KULTUR UND GESELLSCHAFT Organisationseinheit : 46 Reihe : Literatur Kostenträger : P 62 300 Titel der Sendung : Mit zarten Fingern und Augen - über das Lesen, die Leser und das Leben in Büchern Autor : Katharina Döbler, Sieglinde Geisel Redakteurin : Barbara Wahlster Sendetermin : 13.9.2009 Sendezeit : 0.05 - 1.00 Uhr Besetzung : Kommentar = Sprecherin/Zitator Regie : Beate Ziegs O-Töne im V-Speicher Urheberrechtlicher Hinweis: Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Jede Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in den §§ 45 bis 63 Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig (c) Deutschlandradio Deutschlandradio Kultur Funkhaus Berlin Hans-Rosenthal-Platz 10825 Berlin Telefon (030) 8503-0 "Mit zarten Fingern und Augen" - Über das Lesen, die Leser und das Leben in Büchern von Katharina Döbler und Sieglinde Geisel Deutschlandradio Kultur 13.9.2009 Redaktion: Barbara Wahlster Soundcollage Kommentar: Das Buch gehört zu den großen Erfindungen der Menschheit. Eine Erfindung, die so erfolgreich wurde, dass wir sie gar nicht mehr als Erfindung wahrnehmen - jedenfalls machen wir uns kaum je bewusst, mit was für einem genialen Gegenstand wir es zu tun haben, wenn wir ein Buch aufschlagen. Das fängt schon damit an, dass das Buch ein Widerspruch in sich ist: Ein Behältnis für etwas, das man nicht anfassen kann, für etwas so Flüchtiges wie Wörter, Gedanken, Geschichten. Bücher sind wie Konservendosen für Gedachtes: Zitat Gute Literatur ist Neues, das neu bleibt. (Ezra Pound) (Ezra Pound: ABC des Lesens. Übersetzung Eva Hesse. Suhrkamp 1957) Kommentar Zwischen zwei Buchdeckeln halten sich Sätze Jahrtausende lang frisch, sofern sie etwas taugen. Soundcollage Kommentar Das Buch als Gegenstand ist so perfekt, dass man auch fünfhundert Jahre nach Gutenberg seine äußere Konstruktion nicht mehr grundsätzlich verbessern kann. Und überdies sind Bücher benutzerfreundlich: Man braucht keine weiteren Hilfsmittel (abgesehen von Licht), und man braucht keine Betriebsanleitung (außer dem Alphabet, das man als Kind gelernt hat). Mit einer simplen Handbewegung öffnet man den Deckel, man blättert - und schon wird man zu einem Leser oder einer Leserin. Man betritt unsichtbare Welten aus Wörtern, die sich jemand anders ausgedacht hat. Man verabschiedet sich für eine Zeit von der Wirklichkeit, dem Alltag und seinen Mitmenschen, und dies mittels eines Gegenstandes, den man auch noch überall hin mitnehmen kann. Denn die meisten Bücher passen in jede Handtasche. Doch obwohl man Bücher überall hin mitnehmen kann, kann man nicht überall lesen. Jedenfalls nicht überall gleich gut. O-Ton Reinshagen: Ich les am liebsten in so ganz anonymen Hotelzimmern, wo nichts Schönes ist, was man angucken muss, oder so. Ich les nicht gerne im Zug oder auf der Wiese, wo Ablenkungen sind. Irgendwas, wo nichts besonderes ist, da les ich gern. O-Ton Schönfeld: Am liebsten lese ich im Bett. Mache ich so hochkant das Bett, ... und dann lege ich mich so ruff, und dann zwee Decken rüber, und hinten da habe ich so'n kleinen Schrank, da mache ich die Füße gegen, dass ich schön lesen kann... muss eine schöne Haltung sein, ... dann habe ich den Tisch da, mit Käffchen und rauchen, und ich darf dann auch nicht raus, ich darf das nicht unterbrechen, sonst werde ich nervös, wenn ich weiß, in einer Stunde muss ich raus... O-Ton Petrowskaja Ich kann kaum Bücher lesen, wenn ich dazu nur 20 Minuten habe, oder eine Viertelstunde, dann eine halbe Stunde und dann wieder eine Viertelstunde. O-Ton Hörner: Ich les am liebsten liegend auf dem Bett, weil ich, wenn ich richtig les, so nach ner halben, dreiviertel Stunde ne Pause brauch, und dann fünf Minuten Schnellschlaf mach. Deshalb am liebsten auf dem Bett. O-Ton Bremer Eigentlich muss ich leider Gottes zugeben, dass ich meistens im Bett lese, was man eigentlich nicht machen soll. Das passiert mir auch häufig, dass mir die Augen dabei zufallen. Wenn ich aber merke, dass mich ein Buch richtig packt, dann steig ich mit dem Buch aus dem Bett und dann les ich's im Sessel weiter und wenn's mich dann noch weiter packt, dann geh ich mit dem Buch sogar an meinen Arbeitstisch und les am Arbeitstisch weiter. O-Ton Schönbohm ...und im Liegen zu lesen ist natürlich eine Sache, die Konzentration ist im Liegen halt sehr viel höher, ich glaube, alle Menschen können sich besser konzentrieren wenn sie liegen und sich entspannen. O-Ton Kretschmer Ich hab immer ein Buch bei, egal wohin ich gehe, und es kommt eigentlich nie vor, dass ich irgendwo stehe und nicht lesen würde, weil ich immer so die Zwischenzeiten fülle damit. Eigentlich weniger so zurückgezogen lesend sondern mehr so auf die U-Bahn warten, in der U-Bahn sitzen, also in den Zwischenzeiten halt. O-Ton Linder Ich bin natürlich jederzeit ein Freund von tragbarer Lektüre, die ich mit mir nehmen kann Am liebsten läse ich halt doch überall. O-Ton Hahn Das hab ich als Kind schon gelernt, überall kann ich in meine eigene Welt begeben. Ich bin in einer Großfamilie aufgewachsen. Meine Eltern waren arm, wir haben im Winter in anderthalb Zimmern gewohnt zu elft. Ich kann überall lesen. Kommentar: "Ich kann überall lesen" - wenn man die Geschichte des Lesens betrachtet, ist diese Aussage keine Selbstverständlichkeit. Von den ersten Schriftzeichen, die die Sumerer in Keilschrift auf Tontafeln ritzten bis zum portablen Taschenbuch vergingen fünftausend Jahre. "Lesen macht keinen Lärm", so lautet der Werbespruch einer Schweizer Tageszeitung, doch dem war nicht immer so. In der Sprache des Alten Testaments, dem Hebräischen, wird für Lesen und für Sprechen das gleiche Wort verwendet, bemerkt der kanadische Literaturdozent Alberto Manguel in seinem Buch "Geschichte des Lesens". Noch bis ins Mittelalter wurden die Wörter beim Lesen ausgesprochen - leises Lesen war eine Seltenheit, wie Manguel anhand einer Stelle aus den "Bekenntnissen" des Augustinus darlegt. Augustinus beobachtet den vielbeschäftigten Mönch Ambrosius beim Lesen: Zitat: Las er aber, so glitten seine Augen über die Seiten, und sein Herz ergründete den Sinn, Stimme und Lippen aber schwiegen. Oft, wenn wir anwesend waren, sahen wir zu, wie er so schweigend las, immer nur schweigend, saßen selber in langem Schweigen da - denn wer hätte dem so Vertieften lästig fallen mögen? - und entfernten uns dann wieder. Wir vermuteten, in jener kurzen Zeit, die er frei vom Gedränge anderer Geschäfte der Erholung seines Geistes widmete, wolle er nicht abgelenkt werden. Auch fürchete er vielleicht, sagten wir uns, dass ein eifriger, aufmerksamer Hörer ihn, hätte er laut gelesen, genötigt haben möchte, schwer verständliche Ausführungen des Schriftstellers zu erklären oder über verwickeltere Probleme zu disputieren. Auch hatte er Grund, seine Stimme zu schonen, die leicht heiser wurde, und das schon rechtfertigte sein leises Lesen. (Augustinus, Bekenntnisse, Übersetzung: Wilhelm Thimme, dtv, München 2000) Kommentar Das Publikum solle dem Text "sein Ohr leihen" - mit dieser Bitte wandten sich Schriftsteller an ihre Leser oder eben Hörer, denn im Mittelalter wurden Bücher meist nicht gelesen, sondern vorgelesen. Das laute Lesen verweist auf eine noch junge Lesekultur: In unserer Gesellschaft ist man ein Außenseiter, wenn man nicht lesen kann, im Mittelalter hätte man damit zur Mehrheit gehört. Auch Bücher waren im Mittelalter nichts Selbstverständliches, sondern ein Luxusgegenstand. Bis zur Erfindung des Buchdrucks mit beweglichen Lettern in der Mitte des 15. Jahrhunderts gab es sie nur in Gestalt von handgeschriebenen, kostbaren Codices. In einer Vorlese-Kultur ist der Akt des Lesens nicht mit einem Rückzug von der Gesellschaft verbunden. Im Gegenteil: Lautes Lesen dient der Gemeinschaft. Je mehr sich das Lesen jedoch als Kulturtechnik durchsetzte, desto mehr verlegte es sich ins Innere des Lesers, der nach außen hin stumm bleibt. Diese Entwicklung vom lauten zum leisen Lesen wiederholt sich beim einzelnen Menschen: Kinder lesen anfangs noch laut. Sie folgen den Buchstaben mit dem Finger, und die mühsam zusammengesetzten Wörter formen sie mit den Lippen nach. Offenbar ist das Ohr unverzichtbar, wenn man lernen soll, die schwarzen Zeichen auf dem Papier in sinnvolle Wörter zu übersetzen. Das Wort "lesen" hatte ursprünglich nichts mit dem Entziffern von Buchstaben zu tun. Es bedeutete "sammeln, auswählen" - ein Sinn, der sich in Wörtern wie "Weinlese" oder "Ähren lesen" bis heute erhalten hat. Der Lese-Anfänger liest, indem er Buchstaben sammelt und aufliest. Erst mit zunehmender Übung ist er in der Lage, ganze Wörter und später dann Wortgruppen zu erfassen - bis die Augen einen Satz schließlich schneller lesen, als der Mund ihn sprechen könnte. Die Verlagerung des Lesens ins Innere hat Folgen: Aus dem öffentlichen Vortrag wird eine Privatangelegenheit, bei der die anderen auf einmal stören. Zitat: Ein Werk der Kunst, speziell der Literatur, und ganz besonders ein Gedicht springt den Leser frontal an, sozusagen tête-à-tête, und tritt ohne Mittelsmänner direkt mit ihm in Kontakt. (...) Ein Roman oder Gedicht ist eine Unterhaltung zwischen Autor und Leser, und zwar eine Unterhaltung, die sehr privater und fast misanthropischer Natur ist, weil sie alle anderen ausschließt. (Joseph Brodsyk) (Joseph Brodsky, Danksagung, in: Der sterbliche Dichter. Übersetzung: Hans Christoph Buch, Fischer TB, Frankfurt 1991) O-Ton Linder Also, wenn ich meine Buchdeckel öffne, heisst das natürlich, dass ich sie vor jemand anderes Nase schließe. Kommentar: So der Komponist Klaus Linder. Ein Leser, der sich in sein Buch zurückzieht, ist für die Umgebung immer auch eine Provokation. O-Ton Linder: Der Drang, die Schwelle zu überschreiten, die Tür aufzubrechen, ist verständlich, auch wenn nicht mehr dabei herauskommt, als schliesslich die Frage: Was steht denn da drin?, oder der abscheuliche Satz: Man wird ja wohl noch fragen dürfen. Kommentar: Wir betrachten das Lesen oft als einen geistigen Vorgang, doch man liest auch mit dem Körper. Das beginnt schon damit, dass man beim Lesen etwas in den Händen hält, meistens ein Buch. Der Restaurator Dirk Schönbohm hat ein besonderes Verhältnis zu Büchern, denn er liest sie nicht nur. Beim Restaurieren hat er es mit ihrer äußeren, materiellen Gestalt zu tun. O-Ton Schönbohm: ... ich denke, dass meine Bewertungskriterien, also was mir gefällt oder was mir nicht gefällt an einem Buch nicht am Inhalt festzumachen sind, nicht in erster Linie, sondern immer schon am Buch selbst beginnen, also wie sieht das Buch aus, wie ist es gedruckt, wie liegt es in der Hand, wie lässt es sich öffnen, wie ist es verarbeitet, und das Vergnügen am Buch beginnt mit dem Objekt selbst, oder das Missvergnügen... Kommentar Denn für die geschulten Augen und Hände eines Restaurators gibt es Anlässe genug für Missvergnügen beim Lesen. O-Ton Schönbohm Beim Lesen direkt, wenn das Buch zu schwer ist, wenn ich es weit aufschlagen, also es aufbrechen muss damit ich überhaupt lesen kann, weil der Satzspiegel, also der Text zu weit im Falz beginnt, wenn die Verteilung der Ränder nicht stimmig ist, wenn die Papierfarbe beeinträchtigt ist durch optische Aufheller zum Beispiel, was neuerdings der Fall ist, dass Bücher schneeweiß sind, und ganz billig gedruckt, eher aussehen wie Fotokopien, aus meiner Sicht. Kommentar: Solche Bücher sind für Dirk Schönbohm Wegwerfprodukte. Besonders ärgert es ihn, wenn der Text zu weit im Falz des Buchrückens beginnt, weil der Satzspiegel nicht richtig gesetzt ist. Dann lässt sich das Buch nämlich nicht richtig öffnen: O-Ton Schönbohm: man muss es wie ein Knochen brechen, damit man es lesen kann, und dabei brechen einem die Daumen ab auf die Dauer, ... ich muss aber ganz weit aufhalten und aufbrechen und dann krieg ich einen Krampf in den Unterarmen, da kriegt man dann einen Tennisarm vom Lesen sozusagen. Kommentar: Nicht nur die Hände und die Augen sind beim Lesen beteiligt. Bei den Lesern der Heiligen Schriften des Judentums und des Islam schaukelt manchmal der ganze Körper mit. Für den Komponisten Klaus Linder gehören auch Ohr und Zunge zu den Lese-Organen des Körpers: O-Ton Linder: Also da, wo das Ohr der Zunge benachbart ist, trifft das Buch durch die Augen auf den Leser. Lesen ist ein körperlicher Vorgang. ... Also ein Leser liest auch leise laut. Mir ist das z.B. bei Gedichten von Baudelaire so gegangen. Wenn ich wirklich wissen wollte, wie's tönt, musste ich mir, obwohl ich mir das nicht laut vorlesen wollte, musste ich mir ein akustisches Bild von dem Gedicht machen. Kommentar: Die eigentliche Arbeit des Lesens findet im Gehirn statt - doch auch das Gehirn ist ein Teil des Körpers, selbst wenn wir das gern vergessen. So kann Lesen das Bewusstsein in andere Zustände versetzen, ganz ähnlich wie man es bei körperlicher Anstrengung erleben kann. Der Verleger Wolfgang Hörner erklärt, was geschieht, wenn man beim Lesen abhebt: O-Ton Hörner: Bei einem guten Buch, da gibt's bei mir tatsächlich eine Bewusstseinsveränderung. Ich bin früher viel Fahrrad gefahren und sehr gern Berge hochgefahren, da ist es so, dass in neun von zehn Fällen das einfach anstrengend ist, und man schwitzt, und wenn man oben ist, dann ist es bis zur letzten Sekunde richtig anstrengend und man schnauft und schwitzt und stöhnt, und dann geht das runter... Und in einem von zehn Fällen, da fliegt man so die letzten zwei, drei Kilometer praktisch von selber hoch, und so geht's mir bei einem richtig guten Buch. Auch wenn's schwer ist, dann fliegt man, selbst wenn man langsam liest, man fliegt beim Lesen gewissermaßen. Das muss sowas Ähnliches wie ein Endorphin-Schub sein. Kommentar Ein Buch lässt dem Leser oder der Leserin eine fundamentale Freiheit: Wir können innehalten, einen Satz noch einmal lesen, oder wir können eine Seite überfliegen, ein ganzes Buch verschlingen. Darin besteht eine Autonomie des Lesers, die andere Medien uns nicht gewähren - eine Freiheit, die für den Schriftsteller Jan Peter Bremer entscheidend ist: O-Ton Bremer: Ein ganz großer Unterschied ist ja, dass man beim Lesen erstmal selbst das Tempo bestimmt, beim Film kann man das ja nie machen, Film läuft einfach ab, beim Lesen bestimmt man das Tempo selbst. Und, zweiter Unterschied, dass man eine Pause machen kann beim Lesen und der dritte ganz große Unterschied ist, dass man sich die Räume selbst aufbauen muss beim Lesen. Man muss ja den beschriebenen Figuren selbst Gesichter geben. Man muss die Gesten nachvollziehen und in guten Texten stehen ja derartig viele und verschiedene und sich widersprechende und widerstrebende Gesten und Gedanken drin, dass man jedes Mal was komplett anderes entdeckt. Kommentar Lesen heißt also, einem Text Raum zu geben. Das braucht Zeit - je nachdem, wie stark ein Text unsere Phantasie beansprucht. Dies bedeutet allerdings auch, dass der Leser doch nicht ganz frei ist in dem Lesetempo, das er wählt. Der Text bestimmt selbst, wie schnell er gelesen werden will: Zitat: Wenn man zu schnell oder zu langsam liest, versteht man nichts. (Blaise Pascal, Gedanken, Übersetzung Ulrich Kunzmann, Reclam-Verlag, Stuttgart 1997) Kommentar Je besser das Buch, desto langsamer die Lektüre, zu diesem Schluss kommt die Literaturwissenschaftlerin Barbara Hahn: O-Ton Hahn Es gibt Dinge, die les ich schnell. Nen schlechten Roman les ich schnell. Je besser der Roman ist, desto langsamer wird das Lesetempo, das find ich ganz interessant, weil plötzlich gibt es dann so die Aufmerksamkeit über die Feinheiten der Sprache, jeder Satz wird das, was gelesen sein will und wenn es ein richtig gutes Buch ist, dann ist es nicht nur jeder Satz, sondern das ist jedes einzelne Wort, dann wird es immer langsamer, dann - dann brauch ich nen Bleistift. Dann fang ich an zu malen. Kommentar Zum Lesen allerdings gehören immer zwei. Zitat: Wenn ein Buch und ein Kopf zusammenstoßen und es klingt hohl, ist das allemal im Buch? (Georg Christoph Lichtenberg, Sudelbücher Bd.I´, Carl Hanser, München 1980) Kommentar: ... fragte einst Georg Christoph Lichtenberg, und sein berühmter Aphorismus gilt auch für das Tempo, mit dem man ein Buch liest. Ein Buch so langsam zu lesen, wie es das verdient, ist eine Frage der Aufmerksamkeit, die man als Leser dem Buch entgegenbringt. So jedenfalls sieht es die Freizeit-Leserin Anja Kretschmer: O-Ton Kretschmer Zum Lesen gehört eine Lesehaltung oder eine gewisse Fähigkeit des Genießens und der Aufmerksamkeit und des sich-darauf- Besinnens, und die muss man aufbringen. Sonst ist es schade um die schönen Sätze. Und wenn man die nicht aufbringt, dann liest man besser Krimis, glaub ich. Kommentar Und doch muss schnell lesen nicht immer heißen, dass man unaufmerksam liest. Menschen, die von Berufs wegen lesen, entwickeln oft eigene Techniken des Schnell-Lesens. Ein Verleger, in dessen Büro sich die Manuskripte türmen, kann sich kein langsames Lesen leisten. Wolfgang Hörner vom neu gegründeten Galiani-Verlag in Berlin: O-Ton Hörner Das professionelle Lesen bei Manuskripten, von denen man noch überhaupt keine Ahnung hat, ob man die machen will oder nicht, das ist ein sehr viel schnelleres, da brauch ich den Schlaf, weil das sozusagen ein sehr schnelles Lesen in sehr kurzer Zeit ist, mit einem ganz hohen Lesetempo, sehr anstrengend, wo man dann gleichzeitig sozusagen nicht nur den gelesenen Text vor sich hat, sondern mitdenkt: Ist das was für mich, passt das ins Programm, gefällt mir das, entgeht mir was, wie find ich das. Und es gibt ein ganz anderes privates Lesen - viel zu selten, leider, das völlig entspannt ist, und gleich am Anfang ein ganz anderes Lesetempo hat. Kommentar Zum Glück haben auch Berufsleser ein privates Leserleben - und dort bestimmt nicht die Professionalität, sondern der Text selbst, wie schnell gelesen werden soll. O-Ton Hörner Es gibt Bücher, die muss man einfach langsam lesen. Mein Generalbeispiel ist immer Jean Paul. Den lieb ich, großartige Prosa, aber wenn ich nicht entspannt bin und keine Zeit hab, dann kann ich den überhaupt nicht lesen, weil der ein anderes Tempo braucht. Also es hängt immer sehr vom Text ab. Es gibt Texte, die wollen langsam gelesen werden, die haben auch schon einen sehr komplizierten Satzbau, da muss man viele Sätze zweimal lesen, um sie überhaupt zu verstehen, die könnte man gar nicht schnell lesen. Kommentar: Bücher kann man also fressen oder satzweise zu sich nehmen, man kann sie auch liegen lassen, und sie warten geduldig, jahrzehntelang. Im Grunde wartet die gesamte Literatur einer ganzen Welt und aller Zeiten auf jeden Leser, der nach ihr greifen will. Die Auswahl ist schwer und jeder hat dabei seine eigenen Kriterien: O-Ton Kretschmer Nachdem ich als Kind mit Karl May angefangen hab und das auch wirklich besessen gelesen hab, und meine Eltern immer nachgefragt haben, ob ich das denn wirklich so gut finden würde, und ich immer gesagt hab, ja und was anderes könnt ich mir gar nicht vorstellen, hab ich dann irgendwann angefangen doch das erste andere Buch zu lesen und ab da hab ich mir das auch so ländermäßig vorgenommen. Ich hab ein Land nach dem anderen gelesen und ich meine auch, alles, was wichtig ist, und ich hatte auch ein Lexikon für Weltliteratur und hab immer nachgekuckt, was ich noch lesen könnte. Kommentar: Manche lesen sich schon als Kinder durch die Leihbücherei im Viertel, denn mit der Kindheit fängt es ja an, das Lesen. Steck die Nase nicht den ganzen Tag in ein Buch, geh raus an die frische Luft, hat es früher geheißen. Und lange Zeit waren Eltern und Erzieher überzeugt, dass Lesen die Moral, gar den Charakter verdürbe - zumindest aber die Augen. Heute gilt Lesen für Kinder als eher heilsame Beschäftigung; darüber wird vergessen, dass es immer noch Gefahren in sich birgt - zum Beispiel die, dem wirklichen Leben ein wenig abhanden zu kommen. Der Leser aus Leidenschaft Gerd Schönfeld liest am liebsten mehrere Stunden ohne Unterbrechung, schon seit seiner Kindheit. O-Ton Schönfeld Als Kind hab ich mich immer identifiziert mit. Das hat mir so ne Kraft gegeben, mit nem Buch in der Tasche rumzulaufen. Manchmal hab ich mir von meinen Lieblingsstellen die Seiten rausgerissen, von geborgten Büchern auch und hab'se in der Tasche gehabt... Anhand der Zeugnisse hab ich immer gesehen, welches Buch ich gerade gelesen habe und wer mein Vorbild war, als ich "Ljonka" las, stand im Zeugnis: ist schmutzig, kommt zu spät, weil Ljonka ist ja auch zu spät gekommen, ich bin auch nicht mehr mit der Bahn gefahren, weil Ljonka fuhr ja auch nicht mit der Bahn im Petersburg der Nachkriegszeit. Und ich hab mich nie gewaschen, hab mir auch die Füße nicht gewaschen, und in der Turnhalle, weiß ich noch sollte ich, weil ich keine Turnschuhe hatte, die Straßenschuhe ausziehen und die Socken auch, weil man sonst so rutscht, aber nun hatte ich die dreckigen Füße, sechs Wochen nicht gewaschen, dick verkrustet, und da sagte der Lehrer: Guckt euch diese Sau an, aber ab in den Waschraum, ja! Das ging aber nicht, weil ich Ljonka war. Da musste ich dann auf der Strafbank sitzen. Kommentar: Dieses Verlangen befällt auch Erwachsene: einzutauchen in die imaginäre Welt, die sich zwischen zwei Buchdeckeln befindet und darin jemand anderer zu werden. Das Einssein mit einer Figur macht für viele den Reiz des Lesens aus. Als Professorin hat Barbara Hahn einiges einzuwenden gegen diese subjektive und begrenzte Form des Lesens. O-Ton Hahn Dass ich mich professionell mit Literatur beschäftige, vielleicht hat es auch damit zu tun, dass dieses identifikatorische Lesen mich relativ früh nicht mehr befriedigt hat. Ich hab mich mit anderen Dingen beschäftigt an Texten und das ist glaub ich auch wirklich meine Leidenschaft. Was ich unglaublich aufregend finde ist so was wie: was ist Zeit? Wie kann ein Text überhaupt Zeit erzeugen. Also wie ist der Rhythmus da drin. Also solche Dinge les ich einfach unglaublich gerne. Und ich merke ja immer wieder mit Studenten, vor allem mit Studenten, die Naturwissenschaft machen oder sonst irgendwas, diese spontane Haltung des identifikatorischen Lesens, mir kommt das immer vor wie eine unendliche Einschränkung, als ob das ein Zugang wäre zum Text, der bei einem guten Text unendlich viel überhaupt gar nicht sichtbar macht, verstellt. Kommentar: Einer der faszinierendsten Aspekte des Lesens ist das Verhältnis der gedachten und geschriebenen Welt zur Realität. Bücher transportieren Wirklichkeit, aber eine andere als die, die uns als Leser gewöhnlich umgibt. Was tun wir mit der Welt der Bücher, wenn wir lesen? Zitat: Lesen ist immer auch Übersetzen, der Übergang von der fixierten Form des Universums zu einer besonderen Art, es zu erfahren oder wahrzunehmen, von einer Darstellung in der Textwelt (in geschriebenen Buchstaben) zu einer anderen (in gesehenen und gehörten Buchstaben). Kommentar: schreibt Alberto Manguel in seinem Essay "Übersetzen" Zitat: Jüngste Forschungen haben ergeben, dass wir mit dem Bereich unseres Gehirns, der für die Rezeption eines Textes zuständig ist, auch Formen und Entfernungen erkennen, das heißt, das Lesen ist vom physiologischen Standpunkt aus ein Übersetzen der äußeren Formen des Universums in imaginäre Bilder, die zugleich räumlich sind. So ist Lesen tatsächlich ein Übersetzen der äußeren Wirklichkeit in unsere eigene Erfahrungswirklichkeit. (Alberto Manguel, Übersetzen. Übersetzung: Susanne Lange. In: Le Monde diplomatique, 8/2009) Kommentar: Lesen ist ein privater Vorgang. Wenn ein Leser sich einen Text einverleibt, vergegenwärtigt oder in ihn eintaucht, schweigt alles andere. Das Bedürfnis, sich von der unmittelbaren Umgebung zurückzuziehen, um sich auf eine andere Wirklichkeit zu konzentrieren, hat einen Grund. Schließlich verzichten wir als Lesende während der Zeit, die wir mit Lesen verbringen, auf all das, was wir am eigenen Leib erfahren könnten. Wir verzichten aufs reale Gespräch, aufs Autofahren, Lieben, Telefonieren, Essen..., um nichts weiter zu tun, als uns dieser anderen Welt zuzuwenden, die nur aus Wörtern besteht. O-Ton Kretschmer Die Tatsache dass man eine andere Welt betritt und dass die auch gar nichts zu tun haben muss mit eigenen Welt. So. und dass das so leicht ist, dass man eine Seite aufklappt und woanders ist und ich finde das machts auch vergleichbar mit anderen Drogen, das man eintauchen kann in Bereiche, die einem sonst nicht zugänglich wären. Kommentar: Auch wenn Lesen vielleicht nicht gleich zur Droge wird, wie die immer und in allen Aufmerksamkeitspausen lesende Anja Kretschmer mutmaßt: es dient auch zur Flucht. O-Ton Kretschmer Es ist einfach ein große Verlockung, finde ich, zwei Welten zur Verfügung zu haben. Kommentar: Ähnlich betrachtet die russische Literaturwissenschaftlerin Katja Petrowskaja das Lesen im Hinblick auf die Realität als eine enorme Vergrößerung der eigenen Welt. O-Ton Petrowskaja Man ist begrenzt im eigenen Leben, man lebt den Alltag, man hat eine Familie, man ist mit tausenden Sachen unzufrieden, mit einigen zufrieden, aber sie haben sehr wenig mit irgendwelchen Idealen zu tun. Und das Lesen und die Bücher haben schon etwas mit Idealen zu tun. Es bedeutet nicht, dass ich den Prozess von Kafka lese und denke, was für eine schöne Welt, nein, es geht darum, dass Lesen einen Raum schafft, wo man einfach das eigene Leben verliert und wiederfindet, die eigene Reduzierung auf irgendeine Art Realität verliert und etwas neues findet. Jedes Buch kreiert eine Art Welt, und wenn du diese Welt liest oder durch diese Welt gehst, beherrschst du diese Welt, du lebst auch da. Je mehr du liest, desto mehr Welten hast du, desto mehr Freiheiten hast du, desto mehr Punkte hast du, wenn du aus dem eigenen Leben in die anderen Leben reingehen kannst. Lesen war für mich immer eine Art, ich kann nicht sagen Flucht, das ist vielleicht zu banal und auch zu dramatisch, aber auf jeden Fall, es ist so eine Art Tür oder Fenster, du gehst durch, und du bist woanders, und da kann dich niemand fangen, da bist du absolut frei. Da machst du mit dir selber alles, was du möchtest. Kommentar: Lesen und Leben sind niemals dasselbe. Das ist eine Binsenweisheit, schließlich weiß man, dass die Wirklichkeit nicht zwischen Buchdeckeln steckt, mag eine Erzählung noch so realistisch sein. Und dennoch: Realitätsnähe ist derzeit in der literarischen Welt sehr gefragt, Vorbilder sind die angloamerikanischen Autoren mit ihren fast kongruenten Abbildungen bestimmter Milieus, mit ihren akribischen Beschreibungen alltäglicher Gegenstände, mit dem genauen Nachzeichnen seelischer Vorgänge - eine Realitätsversessenheit, die bis hin zu den juristischen Details einer Pleite oder einer Scheidung reicht. Es ist, als sehnten sich die Leser danach, das eigene, ganz normale Leben aufgeschlüsselt und gespiegelt zu sehen - zwar unter einem anderen Blickwinkel, mit einem anderen Personal, mit anderen Stimmen, doch innerhalb der vertrauten Normalität. Ein Reiz der Lektüre mag in der Überschaubarkeit der kleinen Welt liegen, die in ein Buch passt. O-Ton Hahn Ich hab das Gefühl, ich mach mir son kleinen Teil Welt, der ist dann verbunden mit anderen Teilen Welt, aber er ist klein, das sind meistens auch nur zwei Stimmen: da ist dann dieses Buch, was mit mir redet, und ich hör zu. Wenn da kein Buch ist, die Welt ist lauter und polyphoner und dissonanter natürlich, weil die ist ja nicht strukturiert um dich rum, jedes Buch gibt dir ja ne Struktur, und das ist ja auch die Aufregung, rauszukriegen, was das eigentlich für ne Struktur ist, die da vorgegeben wird. Wenn du in der Welt rumläufst, das musst du ja alles selber machen, also zu sagen: Ich hör jetzt da zu und diese Person ignorier ich und wende mich dieser Person zu und mache eben das und nicht das - das Buch gibt dir diese Entscheidungen alle vor. Es hat ja jemand schon mal strukturiert und du gehst ja einfach nur mit und kuckst, wie das gemacht ist. Diese Arbeit, den Dingen Form zu geben! Ich glaub, das ist auch eine Faszination des Lesens. Kommentar: Lesend findet man - jedenfalls zunächst - auch die eigene Welt wieder, die man kennt, als Teil derer man sich fühlt. Nur so kann man in ein Buch eintreten; denn Dinge, die man nicht kennt, kann man nicht entschlüsseln, nicht verstehen, sich nicht zu eigen machen. O-Ton Hahn Du kannst ein kluges Buch lesen, und es sagt dir gar nichts, weil du über das, was das Buch als Gedanke drin hat, überhaupt noch nie nachgedacht hast. Dann ist es zu früh. Du kennst doch auch dieses Komische - Begegnung mit Büchern. Das ist ja das Tolle, wenn man eine Bibliothek hat: Hier stehen Bücher rum, die bedeuten mir nichts. Aber die stehn hier rum, aus irgendwelchen Gründen. Und oft ist es mir so gegangen, ich hab eigentlich was ganz anderes gesucht, und dan greif ich mir n Buch, und dann stellt sich raus, es war genau der richtige Moment. Und jetzt kann ich das lesen. Und dann hat das mit Fragen zu tun, an denen ich rumdenke, Dann ist es genau dieses Buch, was damit umgeht. Und vorher konnt ich das nicht lesen, weil ich mit dieser Frage nichts zu tun hatte. Kommentar: Das Paradoxe am Lesen ist, dass wir als Ausgangspunkt das Vertraute brauchen und trotzdem - oder deswegen? - das Unbekannte suchen, das über die vertraute Realität eben nicht Zugängliche. Die Schriftstellerin Gerlind Reinshagen sucht dies vor allem in den Figuren: O-Ton Reinshagen Ein Buch fängt an mich zu interessieren, sehr zu interessieren, wenn eine Figur genau das Gegenteil tut oder sagt, was man von ihr erwartet. Wo sie nicht den psychologischen oder soziologischen Bestimmungen gehorcht, sondern vollkommen aus sich selbst was anderes äußert. Dann bin ich begeistert von einem Buch. Kommentar: Beim Lesen finden wir das Andere, Größere, die offenen Horizonte, eine Weite, Tiefe und Intensität, die es im eigenen Leben nicht zu geben scheint. Oder nur sehr selten gibt. Und wenn das Buch gut ist, kann es in dieser Hinsicht mehr als das Leben. Literatur tut an unserer statt das, was wir Leser selbst nicht erleben, nicht erleben müssen oder erleben wollen, vielleicht sogar fürchten; sie tut, was wir nicht dürfen, nicht können. Aber man möchte doch wissen, wie es ist. Wie es war. Wie es wäre. Wie hätte es gewesen sein können, wären wir das Wagnis eingegangen und hätten diese Gefahren oder jene Genüsse erfahren und erlebt. Für die Erfahrung, so sie uns als Lektüre zuteil wird, müssen wir nicht bezahlen, sie beeinträchtigt unsere Sicherheit, unsere Gesundheit, unsere Beziehungen nicht. So glaubt man. Lesen als Gratis-Erfahrung, die nichts kostet. Zitat: Die schlechtesten Leser sind die, welche lesen wie plündernde Soldaten. (Friedrich Nietzsche, Vorwort z:u Morgenröthe, 1886, in: Sämtliche Werke, Bd.3, dtv 1980) Kommentar: Es war Friedrich Nietzsche, der die Lesehaltung der bloßen Aneignung so heftig verurteilte. Der Zusammenhang zwischen der vermeintlichen Gratis-Erfahrung, die sich beim Lesen ganz umsonst aus Büchern saugen ließe, und dem Leben selbst ist widersprüchlich. Gerlind Reinshagen: O-Ton Reinshagen Ich glaube, das Gelesene vermischt sich sehr, aber unbewusst mit dem, was man erlebt und umgekehrt. Das Lesen ist eigentlich immer im Leben da, es ist immer da, es kommt an die Oberfläche, sinkt wieder runter und kommt wieder an die Oberfläche - in ganz vielen Situationen. Es sind die Erfahrungen, die man gelesen hat, die man nicht bezahlen muss. Ja, aber dann kommt wieder die Frage: Gibt es Lektüre, die dich so beschäftigt hat, dass sie in dein Leben eingegriffen hat, dann bezahlst du ja doch. Also da kriegst du's nicht ganz gratis. Ich glaube, man kriegt's nicht ganz gratis auch insofern, als man bestimmte Dinge dann ganz anders erlebt später. Wenn die Unterströmung des Lesens im Leben weitergeht und ab und zu an die Oberfläche kommt und wieder runter geht. Kommentar: Und doch ist uns dieses Andere, das Unmögliche, nur zugänglich über die Wege der gewohnten Wahrnehmung. Ein kleines Wiedererkennen in Sprache, Gedanken, Gefühl als Tor zum Text: Das ist einfach nötig, um diese fiktionale Welt, die gefüllt ist mit den Phantasmen, Melodien, Gefühlen, Erkenntnissen und Erfahrungen anderer Menschen, überhaupt betreten zu können. Wird aber die Gemeinsamkeit zwischen Leser und Buch zu groß, und ist dazu die Sprache arm und ohne eigenes Leben, wird das Lesen langweilig. O-Ton Reinshagen Wenn ein Buch unbedingt authentisch sein will, und schafft es aber nicht, dann leg ich's gleich weg. Und ich mag Bücher eigentlich nicht, die so lange Beschreibungen machen von der Natur oder von einer Großstadtstraße. Ich denke, das können die Bilder und kann der Film besser. Aber ich find toll, wenn meinetwegen Straßenpflaster beschrieben wird, gefiltert durch die Emotion des Betrachters, dann wird es interessant. Oder eine Vorstadt, die eigentlich ganz furchtbar ist, aber in dem Moment, wo sie durch eine Emotion gefiltert ist, also die Emotion ist der Katalysator für die Beschreibung, dann wird es interessant. Kommentar: Besteht also das große Leseerlebnis im Wesentlichen aus Gefühlen? Herman Melville behauptete ganz grundsätzlich: Zitat: Wer nicht mitfühlt, der liest umsonst. (Herman Melville, Galapagos. Übersetzung: Michael Walter und Daniel Göske, in: Billy Budd, Hanser, München 2009) Kommentar: Buch und Leser in ihrer Intimität - unter der Leselampe, im Bett, oder herausgehoben aus der Welt in einem U-Bahnhof - kann man durchaus als ein Paar betrachten, das durch Gefühle miteinander verbunden ist. Damit es auch eine Chance hat, zusammen zu bleiben, muss ein anhaltendes Interesse aneinander vorhanden sein. Denn auch das Buch will ja den Leser, selbst wenn es ihn nicht kennt. Der vollständig hermetische Text ist ein einsamer Text. Was ein Buch seinem Leser idealerweise bieten sollte, ist die Formulierung von etwas, das dieser bislang noch nicht selbst gedacht hat. Im aufregendsten Fall wäre dies etwas, das wir als Leser gerne schon immer selbst einmal gedacht hätten - aber die Worte nicht fanden oder den Mut dazu. Wenn ein Buch dies erreicht, dann kann es hineingreifen in das Leben der Lesenden. O-Ton Hahn Da kann ich dir gleich die Autoren sagen, wenn ich die nicht gelesen hätte, wenn mir die nicht begegnet wären, dann wäre glaube ich einiges anders gelaufen. Für mich ist Nietzsche so ein Erlebnis, immer wieder, bei Nietzsche hab ich sicher alle Texte, mit denen ich so lebe, die hab ich sicher sechs, sieben, acht Mal gelesen, die sind ja auch unerschöpflich, da stehen immer wieder Dinge drin, die mir einfach so entgegenspringen. Und dann, komischerweise, Rahel Levin, was da an Denkpotenzial drin ist, das hat mich wirklich verändert. Hannah Arendt, auch. Die drei, würd ich sagen, sind so entscheidend. ... Da hab ich denken gelernt, weißt. Kommentar: Und Nietzsche selbst sagt über das Lesen: Zitat: ..gut zu lesen, das heißt langsam, tief, rück- und vorsichtig, mit offen gelassenen Türen, mit Hintergedanken, mit zarten Fingern und Augen lesen. (Nietzsche, ebd,) Kommentar Wenn wir nun den Büchern all diese lesende Aufmerksamkeit schenken, die sie verdienen, wenn wir uns ihrem Tempo überlassen, wenn wir ihre Gefühle spüren können, und wenn ihr Wissen uns erreicht: dann ist der Sinn des Lesens erfüllt. Der Verleger Wolfgang Hörner erinnert daran, dass die Bücher ja nicht einfach da sind: jemand hat sie geschrieben, jemand wollte etwas damit. O-Ton Hörner Man kann aus Büchern lernen, mit Sicherheit, ja. Ich glaube, deshalb schreiben Leute ja auch Bücher. Sie schreiben ja in erster Linie nicht, um Geld zu verdienen, und sie schreiben auch in erster Linie nicht, um wichtig zu sein, sondern sie halten die Art, wie sie schreiben, und die ist ne Lebensform, die halten sie für wichtig, und die wollen sie weitergeben. Die meisten haben eben nicht ne direkte politische Botschaft, sondern es geht mehr um eine Herangehensweise ans Leben überhaupt. Und die färbt dann schon ab. Kommentar: Und dann gibt es die Höhepunkte beim Lesen, den Moment der Gänsehaut, des Hingerissenseins, der jähen Erkenntnis: O-Ton Reinshagen Es gibt einen schönen Ausspruch von Emily Dickinson, die ist gefragt worden, was ist Kunst, und da hat sie gesagt: Kunst ist, wenn mir ganz kalt wird. Und das find ich ne wunderbare Sache, ich les am liebsten Bücher, wo mir kalt, nein, wo ich den Atem plötzlich anhalte und denke, Mensch, ist das fantastisch ausgedrückt. Das gibt es ja. Kommentar Und wenn ein Buch etwas so sagt, wie es noch niemand vor ihm gesagt hat, wenn man ins Staunen gerät und das Gelesene neu denkt und hört - dann entsteht zwischen Leser und Buch eine glückliche Beziehung. O-Ton Hörner Aber wenn ich ein Buch gut finde, dann glaube ich, ist es so, dass ich a) den Autor nach spätestens zwei Sätzen in jedem anderen Buch wieder erkennen kann, dass er wirklich eine ganz eigene Handschrift hat. Und dann geht's mir so, mich interessiert dann ein Buch, wenn es mich entweder stilistisch oder von der Erzählhaltung, kann auch inhaltlich sein -wesentlich seltener - immer wieder von Neuem überrascht. Wenn ich sehe, oh sowas kann man mit Sprache machen, da sind Einfälle drin, die wären mir nie gekommen, dass es sowas gibt, finde ich toll. Also so ein Buch, das mich auf verschiedenen Ebenen richtig überrascht. Professionell geht's einem ja so, dass man die Bücher, die man selber bei sich im Verlag macht, immer wieder hört, stellenweise meistens, bei Lesungen, bei Preisverleihungen, bei Laudatios und so, und da finde ich, ist für mich ein Kriterium, wenn ein Text, den man sehr gut kennt, auch beim sechsten, siebten, achten Lesen immer noch Spaß macht, wenn man immer noch denkt: Ui, so gut ist der tatsächlich, und eigentlich selber immer wieder überrascht ist, wie gut er ist, dann bleibt der. Kommentar Ein Buch kommt nie allein. Es steht in Verbindung zu Büchern, die schon vor ihm da waren. Die Geschichten, Figuren, Gedankengebäude, die wir in dem einen Buch kennenlernen, erinnern uns an andere Bücher. Doch im Regal stehen die Bücher stumm nebeneinander - ins Gespräch kommen sie miteinander erst im Kopf des Lesers. Eine polyphone Lese-Erfahrung, die Klaus Linder so beschreibt: O-Ton Linder Wer liest, hört Stimmen. Wer viel liest, hört viele Stimmen. Wer viele Stimmen hört, hört viele Einwände, und diese Einwände trägt der Leser mit sich auf der Zunge. Wenn aber der äußere Lärm beseitigt ist, dann bin ich mit einem anderen Problem konfrontiert: Das ist mein innerer Lärm. Ich weiß, dass es Momente gibt, und der schönste Moment ist immer das Erwachen, wo überhaupt der Lesesinn erst langsam so wie Nebel, die sich lüften, sich aufbaut. Ich brauche ja am Morgen Stimulanzien wie Kaffee... und es gibt irgendwann einen Moment, wo die Stimulanzia ihre Wirkung so gut getan haben, dass ein ziemliches Getöse in mir anfängt. Aber wenn ich genau hin höre, ist das Getöse eine Unterhaltung des Buches in mir. Es unterhält sich in mir mit anderen Büchern. Kommentar Natürlich gibt es nicht nur ein Gespräch der Bücher, sondern auch - und vor allem - ein Gespräch des Lesers mit dem Buch. Zitat Lesen heißt antworten Kommentar schreibt der Kulturphilosoph George Steiner, Zitat: Gut zu lesen bedeutet, dem Text zu antworten, sich ihm gegenüber verantwortlich zu fühlen. Gut zu lesen heißt, in ein verantwortungsbewusstes wechselseitiges Verhältnis mit dem Buch, das man liest, einzutreten, sich auf einen bedingungslosen Austausch einzulassen. (George Steiner, Der Garten des Archimedes, Übersetzung Michael Müller, Hanser, München 1997) Kommentar: Wer antwortet, will sich äußern, und deshalb erlauben sich manche Leser, Bemerkungen an den Rand zu schreiben. Steiner hat dagegen nichts einzuwenden, ganz im Gegenteil. Zitat: Jeder Akt vollkommenen Lesens ist von dem latenten Drang begleitet, ein Buch als Antwort auf das Buch zu schreiben. Ein Intellektueller ist ganz einfach jemand, der (...) beim Lesen eines Buches einen Stift in der Hand hält. (Steiner ebd,) Kommentar Als Literaturwissenschaftlerin ist es für Barbara Hahn selbstverständlich, mit dem Stift sozusagen schreibend zu lesen - allerdings gelten dabei gewisse Anstandsregeln. O-Ton Hahn Also wenn ich arbeite an nem Buch, dann schreib ich rein. Aber nur mit Bleistift, ich würde nie mit Kugelschreiber oder Tinte in ein Buch schreiben. Wenn ein Buch gut ist, dann brauch ich Respekt, und der Respekt hat auch damit zu tun, dass ich mich da nicht so vordränge. Unterstreichen tu ich fein, oder ich mach mir Notizen auf dem Rand, nicht auf dem Umschlag, das mach ich, das gibt dann auch so Schichten von Lektüren, aber ich bin behutsam. Kommentar Es macht allerdings einen Unterschied, ob die Anmerkungen von einem selbst stammen oder von einem vorherigen Leser: O-Ton Barbara Hahn Und ich kann mich erinnern, ich hab den Teil einer Bibliothek geerbt von einer Autorin, und ich dachte eigentlich, ich würde mit den Büchern arbeiten können, das kann ich nicht, weil die mit Tinte unterstrichen hat, wenn ich die Bücher aufmache, hab ich das Gefühl, die sind verletzt worden, also für mich ist dieser Eingriff zu brutal. Deshalb kann ich mit diesen Büchern gar nichts anfangen. Die sind nicht für mich, die lassen keinen anderen Leser zu, diese Exemplare. Aber mit solchen Sachen die man nicht wieder wegradieren kann, geh ich nicht an anderer Leutes Texte. Kommentar: Öffnet man den Buchdeckel, geht man davon aus, mit dem Text unter sich zu sein. Fremde Eintragungen können wie die Spuren eines Eindringlings wirken, vor allem wenn man nicht auf sie gefasst ist - dann kann es eine geradezu unheimliche Erfahrung sein. Klaus Linder: O-Ton Linder Da ist es mir jetzt kürzlich doch vorgekommen, dass ich ein dickes Buch gelesen habe, und plötzlich, so auf Seite 235, springt mich am Seitenrand ein "falsch", das irgend ein vorhergehender Leser dorthin geschrieben hat, an. Das ist so, als würde man sorglos seines Weges gehen, ohne zu wissen, dass man die ganze Zeit von einem Stalker verfolgt worden ist, der nur auf diese kleine Mauerritze gewartet hat, aus der er hervorschießen kann, um in das Buch einzudringen, und ohne Namen, einfach als das "Man", das auch mal mitreden möchte, dir und dem Buch sagen möchte, dass das alles nicht gilt. Und so etwas tut ein richtiger Leser nicht. Kommentar: Manchmal finden sich am Rand von der Hand des Lesers keine zustimmenden Ausrufezeichen oder klugen Bemerkungen, sondern schlichte Fragezeichen. Sie müssen kein Alarm-Signal der Verzweiflung sein - schließlich lässt uns gerade das, was uns überfordert und verwirrt, zu einem Buch zurückkehren. Nur jene Bücher, deren Reichtum wir in einer einzigen Lektüre nicht erschöpft haben, wollen wir wiederlesen. Wenn ein Buch mehr weiß als sein Leser, bleibt es für ihn lebendig. Das Nicht-Verstehen kann einen zum Leser machen: O-Ton Linder Dann bekam ich die gesamten Erzählungen von Kafka geschenkt... und ich schätze das eigentlich sehr, ich möchte jeden auffordern, das zu tun, wo man auch liest, ohne unmittelbar zu verstehen. Mir sind jetzt noch so viele Sätze im Ohr, also im Gedächtnis - denn was ist in diesem Fall das Ohr in dem Fall anderes als ein Erinnerungsvermögen - also mir sind so viele Sätze noch im Ohr aus diesen sämtlichen Erzählungen Kafkas, nur weil ich sie damals eigentlich nicht richtig verstehen oder einordnen konnte. Und man kommt darauf immer wieder zurück. Das, was mich damals zum Leser gemacht hat, war, dass ich mich nicht durch das Verständnis habe zurückpfeifen lassen. Dann hätte ich das Ufer gar nie verlassen, wenn ich mir auferlegt hätte, sozusagen in bare Münze einzutauschen, was mir die Buchstaben da sagen wollen. Kommentar Auch der Schriftsteller Jan Peter Bremer hat eine besondere Beziehung zu Texten, die ihren Sinn nicht ohne weiteres preisgeben: O-Ton Bremer Es gibt ja Texte, die alles klären wollen, und es gibt Texte, die eigentlich alles ungeklärt lassen, und ich bevorzuge die Texte, die alles ungeklärt lassen, die nicht auf eine Klärung hinaus wollen, sondern die eigentlich ein großes Loch in einem hinterlassen, in das man dann gedanklich selbst hineinschlüpfen muss, um den Text dann von innen selbst zu bearbeiten. Die prägendste Geschichte, die jemals gelesen hab, die hab ich glaub ich mit achtzehn das erste Mal gelesen, und dann vielleicht das zweite Mal mit 22, ein anderthalbseitiger Text von Robert Walser, der heißt "Das Zimmerstück": Und in diesem Text fällt alles ineinander, also es wird sowohl der Anlass der Betrachtung geschildert, wie dann auch ne Betrachtung selbst, und der Text ist sowohl absurd wie komisch wie tieftraurig. Und zwar handelt der davon, dass jemand in seinem Zimmer sitzt und nicht weiß, was er machen soll, und kein Thema findet, das er schriftstellerisch behandeln soll. Und der kriecht dann unters Bett, um ein Thema zu suchen und findet es auch nicht, und kommt dann noch trauriger unter dem Bett wieder hervor, und dann fällt sein Blick auf einen alten Nagel in der Wand, an dem ein noch älterer Kleiderhaken hängt, und dann kommt eine ganz kleine, aber wunderschöne Etüde, wo er so beschreibt, wie etwas Schwaches etwas noch Schwächeres hält. Und darüber gerät er in eine ganz tiefe Traurigkeit aber Beglückung gleichzeitig. Auf jeden Fall ist ein wunderschöner Text, den ich permanent lesen kann. Es sind auch tatsächlich nur anderthalb Seiten. Kommentar: Jedes Buch ist einmal zu Ende, es mag noch so viele Seiten haben. Man ist mit dem Buch gereist, hat Fenster geöffnet, in fremde Leben und Köpfe geschaut. Man hat bei der Lektüre des einen Buchs anderen Büchern zugehört. Man ist in eine andere Haut geschlüpft, hat sich in eine Figur verliebt, möchte eine andere umbringen. Manche Sätze verlassen einen nicht mehr, weil sie uns so sehr einleuchten oder gerade, weil sie ein Geheimnis bleiben, so dass wir dem Text unsere Treue erweisen, indem wir ihn, irgendwann, wiederlesen werden. Doch was geschieht mit dem Leser, wenn er die Buchdeckel schließen muss und das Buch ins Regal stellt. Er bleibt allein zurück in seiner eigenen Wirklichkeit. Wenn ein Buch zu Ende ist - O-Ton Hahn Wird man ganz melancholisch, ja. Das kenn ich natürlich vorwiegend von Romanen. Aber es gibt so gute theoretische Bücher, dass es bei denen dann auch so ist, dass es einfach schade ist, dass jetzt plötzlich vorbei sind. Es gibt dann diese Traurigkeit. Da hat man sich in diese Welt reingedacht und dann, hups, ist sie weg. O-Ton Schönfeld Ist traurig, wenn es mir gefällt, lese ich die letzten Seiten sehr langsam, weil ich dann immer gucke, achja, bloss noch 20 Seiten, also da fang ich an, ganz langsam zu lesen. Das stimmt mich dann ein bisschen traurig, das hat so ne Tristesse auf einmal, so wie Kneipenschluss, wenn's gemütlich ist, und der Wirt sagt, in ner Viertelstunde ist Feierabend. So ist das, wenn mir ein Buch gut gefällt. _________ 28