COPYRIGHT Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von Deutschlandradio Kultur benutzt werden. Zeitfragen 01.10. 2014, 19.30 Uhr Die Mobilitätsrevolution Die Geschichte des Fahrrades Von Franziska Schiller und Thomas Doktor Ton: Alexander Brennecke Regie: Stefanie Lazai Redaktion: Winfried Sträter Produktion: Deutschlandradio Kultur 01 Musik Titel: "Paparazzi" Komponist: Paul Friedrich Frick LC-Code: LC 07306 01 Atmo (Ozon Cyclery Werkstatt) Gemurmel, Sägen, Hämmern Autorin Auf der Werkbank liegen drei Stangen. Darüber stapeln sich noch hunderte weitere, gelagert auf einfachen Regalwinkeln, hoch bis unter die Decke. 02 Atmo (Werkstatt) Autorin Die Stangen sind aus Bambusrohr. Daraus entstehen hier Fahrräder, genauer gesagt, Fahrradrahmen. Das Hauptproblem der Entwickler: Wie verbinden wir die Bambusrohre? 01 O-Ton Brüning Und das hier ist der erste Prototyp: Das ist noch relativ unbedarft, von der Technik her. Wir haben's mit alten T-Shirts und Holzlatten probiert. Und das hat natürlich nicht länger gehalten als für eine Fahrt von fünf Metern, bevor es in sich zusammengebrochen ist. Autorin Stefan Brüning, gelernter Orthopädietechniker, zeigt auf den ersten Bambusrahmen von 2010, ein mit Schnüren und Stoff verbundenes Bambusgerippe. Es erinnert mehr an ein Totem untergegangener Kulturen als an einen Fahrradrahmen. Seitdem hat sich eine Menge getan. 02 O-Ton Brüning Wir haben weiter experimentiert und nicht aufgegeben und neue Materialien ausprobiert - sind dann über Carbon, Aramid, später bei Hanffasern und letztlich bei Flachsfasern gelandet. Autorin In der Ozon Cyclery treffen Natur auf Hightech - und 200 Jahre Fahrradgeschichte auf die Vision eines Fahrrades für die Zukunft: Leicht soll es sein, aber auch zäh. Je mehr Kraft der Radler in die Pedale gibt, desto unnachgiebiger ist der Bambus. Genau das macht Spitzenrahmen aus. 03 O-Ton Brüning Dan, wie viele Räder haben wir inzwischen auf der Straße? - Dan: So Richtung 100 - ich meine 100 gebaut - Auf der Straße? So, 70 Prozent - Brüning: Die restlichen suchen noch nach Teilen, das sind die frischen Workshops. Autorin Ozon Cyclery - ein außergewöhnlicher Fahrradladen. Das Motto: Bau Dir Dein eigenes Rad! Ein halbe Dutzend Rahmen in Rohbau hängt neben dem Fenster an der roten Ziegelwand. Stefan Brüning: 04 O-Ton Brüning "Das selber machen zu können, war dann eben das Ziel und den Herstellungsprozess so weit zu vereinfachen, dass wir letztlich Workshops anbieten können und die Kunden zu uns in die Werkstatt kommen, um sich einen Fahrradrahmen zu bauen, in den perfekten Abmaßen, der perfekten Geometrie, maßgeschneidert und selbst gebaut." 05 O-Ton Kathie I'm Kathie and I'm from Canada. I contacted the other Bamboo Cycle organizations in Berlin ... Autorin Wir befinden uns in Berlin Friedrichshain, auf einem ehemaligen Bahngelände. Hier, wo bis vor 20 Jahren Eisenbahner alte Dampfloks reparierten, hat sich eine Reihe von Künstlern und Kreativen mit ihren Werkstätten und Ateliers niedergelassen. Auch Stefan Brüning und Daniel Vogel-Essex, zwei der beiden Mitbegründer der Ozon Cyclery. Seit 2010 kommen Kunden, um sich hier ihr ganz individuelles Rad zu bauen: Manche aus dem Kiez, andere gleich über den großen Teich. 03 Atmo (Werkstatt) Kathie im Gespräch mit Stefan Brüning Autorin Daniel Essex zeigt der jungen Kanadierin, wie sie die Rohre für ihren Rahmen zuschneiden muss, damit die Teile später perfekt eingepasst werden können. 04 Atmo (Werkstatt) Werkeln und Sägen Autorin Mit Flachsfasern und Epoxydharz werden die Bambusrohre und die Metallhülsen für Pedaltretlager sowie das Lenkkopflager miteinander verbunden. Ausgehärtet reist der Rahmen dann mit Erbauerin Kathie nach Kanada. 06 O-Ton Essex "Ich glaub, man ist auch in den letzten Jahren vermehrt so auf der Suche nach einem ehrlichen Material, nach ehrlichen Produkten, die eine lange Haltbarkeit haben und diese geplante Obsoleszenz auch ausschließen. Man vertraut da auch sehr auf diese natürlichen Werkstoffe, da ist halt so ne Vertrautheit gegeben. Ich glaub' das wird mehr und mehr gefragt werden." Autorin Rahmen, mit eingebautem Verfallsdatum? - Das meint die Formel von der geplanten Obsoleszenz - kein Fall für die Ozon-Cyclery. 02 Musik Titel: Stucco Interpret: Calexico LC-Code: LC 06853 Auf Musik Zitator Besorg dir ein Fahrrad. Wenn Du lebst, wirst Du es nicht bereuen. Mark Twain, geboren 1835, gestorben 1910. Autor Die Berliner Bambusradbauer sind Teil einer globalen Renaissance des Fahrrades. Es ist Alltagstransportmittel, Kinderkutsche, Lastenesel oder Ausdruck subkultureller Identitäten: Zeig mir Dein Rad und ich sag dir, wer du bist. In Zeiten immer knapper werdenden Verkehrsraums verspricht das Rad eine grenzenlose Mobilität. Die Wiederentdeckung der Langsamkeit führt mittlerweile oft schneller zum Ziel als das Auto. Wir schlagen gerade ein neues Kapitel in der wechselvollen Geschichte des Rads auf, die vor 200 Jahren begann, und zwar mit einer Naturkatastrophe. 03 Musik Titel: Caffeine Komponist: Paul Friedrich Frick LC-Code: LC 07306 Autor 1816 führte der Ausbruch des Vulkans Tambora - 250 km östlich von Bali - dazu, dass in Europa mitten im Sommer Dauerregen und Schneetreiben katastrophale Missernten zur Folge hatten. Der Preis für Hafer stieg in schwindelerregende Höhen. Vor die Wahl gestellt, mit der schmalen Getreideernte Menschen oder Tiere zu ernähren, lautete die Frage plötzlich: Pferd oder Mensch und man entschied sich für den Menschen. Die junge europäische Industrialisierung verlor ihr noch wichtigstes Transportmittel. Fortbewegung - nur noch zu Fuß? In dieser Situation hatte der badische Forstbeamte Karl Drais Freiherr von Sauerbronn eine zündende Idee - frei nach Shakespeare: Ein Königreich für ein Rad! Zitator Eine neuerfundene Fahrmaschine: Der Freiherr von Drais ist, nach glaubwürdigen Zeugnissen, Donnerstag den 12ten Juni des Jahres mit der neuesten Gattung der von ihm erfundenen Fahrmaschine ohne Pferd von Mannheim bis an das Schwetzinger Relaishaus und wieder zurück, also 4 Poststunden Wegs in einer Stunde Zeit gefahren. Karlsruher Zeitung im Juli 1817 Musik kurz frei 05 Atmo (Depot Dt. Technikmuseum) 07 O-Ton "Die Fahrradgeschichte fängt zumindest in der deutschen Geschichtsschreibung mit einem gewissen Herrn Drais an. Und er erfand eben die Drais'sche Laufmaschine." Autorin Berlin Reinickendorf. Depot des Deutschen Technikmuseums. Benjamin Huth, Mitarbeiter der Abteilung Straßenverkehr. Die Drais'sche Laufmaschine: Eine Holzkonstruktion, einspurig, zweirädrig und lenkbar, angetrieben durch abwechselndes Abstoßen mit den Füßen vom Boden. Heute lernen unsere Kinder so das Radfahren. 08 O-Ton Huth "Er hat sich seiner Zeit schon Rennen mit Pferdekutschen und Reitern geliefert und diese immer gewonnen, was hauptsächlich daran lag, dass er sich die Distanzen ausgesucht hat, über die er die Rennen bestreiten wollte, und Herr Drais hat tatsächlich eine Durchschnittsgeschwindigkeit von 15 bis 17 km/h gehabt, eine Pferdekutsche war mit etwa 10 km/h unterwegs. Auf längeren Strecken hat er sie also locker geschlagen, auch wenn sie anfangs von ihm weggezogen sind. Autor Doch mit der Normalisierung der Getreideernte nach 1817 kehrt das Pferd rasch auf die Straßen zurück. Erst 50 Jahre später wird das Projekt Fahrrad wieder aktuell: mit der Erfindung von Pedalen und dem Kettenantrieb - sowie dem Luftreifen - punktet zuerst das Hochrad und später das uns bekannte und komfortable Niedrigrad. Zitator Life is like riding a bicycle. To keep your balance, you must keep riding. Das Leben ist wie ein Fahrrad. Man muss sich vorwärts bewegen, um das Gleichgewicht nicht zu verlieren. Albert Einstein, Physiker. 1879 geboren, 1951 gestorben. 06 Atmo (Bahn-Ansage) Nächste Station Bielefeld 07 Atmo (Bahnhofsvorplatz) Autorin Bielefeld in Ostwestfalen, einst eine Hochburg der deutschen Fahrradindustrie. In der Blütezeit stammte jedes fünfte Rad in Deutschland aus Bielefeld. 09 O-Ton Mertins "Ja, ich hab ein Fahrradmanufaktur-Rad, das mich schon die letzten 15 Jahre begleitet, für mich ist das Fahrrad das genialste Fahrzeug, was es auf der Welt gibt, ja? Es ist umweltfreundlich, es ist leise, es fördert die Gesundheit, man kommt überall hin, wenn man sich die nötige Zeit nimmt. Und dass Bielefeld diese große Rolle gespielt hat in dieser Fahrradindustrie, dass hat mich gepackt und ja, jetzt bin ich voll drin." Autorin Blaues Regencape, randlose Brille, 1 Meter 90, schlank: Der Fahrradhistoriker Michael Mertins führt uns auf dem Rad durch seine Stadt. Mertins ist auf den Spuren der Bielefelder Fahrradhistorie unterwegs. Dürkopp, Anker, Göricke - das sind nur drei der großen Namen, die hier in Bielefeld Fahrräder herstellten. 10 O-Ton Mertins "Da war ich noch in den Göricke-Werken, bevor die abgerissen wurden. Und was ich da gesehen habe, diese Fließbandfertigung, die ja 1928 eingeführt wurde: Da hingen die halbfertigen Räder (...) am Haken unter der Decke. Die wurden ja komplett durchgeleitet durch das Werk. Da lagen auf den Werkbänken die selbst gefeilten Tretlagerschlüssel. Alles war liegen gelassen, alles war auch schon von anderen durchgewühlt worden, kaum noch was lag an seinem Platz. Und da, mein ich, hab ich mich infiziert mit so einem Bazillus und der heißt Fahrradindustrie." 08 Atmo (Radfahrt) Autorin Vom alten Görickegelände aus biegt Michael Mertins mit seinem unauffälligen schwarzen Tourenrad in eine Seitenstraße ab - in Richtung des alten Firmengeländes der Dürkopp Werke AG. Zitator Bei keiner Erfindung ist das Nützliche mit dem Angenehmen so innig verbunden wie beim Fahrrad. Adam Opel, deutscher Industrieller, Nähmaschinen- und Fahrradbauer. 1837geboren, 1897 gestorben. 09 Atmo (Museum) 11 O-Ton Renda "Und das war so, dass in den 1880er Jahren immer mehr Firmen, die Nähmaschinen hergestellt haben, dazu übergegangen sind, gleichzeitig auch Zweiräder zu bauen. Also, gerade in Bielefeld hatte man ganz häufig die Konstellation: Einen Mann, der in der Metallindustrie beschäftigt ist und eine Frau, die in der Textilindustrie arbeitete. Wenn dann Kinder kamen, dann blieb die Frau zu hause - und dann war die eigene Nähmaschine zu hause natürlich ein ganz wichtiges Investitionsgut, um für den Familienunterhalt mit beizutragen. Und beim Fahrrad ist es so, das ist sehr vielschichtig. Einerseits der Weg zur Arbeit, das hat das Geld für die Straßenbahn gespart, das hat Zeit gespart, Zeit war auch für die Arbeiter Geld." Autor Historisches Museum Bielefeld, Gerhard Renda, Museumsdirektor. 12 O-Ton Renda "Man konnte mit Fahrrädern sehr viel Geld verdienen. Ein Hochrad lag hier in Bielefeld, die ersten hat Dürkopp gebaut, zwischen 350 und 500 Mark im Verkaufspreis. Als Vergleich: Eine Textilarbeiterin hier in der Bielefelder Fabrik verdiente 500,- Mark im Jahr. Einer seiner Konkurrenten hat mal gesagt um 1900: Mit dem Fahrrad könnte man "klotzig Geld verdienen". 04 Musik Titel: Sphäre, Pt.1 Interpret: Sci Fi LSD Sounds Label: GR8 AL Music, B00IVFN53U 13 O-Ton Mertins "Ja, der Nikolaus Dürkopp: das ist ja so'n Typ, den gibt es nur einmal. Das war ein gelernter Mechaniker und der wollte gerne zur besseren Gesellschaft gehören, hier in Bielefeld, hat man ihm aber immer verwehrt - er war ja "nur" Mechaniker. Und die Leinenhändler wollten ihn nicht aufnehmen in den "Ressource"-Club: Nee, den woll'n wir nicht haben. Da hat er fünf Mal einen Antrag gestellt. Und erst beim fünften Mal und einer Geldzuwendung hat man ihn endlich aufgenommen." 10 Atmo (Velodrom Bahnrad Training) Klicken und Sirren 14 O-Ton Renda "Dürkopp hatte aber das Prinzip, wir machen alles selbst. Das heißt, er hat sich dann einen englischen Fachmann geholt und hat dann, mit einem Vorlauf von einem guten halben Jahr nur, mit der Produktion angefangen." 15 O-Ton Mertins "Und so blieb er immer Außenseiter. Aber er war der größte Arbeitgeber - er hat über 4.000 Arbeiter beschäftigt hier in Bielefeld beschäftigt! Das war ein Werk von Tor 1 bis Tor 6, das ging über mehrere Häuserblocks, das hat der als Schlosser aufgebaut, mit seinem technischen Verständnis." Atmo hoch 16 O-Ton Mertins ... mit seinem technischen Verständnis hat er das tatsächlich geschafft und patriarchalisch geführt, mach' ich und zack und aus und Ende. Streiks waren ihm absolut zuwider. Autor 1886 beginnt Nikolaus Dürkopp in Bielefeld als erster deutscher Industrieller mit der Serienproduktion von Fahrrädern. Atmo raus 17 O-Ton Mertins "Der konnte nicht lesen und nicht schreiben. Er hat sich die Kaufverträge vorlesen lassen, bevor er sie unterschrieben hat. Er hat einfach ein Gespür gehabt dafür, was ist jetzt dran, was muss jetzt produziert werden? Wo kann man noch was verbessern? Da muss er unheimlich fit gewesen sein." Autor Die feinmechanische Industrie bemächtigt sich des Fahrrades: Sie lernt Fertigungsprozesse zu gliedern und Produkte aus vielen Einzelteilen zu einem Ganzen zusammenzuführen. An einem anderen Ende dieses Lernprozesses werden später die Produktion von Autos, Motorrädern und Flugzeugen stehen. Zitator Whoever invented the bicycle deserves the thanks of humanity. Wer immer das Fahrrad erfunden hat, ihm gebührt der Dank der Menschheit. Lord Charles Beresford, Admiral der Royal Navy, 1846 geboren, 1919 gestorben. Sprecherin Das Fahrrad und der Krieg. 04 Musik Titel: The Lost Day Interpret: Brian Eno LC-Code: LC 3058 Autor Wo immer es technischen Fortschritt im zivilen Leben gab und gibt, sind die Militärs nicht weit, um die neue Technik für ihre Zwecke zu nutzen. 18 O-Ton Renda "Dieser Wettkampf zwischen Radfahrer und Kavallerist, den ja in diesem Aufsehen erregenden Distanzrennen Wien-Berlin der Fahrradfahrer deutlich gewonnen hat in den 1880er Jahren: Das hat natürlich das Militär hellhörig gemacht und dann hat man tatsächlich Radfahrereinheiten angelegt und hat überlegt, wie man das Fahrrad nutzen kann." 11 Atmo Pferdegetrappel, schweres Atmen, Radfahren, Kanoneneinschlag 19 O-Ton Renda "Das Klappfahrrad hat tatsächlich seinen militärischen Ursprung. Eben dieser Franzose oder Belgier, ein Herr Gerard - ich glaub', Major war der - der hat tatsächlich das Klapprad für die Truppe erfunden. Nur die Stunde der Wahrheit schlug dann im Ersten Weltkrieg. Und dann hat man sehr schnell gemerkt, dass das Fahrrad eben nicht feldtauglich ist. Die Radfahrer sind einfach stecken geblieben, im Schlamm, im Morast. Und das hat dann dazu geführt, dass das Fahrrad eigentlich im Ersten Weltkrieg und dann auch im Zweiten Weltkrieg nur so ein Nischendasein hatte, für Sanitätskolonnen, für Meldefahrer und ähnliches. Atmo raus Autor Trotz beeindruckender Siege, die das Rad gegenüber dem Pferd auf langen Distanzen einfuhr - ohne geeignete Straßen-Infrastruktur musste das Rad ausgemustert werden. Räder müssen rollen für den Sieg: Das galt nicht für Fahrräder. Weshalb diese auf den Schlachtfeldern ihre Unschuld NICHT verloren. Stattdessen - Zitatorin Das Fahrrad hat mehr für die Emanzipation getan als alle Bestrebungen der Frauenbewegung zusammen. Rosa Mayreder, Schriftstellerin und Frauenrechtlerin. 1858 geboren, 1938 gestorben. 20 O-Ton Renda Also ich denke, dass das Fahrrad mit Sicherheit kulturgeschichtlich eine höchst bemerkenswerte Erfindung war. Was das Fahrrad alles bewegt hat in der Zeit, in der es erfunden wurde bis auf den heutigen Tag, sei es verkehrstechnisch, sei es kulturhistorisch, das lässt sich überhaupt nicht wegdenken. Nehmen wir mal ein Beispiel her, die Emanzipation. Es war auf jeden Fall so, dass das Fahrrad ab 1900 dazu geführt hat, dass die Frauen aus dem Bürgertum mehr Selbstständigkeit gewonnen haben. Dass sie zum Beispiel dem Korsett den Kampf angesagt haben. Denn im Korsett konnte man eigentlich nicht Rad fahren. Das war auch einer der Ansatzpunkte für die sogenannte 'Reformkleidung', die sich dann eben des Korsetts entledigt hat. 05 Musik Titel: The Kiss - Exotica Interpret: Mychael Danna LC-Code: LC 60 83 Sprecherin Das Rad und die Liebe 21 O-Ton Renda "Früher gab es ja in bürgerlichen Kreisen immer diesen Anstands-Wauwau. Das heißt, wenn sich zwei junge Leute verschiedenen Geschlechts getroffen haben, dann musste immer eine Tante oder die Mutter dabei sein, dass da nichts passiert. In dem Moment, wo die beiden jungen Leute auf dem Rad saßen, dann hat die Tante in der Regel erst einmal die Segel gestrichen und hat gesagt, auf dieses Ding setze ich mich nicht und dann waren die mehr oder weniger entlassen. Es gibt eine wunderschöne - Karikatur kann man nicht sagen, eine Zeichnung von Bruno Paul im Simplizissimus." Musik hoch 22 O-Ton Renda Man sieht einen Wald, ein Waldinneres. Und im Vordergrund stehen ein Herren- und ein Damenrad aneinandergelehnt und ansonsten sieht man nichts. Und man weiß ganz genau, was da im Waldesdunkel vor sich geht und wer da im Waldesdunkel ist. Autor Waren Laufmaschine und Hochrad noch das exklusive Vergnügen des Adels und des gut verdienenden Großbürgertums , setzt das Rad am Anfang des 20. Jahrhunderts zum fulminanten Siegeszug an. Auch einfache Bürger und Arbeiter können sich plötzlich das Fahrrad leisten. Mit dem Rad erreichen Handwerker ihre Kunden schnell und preiswert. Autorin So löst das Rad eine Mobilitätsrevolution aus, denn erstmals bewegen sich die Menschen unabhängig von Pferd und Kutsche mit eigener Körperkraft: Nicht nur der Herr, der Adlige, schwingt sich auf den Sattel, sondern auch der normale Mensch. Auch dies: ein Stück Emanzipation. 06 Musik: Titel: Moving On Up Interpret: The Jeffersons/ Ja'net Dubois Zitator Nothing compares to the simple pleasure of a bike ride. Nichts ist vergleichbar mit der einfachen Freude, Rad zu fahren. John F. Kennedy, Präsident der U.S.A. 12 Atmo (Rennbahn) Autorin Michael Mertins fährt über ein riesiges Freigelände, vorne am Eingang wirbt ein Plakat für den nächsten Flohmarkt. Darunter der Hinweis: Radrennbahn Bielefeld. Diese Rennbahn, schwärmt Mertins, ist die schnellste Rennbahn Deutschlands. 23 O-Ton Mertins "Man sieht fast eine Wand, das sind 46 Grad Neigung. Die lässt also Geschwindigkeiten zu, das ist unglaublich. Der Bahnrekord mit dem Motorrad von 1956 steht auf 122 km/h, das heißt neun Sekunden eine Runde bei einer Rundenlänge von 333,3. Wenn dann drei Gespanne nebeneinander fahren, und dann versuchen, in der Schlussphase sich gegenseitig auszuschalten, das ist ein Erlebnis - die Zuschauer, die hier sind, da sitzt keiner mehr." Autorin Mertins spricht von den sogenannten Steher-Rennen, die in Deutschland nur noch an vier, fünf Orten abgehalten werden: Nürnberg, Chemnitz, Leipzig, Berlin - und Bielefeld. Und er hat einen Aktiven mitgebracht: Schrittmacher- Legende Christoph Dippel - neunfacher deutscher Meister und Weltmeister in dieser fossilen Sportart. 13 Atmo (Motorrad-Start) 24 O-Ton Dippel "Ich bin in Bielefeld aufgewachsen in der Nähe der Radrennbahn und bin auch als Kind öfter zum Steherrennen gegangen. Der Schrittmacher gibt dem Rennfahrer Windschatten, damit er dieses Tempo auch erreichen kann." Autorin Firmen wie Dürkopp und Anker unterhielten zu Hochzeiten eigene Rennställe und fuhren an den Wochenenden zahlreiche Siege ein. Marke und Sport verbanden sich hier zum werbewirksamen Verkaufsargument. Heute wirkt die Bahn marode, Gras wächst zwischen den Zuschauertribünen, einmal im Jahr wird gemäht. Es muss dringend Geld her für die Sanierung dieser einzigartigen Bahn, die in einem Stück aus Stahlbeton gegossen ist. 25 O-Ton Mertins "Das ist wirklich die schnellste und architektonisch besondere Bahn in ganz Deutschland und die muss einfach gerettet werden!" Atmo raus 07 Musik Titel: Misterioso Interpret: Thelonius Monk LC-Code: 9803 Autor Historisches Museum Bielefeld. Wir stehen vor dem abgesägten Heck eines DKW 1000. Aus der geöffneten Kofferraumklappe ragt der Lenker eines Klapprades. Mit diesem Bild verbunden ist das Ende einer Ära. So wie dem Steher-Sport ist es dem Fahrrad insgesamt ergangen. Es musste weichen. 26 O-Ton Renda "Das Klapprad, das war eben der verzweifelte Versuch der Fahrradindustrie, gegen die Motorisierung anzukommen. Und damals war die Devise, wenn man schon das Auto hatte, dann am Wochenende mit dem Auto ins Grüne. Und dann hat die Fahrradindustrie eben das autogerechte Klapprad entwickelt, das man zerlegen oder in einer Form kofferraumgerecht machen konnte. Das Problem bei der Geschichte war nur, dass die meisten dieser Klappräder Mängel hatten, was die Verarbeitung anging, was die Mechanik anging - und man auch nicht gut drauf fahren konnte. Und eigentlich hat das den Leuten eher das Fahrrad verdorben, den Spaß am Fahrradfahren. Aber immerhin haben in den 60er Jahren, zum Teil auch noch in den 70er Jahren haben etliche Bielefelder Fahrradfirmen mit dem Klapprad sich noch so ein Stück weit gerettet, bevor dann endgültig der Absturz kam in den 70er und 80er Jahren" Autor Wieder hält das Klapprad nicht, was es verspricht. In den 1970er Jahren wird das Klapprad zwar gekauft und sichert manchem Hersteller das Überleben. Aber das grundsätzliche Problem bleibt: Fahrradproduktion lohnt sich seit den 1950er Jahren immer weniger: Auch der Bielefelder Hersteller Wittler, seit 1903 ein Traditionsunternehmen in Familienbesitz, musste seine Produktion damals umstellen. 27 O-Ton Wittler "Es war in den 50er Jahren ein enormer Modernisierungs- schub spürbar, so dass die Firmen, die das machen konnten, wie zum Beispiel Dürkopp, die dann noch etwas länger Fahrräder gebaut haben, die hatten dann enorme Kostenvorteile. Im Klartext heißt das, die Firma stand damals kurz vor der Insolvenz und der Ausstieg aus der Fahrradproduktion war die Notbremse." Autorin Jürgen Wittler führt das Unternehmen heute in vierter Generation. Eine Sicherheitskurbel mit Sperre zur Sicherung schwerer Lasten, die vor allem im Bergbau gebraucht wurde, hat die Firma durch die Krise gebracht. Autor Wie Wittler wenden sich auch viele andere Bielefelder Firmen vom Fahrradbau ab: Miele 1960, Dürkopp 1962, auch Stricker und Meister stellen den Fahrradbau ein. Anfang der 1970er Jahre ist das Fahrrad tot, zusammengeklappt und beerdigt etwa im Kofferraum eines Ford Taunus TC. 08 Musik Titel: Gradients Interpret: John Zorn Label: Tzadik , TZ 7307 15 Atmo (ADFC Sternfahrt) Heerschar von Fahrradklingeln Autorin Tot gesagte leben länger. Benzinkrise, Umwelt- und Gesundheitsbewusstsein oder einfach die Freude am lautlosen Dahingleiten unter freiem Himmel - das Rad kommt wieder ins Rollen. Bielefeld 2014, das Gelände der Firma Hebie. 28 O-Ton Mertins Wir kommen jetzt in dieses Foyer. Man staunt immer wieder: Eine Mischung aus alten Produkten, die in Vitrinen stehen, wunderbare Kettenschützer mit Goldlinierung, dann haben wir Musterkassetten mit Griffen in allen Schattierungen und dann auf der rechten Seite das neue Produkt von Hebie, der Kunststoffbehälter für Einkäufe, dieses boot bag. Autorin Eine Innovation, die mit dem red dot Designpreis ausgezeichnet wurde. 16 Atmo (Hebie Bielefeld) Empfang 29 O-Ton Mertins "Für mich ist die Firma ein Phänomen, weil Tradition und Fortschritt sind hier so eng verknüpft, das hält man nicht für möglich. Die Firma ist ja heute fast 150 Jahre alt. Das ist schon. Eine der ältesten Firmen, die hier noch ansässig sind in Ostwestfalen und immer noch produzieren." Autorin Hebie, das steht für Hemmelskamp Bielefeld. Unternehmer Heinrich Hemmelskamp gründet die Firma 1868 als Korkschneiderei. Seit 1906 werden hier Fahrradteile hergestellt, zunächst Lenkergriffe aus Kork. 30 O-Ton Rädel "Hallo! Ich bin Andreas Rädel ... " Autorin Betriebsleiter Andreas Rädel führt durch die Produktion, bleibt an einem übermannshohen Automaten stehen. 17 Atmo: Spritzguss 31 O-Ton Rädel "Das ist der Bosch Kettenschutz für E-Bikes, den wir hier spritzen. Die Maschine arbeitet voll automatisch. Der Spritzzyklus beträgt 30 Sekunden, dann nimmt der Greifer den fertigen Artikel raus und legt den hier aufs Band ab und hinterm Transportband wird der Artikel sofort in die Endverpackung verpackt und zum Lager rüber gebracht." Autorin 8 Millionen Euro Umsatz im Jahr erwirtschaftet das Familienunternehmen in bald fünfter Generation mit Ständern, Kettenschützern, Gepäckträgern und anderen Fahrradteilen. Vor 30 Jahren herrschte noch Krisenstimmung. 32 O-Ton Schult "Dann kamen die schlimmen 80er Jahre, wo im Grunde die deutschen Fahrradhersteller immer weniger wurden." Autorin Karl-Heinz Schuldt, damals Betriebsleiter bei Hebie. 33 O-Ton Schuldt "Ich musste leider da mit für geradestehen, Menschen entlassen werden mussten, was mir persönlich sehr schwer gefallen ist." Autorin Die Umstellung der Produktion von Metall- auf Kunststoff erweist sich als strategisch richtig: Als die Mountain Bikes aufkommen, hat Hebie bereits steckbare Schutzbleche aus Kunststoff im Angebot. 34 O-Ton Rädel "Hier ist der Schwerpunkt Stanzerei, Ständermontage, das machen wir hier ... Herr Gomez!" 18 Atmo (Stanzerei) 35 O-Ton "Der Herr Gomez ist seit vier Jahren bei uns im Haus - schnellster Ständerbauer Deutschlands: Das heißt, er schafft rund tausend Ständer am Tag. Das hat noch keiner getoppt bisher." 36 O-Ton Gomez "Für mich ist Hebie, muss ich Ihnen ganz ehrlich sagen, ein sehr guter mittelständischer Betrieb, der noch hier in diesem Land produziert und wo man noch familiär miteinander umgehen kann." Autorin: ... findet der Mann an der Stanze. Betriebsleiter Andreas Rädel erwartet auch in der Verkehrspolitik eine Hinwendung zum Rad: 37 O-Ton Rädel "Das sieht man auch in der Verkehrspolitik der Städte, die Städte wachsen, aber Verkehrsfläche wächst nicht. Also muss irgendwas passieren, also wird das Fahrrad da einen Schwerpunkt spielen." 19 Atmo (Radfahrt) 38 O-Ton Mertins "Wir fahren jetzt hier rechts runter, um dem Autoverkehr so ein bisschen zu entkommen. Man muss schon wissen, wie es geht in Bielefeld." Autor Fahrrad und Auto: das ohnehin schwierige Verhältnis fordert die Stadtplaner neu heraus. Mit der Fahrrad-Renaissance stellt sich die Frage, wie die begrenzten öffentlichen Räume dem wachsenden Fahrradverkehr gerecht werden. 09 Musik : Titel: "Paparazzi" Komponist: Paul Friedrich Frick LC-Code: LC 07306 Autorin Die autogerechte Stadt war einmal das Ziel der Stadtplaner. Heute - die fahrradgerechte Stadt? Lösungen dafür sind nicht einfach, denn es müssen auch die Interessen der Fußgänger gewahrt werden. Musik freistehend Zitator Jedes Mal, wenn ich einen Erwachsenen auf einem Fahrrad sehe, zweifle ich nicht mehr an der Zukunft der Menschheit. H.G. Wells, englischer Schriftsteller, geboren 1866, gestorben 1946. Musik hoch Darauf Autor Das Fahrrad hat schon alles erlebt: Es war Spielzeug der Reichen, machte breite Bevölkerungsschichten mobil und wäre beinahe auf dem Abstellgleis gelandet. 39 O-Ton Mertins "Aber es geht den Radfahrern immer zu langsam, wenn man das mal vergleicht mit dem, was für Autos getan wird, dann ist das natürlich für Fahrräder zu wenig." Autorin Aber immer hat das Rad Menschen begeistert und inspiriert. Seine Renaissance muss nun die Stadtplaner inspirieren. Zitator Zeigen Sie mir ein Problem dieser Welt und ich gebe Ihnen das Fahrrad als Teil der Lösung. Mike Sinyard, amerikanischer Fahrradbauer, geboren 1950. Musik-Ende 1