KULTUR UND GESELLSCHAFT Organisationseinheit : 46 Reihe : Werkstatt Kostenträger : 62300 Titel der Sendung : Honig saugen aus den Geschichten der anderen - Wie ticken Biographen? Autor : Christoph Vormweg Redakteurin : Jörg Plath Sendetermin : 15.5.2011 Besetzung : Max von Pufendorf, Jürgen Thormann, Frank Arnold Regie : Beatrice Ackers Urheberrechtlicher Hinweis: Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Jede Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in den §§ 45 bis 63 Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist un- zulässig (c) Deutschlandradio Deutschlandradio Kultur Funkhaus Berlin Hans-Rosenthal-Platz 10825 Berlin Telefon (030) 8503-5562 Benötigt werden: - eine Sprecherin (Poolsprecherin) - drei Sprecher (Autor, 1. Sprecher, 2. Sprecher) Musik (unter/zwischen O-Töne 1-4): O-Ton 1 [Manfred Flügge 2, 20:27] Biographie setzt Freiheit des Handelns voraus, setzt Fehlbarkeit vor- aus, setzt natürlich auch Schicksalsschläge voraus, die so oder so verarbeitet werden. [...20:13] Also wenn wir restlos determiniert wären - durch Umstände, durch Gesellschaft, durch Klima, wodurch auch immer: durch unsere Ernährung, dann würde eine Biographie gar keinen Sinn machen. O-Ton 2 [Julian Schütt 01:25] Man kann sich natürlich fragen, ob überhaupt ein Schriftsteller viel von Biographen hält. Das sind doch für sie einfach Eindringlinge in ihren Privatdschungel. Bei Max Frisch gibt es vor allem zwei Ein- wände. Zum einen ist die Biographie ein Genre, das die Leser zwangsläufig auf eine andere Person fixiert. Frisch aber ging es in al- lem Schreiben darum, die Leser mit sich selber zu konfrontieren, damit sie über sich selber nachdenken, statt nur über eine fremde, bewunderte Person. Und der zweite Einwand, den ich noch für ge- wichtiger halte: Eine Biographie ist auf Entwicklungen und Kausali- täten aus. Also sie heiligt die Chronologie und sucht das Originelle. Frisch aber ging es in seinen Texten immer um das Gegenteil, also um die Brüche, um die Verödungen, Wüstenbildungen im Menschen, um das Durchschnittliche, auch Ereignislose. Er zeigt, wie wir alle in Plagiaten leben statt originell zu sein. [02:25] O-Ton 3 [Manfred Flügge 1, 03:54] Natürlich muss man sich, wenn man schreibt, auch überlegen, was eigentlich ein Leben ist: das Leben einer Persönlichkeit. Ein Leben ist für mich ein Abenteuer, [...] ein Bildungsroman, aber auch die Geschichte eines Körpers, eines Gesichtes, eines Ideen-Tableaus, eine Temperaments - das sich aber einschreibt in eine bestimmte historische Situation, notfalls auch gegen die Situation. Also eine Person, eine Persönlichkeit ist niemals die Marionette ihrer Zeit. [04:30] O-Ton 4 [Ingeborg Gleichauf 15:52] Ohne Distanz geht es nicht, und ohne Nähe geht es aber auch nicht. [...] Wenn ich eine Person habe, die mir schon sehr nahe ist, dann muss ich versuchen wieder Distanz zu finden. Wenn es eine Person ist, die mir am Anfang sehr, sehr fremd ist, dann ist es wirklich ein Prozess der Annäherung. Ich würde nie sagen können, ich liebe jetzt einen Autor oder eine Autorin. - [...] da ist mir zu viel Pathos, das empfinde ich auch nicht. [16:40] 1. Sprecher [aus: Guenassia: Der Club..., S.43] Ich las [immer] erst die Biographie [des Schriftstellers] und konnte sein Werk nicht mögen, wenn mir der Mensch nicht gefiel. Er war wichtiger als das Werk. Autor 1: - so der Erzähler in Jean-Michel Guenassias Roman "Der Club der unverbesserlichen Optimisten" - 1. Sprecher: Wenn [das] Leben des [Schriftstellers] heldenhaft oder berühmt war, waren [seine] Romane besser. Wenn der gute Mann abscheulich oder mittelmäßig war, fiel es mir schwer, sein Werk zu verdauen. Lange waren Saint-Exupéry, Zola und Lermontow meine Lieblings- autoren, nicht nur wegen ihrer Werke. Ich liebte Rimbaud, weil sein Leben aufregend, und Kafka, weil seines diskret und anonym ge- wesen war. Wie soll man reagieren, wenn man Jules Verne, Mau- passant, Dostojewski, Flaubert, Simenon und eine Reihe anderer verehrte, die sich als erbärmliche Dreckskerle entpuppen? Sollte ich sie vergessen, sie ignorieren und nicht mehr lesen? Autor 2: Wer die Literatur liebt, will automatisch mehr über das Leben ihrer Erzeuger erfahren: über ihr Elternhaus, über ihre Lieb- und Leiden- schaften, über Schicksalsschläge und Abenteuer. Die Zusammen- hänge von Leben und Werk eines Schriftstellers aufzudecken: das ist die Arbeit der Biographen. Sie müssen sich nicht nur in der Literatur auskennen, sondern auch in Psychologie, Geschichte, Politik und vielem mehr. Sie forschen in Archiven nach Briefen und Dokumen- ten, recherchieren den historischen Hintergrund, befragen Zeit- zeugen. Oft zieht sich das Tête-à-tête mit dem zu porträtierenden Schriftsteller über Jahre hin. Denn Unwägbarkeiten gibt es viele. Mit ihnen ist der in Romanistik habilitierte Manfred Flügge seit mehr als zwanzig Jahren vertraut. O-Ton 5 [Manfred Flügge 1, 24:32] Die Gefühle gegenüber der Person, um die es geht, muss man sehr im Zaum halten - obwohl ich zugebe, dass sich im Laufe der Arbeit natürlich emotionale Reaktionen einstellen: die sehr weit gehen, die können auch über Hass, Verachtung, Abscheu und so etwas gehen. Also von Bewunderung bleibt dann oft wenig übrig - beziehungs- weise: die Bewunderung ändert dann ihre Natur oder ihre Be- gründung. Aber das ist eigentlich auch nicht weiter überraschend: Wenn man die Menschen aus der Nähe sieht, ihre Schwächen, ihre Fehler sieht, werden sie auf andere Weise dann sympathisch. Man ist immer eigentlich beruhigt, wenn man Schwächen und Fehler sieht - so wie man sich freut, wenn man bei Thomas Mann einen Satz findet, der nicht perfekt ist. Aber da muss man sehr lange suchen. (K3) [25:27] Autor 3: Für Manfred Flügge ist der Biograph "ein Einbrecher". Schwerpunkt seiner Arbeit sind die Heimatverlierer, die nach der Machtübergabe an die Nationalsozialisten 1933 aus Deutschland fliehen mussten: von Heinrich Mann bis hin zu Marta Feuchtwanger. O-Ton 6 [Manfred Flügge 1, 09:09] Prinzipiell würde ich sagen, das "Ich" muss möglichst draußen blei- ben. Es muss vor der Tür bleiben. Aber das geht natürlich nicht. Na- türlich argumentiert man auf der Basis seiner eigenen Erfahrungen: nicht nur eigenen Lebenserfahrungen, sondern auch Erfahrungen mit anderen Lebensläufen. Um eine Biographie schreiben zu können, muss man deren sehr viele kennen. Man muss zwanzig Biographien oder mehr kennen, um eine einzige schreiben zu können, um ver- gleichen zu können: Was ist besonders an diesem Emigranten- schicksal im Vergleich zu anderen Emigrantenschicksalen? an diesem Kriegsschicksal zu anderen Kriegsschicksalen? Also man muss sehr viele andere Biographien lesen, sich immer sehr viele Geschichten erzählen lassen, mit vielen Zeitzeugen reden - auch wenn man das gar nicht unmittelbar verwerten kann. Aber es hilft doch, unterscheiden zu lernen: Was ist wesentlich? Was ist neben- sächlich? Was ist entscheidend? - wobei die listige, hinterlistige Herausforderung in dem Satz von Franz Hessel liegt: Die Haupt- umstände in allen Lebensläufen sind dieselben, aber die Neben- umstände unterscheiden sich. [10:18] Autor 4: Wie weit klaffen das öffentliche Bild eines berühmten Schriftstellers und seine private Wahrheit auseinander? Wie viel reale Erfahrungen stecken hinter seinen literarischen Fiktionen? Woraus nährt sich seine Kreativität? Was wird von der eigenen Lebensgeschichte bewusst unter den Teppich gekehrt? Solche Fragen treiben Manfred Flügge um. Ironie des Schicksals: seine eigene Biographie war, wie er eines Tages feststellen musste, frisiert, geschönt, zurecht- gebogen. O-Ton 7 [Flügge MZ 3, Außenatmo, Vögel]: [16:16] Meine Familiengeschichte ist etwas kompliziert. [...] Mein Vater, dessen Namen ich trage, ist nicht mein biologischer Vater. Das ist - den Kriegsumständen entsprechend - öfter mal vor- gekommen. Also mein leiblicher Vater ist ein Seemann auf einem der Schiffe gewesen, die die Flüchtlinge aus Königsberg nach Dänemark gebracht haben. [16:39] Autor 5: 1946 ist Manfred Flügge an einem Ort zur Welt gekommen, der als Inbegriff der Heimatlosigkeit gilt: in einem Flüchtlingslager. Von seinem leiblichen Vater kennt er bis heute nur den Namen. Der Ehe- mann seiner Mutter akzeptierte nach seiner Rückkehr aus der Kriegsgefangenschaft die Tatsachen. O-Ton 8 [Flügge MZ 3, Außenatmo, Vögel]: [18:25] Ob mein Interesse an Biographien, an Lebensgeschichten mit solchen Dingen zusammenhängt, darüber kann man spekulieren. [...] Ich könnte mir einen persönlichen Mythos zurecht legen: Weil es da so einen unklaren Punkt gibt, deswegen interessiere ich mich für Familiengeschichten. Aber das ist nicht bewusst gelaufen. [18:43] Autor 6: Das Bewusstsein, zu den Vertriebenen zu gehören, ist aber ein- gebrannt und hat Manfred Flügges Interessen geprägt . O-Ton 9 [Flügge MZ 3, Außenatmo, Vögel]: [18:43] Ich habe mich immer für Flüchtlingsgeschichten interessiert. Deswegen spielen auch Emigranten eine Rolle, weil der Orts- wechsel, die Flucht doch auf gewisse Weise prägt. Und diese Persönlichkeiten, wie ich sie bei Emigranten gefunden habe und die ich sehr bewundert habe, so was gibt es nicht noch mal! Also, da ist die Dimension Schicksal so evident. Das Überleben hängt manchmal von dummen Zufällen ab: Und das prägt einen, das macht einen be- scheidener, vorsichtiger, aber auch aufmerksamer auf das, was ei- nem geschieht. Und das ist es eigentlich, was mich interessiert: Le- bensgeschichten und wie das abläuft im Leben, welche Fragen man sich stellt, welche Antworten man findet - das hat mich von früh auf interessiert. [19:22] Dialog-Szene 1: 1. Sprecher: [mokant] Du hättest dir einen anderen für deine Bio- graphie aussuchen sollen. Ganz ehrlich. Mich haben nicht mal meine Zeitgenossen durchschaut. 2. Sprecher: Seit wann duzen wir uns? 1. Sprecher: Ach komm! Du willst doch die Nähe! Warum sonst suchst du in den Archiven nach meiner Liebespost? 2. Sprecher: Es wäre mir trotzdem angenehmer, wenn wir beim "Sie" bleiben könnten. 1. Sprecher: [von oben herab ironisch] Meinst du etwa, dir geht sonst die Distanz des Wissenschaftlers verloren? 2. Sprecher: [beschwichtigend] Ich schätze Sie doch. Das wissen Sie. Sonst hätte ich den Auftrag für die Biographie gar nicht an- genommen. 1. Sprecher: Schätzen, schätzen - was für ein großes Wort. Warum traust du dann nicht einfach meinen Werken? Warum wühlst du in meinem Privatleben herum? 2. Sprecher: Weil es zur Wahrheit gehört. 1. Sprecher: Zur Wahrheit! [lacht in sich hinein] Weißt du, was du in Wahrheit bist? Ein Parasit, der sich an meiner Berühmtheit nährt. Ein Trittbrettfahrer. Einer, der sich in seinem eigenen kleinen Leben langweilt. 2. Sprecher: [nach Zögern] Aber wie wird man denn so berühmt wie Sie? Da geht es doch nicht immer mit rechten Dingen zu... 1. Sprecher: Ach, jetzt auch noch klugscheißen!? Was hast du denn so Aufregendes gefunden, dass du dich hier aufspielen kannst? Und überhaupt: Was für ein feiges Spiel, sich über einen Toten herzu- machen, der sich nicht mehr wehren kann! O-Ton 10 [Ingeborg Gleichauf 05:30] Ich glaube, es ist das Thema, was mich seit der frühen Jugend - kann ich sagen - interessiert: und zwar Heimat in einem ganz weiten Zusammenhang, nicht nur Landschaft, Menschen, sondern noch vieles, vieles andere. Und für mich war eben von jung auf eine Art Heimat die Literatur, also die Beschäftigung mit den Texten anderer. Und ich habe manchmal so dieses dumpfe Gefühl, dass ich mich, in- dem ich angefangen habe, Biographien zu schreiben, in etwas hinein begeben, vielleicht sogar geflüchtet habe, das mir schon immer eine Art Heimat war und das ich näher beleuchten wollte: so das Leben anderer als Möglichkeit, etwas über mich selbst zu erfahren. [06:28] Autor 7: Ingeborg Gleichauf, promovierte Germanistin Jahrgang 1953, ist in einem Haushalt ohne Bücher aufgewachsen. Ihr Vater hatte ein Au- togeschäft. In der Familie war sie die Einzige mit Abitur. Vielleicht, schreibt die Wahl-Freiburgerin, habe sie sich "deshalb früh `Identi- fikationsfiguren´ aus den Bereichen Literatur und Philosophie ge- sucht". Hannah Arendt zum Beispiel: Das habe sie "fasziniert, dass da jemand so theatral denkt, dass Denken wie auf einer Bühne statt- findet, nicht versteckt im Innenraum des Schädels". O-Ton 11 [Ingeborg Gleichauf 03:32] Dass ich zunächst hauptsächlich über Frauen geschrieben habe, liegt einfach daran, dass Schriftstellerinnen und Philosophinnen ver- gangener Zeiten es viel, viel schwerer hatten als ihre männlichen Kollegen - und das hat mich gereizt. Je näher man in die Gegenwart kommt, desto unproblematischer ist das Ganze. Und zunächst muss ich natürlich sagen: interessiert mich vor allem die Person - egal ob das ein Mann oder eine Frau ist. [04:03] Autor 8: Max Frisch, der weltberühmte Schweizer Autor, ist so ein Mann. O-Ton 12 [Ingeborg Gleichauf 03:13] Also, Max Frisch hat mich als Person und natürlich vor allem als Schriftsteller schon sehr, sehr lange begeistert. Ich konnte diese Bio- graphie nur bisher nicht schreiben, weil der Verlag, bei dem ich frü- her war [...] - da war die Chefin der Meinung: Max Frisch ist "mega out". Sonst hätte ich vor fünf Jahren schon über Max Frisch ge- schrieben. [03:32] Autor 9: Ein runder Geburtstag - zumal der hundertste - wischt alle Be- denken vom Tisch. Da riechen die Verlage ein gutes Geschäft. Und so sind in den vergangenen Monaten sage und schreibe drei neue Biographien über Max Frisch erschienen. Die Konkurrenz stört Inge- borg Gleichauf allerdings wenig. Im Gegenteil. O-Ton 13 [Ingeborg Gleichauf 08:08] Ich habe den Eindruck, dass Frisch geradezu Biographien heraus- fordert - ich sage das ganz bewusst im Plural. Je mehr Aus- einandersetzungen es gibt mit ihm, auch biographische Aus- einandersetzungen, desto näher wird man ihm wahrscheinlich kommen. [08:31] Autor 10: Max Frisch: der notorische Identitätssucher. Auch für Manfred Flüg- ges Entwicklung ist er einer der wichtigsten Schriftsteller gewesen. Bei einem Verlagsangebot für eine Biographie hätte er jedoch ab- gelehnt. O-Ton 14 [Manfred Flügge 2, 09:53] Über Max Frisch hätte ich nicht schreiben können, weil ich zu wenig von der Schweiz verstehe. [...] Die Schweiz ist doch ein rätselhaftes Gebilde. Und ich glaube, man muss sehr viel von der Schweizer Geschichte, von der Schweizer Geschichte im Zweiten Weltkrieg ver- stehen, um solch eine Figur wie Max Frisch zu begreifen. Ich bin natürlich auch eines der Opfer seines ersten großen Romans, näm- lich "Stiller", [der] ja mit dem Satz anfängt: "Ich bin nicht Stiller". Das heißt: die Biographie seiner Figuren und letzten Endes auch seine eigene Biographie, wie man inzwischen sieht, ist für Frisch eine Art Erfindung, ein Spiel: Biographie ein Spiel. Dieser Stiller glaubt, mit Hilfe seiner Einbildung, sich aus dem Leben heraus stehlen zu können - was natürlich scheitern muss. Und das Wenige, was ich vom Leben von Max Frisch weiß, lässt mich denken, dass er doch auch ganz schön Züge dieses Stiller hat, der nicht sein will, was er ist oder was er gewesen ist. [11:04] O-Ton 15 [Julian Schütt 04:38] Immer, wenn ich Max Frisch gelesen habe, sind mir dieselben ganz einfachen, simplen Fragen gekommen: Wie wird man Schriftsteller? Wie findet man zu einer Sprache? Wie entsteht ein politisches Be- wusstsein? Und wie entsteht Dissens? Welche Freiräume hat man als Autor und welchen Zwängen ist man ausgesetzt? Und da hat sich dann ein biographisches Vorgehen gleichsam angeboten. [05:02] Autor 11: Julian Schütt, promovierter Literaturwissenschaftler, Kulturjournalist und Gourmet-Kritiker in Zürich O-Ton 16 [Julian Schütt 07:22] Es ist eigentlich ursprünglich schon immer so angelegt gewesen, dass mich diese erste Hälfte interessierte. Frisch selbst sprach ein- mal in Zusammenhang mit Brecht davon, dass wir die Ergebnisse kennen, wir suchen die Anfänge - das war so eine Maxime, und die war für ihn auch zentral. Er war ein geradezu anfangssüchtiger Autor - und zwar von den ersten Feuilletons an suchte er immer wieder nach neuen Anfängen. Und das Gefühl von "Lebendig-Sein" hatte für ihn damit zu tun, dass man immer neu beginnen kann. Also auch so Begriffe wie Wiedergeburt, Stirb-und-werde, die Angst vor Wieder- holung und Versteinerung, das war für ihn ein zentraler Themen- komplex vom Anfang bis zum Schluss. Und da drängt es sich für mich [...], dieses Vorgehen, geradezu auf, dass man einmal Frischs eigene Anfänge erzählt. Also: the making of Max Frisch - zumal er diese eigenen Anfänge selber immer eher kurzatmig und lustlos erzählt hat. Und auch die bisherigen Forscher und Biographen - meine ich - bei denen erscheint dieser "frühe Frisch" immer eher als schlechter Autor, als konservativ-nationalistischer Autor - und das sagen sie dann natürlich vor allem auch, um den "reifen Frisch" umso hehrer als Lichtgestalt erscheinen zu lassen. Ich wollte diesem Genre-Bild, diesen Stilisierungen, diesen falschen Stilisierungen einmal begegnen. [08:58] Autor 13: Julian Schütt, der zum ersten Mal 1996 mit seiner Studie über die "Schweizer Literaturwissenschaft in der Zeit des Nationalsozialismus" für Aufsehen sorgte, ist als Biograph ein Debütant. Allerdings merkt man das in keiner Zeile. Nichts wollte der Mittvierziger dem Zufall überlassen. Denn bei den Schweizern ist die Erwartungshaltung in puncto Max Frisch, dem meistgelesenen Schriftsteller des Landes, extrem hoch. O-Ton 17 [Julian Schütt 09:17] Ich persönlich finde es eigentlich das Beste, wenn man viel Material schon hat, also wenn man auch sogar im Material ersäuft zunächst. Man kann dann auch die Zeit, die wichtigen Themen leichter auf- nehmen. Und ich meine auch: Eine Biographie ist kein Selbst- bedienungsladen, wo jeder nur das herausnehmen kann, was ihm gerade so passt, sondern man muss da schon irgendwie dem Autor gegenüber gerecht werden und möglichst alle Daten und Fakten und Materialien verwenden: also auch Archivmaterial, auch mit anderen Leuten reden. Und dann kommt etwas, was in unserem Google- und WikiLeaks-Zeitalter immer wichtiger wird: das gute alte "Sichten und Gewichten". Also das war ein entscheidender Schritt bei mir. Also ich habe eine gigantische Datenbank erstellen müssen. Die hat mir fast ein Jahr Arbeit gekostet. Aber ohne sie hätte ich irgendwie nicht dann nachher die Freiheit und Souveränität gehabt, auch mit diesem Material etwas anzufangen. [10:18] Dialog-Szene 2: 1. Sprecher: Noch eine Frage... 2. Sprecher: [wie abwesend] Ja, bitte... 1. Sprecher: Warum lässt du mich nicht einfach ruhen? 2. Sprecher: Ich werde Ihnen schon gerecht! Keine Bange. Ich habe das Biographen-Handwerk schließlich von der Pike auf gelernt. 1. Sprecher: Biographen-Handwerk nennst du das? Das ich nicht la- che! Schnüffelei ist das! 2. Sprecher: Sie haben es in Ihren Romanen doch selbst vorgeführt! Irgendetwas Überraschendes findet sich immer! Kein Mensch ist so, wie er scheint. Überall öffnen sich neue Perspektiven. Und wie hat doch Jonathan Swift so schön deftig gesagt: "Wenn wir über den Charakter eines Menschen Auskunft erlangen wollen, dann muss die Frage lauten: Wie scheißt er?" 1. Sprecher: [abfällig] Mit dieser Technik wirst du bei mir nicht weit kommen. Schließlich habe ich meine Tagebücher eigenhändig ver- brannt. Und von meinen Briefen wirst du - wenn es hoch kommt - vielleicht 20 Prozent finden. Wo sieht der Herr Biograph da bitte- schön noch Aussagewert? 2. Sprecher: [gewitzt] Nun, ich mache eben den niedrigen Aussage- wert zum Thema. 1. Sprecher: Wie? 2. Sprecher: Ja, der Großschriftsteller als Rätsel, als Phantom. 1. Sprecher: Und welche Leser soll das locken? 2. Sprecher: Verstehen Sie doch endlich: ein Indizien-Prozess ist das Spannendste, was es gibt! O-Ton 18 [Ingeborg Gleichauf 02:16] Bei Max Frisch habe ich gemerkt, wie er mir mit der Zeit doch eigent- lich nicht mehr von der Seite wich, dass heißt: Ich bin morgens auf- gestanden, und er war wirklich schon da und hat sozusagen mir ins Ohr geflüstert: "So, jetzt, an den Schreibtisch, anfangen! Wir haben Einiges zu tun, wir müssen unser Gespräch fortsetzen." [02:44] Autor 14: Ein Gespräch, das für Ingeborg Gleichauf mit dem Abschluss der Biografie nicht endet. Denn sie spreche ins Offene hinein, gleichsam in eine "ungewisse Zukunft", stelle immer neue Fragen und warte auf Antworten: die manchmal kämen, manchmal aber auch nicht. (K4) O-Ton 19 [Ingeborg Gleichauf 04:45] Mein Ziel ist es, dass zwischen mir und der Person, über die ich eine Biographie schreibe, dass dieses "Zwischen" sich immer stärker füllt. Und das heißt, dass eigentlich mein "Ich" für mich selbst in der Be- schäftigung mit einem anderen schreibenden "Ich" rätselhafter wird. [05:08] Musik [erst frei, dann unterlegen] O-Ton 20 [Manfred Flügge 1, 19:06] Ich glaube, der Biograph muss seinem Publikum eine interessante Darstellung geben. Er muss sie interessieren - mit literarischen Mitteln durchaus -, aber er muss auch sagen oder deutlich machen, warum er über dieses Leben spricht und was man daran zeigen kann. [19:22] Und das ist dann nicht die Wahrheit, es ist ein Angebot sozusagen, eine These, die man am Ende wieder relativieren und auflösen kann. "Vielleicht war es ja ganz anders", endet mein Beau- marchais-Buch. Also ich behaupte auch nicht, den Schluss zu haben. Aber damit man etwas zu trinken und zu essen hat sozusagen, wie die Franzosen sagen, muss man dem Leser, der Leserin etwas Handfestes geben, etwas, was ihn fesselt. Denn sonst verliert es sich im Ungefähren. Das darf auch nicht sein. [19:50] Musik: [frei] Autor 15: Der Biograph - pendelnd zwischen Forschergeist, indirekter Selbst- erkenntnis und Dienst am Leser. Wo aber bleibt da die Wissenschaft- lichkeit? Lässt sich das Ringen mit einer fremden toten Person über- haupt objektiv darstellen? Prügel haben die Biographen als Zunft schon reichlich bezogen. So klagte der französische Soziologe Pierre Bourdieu 1986 über die "biographische Illusion". Lebensfragmente würden willkürlich in eine scheinbar sinnvolle Ordnung gebracht. Das Gezänk hat durchaus Wirkung gezeigt. Die anspruchsvollen Bio- graphen von heute spielen sich nicht mehr als allwissende auf. Mehr noch: Sie kehren das Unpassende, das Widersprüchliche, die Irr- wege und Sackgassen ihrer Figuren nicht länger unter den Teppich, sondern wollen alle Facetten darstellen. Auch wenn sie den Ent- stehungsprozess, das heißt die "Gemachtheit" ihrer biographischen Texte selten so offen problematisieren, wie es Dieter Kühn seit den 1970er Jahren tut - die Grenzen des biographischen Genres sind ih- nen so bewusst wie seine Fallen. O-Ton 21 [Manfred Flügge 1, 03:21] Nun lasse ich in meinen Büchern diese theoretischen Überlegungen weg oder ich deute sie nur an. Also es gibt schon bei mir einen ganzen theoretischen Apparat, wenn man das so will, eine Theorie und eine Methodenüberlegung, die eine Rolle spielt. Aber um das Publikum nicht zu langweilen, lasse ich es weg - oder für die Kenner und für die an solchen Fragen Interessierten deute ich es an. Also im Grunde müsste ich mal einen Essay schreiben, wo ich das alles zu- sammen fasse. [03:49] Autor 16: Auch die eigene Neugier reflektiert Manfred Flügge: (K5) O-Ton 22 [Manfred Flügge 21:02] Also man kann der Person nicht wirklich und nicht vollständig gerecht werden - das ist die Selbstbescheidung des Biographen. Aber sie hat auch natürlich Züge des Schamlosen, des Unverschämten. Und da berühren wir das weite Feld des Voyeurismus, das wieder zurück- führt auf die Frage, warum man überhaupt Biographien schreibt und warum man Biographien liest. Ohne eine Portion Voyeurismus geht das gar nicht. [...23:12] das heißt, dieses erst mal schamlose Interesse - wenn man es weit genug treibt - führt dann doch zu einer Erkenntnis darüber, was der Mensch ist. Und das ist entscheidend. Das ist der Impuls, der hinter dem Interesse an Biographien - schreibend wie lesend - steckt. [23:30] O-Ton 23 [Julian Schütt 03:25] Indiskretion ist immer so ein bisschen ein schwieriger Begriff. Wenn ein Biograph - wie es bei Graham Greene einmal passierte - im Re- gister detailliert alle vom Autor angeblich praktizierten Sex-Techniken aufzählt, nicht aber die zentralen Begriffe seines Werks, dann kann man sicher sagen, dass er die Indiskretion gesucht hat. [...] Wenn man das aber schlüssig darstellen kann, warum eben auch Privates wichtig ist und wie es eben auch Aufschlüsse erlaubt für das Werk und für das Leben, dann, denke ich, wird so eine Schilderung eben nie indiskret sein. [04:15] O-Ton 24 [Ingeborg Gleichauf 12:40] Mein Ansatz ist eher der der Diskretion. Andere machen das anders. Ich denke, man kann es nicht verallgemeinern. Es kommt auf das Temperament des Biographen oder der Biographin an. Manche haben wirklich einen Zugriff. Ich habe eigentlich überhaupt keinen Zugriff, sondern ich versuche die Annäherung. Und es ist nicht ganz einfach, dazu zu stehen, weil ich den Eindruck habe, dass man unter der Leserschaft, auch bei den Kritikern oft dieses Indiskrete in den Biographien einfach sucht, es auch will. Aber das ist nicht mein An- satz. [13:26....13:35] Im Fall von Bachmann und Frisch finde ich es wirklich sehr heikel, weil es viele Geschichten über die beiden gibt, weil da vieles an Indiskretion in der Öffentlichkeit herum schwirrt. Und gerade deshalb finde ich es spannend, dieses alles zu ver- gessen und meinen eigenen Ansatz des Diskreten zu versuchen. [14:02] Autor 17: Noch in einem weiteren Punkt unterscheidet sich Ingeborg Gleichauf. Anders als bei Julian Schütt und Manfred Flügge laufen bei ihr die Arbeitsprozesse parallel: O-Ton 25 [Ingeborg Gleichauf 08:45] Ein Zugang ist bereits da, bevor ich anfange: Es ist manchmal eine Nähe, manchmal ist es aber auch eine Fremdheit. Dann fange ich an zu recherchieren. Das Werk kenne ich natürlich schon - das ist sowieso das erste. Ich fange auch immer gleich an zu schreiben und verbessere dann, also korrigiere, füge wieder ein. Es ist so ein hin und her zwischen Recherche, Schreiben und Gespräch mit der je- weiligen Person oder Figur. [09:28] (K6) Autor 18: Die Gespräche mit Zeitzeugen, die Max Frisch persönlich gekannt haben, entpuppten sich für Ingeborg Gleichauf jedoch oft als heikel: O-Ton 26 [Ingeborg Gleichauf 9:40] Ich war sehr offen diesen Leuten gegenüber und irgendwie auch immer in innerer Erregung, wenn ich sie getroffen habe, weil ich natürlich dachte: Jetzt kommt da was ganz Besonderes raus. Mit der Zeit wurde mir aber immer klarer, dass die Zeitzeugen natürlich ihr ganz eigenes Bild von der Person haben, um die es geht, dass sie manchmal auch - je nach dem, wie sie geartet sind - sich selbst sehr stark in den Vordergrund schieben müssen. Und das bedeutet: Es hat sich eigentlich eine Person dazwischen geschoben: zwischen mich und jetzt in diesem Fall Max Frisch. Und ich musste mir Ge- danken machen über diese Person, die sich dazwischen geschoben hat, ob ich das wollte oder nicht. Also ich habe mich dann wieder ge- funden - am Schreibtisch sitzend und nachdenkend über Herrn Sowieso oder Frau Sowieso -, um deutlicher vor Augen zu haben, was denn da wirklich über Max Frisch heraus kommt - oder ob ich mehr über die dazwischen geschaltete Person erfahre. [10:51] Sprecherin [Gleichauf, Jetzt nicht die Wut verlieren, S.85] Max Frisch ist verheiratet, er hat Kinder, er hat den Architektenberuf. Das Thema Routine ist noch lange nicht vom Tisch. [Zitat (- oder abgesetzt sprechen)] "Ich stelle nur fest, dass bei mir persönlich eine große Furcht ist vor der Gewöhnung, der Gewöhnung als Routine, als Pseudo-Sicherheit und als Bequemlichkeit, also als ein Leben lähmendes Element." Routine, feste Strukturen, dies alles bedeutet eine Art Gefängnis. Natürlich lassen sich vorsichtige Schlüsse auf das Privatleben ziehen: Auch wenn Frisch seine Ehe aufrechterhält, ganz wohl kann er sich nicht fühlen. Nicht weil er die falsche Frau geheiratet hat. Die Institution Ehe bringt enge Bindung mit sich, und wenn noch Kinder da sind, vervielfältigen sich die Verpflichtungen. Da gibt es eben solche Momente, in denen einem Max Frisch Aus- bruchsfantasien kommen. Es sind die Momente, in denen [...] eine undefinierbare Sehnsucht nach Freiheit lockt. O-Ton 27 [Julian Schütt 22:50] Allgemein gibt es natürlich drei Arten von so Interview-Partnern, Zeit- zeugen. Autor 19: Julian Schütt O-Ton 28 a [Julian Schütt 22:53] Also die ersten sind jene, die einem so quasi "ihren Max Frisch" auf- drängen wollen als den "einzig richtigen Max Frisch" - die sind meis- tens sehr unergiebig. Dann gibt es die Verletzten, da gibt es einige im Fall von Frisch, also er hinterließ da schon ein bisschen Spuren. Da war viel Geduld und Empathie gefragt, um diese Leute zum Re- den zu bringen. Das war etwa der Fall bei Max Frischs erster Frau Trudy, wo nach der Scheidung eigentlich gar nichts mehr ging und man sich völlig auseinander lebte. Und da brauchte es viel, [...] dass sie sich wieder diesem Thema Max Frisch stellt. 1. Sprecher: [Schütt: Biographie eines Aufstiegs. S. 322] Die Natur, meinte er, sei von Anfang an gegen die Beziehung mit Trudy gewesen. Er versuchte stärker zu sein als die Natur, es ging nicht. Der Sex stimmte nicht. So kam früh Trennendes in die Be- ziehung. Jene bekamen recht, die voraussagten, dass diese Be- ziehung nie funktionieren werde. Frisch stürzte sich in die Arbeit, lebte immer weniger, genauso Trudy, deren Aufgabe nun vor allem das Aufziehen der Kinder war [...]; sie liebte Kinder, aber eigentlich hätte sie daneben gerne als Architektin weitergearbeitet. Über diese Rollenteilung hat Frisch nicht nachgedacht, und Trudy fehlte vorerst der Mut, ihm das zu sagen. So hatte auch sie das Gefühl, ein reduziertes Leben zu führen, eine Gefesselte zu sein. Dennoch blieben sie einander nach Frischs Aussage fünf Jahre treu, zwölf Jahre hielten er und besonders Trudy die Ehe mehr oder weniger am Leben. O-Ton 28 b [Julian Schütt] Und dann gab es aber auch diese seltenen Glücksfälle, wo man auf einen Freund oder Weggefährten stößt, der es nicht nötig hat, sich selber zu inszenieren, und wo Sie einfach merken, wie klug und auf- richtig der über Frisch nachgedacht hat. Also in meinem Fall waren das Frischs engster Freund Peter Bichsel und auch Peter von Matt, der ein Vertrauensmann von Frisch war, - und wo man einfach immer wieder von Neuem, wenn man mit ihnen redet, merkt man, kommen immer wieder neue Aspekte hervor. Also man merkt, wie gründlich sie sich immer und dauernd mit Frisch auseinandersetzen und die, die habe ich sehr genossen, diese Gespräche. (K1) [24:14] O-Ton 29 [Manfred Flügge 2, 01:53] Dann kommt die eigentliche Arbeit: Das ist die Arbeit des Schrei- bens. Und schreiben heißt immer auch konstruieren. Das heißt: Wo fängt man an? Wo hört man auf? Von welchem Standpunkt aus er- zählt man. Und auch: In welcher Zeitform? Das ist eine Frage, die mich sehr beschäftigt. Um ein Küchengeheimnis zu verraten: Ich schreibe meine Biographien eigentlich immer im Präsenz und über- setze sie dann ins Präteritum - für mich die eigentliche Form des Erzählens -, mache aber Ausnahmen an besonders wichtigen oder dramatischen Stellen, wo ich das Präsenz einschalte als eine Art Zeitlupe, um bestimmte Dinge genauer aus der Nähe, in ihrer Dra- matik der Unmittelbarkeit zu zeigen, gehe dann aber wieder ins Präteritum zurück. [02:44...03:16] Der große Feind für Autor und Leser ist natürlich die Chronologie. Nichts ist langweiliger als die Chronologie. Ich träume auch davon, eine nicht-chronologische Bio- graphie zu schreiben. Es ist mir jedes Mal misslungen. Auch das Leben von hinten zu erzählen, ist mir noch nicht wirklich gelungen. [03:37] Dialog-Szene 3: 1. Sprecher: Du hörst mir ja gar nicht mehr zu. 2. Sprecher: Warum auch? Ich schreibe doch längst. 1. Sprecher: Und? Keine Angst mehr, dich zu irren? 2. Sprecher: Irren? Jetzt noch? Nach all den Recherchen? 1. Sprecher: Es könnte vielleicht alles auch ganz anders gewesen sein... 2. Sprecher: Ach, geben Sie Ruhe! Ich habe genug Belege gefunden. Meine Arbeitsthese ruht auf einem Granitsockel. 1. Sprecher: Und die Lücken? Wie stopfst du die? Mit klammheim- lichen Mutmaßungen? Ist nur eine Mutmaßung falsch, dann gehst du mit deinen Schlussfolgerungen baden. 2. Sprecher: Aus meinem Indizien-Netz werden Sie sich jedenfalls nicht mehr befreien. 1. Sprecher: [lacht hämisch] Sofern die Fliege nicht so schlau ist und am Netz vorbeifliegt. Du hast nicht einmal bedacht, dass ich vielleicht mehr war als nur ein großer Schriftsteller. 2. Sprecher: Mehr? 1. Sprecher: Komm, tu jetzt nicht so. Du hast sehr gut verstanden. 2. Sprecher: [hält inne] Sie haben also falsche Fährten ausgelegt? Um die Nachwelt in die Irre zu führen? 1. Sprecher: Möglicherweise. 2. Sprecher: Oder ein Doppelleben geführt? 1 Sprecher: Denkbar wäre auch das. Deine Biographie ist jedenfalls nichts weiter als eine schöne Phantasie. Und ein, zwei Kritiker wer- den das auch merken. Dann bist du als Biograph so tot wie ich. O-Ton 30 [Manfred Flügge 2, 07:53] Das ist übrigens eine der Fallen, in die man als Biograph tappen kann: dass es ein schon etabliertes Bild von einem Autor gibt und dass man dann alles zusammenstellt, was diesem Bild entspricht. [08:05...09:24] Man muss immer aufpassen, dass man nicht auf eine Fiktion herein fällt, die nur der Selbstdarstellung und Selbstver- marktung dient. [09:37] Autor 20: Bedeutende Schriftsteller, die alt genug werden, planen gerne ihren Nachruhm. So hat Max Frisch, der kurz vor seinem 80. Geburtstag starb, das Max-Frisch-Archiv für die Forschung noch selbst zu- sammengestellt. Mehr noch: er hat Teile seines Nachlasses für mindestens zwanzig Jahre sperren lassen: darunter sein "Berliner Journal" aus den siebziger Jahren, in dem er Kollegen wie Günter Grass oder Christa Wolf porträtiert hat, oder seine private Korrespondenz - vor allem die mit seinen Ehefrauen und Geliebten. Ob Max Frisch Teile seiner Liebespost vernichtet hat: dieses Geheimnis hat er - wie so vieles - mit ins Grab genommen. Ein- fühlungsvermögen ist deshalb vom Biographen gefragt. Doch von welchem Punkt an wird die Empathie problematisch? Julian Schütt: O-Ton 31 [Julian Schütt [13:56] Empathie ist nötig, wenn man mit Zeitzeugen redet. Empathie ist nö- tig, wenn man die Texte neu liest, wenn man die Briefe auswertet. [...] Aber man darf nicht zu viel Empathie empfinden, um jetzt so quasi den Dichter in seinem Innersten zu erfassen. Das führt sonst ein bisschen in die Irre. Wir haben diese Einfühlungsbiographien ge- habt in den 20er Jahren, und die sind heute kaum oder selten noch lesbar. [14:30 ...13:29] Man muss sich hüten, eine falsche Intimität zu konstruieren. Das endet sonst schnell in einem Sumpf der reinen Spekulation, wenn man sich so viel auf seine Einfühlungskraft ein- bildet, dass man sich das Recherchieren schenkt. Das darf nicht sein. Oft lässt sich zeigen, wie die Einfühlung geradezu auf Kosten der präzisen Zeit- und Gesellschaftsanalyse geht. Und das wollte ich unbedingt verhindern. [13:56] O-Ton 32 [Manfred Flügge 2, 23:12] Man muss natürlich immer aufpassen [...], dass man nicht das macht, was ich "la mirage biographie" nenne, also so eine Art Fata Morgana, dass der Held oder die Heldin, über die man schreibt, dann besser gemacht wird, als sie vielleicht war. Also meinen Beau- marchais habe ich vielleicht auch 10 % besser gemacht, als er war, er konnte auch ein ziemlicher Schuft und Betrüger sein, Schliemann erst recht - aber man muss aufpassen, dass man nicht, wenn es sich um Verbrecher handelt oder so, dann doch zu sehr Verständnis ent- wickelt. (K7) Insofern sind die negativen Charaktere die eigentliche Herausforderung. [23:54] Autor 21: Biographien verfassen ist die meiste Zeit eine einsame Schreibtisch- tätigkeit: ein Kampf mit dem Material, ein Kampf um eine Dar- stellungsform, die dem Porträtierten gerecht wird. Manfred Flügge hat neben seinem Schreibtisch in Berlin ein Rudergerät stehen, um fit zu bleiben. Wenn er erst einmal schreibt, sind 8-Stunden-Tage die Ausnahme. Oft werden es 16. Denn die Verlage setzen Termine. O-Ton 33 [Manfred Flügge 16:21] Es gibt Biographien, die nie zu Ende kommen, weil der Biograph natürlich irgendwann gewahr wird, dass er noch viel, viel mehr wissen müsste über die Umstände, über eine bestimmte Situation, über eine grundsätzliche Entscheidung, die vielleicht für dieses Leben maßgeblich und folgenreich war. Natürlich, im Prinzip ist die Recherche nie abgeschlossen. Aber wir leben in einer begrenzten Zeit. Die Zeit ist eine wesentliche Dimension jeden Lebens. [...] Also: man muss irgendwann einen Schlusspunkt setzen - relativ willkürlich - und sagen: Jetzt muss ich mit dem schreiben, was ich bis jetzt ge- funden habe. Das mache ich jedes Mal so. Dann schreibe ich, und erfahrungsgemäß kommen dann, wenn man den Text mehr oder weniger fertig hat, immer noch Resultate hinzu. Es gibt immer die mehr oder weniger offene Frage, die sich in letzter Minute klärt oder nicht klärt. Also im Fall von Heinrich Mann ging es darum: Was ist mit ihm nach seinem Tod geschehen? Ist er beerdigt oder verbrannt worden? Und was ist da eigentlich nach Ost-Berlin überführt worden? Hat man ihn elf Jahre nach seinem Tod ausgegraben und dann erst verbrannt? Und so weiter. Das war eine Frage - und noch am Vormittag, bevor ich alles abgegeben habe, kriegte ich ein Fax von der Friedhofsverwaltung in Santa Monica, dass tatsächlich elf Jahre nach seinem Tod - das, was dann noch übrig war - aus- gegraben und irgendwie verbrannt oder zu Asche reduziert und dass dann eine Urne überführt wurde. Bis dahin hatte ich gedacht, ich bin vielleicht einem Schwindel auf der Spur - aber nein. Ähnlich bei Feuchtwanger: Wo hat sich Feuchtwanger versteckt in Marseille, be- vor er dann über Spanien geflohen ist? [...] Und das habe ich praktisch auch auf die letzte Minute heraus bekommen. (K2) [18:26] O-Ton 34 [Ingeborg Gleichauf 24:48] Ich hatte bei "Reihe Hanser", als ich die Simone de Beauvoir ge- schrieben habe, eine Lektorin, der habe ich Kapitel für Kapitel ge- geben. Und wir haben über die einzelnen Kapitel gesprochen - aber das war auch wirklich eine ganz besondere Zusammenarbeit. Jetzt bei Frisch habe ich das Manuskript erst ganz am Schluss ab- gegeben, was mir eigentlich nicht so lieb ist. Also ich schätze es eher, schon im Laufe der Arbeit ein intensives Gespräch mit dem Lektorat zu haben. [25:21] Nicht weil ich Angst habe, dass ich ab- gebe und dann heißt es: können wir unmöglich machen. [...] Ich finde die Auseinandersetzung vor allem auch über das Sprachliche mit einer anderen Person, mit einer qualifizierten Person, finde ich einfach spannend. Und es liegt mir mehr, als es eben fertigzustellen und eben in Gänze abzugeben. [25:57] Autor 22: Biographien sind meist Auftragsarbeiten und kostspielig. Beim Aus- handeln des Vorschusses und der Reisezulagen für Archiv- Recherchen und Zeitzeugen-Interviews haben es Autoren, die schon einige Biographen vorweisen können, natürlich leichter. Der Verleger weiß, was er erwarten kann. Anders die Debütanten: wie der früher festangestellte, jetzt freie Kulturjournalist Julian Schütt. Er bezeichnet seine fast 600-seitige Max-Frisch-Biographie, an der er über sechs Jahre gearbeitet hat, finanziell als Verlustgeschäft. O-Ton 35 [Julian Schütt 25:10] Es war über weite Strecken, war das eine Feierabend- und eine Fe- rien-Angelegenheit - sehr zum Ärger meiner Familie. Aber das ist so. Und ich glaube, so geht es den meisten Biographen. Man kann sich vielleicht einmal irgendwann einen Monat oder zwei Monate ab- zwacken, die einem der Arbeitgeber zahlt oder die einem die Max- Frisch-Stiftung, die es gibt, zahlt. Aber so richtig intensiv - das müssen Sie alles selber berappen. Das setzt wirklich eine Leiden- schaft voraus für diese Autoren. [25:44] Dialogszene 4: [im Hintergrund Gemurmel, beide im Flüsterton] 1. Sprecher: [mokant] Buchpräsentation, zweihundert Zuschauer im großen Saal des Literaturhauses, Schlips und Kragen: du siehst wie ein Gewinner aus. 2. Sprecher: Ach seien Sie doch endlich still! 1. Sprecher: Still? Entschuldigung. Aber ohne mich gäbe es dein Buch gar nicht: ohne meine genialen Romane, meine intimen Verse, meinen Theaterdonner... 2. Sprecher: Schschschschscht. 1. Sprecher: So leicht wirst du mich nun nicht los... 2. Sprecher: Ach! Bin ich doch längst. Diese Buchdeckel sind Ihr zweiter Sarg. 1. Sprecher: [ironisch] Bis zum nächsten Biographen... 2. Sprecher: [lauter] Ach was. 700 Seiten: die wird niemand toppen. 1. Sprecher: Ja, gewiss, Sie haben es ziemlich weit gebracht. Aber eben nicht weit genug. 2. Sprecher: [genervt] Geht das schon wieder los? Ich habe Ihr Doppelleben doch enthüllt. Zweihundert Seiten nur über den Ost- Spion! 1. Sprecher: Kein Grund, unhöflich zu werden. 2. Sprecher: Doch, ich hätte langsam allen Grund dazu... 1. Sprecher: Ganz und gar nicht. 2. Sprecher: Wollen Sie mir etwa immer noch Angst einjagen? 1. Sprecher: Warum nicht? Der Begriff des Doppellebens lässt sich schließlich noch weiter fassen. Vielleicht war ich ja ein Doppelspion? Vielleicht war ich sogar bisexuell? All die schönen Frauen an meinem Arm - nichts als Dekor und Blendung? O-Ton 36 [Manfred Flügge 2, 06:56] Ich glaube, bei Heinrich Mann besteht ein wirklicher Zusammenhang zwischen Schreiben und Leben. Das muss nicht immer so sein. Also es gibt auch ganz andere Autoren, die Schreiben im Nebenberuf be- treiben und das sogar völlig von ihrem Privatleben separieren können, [...] und es gibt Autoren, die haben sozusagen keine Bio- graphie, von denen weiß man kaum etwas: Marguerite Yourcenar zum Beispiel, da weiß man sehr, sehr wenig, André Malraux, da weiß man Einiges, aber das, was man weiß, ist alles gelogen und er- funden. Also solche Autoren gibt es auch. Und das berühmteste Bei- spiel ist ja Homer, von dem wir gar nicht wissen, ob es den über- haupt gegeben hat. Also da kann man den Text nicht vom Autor her erklären. Da versucht man vom Text her, sich ein Bild vom Autor zu machen. [07:53] Autor 23: Biographen, die Entzifferer fremder Lebensgeschichten, erinnern zuweilen an den berühmten Sisyphus, der beharrlich seinen Fels den Berg hinauf rollte, um ihn dann wieder hinunterstürzen zu sehen. Nicht vergessen sollte man aber, was der Philosoph und Schrift- steller Albert Camus über Sisyphus geschrieben hat: dass man sich ihn als einen glücklichen Menschen vorstellen müsse. So re- konstruiert Manfred Flügge längst nicht mehr nur individuelle Bau- stellen. Die Welt der deutschen Heimatverlierer, die vor Hitler ge- flohen sind - erst ins südfranzösische Sanary-sur-Mer, dann in die USA -: diese Welt der Exil-Schriftsteller und -Künstler hat sich für ihn zu einer Art Gruppenbiographie geweitet. O-Ton 37 [Manfred Flügge 1 12:34] Also das Buch über Konrad Kellen, das im Herbst 2011 bei Rowohlt erscheint unter dem Titel "Konrad Kellen - Doppelpunkt - Mein Boss, der Zauberer" ist keine Biographie in dem Sinne. Konrad Kellen ist im Mai 2007 gestorben. Es ist eine nachgelassene Autobiographie, die ich um ein Nachwort ergänze, wo ich ein bisschen über Kellen und seine Bekanntschaften mit Thomas Mann, Klaus Mann, Erika Mann spreche - und auch über Thomas Mann in Amerika. [...] Ich war sehr fasziniert von der Persönlichkeit von Kellen, den ich seit 1997 kannte. Und bis zu seinem Tod bin ich eng mit ihm in Kontakt ge- blieben, habe ihn jedes Jahr ein Mal besucht. Aber es war sehr schwer, ihn zu überreden, über sein Leben zu sprechen, das sehr abenteuerlich war: ein Berlin-Emigrant, jemand, der die Familie Mann sehr gut gekannt hat, der zweieinhalb Jahre lang Sekretär von Thomas Mann war, dann als amerikanischer Soldat - so ähnlich wie Stefan Heym - in Europa landet und den ganzen Krieg von der Normandie bis Berlin mitmacht und im Berlin der Nachkriegszeit die unglaublichsten Geschichten erlebt. Das war natürlich ein abenteuer- liches Leben. Aber es gab so ein paar Zonen in seinem Leben, über die er nicht sprechen wollte und das hat verhindert, dass zu seinen Lebzeiten etwas erschienen ist. (K8) [14:44] Autor 24: Und auch bei Manfred Flügges neuestem Projekt, seiner Biographie über die in München aufgewachsene amerikanische Künstlerin und Karikaturistin Eva Herrmann, stehen die deutschen Exilkreise im Mittelpunkt. Bekannt ist uns Eva Herrmann bereits aus seiner Bio- graphie "Die vier Leben der Marta Feuchtwanger". Dort tritt sie als Geliebte des Ehemanns Lion Feuchtwanger in Erscheinung: 2. Sprecher [Flügge: Marta Feuchtwanger, S. 222] Der heiße Sex mit Eva füllte fortan Lions Tagebuch, in Sanary, Can- nes oder in Paris, was eine zwischenzeitliche Wiederbegegnung mit Liesl Frank nicht ausschloss, allerdings auch dazu führte, dass er verwirrt durch die Straßen lief, um eine Hure zu suchen und es doch nicht vermochte. In einem Film oder einem Roman müsste man diese Szene bringen, um diesen gegen seine eigenen Impulse so wehrlosen Autor zu zeigen. Casinospiel und Liebesspiel steigerten sich wechselseitig. Marta schien nach kurzem Aufbegehren alles hinzunehmen, versuchte erst gar nicht mehr, ihn aufzuhalten, betreute ihn sogar vor Liebesreisen wie ein krankes Kind. Lion fand sie "besonders nett", etwa als sie ihm half, eine Erkältung auszukurieren. Nach einer gemeinsamen Nacht notierte er: "Eine Art stumme Aussprache mit ihr gehabt." Ob sie das auch so verstanden hat? Und was war es, eine Beichte, ein Hilferuf, eine Vertröstung? Martas Fürsorge war vielleicht ihre Art, den Konflikt zu bewältigen, um ihn nicht an Eva zu verlieren, denn hier besetzte sie ein Terrain, das ihr keine andere Frau streitig machen konnte. O-Ton 38 [Manfred Flügge 05:39] Ich beschäftige mich zur Zeit mit Eva Herrmann, die Totengespräche geführt hat mit Leuten im Jenseits: mit Thomas Mann, mit Huxley, mit anderen, die sie gar nicht gekannt hat wie Winston Churchill - und die ganz ernsthaft glaubt, dass diese Totengespräche, die sie als Medium führt auch ein Teil ihrer Biographie dieser Persönlichkeiten sein können - was die Leute, denen sie das mitteilt, natürlich empört ablehnen, [...] denn das sind meistens Totengespräche, in denen die Biographierten all das widerrufen, was sie zu Lebzeiten veröffentlicht, getan und gesagt haben. [06:19] Autor 25: Auch bei Ingeborg Gleichauf ist das nächste Buch bereits in Arbeit: über die komplizierte Liebe zwischen Ingeborg Bachmann und Max Frisch. Im Visier hat sie dabei - wie schon zuvor - auch jugendliche Leser: O-Ton 39 [Ingeborg Gleichauf 14:25] Es ist ganz schwer zu sagen: Wo fängt die Biographie für Er- wachsene an? Wo hört die Biographie für Jugendliche auf? Es gibt Jugendliche, die sehr früh alles lesen. Es gibt Erwachsene, die sehr gerne Bücher für Jugendliche in die Hand nehmen. Ich denke, wenn ich speziell Jugendliche im Blick habe, muss ich drauf achten, dass mehr an Fakten reinkommt, dass Information mit einen Schwerpunkt bildet, dass ich einfach Dinge erklären muss, die ich erwachsenen Lesern oder Spezialisten nicht erklären muss. Und es ist natürlich ein Spagat, weil auch eine Biographie für Jugendliche einen hohen Grad an Lebendigkeit haben muss. [15:25] Autor 26: Für Julian Schütt ist das nächste Buchprojekt noch nicht spruchreif. Doch böte sich natürlich - sofern die gesperrten Materialien frei würden - eine Biographie über die zweite, die erfolgsverwöhnte Hälfte in Max Frischs Leben an. Julian Schütts Arbeitsdevise würde aber dieselbe sein wie bei seiner "Biographie eines Aufstiegs": O-Ton 40 [Julian Schütt 02:43] Ich versuchte einfach, kein in sich geschlossenes, abgerundetes Leben zu zeigen, in dem alles aufgeht und alles einen Sinn macht. Im Gegenteil, ich versuchte, auch das Offene, das Unfertige, das Lückenhafte darzustellen. Und ich versuchte, jetzt gar nicht eine falsche Nähe und Intimität zu Frisch zu erzeugen, als ob ich mich zu seinen Lebzeiten dauernd in seinem Kleiderschrank versteckt hätte. Und ich denke, so werde ich ihm dann letztlich am ehesten gerecht. [03:16] O-Ton 41 [Manfred Flügge 2, 18:55] Biographie ist ein Beitrag, Dinge zu erklären. Bleiben wir noch mal bei dem Thema Holocaust: Wenn wir ganz allgemein über den Holo- caust reden, wie das anfangs der 50er, 60er Jahre die Art war und nur Statistiken und Zahlen und solche Dinge bringen, dann bleibt es völlig abstrakt, völlig fern, kommt gar nicht an uns heran. Und erst wenn wir eine Geschichte erzählen, ein einzelnes Schicksal und sei es ein fiktives, kommen wir der Sache näher und kommen wir dem Schmerz näher. Darum geht es ja. [...] Es gibt einen Punkt, wo man weh tun muss, und den erreicht man nur, wenn man den Dingen nahe kommt. [19:44] Musik: Autor 27: Und wer oder was entscheidet darüber, ob eine Biographie an- kommt? Nur die Präsenz der Figur im kollektiven Gedächtnis? Man- fred Flügge: O-Ton 42 [Manfred Flügge 2, 01:01] Ich hatte versucht herauszubekommen, warum meine Biographie von Marta Feuchtwanger so erfolgreich war - denn der Erfolg ist ebenso rätselhaft wie der Misserfolg letzten Endes -, und habe dann nach Gesprächen mit vielen Buchhändlern und Buchhändlerinnen er- fahren, dass es zwei "Publikume" gibt: die einen lesen Romane, die anderen Biographien. Und nur ganz selten gelingt es, beide zu be- kommen. Vielleicht ist mir das mit der Marta Feuchtwanger gelungen. [......00:25] Für mich sind die maßgeblichen Vorbilder die literarischen Biographen, das heißt Emil Ludwig, Stefan Zweig und einige andere. Das heißt: Ich halte meine Bücher letzten Endes für Literatur, auch wenn ich genau weiß, dass sie dann in den Verlagen, in den Buchhandlungen, in den Prospekten unter Sachbuch ge- handelt werden. Ich habe leider lernen müssen, dass zwischen Sachbuch und Belletristik ein unüberwindbarer Graben ist, und zwar sowohl im Kundenverhalten in den Buchhandlungen wie natürlich auch in den Verlagen [01:00] Autor 28: Wie ticken Biographen? So ganz klar scheint ihnen das selbst nicht immer zu sein. Schließlich geht es bei ihrem einsamen Ringen mit den Schriftstellern nicht ohne Emotionen ab, nicht ohne ideellen Dis- put. Mehr noch: Biographen wollen auch gefallen und den Lesern eine mitreißende, bewegende Lebensbeschreibung bieten. Eine ei- genwillige Perspektive ist da unabdingbar. Sonst gerinnt jede noch so ausführliche Biographie zum Langeweiler. In jedem Fall: seriöse Biographen wollen nicht glätten, sondern verunsichern, nicht mythi- sieren, sondern entmythisieren. Ihr Ziel ist es, ein fremdes Leben auf seine größtmögliche Deutungsvielfalt hin abzuklopfen. Das Rätsel- hafte, das Nie-ganz-Durchschaubare ist für sie alltäglicher Anreiz - und jeder neue Auftrag ein Neustart. Musik-Teppich: O-Ton 43 [Ingeborg Gleichauf 12:00] Ich habe nicht den Eindruck, dass sich mein Frisch-Bild verändert hat, sondern dass mir im Laufe des Schreibens klarer und immer kla- rer wurde, dass man versuchen sollte, überhaupt kein Frisch-Bild zu entwickeln und, ja, dem Frisch so viel freie Atemluft wie möglich zu lassen. [12:26] O-Ton 44 [Manfred Flügge 2, 20:50] Es gibt jetzt natürlich eine modernere Attacke, wenn man so will, auf die Biographie: das wäre die Gen-Sequenz. Der von mir sehr be- wunderte amerikanische Romancier Richard Powers hat seine Gen- Sequenz feststellen lassen und weiß jetzt, welche Krankheiten er eventuell haben kann und wo vielleicht seine Vorfahren her kommen und so weiter. Wenn man das zu Ende denkt, könnte man glauben, Biographie wird letzten Endes irgendwann ersetzt werden durch Se- quenzierung von Gen-Material der großen Autoren. Dann graben wir Tolstoi und Thomas Mann noch mal aus und suchen nach DNA - und wenn wir die Gensequenz haben, dann wissen wir, warum Tolstoi vom Soldaten zum Pazifisten wurde oder warum Thomas Mann so ein Ironiker war. [...21:45] Also natürlich: Man muss genug Ironie haben gegenüber seiner eigenen Methode, um sie selber zu relativieren. Also man setzt sich selber auch die Grenzen. Man darf nie beanspruchen, dass man "die Wahrheit" oder "den Schlüssel" zu einer Figur hat. Das ist immer nur ein Beitrag zu einem interessanten, beispielhaften Leben. [22:04] O-Ton 45 [Ingeborg Gleichauf 26:11] Ich denke, die einzige Gefahr ist die, sich seiner selbst zu sicher zu sein. In dem Moment, in dem sich eine Art Routine einstellt, glaube ich, muss man sagen: Stopp! Dialogszene 5: 1. Sprecher: Jetzt heul´ doch nicht gleich. Die Buchpräsentation ist doch bestens gelaufen. Und schon acht Lesungen gebucht! 2. Sprecher: [kleinlaut] Sie hatten ja recht. Die sind alle nur wegen Ihnen gekommen. 1. Sprecher: Na, und wenn schon. 2. Sprecher: Wie "Und wenn schon"? 1. Sprecher: Zumindest meine Erben fütterst du doch. In dem Punkt muss ich dir dankbar sein. 2. Sprecher: Und sonst? 1. Sprecher: Bisexuell war ich jedenfalls nicht. Auch kein Doppel- agent. Das war nur Bluff. 2. Sprecher: Ach? 1. Sprecher: Aber das sage ich dir jetzt nur, damit du endlich ein- schlafen kannst. Julian Schütt: Max Frisch. Biographie eines Aufstiegs. Suhrkamp Verlag, Berlin 2011. 592 Seiten. 24,90 ?. Ingeborg Gleichauf: Jetzt nicht die Wut verlieren. Max Frisch - eine Biografie. Nagel & Kimche, München 2010. 271 Seiten. 18,90 ?. Manfred Flügge: Die vier Leben der Marta Feuchtwanger, Aufbau Verlag, Berlin 2008. 422 Seiten. 24,95 ?. (in Kürze erscheint Manfred Flügges 100-seitiges Nachwort zur Autobiographie von Konrad Kellen: "Mein Boss, der Zauberer" [Rowohlt], und seine Biographie über Eva Herrmann, Künstlerin im Umkreis von Thomas Mann [Suhrkamp]) Zusätzliches Zitat aus: aus: Jean-Michel Guenassia: Der Club der unverbesserlichen Opti- misten. Roman. Aus dem Französischen von Eva Moldenhauer. Insel Verlag, Berlin 2011. S.43. 2