nicht, er trinkt es. Der dabei entstehende Überschallknall in Gaumen und Kehle wird von Kennern später als transzendentes Erlebnis beschrieben werden. Sein spitzer Adamsapfel hüpft fünfmal, sechsmal auf und ab. Der sensorische Speicherüberlauf verschafft ihm kurzfristig die Vision eines rostigen Wasserrades, das sich kreischend in einem Sturzbach dreht. Das abrupte Ende hat dem Text nicht geschadet, findet Klambauers Lektor Andreas Rötzer: OT 40 Rötzer Der Wecker kam ja gerade zur rechten Zeit, der läutete den Schlusssatz ein sozusagen. Und auch Philip Krömer, der bereits eine eigene Literaturzeitschrift herausgibt, kann seine Fantasie über das Treffen von H. C. Artmann und Serienmörder Fritz Haarmann nicht ganz wunschgemäß zu Ende bringen - trotz aufmunternder Worte seiner Lektorin Doris Plöschberger vor seinem Auftritt: OT 41 Plöschberger und Krömer Die haben Sie ja gar nicht nötig, die Instruktionen, Sie haben den Plan und... - Den Text vor allem! - Und Sie haben einen schönen Text und das ziehen Sie jetzt durch und dann haben wir einen schönen Abschluss heute auf jeden Fall. OT 42 Lesung Philip Krömer mit Wecker, 30 sec. Jetzt aber flugs zurück auf den Rasen, der Timetraveller hat auch längst gespült, reibt sich eben die Hände am Handruch trocken und steigt die Treppe hinab. "Enjoy your ride", schmunzelt er beim Anblick des etwas zerzausten Artmanns, der dort neben der Zeitmaschine auf dem Rasen steht. "You bet", entgegnet dieser, wüscht Bon Voyage und gut Glück (weil er den Wells natürlich gelesen hat, weiß er, was kommt und dass der Mensch Glück am allernötigsten haben wird) und mit einem Puffen ist der Zeitreisende samt Maschine in eine Zeitfalte gerutscht und entschwunden. Ein Schluss, der passt, finden Philip Krömer und Doris Plöschberger - es fällt gar nicht auf, dass noch ein paar Sätze gefehlt haben: OT 43 Krömer und Plöschberger (Krömer) Es hat wunderbar geklingelt, es hat genau da geklingelt, wo man perfekt hätte aufhören können, alles andere konnten die Leute ja dann nachlesen in der Anthologie. - (Plöschberger) Ja, Gott, der Wecker, der Wecker klingelt halt nach 15 Minuten, das hat Philip Krömer ja auch gewusst und wie er schon sagte, er hat an der rechten Stelle geklingelt und Philip Krömer konnte dann den zweitbesten Schluss finden. Also insofern: alles gut. OT 44 Atmo Saal Mit Philip Krömer ist der erste Tag zu Ende gegangen. Ein durchwachsener Tag, mit dem nicht alle ganz zufrieden sind. C. H. Beck- Lektorin Frauke Meyer-Gosau stellt fest: OT 45 Meyer-Gosau ...dass man bei manchen Sachen denkt: wow, das ist ja wirklich toll und selbstironisch, und bei anderen denkt: du lieber Gott, ist seit den 50er Jahren eigentlich gar keine Zeit vergangen? Und auch das Publikum ist gespalten: OT 46 Publikum (Frau) Ich fand es total interessant und spannend. Waren gute Sachen dabei. (Frau) Also bis jetzt finde ich es ein bisschen ermüdend, mir fehlt ein bisschen die Leidenschaft bei den Vortragenden... (Mann) Ich bin ein bisschen später gekommen, und fand es nicht so gut, ehrlich gesagt. (Frau) Ganz interessant, wie unterschiedlich auch die Einschätzungen der Texte sind, also wie subjektiv Literatur letztendlich ist, das glaube ich zeigt sich ganz schön in diesen zwei Tagen. ATMO am Ende etwas stehenlassen, in Musik einblenden MUSIK 3 Mi Confession Interpret: Gotan Project Komponist: Philippe Cohen Solal, Eduardo Makaroff, Christoph H. Mueller Label: Universal, LC-Nr. 00126 Für die fünf Lektoren des Open Mike hat die Arbeit schon viel früher begonnen, bereits im Sommer, als 600 Einsendungen gelesen und bewertet werden mussten. Mitte August landete eine große Kiste auf Doris Plöschbergers Schreibtisch. Rund 100 Texte fanden sich darin, anonymisiert und mit Nummern versehen. Plöschberger nahm sie sich der Reihe nach vor: OT 47 Plöschberger Die meisten sind, also sind von völlig unterschiedlicher Länge, da sind Texte von 10 Seiten dabei, dann auch kürzere, die sind nur drei Seiten lang, also ein bunter Strauß in einer bunten Kiste, und na ja, dann beginnt man eben mit der Lektüre. Also ab und zu hat man den Eindruck, das könnte vielleicht etwas sein, das könnte ein Text sein, den nimmt man mal in eine engere Auswahl, und bei einigen hat man dann eigentlich sehr schnell das Gefühl, oder nicht nur das Gefühl, sondern auch die durchaus begründete Einsicht, dass das wohl nichts werden wird. Eine Arbeit, die viel Zeit in Anspruch nahm. Langsam arbeitete sich Suhrkamp-Lektorin Doris Plöschberger durch den Stapel. OT 48 Plöschberger (blättert) Also in dem Text hier geht es um eine dieser Großstadt-Cluberfahrungen, ein Thema, das immer mal wieder auftaucht in diesen Texten und was hier auffällt, ist ganz offensichtlich der Gestaltungswunsch, hier so eine Art inneren Monolog abzubilden, ein Text, der also ganz stark aus einer Perspektive gearbeitet ist, so einer personalen Perspektive und ganz aus dem Bewusstsein heraus funktionieren soll und schon auf der ersten Seite merkt man, dass der Autor oder die Autorin dieses Textes dem eigenen Anspruch da nicht recht gerecht wird. Also die Absicht ist so ein Monolog, der das unmittelbare Erleben veranschaulicht und vergegenwärtigt und dann merkt man relativ rasch, dass sich dann immer auch so eine Erzählerstimme aus dem Off einmischt und die Situation erklärt und expliziert und Informationen vergibt, die so ein Bewusstsein im Moment des Erlebens nicht denken würde. Welche Kriterien legen die Lektoren ihrer Auswahl zugrunde? Was für Texte suchen sie, worum geht es der freien Lektorin Christiane Schmidt und Andreas Rötzer von Matthes & Seitz Berlin? OT 50 Schmidt Meistens entscheidet man sich für einen Text aus Qualitätsgründen, weil der das und das gemacht hat, was man noch nicht gehört, was man noch nicht gesehen hat oder ein Problem so und so gelöst hat und das hat einem gefallen. Ja? Also das sind kleine Gründe, warum man sich dafür entscheidet. OT 51 Rötzer Also vieles erschien mir wie Baukastenliteratur, also das ist alles richtig gemacht und sozusagen die Versatzstücke guter Literatur analytisch sozusagen rausgefiltert und erneut zusammengesetzt und ich habe nach Texten gesucht, die sozusagen einen originalen Zugang, so einen authentischen Zugang oder eine authentische Schreibweise mir vermittelt haben. Lyriklektor Reto Ziegler lässt sich erst mal vom Text treiben, beobachtet gespannt, was die Worte mit ihm machen, welche Emotionen sie auslösen: OT 53 Ziegler Wie entwickelt sich etwas, entsteht ein Bild entsteht eine ganze Welt, ist ein Kosmos da, öffnet sich was, und dann gibt es Texte, die man liest und es passiert fast nichts mit einem. Also es ist einfach mal diese Erfahrung, und dann schaut man natürlich dann genauer, wenn man denkt, oh, das ist aber interessant, was passiert, und dann sieht man plötzlich, ah, der arbeitet so und was macht er da, da kommt man mit dem Text quasi ins Gespräch, und bei den anderen funktioniert das meistens nicht, weil eben mit der Sprache noch nicht so gezielt gearbeitet wird. Ziegler hat in diesem Jahr nur fünf Kandidaten benannt, obwohl er sieben Startplätze hätte vergeben können. Eine Frage der Fairness, wie er erklärt: OT 54 Ziegler Dann gab es einen Stapel von etwa 10, die hatten spannende Ansätze, ganz tolle Momente in den Texten, und dann aber auch ganz arge Ausreißer und Abweicher, also wo man merkt, das ist noch nicht durchgearbeitet, also der Ton wird nicht durchgehalten, aber es ist etwas im Entstehen. Das sind Leute, mit denen ich gerne sprechen würde mal, und sagen: an dem weiterarbeiten und da mal aufpassen, was passiert, und aus dieser Gruppe konnte ich nicht zwei auswählen, weil es sofort ungerecht gewesen wäre den anderen acht gegenüber, die da nicht dabei gewesen wären, also die waren für mich wieder so eine homogene Gruppe, und das hat dieses Jahr bei mir dazu geführt, dass es fünf waren. Gibt es Trends? Wohin geht die junge deutsche Literatur? Christiane Schmidt, Doris Plöschberger und Sandra Heinrici haben ein paar Strömungen ausgemacht: OT 55 Schmidt Also was ich vielleicht auffällig fand, war, dass nicht mehr die Schreibschulen so im Vordergrund stehen wie die letzten Jahre. Also ich hatte auch mehr Texte, die sozusagen keinerlei formale Glättung erfahren hatten. Das fand ich ein bisschen auffällig. Und dann erwarte ich so ein bisschen und ich hatte das auch, aber es hat sich nicht als allgemeine Tendenz gezeigt, dass die Texte wieder etwas politischer werden. OT 56 Plöschberger Also es geht immer mal wieder um Dystopien, die Migrations-, Emigrations-, Immigrationsthematik spielt auch in diesen Texten immer mal wieder eine Rolle, überraschend viele Texte spielen im Umkreis von in Clubs verbrachten Nächten oder im Umkreis dieser Clubs; das heißt also, diese junge Literatur ist aus der vielzitierten WG-Küche mittlerweile raus und in gewissem Sinne urbaner geworden, weil sie unterwegs ist und weil sie durch diese Stadt streift; auffällig vielleicht auch, dass es nicht wenige Texte gibt, die auch so ein bisschen ins Märchenhaft-Phantastische, fast so ein bisschen ins Eskapistische abheben, das ist mir auch aufgefallen, also bunt wie die Schachtel hier, diese Regenbogenschachtel, ist auch thematisch der Strauß der Texte. OT 57 Heinrici Was ich doch auch häufiger hatte, waren schon politische Themen wie Krieg, wie Flüchtlingsproblematik, schon, sehr viele Trennungen, sehr, sehr viele Trennungen und interessanterweise eine Vorliebe für asiatische Bars. Und zwar sei es in Asien oder auch in einer deutschen Großstadt, das hat mich fasziniert, das ist etwas, was mir bislang noch nicht untergekommen ist, was ich näher beobachten werde. MUSIK 3 einblenden in OT 58 Atmo Im Heimathafen Neukölln beginnt der zweite Tag des Open Mike. Langsam trudeln die Finalisten ein. Einige sind entspannt. Hilde Drexler kann verständlicherweise nichts und niemand mehr die Laune verderben: OT 59 Hilde Drexler Ich bin ja so ein Neuling, also ich bin schon so dankbar, dass ich hier sein darf und das alles erfahren darf und dann eben jetzt Kontakte knüpfen, also das wäre ja mein erstes Ziel gewesen, dass ich da so hineinschnuppern kann und für ein Hineinschnuppern ist das eh schon sehr viel... Andere sind weniger gelassen. Der Berliner Lyriker Tobias Lewkowicz muss gleich als erster auf die Bühne. OT 60 Tobias Lewkowicz Es ist sehr unangenehm, heute der erste zu sein, ich habe zusätzlich auch noch Magenschmerzen, ein Grummeln im Bauch und ich habe sehr schlecht geschlafen. Dafür aber wenigstens viel. Also schlecht und viel. Macht's nicht besser. Der Tag beginnt anspruchsvoll, mit gleich drei Lyrikern nacheinander. Keine einfache Aufgabe, finden Tobias Lewkowicz und sein Lektor Reto Ziegler: OT 61 Tobias Lewkowicz Drei Lyriker hintereinander zu hören, ist natürlich ein Brett irgendwie, andererseits kann es doch ganz interessant werden, Problem natürlich für uns, dass man direkt im Vergleich mit den anderen ist, das heißt, nicht nur was ich sage, sondern auch wie ich es sage fließt dann natürlich ein und - ja, eigentlich scheut man ja oftmals so einen direkten Vergleich, ich zumindest. Daher macht das Ganze nicht einfacher, sondern verstärken sich noch die Bauchschmerzen, das Grummeln ein bisschen mehr. OT 62 Ziegler Dadurch, dass jetzt drei Lyriker nacheinander sind, wird natürlich klar, wo die Differenzen liegen, und es sind drei sehr verschiedene Stimmen, sodass quasi jede auch ihr Profil dann hat. Was natürlich etwas schade ist, wenn die Prosa dazwischen ist, sieht man auch den Kontrast zwischen: wie arbeitet die Lyrik, wie arbeiten mehr erzählende Texte, und das fällt dadurch jetzt in diesem Block weg, aber wir hatten das ja gestern, dass man diese Kontraste hatten, jetzt hat man heute diesen Vergleich, das ist ja ganz interessant für die Veranstaltung. Und so sind in rascher Folge drei ganz unterschiedliche lyrische Stimmen zu hören - Tobias Lewkowicz, dessen Gedichte schon optisch herausstechen, mit Worten, die wie zufällig auf der Seite verteilt sind, Arnold Maxwill, der bereits im Vorjahr in der Finalrunde des Open Mike stand, und Lilli Sachse, die kaum Erfahrungen mit öffentlichen Auftritten hat: OT 63 Lesung Tobias Lewkowicz, 16 sec. auch das ging ... vorbei - die wirklichen Dinge passieren - ich kaue ein belegtes Brötchen vor deiner Tür - klopfe ... & dann fing ich noch einmal an & dachte, der Dichter sieht die Dinge noch größer... OT 64 Lesung Arnold Maxwill, 22 sec. in Aufruhr (ohne Belagerung) Schwingungen der Ausfahrt. & höchst präzise Pappelhöhen - hintan wechselnd in Belichtungen: Ränder des Sichtfelds in Abklang (nach Querung): eine ohne Firnis gesäumte Ausdehnung. über Reihung geschaltet - hinaufziehend der Tag (ohne Expedition). OT 65 Lesung Lilli Sachse, 21 sec lass mal hinter den erwartungen ( ) lass mal bleiben wir führen aus diesem tanz heraus ( ) dafür ist zeit die dinge die es gibt werden mehr denk nur an vergangene Tage das ist da das liegt ( ) lass mal und dann lass mal einen schritt ( ) gehen Reto Ziegler ist mit den Leistungen seiner Kandidaten sehr zufrieden: OT 66 Reto Ziegler Drei Stimmen, drei sehr unterschiedliche Stimmen, man hat im Publikum auch gemerkt, dass gut darauf reagiert wurde, auf die verschiedenen Texte, dass das Publikum mitgeht und dass es entspannt ist. Und das hat mir sehr gut gefallen, wie der Block jetzt abgelaufen ist, in der Form. Und Arnold Maxwill, der Open-Mike-Veteran... OT 67 Arnold Maxwill ... es klingt nach sehr großer Hartnäckigkeit... ... ist froh, dass er wieder dabei ist. Um einen Preis, sagt er, geht es ihm dabei gar nicht so sehr: OT 68 Arnold Maxwill Das ist nicht unbedingt zielführend, dass man so auf diese Gewinnsätze doch hofft, es wäre sehr schön, aber es muss überhaupt nicht sein. Also die Texte hier präsentieren zu können, Rückmeldungen zu bekommen, das ist viel wichtiger für die eigene Arbeit. Also das ist die Erfahrung, die ich auch im letzten Jahr gemacht habe. Dass man aus diesem Prozess hier in Neukölln mit ganz anderen Anregungen und Blickwinkeln zurückgeht an den Schreibtisch. Musik 2 kurz hoch Nach dem lyrischen Auftakt kommt die Prosa an diesem zweiten Wettkampftag zu ihrem Recht. Mit der in Kiew geborenen Margarita Iov etwa, einer Kandidatin von Doris Plöschberger: OT 69 Plöschberger Es ist ein sehr reduzierter Text, ein mit viel Sprachwitz, mit viel Sprachbewusstsein ausgeführtes Spiel von Fiktion und Metafiktion, wo sich einer wenn man so will aus der Krankheit herausschreiben will, indem er benennt, was er um sich herum sieht, aber indem er es aufschreibt, zerfällt es ihm geradezu und er streicht alles wieder durch, sodass man sich eigentlich, und das ist auch eine schöne Pointe, fragen muss, wie es zu dieser Erzählung überhaupt kommen könnte, eigentlich existiert sie nämlich gar nicht. OT 70 Lesung Margarita Iov, 29 sec. Ich sitze am Schreibtisch und versuche zu schreiben, aber nichts ergibt Sinn und vielleicht ist es genau so. Ich schiebe den wackeligen Tisch von einer Ecke in die andere. Entweder sind die Tischbeine unterschiedlich lang oder der Boden ist uneben. Der Tee schmeckt nach Kalk und ein bisschen salzig. Ich schreibe auf: Nur schreiben, was da ist. Wenn nichts da ist - nichts schreiben. Und dann befällt mich eine große Erschöpfung, als hätte ich weiß Gott was getan. Auf Margarita Iov folgt der Wiener Toby Dax mit einem humorvollen Text über einen Mann, der ein Verbrechen begehen will, um darüber schreiben zu können. Einen Preis für den schnellsten Vortrag hätte Toby Dax allemal verdient: OT 71 Lesung Toby Dax, 34 sec. Das Opfer war rasch gefunden. In einem mir gut bekannten Schuhgeschäft arbeitete eine ältere Dame jenseits der fünfzig, fleischig und bieder mit strengem Blick. Ich gab an, Ausschau nach einem Herrenschuh zu halten, braun, katholisch, Größe 42. Kein Problem, sagte sie und verschwand im Lager. Bei ihrer Rückkehr erwartete ich sie vollkommen entkleidet. Sie begann zu schreien und es schien, als sei es nur noch eine Frage der Zeit, bis ich der sexuellen Belästigung überführt werden würde. Doch weit gefehlt, meine Damen und Herren! Die fleischige Dame warf mich zu Boden, doch nicht, um mich unschädlich zu machen, nein, nämlich um sich selbst zu entkleiden. Nun war ich es, der schrie, insgeheim aber reifte in mir bereits die verstörende Ahnung, dass es wegen meiner körperlichen Unterlegenheit kein Entkommen geben würde. Aber spielt denn der Vortrag überhaupt eine Rolle bei der Juryentscheidung? Nein, erklärt Jurorin Terezia Mora, aber ein bisschen enttäuscht ist sie dennoch: OT 72 Terezia Mora Ehrlich gesagt ich dachte, die jungen Leute können mittlerweile besser lesen, vor dem Wettbewerb habe ich ein Interview gegeben, wo ich mit breiter Brust erklärte, das ist heute alles anders als vor 10 Jahren, die Leute sind alle viel professioneller und sie stellen sich dahin und präsentieren sich und das ist dann wundervoll - es haben ziemlich viele Leute ziemlich schlecht gelesen. Für Philipp Enders gilt das nicht. Der Autor und Regisseur ist am Sonntag als Allerletzter dran, mit einer Geschichte von einem jungen Mann und seiner Mutter - und Enders wartet sogar mit einer Gesangseinlage auf: OT 73 Lesung Philipp Enders, 32 sec. Selbst durch die geschlossene Tür konnte man die Stimme nun klar und deutlich verstehen. Dylan legte eine Hand auf die abgegriffene Klinke und lauschte. Ein letztes Mal wird Sturm- Appell geblasen, zum Kampfe stehen wir alle schon bereit. "Katharina." Er betrat das Zimmer. Da lag sie, in ihrem Multifunktionsbett, quer zum Fenster, immer noch aus voller Kehle singend. Ein musikalischer Abschluss des Wettbewerbs also - und Enders kann seinem problematischen Startplatz im Nachhinein doch etwas abgewinnen: OT 74 Philipp Enders Ich habe, nachdem ich kurz davor noch Riesenanstrengungen unternommen habe, mir auszurechnen, was wohl eine gute Position war, einfach eingesehen, ich habe eh keinen Einfluss darauf, insofern habe ich es einfach akzeptiert und mir dann am Schluss gesagt, vielleicht ist ja die letzte Position auch nicht die schlechteste. MUSIK 2 kurz hoch Dann zieht sich die Jury zur Beratung zurück und Kandidaten, Lektoren und Zuhörer strömen aus dem Saal. Zeit für ein Resümee... OT 75 ATMO OT 76 Publikum vor Preisverleihung, 15 sec. (Mann) Ich fand das Niveau nicht so prickelnd wie die letzten Jahre... (Frau) Ganz ehrlich: man verliert ja hier auch nichts, man kann noch einen Preis gewinnen, aber ich finde, man verliert nicht viel... (Mann) Es sind einige vielversprechende Kandidaten dabei. (Frau) Es ist wie immer beim Open Mike, die meiste Zeit stehe ich draußen. Und was sind die Eindrücke der Profis, von Lektor Albert Henrichs vom S. Fischer Verlag und seiner Kollegin bei C. H. Beck, Frauke Meyer- Gosau: OT 77 Albert Henrichs Es sind sehr gemischte, dass man nicht so einen richtigen Trend ausmachen kann, es gab zwar wieder Texte mit ähnlichen Themen, oder auch Reflektionen über das Schreiben, glaube ich, drei Stück, aber ansonsten ein sehr vielfältiges Bild, sehr unterschiedliche Texte... OT 78 Meyer-Gosau Also mir hat der Anfangstext sehr gut gefallen, weil im Grunde genommen dadurch alles, was dann kam, schon auf einen ironischen Nenner gebracht wurde, das fand ich sehr souverän, sehr intelligent, es war aber schwierig für die anderen Autoren danach zu lesen, fand ich; dann habe ich insgesamt ja, doch ein bisschen gesellschaftliche Luft an den Stoffen vermisst. Nicht nur manche Texte ließen den nötigen Esprit vermissen - auch die Stimmung war gedämpfter als sonst. Kandidaten und Lektoren zogen sich oft zurück, mieden den Trubel, verzichteten auf das Bad in der Menge. Auch ehemalige Teilnehmer traf man selten, hauptsächlich jene aus dem Vorjahr. Doris Anselm, Preisträgerin 2014, kommt immerhin rechtzeitig zur Preisverleihung: OT 79 Doris Anselm Das ist das Allerschönste am ganzen Wettbewerb, diese emotionalen Momente, wenn die Leute alle aufgeregt sind, und dann steht jemand auf und die ganzen Freunde johlen und klatschen, da freue ich mich wirklich schon das ganze Jahr drauf. Robert Stripling gewann im Vorjahr den Lyrikpreis und will sich nur umsehen: OT 80 Robert Stripling Also ich fühle mich eigentlich als ganz normaler Gast hier. Muss ich ganz ehrlich sagen. Und da ist auch Michael Wolf, der im Vorjahr keinen Preis erhielt, aber einiges aus dem Wettbewerb mitnahm: OT 81 Michael Wolf Man bekommt beim Open Mike, wenn man liest, schon Kontakte zu Agenturen vor allem, aber auch zu Lektoren von Verlagen mitunter, und daraus kann auch etwas entstehen. Ich glaube, dass es zumindest einige Leute jetzt wissen, obwohl ich einen sehr gewöhnlichen Namen trage, dass es mich gibt und dass ich schreibe. Und das ist schon viel, und immerhin. MUSIK 2 kurz hoch Zurück zu den Kandidaten dieses Jahres: Manche sind vor der Preisverleihung erstaunlich gelassen: OT 82 Finalisten (Krömer) Ich habe gemacht, was ich machen konnte, und jetzt muss ich auf die Entscheidung warten, und insofern ja, bisschen aufgeregt, aber im Endeffekt, eingeladen worden zu sein ist schon - ist natürlich ein großer Gewinn uns deswegen ist es eigentlich schon fast wurscht, wer den Preis jetzt kriegt... (Jessica Lind) Ich könnte jetzt behaupten, ich bin vollkommen gelassen, und das würde mir wahrscheinlich geglaubt werden. Ob es der Wahrheit entspricht, möchte ich so im Raum stehenlassen... (Lilli Sachse) Also spannend ist es auf jeden Fall, und langsam könnte es auch losgehen... (Waldstein) Ich denke, das Teilnehmerfeld ist sehr gut aufgestellt, die Qualität war durchgängig hochwertig, von daher, wer jetzt im Endeffekt gewinnt und wer nicht macht glaube ich den Bock im Endeffekt nicht mehr fett... (Dax) Ich habe gerade mein erstes Bier getrunken und bin jetzt ganz relaxed... (Klevinghaus) Man muss sich nicht mehr darstellen und jetzt schaut kein Auge mehr auf dich und wenn, dann hast du halt gewonnen und dann schauen alle auf dich, aber dann ist das auch nicht schlimm, oder? Also... (Hakan Tezkan) Müde und gleichgültig tatsächlich, ja. Ich sehe den Open Mike nicht unbedingt als die Plattform, wo es um dann letzten Endes den Preis oder die Preise geht. Sondern als Bühne, auf der man seine Texte präsentieren kann, und vielleicht eben Kontakte knüpft. Hilde Drexler, die viele Visitenkarten gesammelt hat und auf Wolke Sieben schwebt, ist bester Laune. OT 83 Hilde Drexler Ich habe das Gefühl, schon gewonnen zu haben, also... Nur eine Frage bereitet der jungen Österreicherin Sorgen: Wie soll sie ihren Kollegen aus dem Judo-Kader begreiflich machen, was hier passiert ist? OT 84 Hilde Ich habe mir schon überlegt, irgendwie so zu sagen: das ist so, wie wenn Adidas und Nike mit dir einen Vertrag haben wollen. Ungefähr so ist das. MUSIK 4 Koa Hiatamadl Interpret: Hubert von Goisern und die Alpinkatzen Komponist: Volksweise Label: Ariola, LC-Nr. 00116 A propos Österreich: Das Land war diesmal beim Open Mike besonders stark vertreten: Sechs der 20 Teilnehmer kamen aus der Alpenrepublik. Hat das etwas zu bedeuten? Wahrscheinlich nicht, sagt Lektorin Christiane Schmidt: OT 85 Schmidt Es kann natürlich sein, das müsste man nochmal überprüfen, dass in den 600 Einsendungen überproportional, also nach demselben Schnitt, mehr Österreicher eingesendet hatten, das kann ja sein, aber ich vermute, dass es Zufall ist. Ist doch ein netter Zufall. Dann geht es los mit der Preisverleihung. Als erstes wird traditionell der taz-Publikumspreis vergeben. Ihn erhält Philip Krömer für seine originelle Zeitreise mit H. C. Artmann: OT 86 taz-Preis Es ist ein Text, der zwei Ebenen bedient, und uns auf eine Zeitreise nimmt, mit viel Witz und Energie stehen Artmann und Haarmann gegenüber. (Beifall) Die taz-Publikumsjury vergibt den taz-Publikumspreis für den Text "Der eine der andere" an Philip Krömer. (Beifall) Der junge Autor ist erst einmal überrascht... OT 87 Philipp Krömer Überwältigend, nicht damit gerechnet, weil der Text doch sehr speziell ist und ein gewisses Vorwissen und eine gewisse Freude an der Literatur fordert, und deswegen bin ich sehr, sehr glücklich. ... und dann denkt er schon weiter: OT 88 Philip Krömer Ja, das ist so für einen Autor, einen jungen Autor ohne eigenständiges Werk bisher die größte Anerkennung, die man erringen kann, insofern fühlt es sich verdammt gut an. Insofern bereite ich einiges vor und hoffe natürlich dann, dass es auch vielleicht mit diesem Schub Anklang findet. Dann macht es Terezia Mora spannend: Sechs Finalisten ruft sie auf die Bühne, unter denen sich, wie sie sagt, die drei Preisträger befinden: OT 89 Mora Mora: Die sechs Namen, die in der Mitte unseres Herzens sind, mit ihren Texten, sind Theresia Töglhofer, Felix Kracke, Andra Schwarz, Jessica Lind, Tobias Lewkowicz und Margarita Iov. Herzliche Gratulation schon mal an diese sechs... (Beifall) Aber es gibt eben nur drei Preise - auch wenn die Jury gern mehr vergeben hätte: OT 90 Mora Wir standen ja bei zwei Preisen quasi in einer totalen Pattsituation da und haben sogar verhandelt mit der Literaturwerkstatt, ob man nicht den Lyrikpreis teilen könnte, das hat man uns verwehrt, das hat uns dann in eine tiefe Krise gestürzt, aber am Ende haben wir es irgendwie gelöst... Die Entscheidung für den Lyrikpreis verkündet Klaus Merz: OT 91 Lyrikpreis und Andra Schwarz Lesung, 1,10 min Klaus Merz: Den Open-Mike Lyrikpreis vergeben wir für Gedichte, eigentlich einen Gedichtzyklus, der in überzeugender dichter und eigenständiger Sprache den Wesen und dem Wesen eines Landstrichs nachspürt. Seinen Grenzen und seiner Ganzheit. Der Lyrikpreis 2015 geht an Andra Schwarz. + Lesung: Drinnen im schwemmlicht ich trinke polnische rakete im flug verrauschtes wasser mit tabasco und himbeergeschmack dein mund berührt eine frage die seltsam tief schlägt punktlandung fünfzig zentimeter unter mir die hände im drehkreuz körpersprache geruch und ein A für den anfang. (Beifall) OT 92 Andra Schwarz Hin und weg und sehr überrascht, also damit habe ich absolut nicht gerechnet. Ich muss mich erst dran gewöhnen. Polnische Rakete! Den Gewinner des ersten der beiden Prosapreise gibt Terezia Mora bekannt: OT 93 Erster Prosapreis und Lesung, 1,12 min. Mora: Dieser eine der beiden geht an einen sehr gegenwärtigen Text, der es schafft, über das Heute zu erzählen, ohne sich an die Tagesaktualität oder an eine Trendigkeit anzubiedern. Der jung ist, nicht pubertär. Der sich einer genauen und verbindlichen Sprache bedient, mit der er eine hohe Spannung erzeugt. Der uns mit dem ebenso traurigen wie befreienden Gedanken versorgt, dass es kein Leben ohne ein Vielleicht gibt. "Das pure Leben" von Theresia Töglhofer. (Beifall) + Lesung: Vielen Dank. Entschuldigung, ich hab' nicht damit gerechnet hier zu lesen. - Das alte Café war der einzige Ort in der Stadt, an den wir immer zurückkehrten, so wie unsere guten Freunde dorthin zurückkehrten. Wir tranken, nachmittags, Kaffee, schwarz ohne Zucker, abends, Whisky ohne Cola, Gin ohne Tonic, Wodka ohne Lemon, ohne uns zu vergessen, ohne uns zu erinnern. Wir blieben immer bis zum Ende, gingen niemals zu früh nach Hause, wenn wir nicht da waren, passierte nichts. Das pure Leben kennt keine Ausflüchte, kennt keine Mixgetränke, kennt nur Whisky, ohne Cola, Malibu ohne Orange, Tequila ohne Sunrise. - Danke. (Beifall) OT 94 Töglhofer Ich weiß gar nicht, was ich dazu sagen soll; ich bin eher hierher gekommen in der Erwartung, einfach viele gute Texte zu hören und einen davon hoffentlich lesen zu können, und ja, also es kommt völlig überraschend, aber ich freue mich natürlich riesig. Und dann der letzte Preis des 23. Open Mike, den Jan Brandt verkündet: OT 95 Zweiter Prosapreis und Lesung, 1,59 Brandt: Der letzte Preis geht an eine existentielle Geschichte, die in einer einfachen, klaren Sprache erzählt ist. Einer Sprache, die Sicherheit verheißt und dann plötzlich in ganz feinen Nuancen bricht das Unheimliche in diese vermeintlich geordnete Welt hinein. Ein magischer Realismus, der bald zum manischen Realismus wird, und eine geisterhafte, aber verbindliche Imagination schafft. Eine Frau bekommt ein Kind und alles ändert sich. Selten ist der Schock, Mutter zu werden, so ungewöhnlich und subtil beschrieben worden wie in Jessica Linds Erzählung: "Mama". (Beifall) Jessica Lind: Ich bin gerade ein bisschen überwältigt und freue mich sehr, das möchte ich nur kurz vorab sagen, das ist wirklich... ich sollte vorlesen und nichts sagen, aber wirklich total schön, mit euch allen gelesen zu haben und ich finde, es waren alle Texte total super und auch so unterschiedlich und ja, haben eh alle gesagt, dass wir alle Gewinner sind und so - ja, ok, ich lese jetzt einfach. + Lesung: Später wäscht sich Ada mit kaltem Wasser das Gesicht. Es tut gut, sich zu spüren. Sie betrachtet sich im Spiegel über dem Waschbecken. Ganz weit hinten in ihrem Kopf hört sie dieses Wort: Mama. Es wiederholt sich, wird lauter. Sie wendet sich zum Fenster, das zum Garten hinaus geht. Mama. Luise ist aufgestanden, hilfesuchend sieht sie sich um und schreit nach ihrer Mama. Ein paar Meter weiter steht der Hund. Der große, graue Hund. Die Ohren nach hinten gelegt, die Zähne gefletscht. Der Hund steht da und Luise steht da und Ada bleibt auch stehen, ohne sich zu rühren. Sie sieht hinunter auf das Bild und fragt sich, warum da nichts ist in ihr außer dieser tiefen Dunkelheit. Dann rennt sie los. (Beifall) OT 96 Jessica Lind Ich freue mich total, auch meine Lektorin, die Christiane Schmidt, dass sie den Text ausgewählt hat, obwohl wie ich jetzt schon öfter gehört habe, dass das Kinderkriegen so ein bisschen ein Antithema ist, wo viele zu erstmal zurückschrecken, vor so einem Text, jetzt quatsche ich wieder zuviel - genau, einfach, fand ich dann super, dass sie den Text ausgewählt hat... Zum Dank umarmt Jessica Lind ihre Lektorin Christiane Schmidt: OT 97 Jessica Lind Jessica: Dankeschön, danke fürs Auswählen und fürs Noch-Bearbeiten, Tipps geben und so, also ich glaube auch, dass Sie als Lektorin uns drei, die Sie ausgewählt haben, auch auf eine ganz besondere Weise betreut haben und da möchte ich nochmal Danke sagen! - Schmidt: Bitte bitte, sehr gern! Mit Jessica Lind und Theresia Töglhofer stehen dieses Jahr gleich zwei Österreicherinnen ganz oben. Ein Erfolg für die Alpenrepublik - auch wenn Jessica Lind dem keine große Bedeutung beimisst: OT 98 Lind Ich fand das jetzt auch sehr witzig, dass die ganze Zeit dieses "die Österreicher, so viele Österreicher dieses Jahr" so betont wurde, weil der deutschsprachige Raum umfasst ja Deutschland, Österreich und die Schweiz und ich fühle mich auch in diesem deutschsprachigen Raum zu Hause, also natürlich, man merkt auch, als Österreicherin hat man hier so ein bisschen einen Ösi-Bonus vielleicht auch, also es finden einen alle gleich mal charmant, wenn man jetzt, Polster statt Kissen sagt oder Sessel statt Stuhl. Musik 4 kurz hoch Lektorin Doris Plöschberger freut sich über den taz-Publikumspreis für ihren Kandidaten Philip Krömer: OT 99 Plöschberger Ja, also immer muss man überrascht sein, wenn eine Jury, in der man nicht selbst Teil ist, einen Preis vergibt. Klar. Schönes Gefühl. Und der hat noch eine kleine Aufmerksamkeit für seine Lektorin dabei - eine Ausgabe seiner Zeitschrift "Seitenstechen": OT 100 Philip Krömer Ich wollte Ihnen bloß noch eine Ausgabe von meiner Literaturzeitschrift schenken. - Das ist ja nett! Vielen Dank! - Vielen Dank, dass Sie mich ausgewählt haben! - Ja gerne, gern. War mir ein Vergnügen, und Sie haben die Sache toll gemacht. Schön! - Dankeschön! Ich habe mich redlich bemüht, das war jetzt erst meine dritte öffentliche Lesung, ein guter Start würde ich sagen. - Ja, war ein guter Start! Aber ein Gefühl der Befriedigung will sich nach der Entscheidung der Autorenjury nicht recht einstellen. Zu blass, zu beliebig wirken die Gewinnertexte, während andere Beiträge gänzlich ignoriert wurden - Hilde Drexlers flotte Betrachtung des eigenen Schreibens, Dominique Klevinghaus' märchenhafte Begegnung mit dem Meereskönig, Philipp Enders' Mutter-und-Sohn-Groteske oder auch Paul Klambauers Geschichte einer Klassenfahrt. Man hätte sich ein bisschen mehr Courage gewünscht, den Mut, ausgetretene Pfade zu verlassen. Auch manche Finalisten können die Auswahl der Jury nicht nachvollziehen: OT 101 Lewkowicz, Heinrici, Rubey, Drexler Reax nach Preis (Lewkowicz) Ich bin halt nicht davon ausgegangen, dass ich gewinne, deswegen ist es auch die Sache, dabeizusein für mich das Größte gewesen. Und der Rest ist halt die Juryentscheidung. Waldstein, Sachse, Klevinghaus Reax nach Preis Klevinghaus: Es ist keiner der - meiner Favoriten ist nicht, wurde nicht mal erwähnt, das heißt, ich hätte eh überhaupt keine Chance gehabt bei dieser Jury und dadurch, dass ich die Gewinner nicht unbedingt so mochte - hätte ich auch nicht erwarten können, dass ich gewinne. Dadurch dass ich die Gewinner halt nicht unbedingt so mochte... Lewkowicz, Heinrici, Rubey, Drexler Reax nach Preis Ich bin nicht ganz einig mit der Jurymeinung, also ich habe eigentlich den Großteil der Texte nicht vorne gesehen, muss ich sagen, aber vielleicht ist es mein Geschmack. Aber ich bin froh, dass der Philip Krömer glaube ich heißt er mit Nachnamen den Publikumspreis gewonnen hat, da wäre sonst jemand durch die Lappen gegangen, finde ich, das ist eigentlich ganz schlimm, weil er ist so witzig, und die Jury hat irgendwie gemeint, das ist so ein bisschen Effekthascherei und das finde ich gar nicht, das ist so ein intelligenter witziger Text, und ich glaube, von dem wird man auch noch viel lesen, also das finde ich schön, dass da die Publikumsjury da den gesehen hat. MUSIK 1 Der 23. Open Mike ist zu Ende - ein Open Mike, der nicht ganz überzeugen konnte. Die Stimmung war verhalten, viele Texte enttäuschten. Die Veranstaltung sorgt für Diskussionen, bei den Kandidaten ebenso wie beim Publikum und bei den Kennern der Szene. Aber irgendetwas nehmen sie trotzdem alle mit, Rowohlt-Lektorin Diana Stübs, die im Vorjahr mehrere Finalisten betreute ebenso wie Albert Henrichs vom S. Fischer Verlag und Frauke Meyer-Gosau vom Verlag C. H. Beck: OT 102 Diana Stübs, 00:43 Na ja, so einen kleinen Überblick darüber, was so den Autorennachwuchs bewegt, also thematisch und ästhetisch und so. Und vielleicht den einen oder anderen Namen, der mit Sicherheit in Katalogen der Agenturen in den nächsten Jahren auftauchen wird oder auf dem Schreibtisch auf anderen Wegen aufploppt. Albert Henrichs 01:18 Ja, es sind mehrere Texte, die einem im Gedächtnis bleiben, die man sich dann auch später nochmal anschaut, in Ruhe liest, das ist ja dann auch nochmal was anderes als man hier in den 15 Minuten dann hört, da gibt es schon welche, die man im Gedächtnis behält. Atmo, Publikum, Meyer-Gosau 04:02 Das Lektorenherz wird darin bestärkt, dass eben gute Literatur etwas sehr Seltenes ist, und dass solche Veranstaltungen wie der Open Mike natürlich sehr schön sind, dass man mal hören kann, was sich im Moment so bewegt, in den Köpfen junger Autoren, und was das Lektorenherz auch mitnimmt ist die Hoffnung, dass es insgesamt besser wird. MUSIK hoch und aus 1