KULTUR UND GESELLSCHAFT Organisationseinheit: 46 Reihe : LITERATUR 19.30 Kostenträger : P.6.2.110 Titel der Sendung : Weltliteratur in Schmetterlings- gestalt - Der rumänische Schriftsteller Mircea Cartarescu und seine Orbitor-Trilogie Autor : Katrin Hillgruber Redaktion: : Sigried Wesener Sendetermin : 06.03. 2015 Besetzung : Anika Mauer, Andreas Neumann, Alexander Radszun Regie : Stefanie Lazai Urheberrechtlicher Hinweis: Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Jede Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in den §§ 45 bis 63 Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig (c) Deutschlandradio Deutschlandradio Kultur Funkhaus Berlin Hans-Rosenthal-Platz 10825 Berlin Telefon (030) 8503-0 Musik O-Ton 3 Mircea Cartarescu (Overvoice ab 0:11) O-Ton 3 (1:22; engl. + Overvoice) Die Welt der Insekten hat mich schon immer fasziniert. Es handelt sich um biologische Wesen und zugleich um Mechanismen. [Overvoice] Ihre Erscheinung ist sehr poetisch. Sie wirken wie Monster von Hieronymus Bosch. Mich fasziniert zugleich ihre Hässlichkeit - wenn man etwa an Spinnen denkt - und ihre Schönheit. Das Sinnbild der Schönheit stellt für mich der Schmetterling dar, der ja auch das Sinnbild der Seele ist. Wie sie vielleicht wissen, wurde Psyche, die griechische Göttin der Seele, als junges Mädchen mit Schmetterlingsflügeln dargestellt. Autorin: Keine andere Kreatur verwandelt sich im Laufe ihres Lebens so vollständig wie der Schmetterling. Aus der wenig ansehnlichen, taillenlos-unförmigen Raupe erwächst nach der Verpuppung ein streng symmetrisches Insekt, bestehend aus dem linken Flügel, dem Körper und dem rechten Flügel. Der Schmetterling, Falter oder Schuppenflügler aus der Gattung der Lepidoptera ist von seinem Körperbau her ein scheinbar einfaches, durch seine Fähigkeit zur Metamorphose jedoch ein zutiefst geheimnisvolles Wesen, gleichsam eine beseelte Apparatur. Das macht ihn zum idealen Wappentier, zum Symbol eines nicht minder geheimnisvollen Romanprojekts: Mircea Cartarescus "Orbitor"-Trilogie. Flankiert von einem Heer von Co-Insekten, die fast auf jeder der knapp 2000 Seiten hervorkriechen, prägt der Schmetterling als Symbol der Verwandlung das gewaltige Epos. Fortsetzung O-Ton 3: Es ist leicht zu verstehen, warum der Schmetterling die Ewigkeit symbolisiert: wegen der Metamorphose, die er durchmacht. Hinzu kommt, dass der Schmetterling auch ein sehr symmetrisches Insekt ist. Deshalb habe ich mein Schmetterlings-Thema mit meinem Thema der Zwillinge, der Spiegel und Symmetrien kombiniert. Ich habe das Buch in drei Teilen angelegt, rund um eine symmetrische Achse. Der erste Teil stellt den linken Flügel dar, der zweite Teil ist der Körper und der dritte Teil der rechte Flügel. Was letztendlich die Gestalt eines Schmetterlings ergibt. Zitatsprecher: Vielleicht ist der Kern des Kerns dieses Buches nichts anderes als ein apokalyptischer, blendender, gelber Schrei. Autorin: Wie das Auge des Orkans taucht diese Feststellung aus den Natur- und Geistesgewalten auf, die Mircea Cartarescu in Prosa verwandelt hat. Der Roman "Die Wissenden" stellt den ersten Band, vielmehr den linken Flügel eines dreimal so umfangreichen Triptychons dar. "Orbitor", zu Deutsch "blendend", erschien ab 1996 in Rumänien. Mircea Cartarescu kam am 1. Juni 1956 in Bukarest zur Welt. Er schloss sein Philologie-Studium mit einer Dissertation über den rumänischen Postmodernismus ab, arbeitete als Hauptschullehrer und später als Lektor für rumänische Sprache und Literatur an der Universität seiner Heimatstadt. Seit 1978 veröffentlicht er Gedichte und Prosa. Sie wurden in zahlreiche Sprachen übersetzt, etwa 2001 der Lyrikband "Selbstporträt in einer Streichholzflamme", den ein Rezensent "zwischen Grunge und Barock" ansiedelte. Doch zu diesem Zeitpunkt hatte Cartarescu die Lyrik längst hinter sich gelassen. Denn nach Ceausescus Sturz im Dezember 1989 verschrieb er sich ganz der Prosa: O-Ton 5 (0:48 engl. oder O-Ton 1 engl. mit Overvoice; 0:44) Ich hätte nie gedacht, dass ich keine Gedichte mehr schreiben würde. Wer weiß, vielleicht war das ein natürlicher Endpunkt damals, denn ich interessierte mich mehr und mehr für Prosa. Ich gab das Schreiben von Lyrik nicht programmatisch auf, sondern es passierte einfach. Es geschah, weil mir die Zeit und die entsprechende Bereitschaft fehlten. Abgesehen davon, habe ich genug Gedichte geschrieben: Acht lyrische Sammelbände, das reicht meines Erachtens. Autorin: Ein lyrischer Ton und surrealer Bilderreichtum prägen nicht nur seinen Debütroman "Nostalgia" von 1978 oder den charmanten Erzählungsband "Warum wir die Frauen lieben", sondern auch einen Essay wie "Europa hat die Form meines Gehirns". Darin lehnt Cartarescu die Funktion des "Rumänen vom Dienst" für sich ab. Nach der Revolution von 1989 wandte sich der Sohn atheistischer Eltern nicht nur von der Lyrik ab, sondern zugleich der Bibel zu - vor allem aus philologischem Interesse. O-Ton 2 (0:52 engl. + Overvoice) Einerseits hatte ich das Pech, ohne spirituellen und religiösen Bezug aufzuwachsen, denn meine Eltern waren von der Propaganda verblendet, ihr Geist wurde ein leichtes Opfer für die Propaganda. Sie waren damals sehr jung, unwissende Bauernkinder, eine Tabula rasa. Deshalb fehlte mir der Glaube aus der Kindheit, wenn er sich normalerweise in unseren Seelen herausbildet. Als Heranwachsender hielt ich mich für einen Atheisten, und dann entdeckte ich mit dreißig die Bibel. Ich entdeckte das großartigste Buch der Welt. Nicht nur als Buch der Weisheit, sondern auch der Literatur. So gesehen war es vielleicht ein Glück, dass ich die Bibel erst als Erwachsener entdeckte. Autorin: Vor allem Motive aus dem Alten Testament dienen "Orbitor" gleichsam als Stützbalken. "Aripa stanga", "Corpul" und "Aripa dreapta" heißen die drei Bände des 2007 nach vierzehnjähriger Arbeit abgeschlossenen Werks im Original - linker Flügel, Körper, rechter Flügel. Diese logische Abfolge wurde bei der Titelwahl für die deutsche Übersetzung leider nicht eingehalten. Im Wiener Zsolnay-Verlag erschien 2007 unter dem Titel "Die Wissenden" der erste Band in der Übersetzung von Gerhardt Csejka. 2011 folgte "Der Körper", wiederum übertragen von Gerhardt Csejka sowie von Ferdinand Leopold. Und seit letztem Herbst liegt die Trilogie nun komplett auf Deutsch vor, mit dem Roman "Die Flügel" in der Übersetzung Ferdinand Leopolds. Die beiden Übersetzer erhielten 2012 gemeinsam mit dem Autor den Internationalen Literaturpreis vom Berliner Haus der Kulturen der Welt, was Mircea Cartarescu besonders freute: Musik Autorin: Linker Flügel, Körper, rechter Flügel: diese Anatomie haben die Fluginsekten mit einem Triptychon gemein, oder auch mit einem Flügelaltar oder der Ikonenwand in der orthodoxen Kirche. Nach Art eines technischen Konstrukteurs hat Mircea Cartarescu dieses Modell aus der Natur, Religion und Kunstgeschichte auf "Orbitor" angewandt. Doch sein wahres Ziel ist die reine Alchimie: Zitatsprecher: Es wird gesät ein natürlicher Leib und wird auferstehen ein künstlicher Leib. Autorin: Das prophezeit Paulus in seinem erstem Brief an die Korinther, aus dem die Romane ihre Motti beziehen. Die beiden ersten Bände erzählen vom Aufwachsen des Halbwüchsigen - einem Alter ego des Autors - in der kommunistischen Volksrepublik Rumänien ab Mitte der 1960er Jahre. Musik: Lied 3, Romica Puceanu: "Ileana, Ileana" - ausklingend Autorin: Mirceas Eltern stammen vom Lande, aus einer Welt der Sagen und Bräuche, die wiederum unzählige farbenprächtige Handlungsstränge erzeugt. Nun lebt die Familie in Bukarest, in einem hässlichen achtstöckigen Plattenbau in der Stefan- cel-Mare-Chaussee - Stefan der Große. Am Anfang steht das Einswerden des Jungen mit seiner Stadt: Allabendlich beobachtet der Junge im Pyjama vom Fenster seines Zimmers aus, wie die Dämmerung heraufzieht. Auch dieses Fenster, seine zentrale Verbindung zur Außenwelt, besteht aus drei Teilen wie ein Schmetterling. Zitatsprecher (I, 10): Wirklich ganz fühlte ich mich aber erst, nachdem ich im Zimmer das Licht ausgemacht hatte. Die elektrisch-blauen und phosphoreszierend grünen Lichtstreifen der Straßenbahnen, welche fünf Etagen tiefer durch die Straße rumpelten, drehten sich nun auf einmal an den Wänden. Schlagartig wurde mir der entsetzliche Verkehrslärm bewusst, und zugleich die unendliche Einsamkeit und Trübsal meines Lebens. Der Schalter war hinter dem Kleiderschrank, und sobald ich das Licht ausknipste, wurde mein Zimmer zum leichengrünen Aquarium. Ich bewegte mich darin, als wäre ich ein alter Fisch, zwischen morsch gewordenen Möbeln, die den Geruch von Meeresablagerungen verströmten, schlurfte über den Juteläufer, der meine Sohlen kratzte, zur Bettlade, setzte mich wieder darauf und stemmte die Füße auf den Heizkörper. Und da explodierte dann das fantastische Bukarest hinter dem blauen Mondglas: ein nächtliches Triptychon von grenzenlosem, unerschöpflichem gläsernen Glanz. Autorin: Während der Ich-Erzähler in dem Plattenbau heranwächst, erlebt er umgekehrt proportional, wie das einstige Paris des Ostens auf Geheiß des sogenannten Conducators zerstört wird. Die Sehnsucht nach der Vereinigung mit allen Phänomenen der Welt und der himmlischen Sphäre, der brennende Wunsch nach der Unio mystica, durchzieht dieses überbordende Bewusstseinspanorama. Dabei erinnern Mirceas puerile Phantasiereisen in ihrer bis zur Monstrosität überschießenden Einbildungskraft an "Gullivers Reisen" von Jonathan Swift. Stets kreisen sie vage um einen geschlechtlichen Kern. Zitatsprecher (I, 33f): [Vor mir hingebreitet - ein Land der Melancholie. Ich konnte mich unmöglich noch auf dem Dach des gelben Wohnblocks an der Piazzetta befinden. Ich stand vielmehr oben auf einem gigantischen Bauwerk, das ich schließlich als einen der alten Blocks im Stadtzentrum erkannte, ringsum ragten gleich monströsen Brüsten zahlreiche Messingkuppeln in den Himmel.] So weit das Auge reichte - ein blutdurchpulstes gläsernes Modell-Bukarest mit fantastischer Dachlandschaft: riesige Eier, Donjons, die Kirchtürme der Metropolie, der Kristallbauch der Sparkasse, die Kugeln am First des Negoiu-Hotels und der Wirtschaftsakademie, die gedrechselten Pilzhüte der Russischen Kirche, der mit Parabolantennen bestückte Eisberg des Telefonpalasts, der wie das Bein eines von Kinderlähmung gezeichneten Kindes in Metallschienen steckte, der phallische Wasserturm; [...] Ganz nah vor Augen hatte ich das traurige Antlitz einer steinernen Frau. Einer Frau mit Flügeln, die fünfmal so groß waren wie ich. Ihr steinernes Gefieder verdeckte mir ein Viertel von Bukarest. Die Kuppeldächer waren geschuppt wie die Eier eines Fabelwesens vom Mond. Alles, Flora, Fauna und Dämonologie dieser Landschaft, flatterte versteinert und schwarz, höchstens vereinzelt zwischendurch ein rötliches Aufleuchten am tief hängenden, weißlichen Himmel. In der Statue, an die ich mich anlehnte, erkannte ich Mutter. Als eines der mit Kalksteingirlanden umgürteten Eier auf meinem Dach aufplatzte, einen trockenen Laut in die die von einsamen Obussen durchfurchte Stille der Winternacht sandte, wonach sich mit nassem, wackelndem Kopf ein hundegroßer durchscheinender Fötus herausschob und zudem die Halsschlagader der Mutterstatue zu pulsen begann, stürzte ich zur Öffnung, durch die ich gekommen war. Autorin: Der Erzähler Mircea erlebt, wie das elegante Paris des Ostens mehr und mehr von Abrissbirnen verschandelt wird. Er aber bewahrt als ein lebendiges Gefäß die Erinnerung an den Charme der alten Stadt, befeuert durch die Geschichten seiner Mutter Maria. Musik: Lied 4: Carlos Cantieni: "Bukarest! Lächelt der Mond in das Liebesnest" (ab 0:50) Autorin: Maria kam während des Zweiten Weltkriegs vom Lande nach Bukarest, ein Bauernmädchen mit hüftlangen Zöpfen. Mit ihrer Schwester Vasilica ging sie in der Schneiderwerkstatt "Verona" in die Lehre. Zitatsprecher (I, 178): Wenn sie am frühen Morgen eintraten, kamen ihnen die Reihen der schwarz glänzenden Singer-Nähmaschinen mit Rad und Pedalen wie eine Art Insekten mit giftigen Stacheln vor, darauf lauernd, ihre Beute in Empfang zu nehmen: je ein junges lebendiges Mädchen. Autorin: Die Schwestern machen Bekanntschaft mit einer Varietékünstlerin. Vom Überschwang der Eindrücke elektrisiert, werden sie in die erotischen Verlockungen der Stadt eingeweiht. Einsetzende Musik: Lied 1: Maria Tanase: "Jandarmul" Man glaubt in diesen Passagen eine mondäne Verführerin wie die beliebte Volkssängerin Maria Tanase vor sich zu sehen, die regelmäßig in den Restaurants der Edelmeile Calea Victoriei auftrat. Ihre Interpretation des Liebesliedes "Jandarmul" machte sie berühmt. Weiter, lauter werdend: Lied 1 Autorin: Die Schwestern erleben amerikanische Bombenangriffe auf die Stadt. Über schwarze Jazzmusiker kommen sie mit dem Voodoo-Kult in Berührung. Dieser thematische Funke entzündet sich später bei der Schilderung der Sekte der "Wissenden". Was in Bukarest so poetisch begann, endet vorläufig in New Orleans. Dort treiben die "Wissenden" rund um einen schwarzen Albino ihr Unwesen. Der Roman mündet in ein perverses Opferritual, das so manches Splatter-Movie blass aussehen lässt. Musik: schnell, heftig Zentrales Motiv des zweiten Romans "Der Körper" ist ein Teppich. Während sich der Vater zum Journalisten fortbildet, webt Maria Teppiche nach Vorlagen einer Textilfabrik. Als sie und ihr Sohn bei dieser einsamen Heimarbeit immer phantasievollere Muster erfinden, die sich kaum mehr an die Vorgaben halten, erregt das die Aufmerksamkeit des Geheimdienstes Securitate. Maria wird verdächtigt, den streng geheimen Lageplan einer Sputnik-Bodenstation in ein Muster eingewoben zu haben. Ein absurder Vorwurf, so bizarr wie der Kommunismus rumänischer Ausprägung selbst, der grausamste im damaligen Warschauer Pakt. Cartarescu weist mit seiner unerschöpflichen Lichtmetaphorik einen Ausweg aus der Bedrängnis - und er nennt das Zauberwort: "Orbitor". Zitatsprecher (II, 186f.): Betrachtete man den neuen Teppich aus unterschiedlichen Entfernungen, wandelte er sich, wie er senkrecht auf dem Webrahmen höher wuchs, zu immer neuen Bildern. [...] Trat man einige Schritte zurück, wobei man das Zimmer verließ und in den kleinen, mit Schuhen übersäten, zur Wohnungstür führenden Flur gelangte, sah man einen vollkommen symmetrischen Tintenfleck in Gestalt eines Schmetterlings, den ein böses Kind in einem Buch platt gedrückt hat. Presste man schließlich den Rücken an die Eingangstür, zeigte sich einem eine jener Tafeln, welche die Augenärzte verwenden, um festzustellen, ob man die Farben unterscheidet, eine Häufung von Punkten buntscheckiger und nah verwandter Schattierungen, in denen der Farbenblinde ein absolutes Chaos sieht, der Sehende aber versteht, der Wissende unterscheidet ("wer liest, der begreife!"), das geheimnisvolle Wort, im Kreisbogen auf die ganze Breite des Teppichs verteilt, dessen Buchstaben sich aus Basiliken, Spinnen, Landstraßen, Damenstrümpfen, Flugmaschinen und Galaxien zusammensetzten. Mit den nackten Schulterblättern an die kühle Eingangstür gelehnt - [...] sah Mutter plötzlich, am Tag, als der Teppich vollendet war, das geschriebene Wort wie ein arabisches Flechtwerk auf der weiten Oberfläche des bunten Flausches. "Orbitor", "Blendend", hatte sie vor sich hin geflüstert, dann hob sie mich auf die Arme und zeigte, in der Ferne, mit dem Finger jeden einzelnen Buchstaben, zeichnete ihn für mich noch einmal nach und rief überschwänglich: "Sieh mal, Isa, schau, ein O und ein R und ein B und schau ein I und ein T und ein O und ein R! ORBITOR!", obschon sie wusste, dass damals meine Augen für Buchstaben noch blind waren. Musik Autorin: Wie alle bedeutende Literatur folgt dieser Roman-Kosmos seinen eigenen Gesetzen. Mircea Cartarescu vollzieht höchst erstaunliche Stilwechsel - so schnell und leicht, wie seine symbolträchtigen Schmetterlinge ihre Flügel schlagen. Eine lineare Handlung des dreiteiligen Buches lässt sich kaum ausmachen - umso mehr ist die herkulische Leistung der Übersetzer zu rühmen. Souverän bewältigen sie den Strom von Farben, von hybriden Fremdwörtern aus Medizin und Technik. Das Beseelte, Animistische lauert überall, es bildet einen geheimen Urgrund. So geht es etwa in einem Seitenstrang in "Der Körper", der in die Familiengeschichte zurückreicht, um das seltsame Gebaren einer radikalen Sekte: Um nach einer Orgie im Badehaus ihre Keuschheit wiederzuerlangen, entmannen sich die Sektenanhänger selbst. Mircea Cartarescu verschmilzt in seinem Opus magnum völlig mit dem gleichnamigen Ich-Erzähler, der auch Mircisor oder Isa gerufen wird. Stets geht es ihm um das Einswerden mit dem lichtstrahlenden Universum, um Neuschöpfung und Apotheose und dabei zentral um das eigene Gehirn: zum einen als physiologisches Objekt, zum anderen als Erfinder neuer Welten. Zitatsprecher (I, 52): Ich hatte im Schlaf das Empfinden, meine eigenen Schädelknochen würden in jenem hervorquellenden Licht durchscheinend, so dass meine gefältelten Gehirnhälften in ihrer Haut zum Vorschein kamen: zwei noch unausgereiften Nusskernen gleich. Die Neuronen unter der Pia mater drückten sich stellenweise durch wie sprießende Pflanzen durch den Asphalt; da reckten sich alsbald Hunderte Kirchtürme unter dem Schädelgewölbe in die Höhe, und in jedem bimmelte eine Glocke wie zum Begräbnis, bis schließlich das perlmuttfarbene Häutchen hundertfach einriss und die neuronalen Glöckchen wundersam aufgingen, wie Seelilien auf ihren Stielen hin und her wogten im Solarwind von meines Großvaters Strahlenkranz. Da stieg ich hinab ins skythenländische Delirium. Musik Autorin: Mircea Cartarescu steht sowohl in der berühmten surrealistischen Tradition der rumänischen Literatur als auch in einem religionsphilosophischen bis mystischen Kontext von Emile Cioran [bitte rumänisch aussprechen]und Mircea Eliade. Wie Eliade faszinieren Cartarescu der Schamanismus und das bildhaft- symbolische Denken. Mit dem Exilphilosophen Cioran verbindet ihn eine negative Strahlkraft, die Überzeugung von der heillosen Daseinsform des modernen, im Ketzertum befangenen Menschen. Als seinen Urahnen in der rumänischen Literatur sieht Cartarescu den Dichter und Schriftsteller Mihai Eminescu, der im 19. Jahrhundert die Tradition des Phantastischen begründete. Aber auch ein Meister der Phantastik wie Tudor Arghezi lässt grüßen, in dessen Lyrik die geschlechtliche Liebe die Weisheit des Universums darstellt. Arghezis paranoischer Gesellschaftsroman "Der Friedhof" von 1936 endet mit einem Totentanz der Wiederauferstandenen, mit einer metaphysischen Revolte, wie sie auch "Orbitor" immer wieder vollführt. Sprecher: O-Ton 10 (0:41 rum. - ab 00.04, 1. Satz bis "pentru ea" bitte streichen) Tatsache ist, dass alle Bücher, die ich schätze, etwas Unlesbares an sich haben. Es ist deshalb nicht verwunderlich, dass die Autoren, die ich schätze, nicht völlig entschlüsselbar sind, James Joyce und Thomas Pynchon beispielsweise. Unlesbar zu sein heißt in meiner Vorstellung, dass ein Buch sehr viele Schichten hat und dermaßen anspruchsvoll und verrätselt ist, dass es mit dem herkömmlichen Verstand kaum zu ermessen ist. Wiewohl ich mein Buch ohne einen Ausgangsplan begonnen habe, hat es sich beim Schreiben konturiert. Denn es gleicht mir selbst, ich selbst bin sein Plan. Autorin: Im Sinne des Lyrikers Stéphane Mallarmé geht es Cartarescu um nichts weniger als das "totale Buch". Neben aller biochemischen Phantastik enthält sein Roman jedoch auch präzise Beobachtungsprotokolle eines durch Ceausescu entmündigten, gedemütigten Landes und seiner einst so strahlenden, liebenswerten Hauptstadt. "Orbitor" singt eine hochkomplexe, vielfach gebrochene Hymne auf Bukarest, so wie es Alfred Döblin mit seinen Werken auf Berlin tat. Musik: Lied 1 (Maria Tanase "Jandarmul") anklingend Autorin: 1971 kehrte der neostalinistische Staatspräsident von einem Besuch nach China und Nordkorea zurück, wo er Geschmack am dortigen Personenkult gefunden hatte, ebenso an der kategorischen Kollektivierung der Landwirtschaft. Beides versuchte er auf Rumänien zu übertragen. Sprecher: O-Ton 6 Cartarescu (0:41 engl.) Jede Art von Diktatur erscheint mir irgendwie surreal. Salvador Dalì wollte einmal Rumänien in der Ceausescu-Ära besuchen. Er äußerte einen Wunsch; sollte ihm der erfüllt werden, wollte er kommen. Er sagte: Wenn ich auf dem Flughafen eintreffe, möchte ich, dass hunderttausend Fischdosen wie Soldaten Spalier stehen. Und ich werde dann an ihnen vorbeischreiten. Er betrachtete Diktatoren als tragikomische, surreale Figuren oder Charaktere. Musik: Hindemith Autorin: Nach dem verheerenden Erdbeben von 1977, das Bukarest unersetzlicher Kulturgüter beraubte, befahl Ceausescu, intakt gebliebene historische Viertel zu planieren. Auf deren Trümmern ließ der "Conducator" ein größenwahnsinniges weißes Herrschaftsgebäude errichten, das sogenannte Haus des Volkes. Es ist nach dem Pentagon in Washington das zweitgrößte der Welt, für das alle Reserven des völlig verarmten Landes geplündert wurden. Sprecher: O-Ton 8 (rum., ab 0:24) + O-Ton 9 (insges. 01:32) [Ich hatte überhaupt keinen Plan, als ich angefangen habe, ich hatte nur die Absicht, ein Buch zu schreiben, das mindestens tausend Seiten stark sein sollte. Ich habe dafür keinen Plan entworfen, keine Materialsammlung angelegt und ich hatte keinen Erzählplan: Ich habe mich darauf verlassen, dass mich im Verlauf des Schreibens auf meine ständige Inspiration würde verlassen können. Und] Weil sich dieses Buch aus meinem Leben und aus meinen Erfahrungen speist, musste es irgendwie auch selbstverständlich zur rumänischen Revolution gelangen. Dieser dritte Band ist eine Art Abstieg in die Hölle, zu dem es auch kommen musste, nach dem ersten paradiesisch angelegten Buch und nach dem zweiten, das ein irdisches Buch ist. Für mich bedeutet die Hölle der Abstieg in die Geschichte. O-Ton 9 Ich habe versucht, die kommunistische Diktatur in Rumänien und demzufolge auch die Revolution auf ungewöhnlichere Weise darzustellen, indem ich mich an die Methoden von Rabelais und Jonathan Swift gehalten habe, also einen barocken Karneval und eine Satire erschaffen wollte. Mein Interesse war nicht, diese kriminelle Diktatur zu beschreiben und noch einmal zu kritisieren, was andere schon vielfach gemacht haben. Ich wollte sie in die Verachtung versenken und dadurch ihre diabolische Struktur und walpurgische Qualität noch kenntlicher machen. Autorin: Cartarescu wäre nicht Cartarescu, wenn er dem Volkspalast nicht noch ein ebenso gewaltiges unterirdisches Pendant hinzuerfinden würde. Aber damit nicht genug: Das furiose Finale im Abschlussband "Die Flügel" fährt außerdem einen Diktator mit zwölf Doppelgängern auf. Sie garantieren dessen Omnipräsenz und erfreuen Diktatorengattin Elena, die selbsternannte Chemikerin. Außerdem erschafft der Autor einen weiblichen Gulliver. Zitatsprecher (III, 265): Die rumänische Revolution, ein Mädchen von zehn Meter Höhe mit Brüsten, die durch eine mit farbigem Baumwollgarn bestickte Trachtenbluse durchschimmerten, einer Halskette mit Maria-Theresien-Talern, die Hüften umfasst von einem Rock aus Rohseide mit einem Schurz vorne und einem hinten (die Tracht aus dem Kreis Arges, so scheint's), schritt hoheitsvoll auf dem Boulevard 1848 einher. Ihre schwarzen Haare flatterten in den morgendlichen kohlenmonoxidgeschwängerten Brisen. Hätte er ihr edles, zwischen eklektizistischen, bröckelnden, vergilbten Bauwerken aufragendes Kameenprofil gesehen, so hätte der auf irgendeinem Balkon in der Ferne stehende Betrachter einen Wimpernschlag lang geglaubt, eine zyklopisch Statue ziere die Springbrunnen auf dem Boulevard Sieg des Sozialismus oder solle sogar über dem Haus des Volkes aufgestellt werden, als allegorische Verkörperung der dakisch-römischen Abstammung oder als herausfordernde Nachbildung der Freiheitsstatue aus dem Reich der Sklaverei: Denn auch das Haus des Volkes konnte ja, wenigstens hinsichtlich des Rauminhalts, als das größte Gebäude der Welt gelten und das Pentagon zum Gespött machen... Musik: Hindemith O-Ton: Ehepaar Ceausescu hingerichtet (0:42) Autorin: Der Dezember 1989 ist erreicht, die zehn Meter hohe Revolutionsriesin wird im Palast buchstäblich flach gelegt und von den geifernden Aktivisten vaginal invadiert. Alle Figuren, die Mircea durch 33 Jahre erzählte Zeit begleitet haben, versammeln sich zu einem Finale von schwindelerregender phantasmagorischer Kühnheit. Der Ich-Erzähler schließt seinen Flügelaltar, dessen linker Flügel der Mutter, dessen rechter dem Vater und dessen Mittelteil ihm selbst gewidmet war. Sein Freund und Lehrer Herman gebiert ihm aus dem Kopf den heißersehnten Zwillingsbruder Victor, wie einst Zeus die Jagdgöttin Athene. So reich beschenkt, tritt Mircea schließlich durch das "Südtor des großen Diamanten" ein, wie es heißt - er tritt in das blendende Licht von "Obitor". Sprecher: O-Ton 4 (1:09 englisch) Ich habe nicht die Angewohnheit, meine Bücher ein zweites Mal zu lesen. Im Gegenteil: Ich versuche sie zu vergessen, vor allem die "Orbitor"-Trilogie, denn es ist sehr schwer, nach einem solchen Buch weiterzuschreiben. Ich denke nur an mein jeweils aktuelles Projekt, an dem ich gerade arbeite. "Orbitor" bedeutete eine große Anstrengung für mich, und ich war außerordentlich glücklich, als ich den dritten Band beendet habe. Ich hätte nie gedacht, dass ich es schaffen würde, damit fertig zu werden. Aber manchmal kommen mir bestimmte Szenen oder Schauplätze aus dem Buch in den Sinn. Und das bewegt mich dann sehr, es ist, wie wenn man sich an Begebenheiten aus seiner Kindheit oder Jugend erinnert, die man für vergessen hielt. Das ist sehr, sehr kostbar für mich. Ich weiß, dass "Orbitor" einmal als mein wichtigstes Werk gelten wird, und ich bin hochzufrieden, dass ich es abschließen konnte. Musik 2