Deutschlandradio Kultur Länderreport Mainz, wie es wettert und lacht - Anmerkungen zur politischen Fastnacht - Autor Hans-Peter Betz Red. Claus Stephan Rehfeld Sdg. 15.02.2012 - 13.07 Uhr akt. WH vom 04.03.2011 - 13.07 Uhr Länge 19.28 Minuten Moderation Mainz, wie es wettert und lacht. Eigenartig. Besonders beliebt sind gemeinhin die Fastnachtsvorträge ohne politischen Inhalt. Schenkelklopfer, Lach- und Brüllvorträge, sogenannter Kokolores. Doch wer die Fastnacht darauf reduziert, der verkennt sie völlig, weil: ein besonderes Merkmal der Fastnacht in Mainz ist gerade der politische literarische Vortrag. Die Aufgabe des Till Eulenspiegels, des mittelalterlichen Hofnarren, den Regierenden die Meinung unverblümt zu sagen, sie hat in Mainz eine Tradition. Die wird gepflegt. Und sie hat sehr zu ihrem bundesweiten Erfolg beigetragen - damals so wie heute, heute so wie damals. Hans-Peter Betz verschafft Ihnen einen Überblick. Die Geschichte der politischen Fastnacht in Mainz jetzt im Länderreport, bevor es am Freitag Abend im ZDF wieder heißt: Mainz bleibt Mainz, wie es singt und lacht. folgt Script Beitrag Script Beitrag G 01 Tätä-tätä-tätä AUT In Zeiten der boomenden Kleinkunstbühnen, eines wahren kabarettistischen Feuerwerks auf fast allen Fernsehsendern und des Überangebots an nervigen, platten und halbintellektuellen Comediens, ist es nicht leicht der politischen Fastnacht einen kleinen Nischenplatz innerhalb dieser Konkurrenz zu sichern. G 02 Lacher Sitzung AUT Politischen Satire, wie wir sie in Mainz lieben und pflegen, ist mehr als ein verstaubter Mummenschanz, eine treudoofe Reimerei, oder gar eine Sammlung zotiger Witze und flacher Kalauer. Ein kleines intellektuelles Beispiel. Guido Westerwelle hat von spätrömischer Dekadenz gefaselt. Heiner Geissler, der Dalai Lama der CDU sagte dazu: Spätrömisch dekadent war der Kaiser Caligula. Der hat ein Pferd zum Senator gemacht und wir einen Esel zum Außenminister. Es gibt Situationen, da sollte man älteren Politikern nicht widersprechen. Tusch AUT Die Ursprünge der Fastnacht liegen im Dunklen, im dunklen Mittelalter. Die Rituale der Winteraustreibung, das Verjagen der bösen Geister der winterlichen Dunkelheit durch lärmende und verkleidete Gestalten im Frühjahr, dürfen wohl als die ersten fastnachtlichen Zuckungen beschrieben werden. Geschickt, wie das frühe Christentum und besonders die katholische Kirche in solchen Dingen immer waren, machte man sich dieses heidnische Brauchtum zu Nutze und passte es nahtlos in den kirchlichen Kalender ein. Die Zeit von Aschermittwoch bis Ostern war die Fastenzeit, die letzte Nacht vor diesen entbehrungsreichen Wochen war die Fastnacht. Da konnte man noch einmal richtig schlemmen und feiern, oder wie wir in Mainz sagen: SPR Die Wutz auslasse. AUT Man kann also sagen: SPR "Die Fastnacht ist ein wunderbares Beispiel gelungener Integration fremdartiger kultureller Bräuche." AUT Im 13. Jahrhundert war es, da taucht zum ersten Mal der Begriff des Hofnarren auf. Mit gelegentlich sehr derben Späßchen und noch derberen Sprüchen und frivolen Liedchen ließ sich die adelige Gesellschaft ganzjährig an ihren Festgelagen unterhalten. SPR Wenn gülden geht die Sonne auf, bleib ich im Bett nicht liegen. Dann sitz ich auf dem Lokus drauf und lasse einen Fliegen! AUT Die Hofnarren des Mittelalters waren allerdings sehr von der Laune des Herrschers abhängig. Ein überzogener Scherz oder eine misslungene Pointe konnte zur Folge haben, dass der arme Narr plötzlich um einen Kopf kürzer war. G 03 Fallbeil Rassel rassel! SPR Viele der heutigen Comedy-Stars hätten in der damaligen Zeit eine sehr geringe Lebenserwartung gehabt. AUT Der eigentliche Ursprung der Mainzer politisch-literarischen Fastnacht liegt aber im Jahr 1793. Die Mainzer Republik wurde gegründet, die erste demokratische Staatsform auf deutschem Boden. Nach 3 Monaten wurde sie allerdings niedergemacht. Doch die Ideen der Aufklärung und der französischen Revolution ließen sich nicht vertreiben und einsperren. Besonders nicht in einer neu erstandenen gesellschaftlichen Schicht, dem Bürgertum. Dieser aufstrebende neue Stand war es dann auch, der die moderne Fastnacht oder den Carneval, wie man im Kölner Raum sagt, gesellschaftsfähig machte. SPR Wenn mir Meenzer was im Kopp habe, dann setze mir das aach dorch! Und wenn´s um die Fassenacht geht, da kenne mir keinen Spaß! AUT Kurzum: Die fastnachtlichen Wurzeln sind bürgerlich-katholisch, was die Fastnacht bis auf den heutigen Tag prägt. SPR Mir Meenzer verdiene an de Fassenacht e paar Penning. Mir habe auch unsern Spaß an de Fassenacht, und wenn mer über die Sträng schlage, dann kenne mir das ach schee beichte. So hat alles soi Ordnung. M 02 Musik Umzug AUT Das Bürgertum organisierte die ehemals "chaotische Volksfastnacht" neu. Man gab sich Formen und Regeln, nicht ohne dabei an einen guten Profit zu denken. SPR Wie sagt man in Mainz: "Wo gesoffe und gut gefresse wird, geht es den Wirten gut!" AUT Genau. So entstanden in Kneipen Fastnachtsgarden, also Vereine, deren Mitglieder sich in Uniformen kleideten und die bei Umzügen das militaristische Gehabe der französischen Besatzertruppen im Rheinland karikierten und verspotteten. So wurden die Franzosen etwas unfreiwillig mitverantwortlich für die Entstehung der modernen Fastacht. Der Narrengruß, die linke Hand rechts an den Kopf, ist eine Anspielung auf das militärische Salutieren, auch das bewusst ungeschickte Hantieren mit Holzgewehren und das gezielt tölpelhafte Marschieren soll den militärischen Drill dem Spott des gemeinen Volks preisgeben. SPR Mir Soldaten fürchten uns vor nix! Nicht vor de größte Flasche und nicht vor de größte Werscht. Die Garde säuft, aber sie übergibt sich nicht. (Schluckauf!) AUT Die Fastnacht, die sich ursprünglich nur auf der Straße abspielte, hielt Einzug in die Lokale, Weinwirtschaften und auch in die großen Mainzer Säle. Erste Sitzungen wurden abgehalten, an denen ausschließlich Männer teilnahmen. SPR Das ist aach es Allerbest. Wenn Frauen debei sind hoste ruckzuck nur Ärger. Mer solls mit dere Emanzipitation, odder wie das hääßt, nit übertreibe. AUT Die Vorträge wurden im Laufe der Jahre zunehmend politischer. Sie nahmen besonders die zunehmende Unterdrückung durch die Franzosen aufs Korn. Als der französische General Rissembeau die Fastnacht deswegen verbieten wollte, sangen die Mainzer zum Trotz dieses Lied. SPR Ritz am Boo Ritz am Boo Morje geht die Fastnacht oo AUT Besonders in der Vormärzzeit, also vor der 1848er Revolution, wuchs das Interesse an politischen Fastnachtsreden, die damals erstmals vertriebene Fastnachtszeitung Narrhalla wurde zu einem revolutionären Kampfblatt umfunktioniert. SPR Schad, dass aus derer Zeit kaum noch Unnerlage do sin. Aber rotzfreche Bankert warn die damals schun. AUT Das Scheitern der Märzrevolution tat der politischen Fastnacht in Mainz keinen Abbruch. Im Gegenteil. Der politische Vortrag boomte, die Sitzungen waren trotz horrender Preise ausverkauft, das Geschäft mit der Fastnacht blühte. In den letzten Dekaden des 19. Jahrhunderts wurden unzählige neue Fastnachtsvereine gegründet SPR Die Mombacher Bohnebeitel, die Gunsenumer Schnorreswackler, die Eiskalte Brüder, die Prinzengadd, die Prinzessgard, der Meenzer Carneval - Club, die Haubinger... AUT Anfang des 20. Jahrhunderts und zwischen den beiden Weltkriegen kamen zu den politischen Reden gesangliche Elemente hinzu. Der berühmteste Fastnachtschor, die Mainzer Hofsänger, gründete sich 1927. Bis in die heutige Zeit sind ihre gesungenen Texte überwiegend politisch-kritisch. SPR Das Problem dodebei war nur, dass die Texte kä Sau verstanne hot. Deshalb kennen die meiste Leit von de Hofsänger nur die heimliche Nationalhymne der Deutschen: "So ein Tag, so wunderschön wie heute ...." AUT Im Dritten Reich wurde die Fastnacht in Mainz gleichgeschaltet. Jede Art der Kritik wurde im Keim erstickt. Hetzreden gegen Juden oder Kommunisten waren hingegen willkommen. Kaum jemand traute sich gegen die Braunhemden aus der Bütt etwas zu sagen. Bis auf Seppel Glückert. Ein Mann mit katholisch-kaufmännischen Wurzeln und ein begnadeter Büttenredner. Kurz nach der Machtergreifung reimte er, trotz massiver Drohungen, aus der Bütt: "Zu reden hier heut braucht man Mut, Weil, e mer sich vergucke dut, Als Opfer seiner närrischen Kunst kann einquartert wer'n ganz umsunst" Mit "einquartiert" war die Einweisung in ein KZ gemeint. In Anspielung auf die militärische Mobilisierung verlas Seppel Glückert folgenden Vers. SPR "Eens, zwee, drei, steh ich im Wichs Ääns, zwää drei! Nimmst du die Büchs Ääns, zwää drei! Im Glied marschierste Ääns, zwää drei! Dei Fenster zierste Ääns, zwää drei! Zum Eintopf lääfste Ääns, zwää drei! Rosettcher kääfste Ääns, zwää drei! Dein Beutel leerste Ääns, zwää drei! De Speicher keehrste Ääns, zwää drei! Im Keller schwitzte ÄÄNS, ZWÄÄ, DREI! IN DACHAU SITZTE AUT Seine Popularität in der Bevölkerung rettete ihn vor den braunen Schergen. Der Spiegel nannte ihn 1948 aus Respekt vor seiner Zivilcourage den "König der Büttenredner." SPR Am Seppel hätt sich manch einer e ganz dick Scheib abschneide können. AUT Die eigentlich große Zeit der politisch-literarischen Fastnacht begann in den 50er Jahren. Die erste bundesweite Übertragung einer Mainzer Fastnachtssitzung im Fernsehen im Januar 1955 machte die politischen Mainzer Büttenreden schlagartig bundesweit bekannt. SPR "Mainz wie es singt und lacht" wurde ein Quotenhit und ist es bis auf den heutigen Tag geblieben. AUT Nicht zuletzt die Reden, die in der Adenauerzeit für großes Aufsehen sorgten, bescherten während der Live-Übertragung der ARD einen Straßenfeger. Ein Beispiel aus einer Rede der bundesweit bekannten Symbolfigur des "Till" Wir Deutsche wir sind alle Brüder Und sehnen uns nach Einheit wieder, und da versagt Herrn Ulbrichts Trick mit seiner Spalterpolitik Gleicht auch sein Zirkel schon der Sichel So macht er aus dem Deutschen Michel Auch nicht mit bestem Kremel-Dünger ´nen überzeugten Chrustschow-Jünger AUT Tatsächlich waren diese Reden in den Aufbaujahren der Fünfziger, Wirtschaftswunderjahre genannt, stock-konservativ und teilweise sogar erzreaktionär. SPR Na ja . Mir Meenzer unnerscheide uns halt nit in allem von de annern. Mir kenne uns aach e bissche anbasse. AUT Die Nazi-Zeit - verdrängt, totgeschwiegen, nicht aufgearbeitet. Alte Parteimitglieder hatten es sich in der Bonner Republik wieder behaglich eingerichtet. Die verstaubte Adenauerzeit ließ dies ja ohne größere Probleme zu. SPR (leidiges Geräusch dazu) Ja ja , do siehste mol! AUT Ein kleines Beispiel. In dem alten Kinderlied "Heile, heile Gänschen", das noch mitten in den Fünfziger Jahren in der immer noch total zerstörten Stadt auf der Mainzer Fastnachtsbühne wie eine Nationalhymne gesungen wurde, heißt es wörtlich: SPR singt leise Wenn ich emol de Herrgott wär', dann wüsste ich nur eens: Ich nähm' in meine Arme fest mein arm' zerstörtes Meenz. Ich drückte es ganz fest an mich und sag ,Hab' nur Geduld! Ich bau Dich widder auf geschwind! Ei, Du warst ja gar net schuld. AUT Du warst ja gar net Schuld! Wie schön konnten sich viele hinter diesem Satz verstecken. G 06 Tätä-tätä-tätä AUT Wenig verwunderlich also, dass die folgenden 60er Jahre mit ihren rebellischen Studenten und dem Aufbegehren gegen die konservative Bonner Restaurationspolitik die Fastnacht kaum veränderte. Je mehr die erste sozial-liberale Regierung den Mief der Nachkriegsjahre wegpustete, umso mehr verknöcherte die politische Fastnacht in Mainz. SPR Mir Meenzer liebe halt e bissche Ordnung. So ewige Studente, so langhaarige Dackel, die nix kenne außer demonstriere, die kannste in de Peif raache. Da hätt die damalige Regierung viel härter dorchgreife müsse. AUT Vor allem Bundeskanzler Willi Brand war stets ein beliebtes Objekt dieses Gesinnungsspotts, der sich genüsslich über dies und jenes ausbreitete und für hämisches Johlen in den Sälen sorgte. Zu Brandts Ostverträgen reimte der "Bajazz mit der Laterne", Willi Scheu: Mussten wir doch jüngst erleben, nur damit die Kasse stimmt, dass wir immer nur noch geben, und man drüben doppelt nimmt. Haben wir nicht an den Osten, wenn man mit Erfolgen prahlt, außer den entstandnen Kosten, Lehrgeld nicht genug bezahlt? Frenetischer Beifall AUT Tosender Jubel im Saal ! In einer Sitzung in der man pikanterweise am Anfang der Sendung via Bildschirm noch viele Grüße an die lieben Landsleute in der DDR geschickt hatte. G 06 TÄTÄTÄTÄTÄTÄ AUT Die bürgerliche Herkunft der Fastnacht, ihre katholischen Wurzeln und ihre fortschrittsfeindliche Haltung waren noch nie so deutlich, wie in der Zeit der sozialliberalen Koalition. SPR Der Vereinspräsident vom Mainzer Carneval Verein hat zu dem Rheinland-Pfälzischen Ministerpräsidenten tatsächlich gesagt: "Herr Kollege". AUT Die Politik versuchte immer mehr Einfluss auf die Mainzer Fernsehfastnacht zu nehmen. Zuschauerzahlen von über 20 Millionen, was in der damaligen Zeit einem Marktanteil von fast 100% entsprach, waren für Politiker natürlich ein Anreiz, die Fastnachtsbühne für ihre parteipolitischen Interessen zu benutzen. SPR Ja ! Über 20 Millionen haben damals nach Meenz geguckt. 20 Millionen, da kennt sich de Gottschalk heit "von" schreibe, wenn er aach nur die Hälft dadevon hätt. AUT Rheinland-Pfalz war politisch in CDU-Hand, Helmut Kohl hatte das Land fest im Griff. Aber auch im sozialdemokratisch regierten Mainz war die Fastnacht durch und durch schwarzer Couleur. Vor allem die vier großen Vereine, die die Fernsehsitzung gestalteten, waren mit wenigen Ausnahmen konservativ besetzt. Die Fernsehsitzungen der damaligen Zeit erinnerten an kleine CDU-Parteitage. G 08 (Gelächter) AUT Rolf Braun, ein begnadeter Büttenredner und Sitzungspräsident der Fernsehsitzung, wurde 1973 von Kohl als Referent in seine Staatskanzlei geholt, wo er für öffentliche Auftritte des Oggersheimers zuständig war. Von den Mainzern wurde spöttisch kolportiert: SPR "Der dicke Kohl hat sich einen eigenen Hofnarren kauft!" AUT Braun selbst machte aus seiner Abhängigkeit von Kohl keinen Hehl. Er sagte öffentlich während einer Sitzung: SPR "Des Brot ich ess, des Lied ich sing!" AUT Eigentlich soll ja die Fastnacht unabhängig sein ... SPR ... die Politiker kritisieren und ihnen den Spiegel vorhalten. Wenn mer sich aber den Spiegel aus der Hand nemme lässt ist, es rum mit der Unabhängigkeit. AUT Als Franz Joseph Strauss Kohl abservieren und Kanzlerkandidat werden wollte, reimte Braun in seinem berühmten politischen Nachtgebet vor einem Millionenpublikum: Bevor der Tag zu Ende geht Sprech ich das Bonner Nachtgebet: "Komm lieber Herr, schütz dieses Haus, und schütz auch den Franz-Joseph Strauß. Laß ihm sei Weißworscht und sei Bier, laß ihm das Gnick von einem Stier, laß ihm Gesundheit bis zum Ende, laß ihm soi Wähler und Prozente, laß ihn noch viele Feste feiern, aber laß ihn auch in Bayern!" AUT Kohl saß im Saal, grinste über alle Backen und stopfte sich genüsslich sein Pfeifchen. So war´s. Während das bürgerliche Lager wohlwollend kritisch getätschelt wurde, gab es für die Linken immer eins aufs Haupt. Neben Willi Brandt war besonders Herbert Wehner mit seiner kommunistischen Vergangenheit ein beliebtes Ziel Mainzer Spotts. Dazu noch einmal Willi Scheu zu Wehners Moskaubesuch 1973: Als Wehner so vom Flugplatz schlendert, sagt ein Russe brüderlich: ach, was hast du dich verändert, nitschewo, nur äußerlich. Und als man ein Gespräch gefunden, als man mit Wodka kalt gespült, hat er sich nach kurzen Stunden, wieder wie zu Haus gefühlt. Tusch AUT Die politischen Büttenvorträge der damaligen Zeit waren so schwarz, dass nach jedem Beitrag der Ruß aus der Bütt gekehrt werden musste. In den späten 80er Jahren kam dann langsam Bewegung in die politische Fastnacht. Die Kriegsgeneration strich die politischen Segel, junge Leute kamen mit den Jahren nach, vielfach mit guter Bildung und Toleranz ausgestattet. Auch in Rheinland-Pfalz kam es zu einem Machtwechsel. Die Redner in der Fernsehsitzung wurden sensibler und sparten auch unangenehme Dinge nicht aus. In Zeiten des 1. Golfkriegs hörte man folgenden Vers. Ich wollt heut reimen ganz bequem, doch hab ich leider ein Problem. Krieg gibt´s und Terror überall, und wir, wir feiern Karneval? Trotzdem wage ich den Schritt Und steige hier heut in die Bütt, weil Frieden, Freiheit und das Lachen den Menschen erst zum Menschen machen und weil, wie ich als Narr hier find, nur frohe Menschen friedlich sind! AUT Besonders der SWR zeigte Mut. Da wurden alte Zöpfe abgeschnitten. Die Zeit der moralinsauren Reimvorträge war vorbei. Und auch in den Vereinen setzten sich in den 90er Jahren langsam aufklärerische Grundzüge durch. Die Zeit der Vereinspatriarchen, die selbstherrlich bestimmten, die keine progressiven Grundhaltungen duldeten, war beendet. SPR Die alte Säckel hätte mer schon längst bei de Deiwel jage müsse. Die haben sich immer wir die klänne Herrgötter uffgeführt. AUT Dies führte auch zur Gründung eines neuen Vereins, in dem sich überwiegend politisch eher links orientierte junge Leute zusammenfanden. Die "Meenzer Drecksäck". Sie stänkern gegen die verknöcherten Fastnachtsstrukturen und schrecken auch nicht vor Tabubrüchen zurück. SPR Kennen Sie den Unterschied zwischen dem Mainzer Stadtrat und der Mafia? Die Mafia hat einen Ehrenkodex! AUT Trotzdem ist die bürgerlich-konservative Grundhaltung immer noch ein Merkmal der politischen Mainzer Fastnacht. Allerdings ist das Publikum nicht mehr bereit, bestimmte Ausfälle zu tolerieren. Als im Jahre 2005 ein sehr etablierter politischer Redner in Anspielung auf Westerwelles Homosexualität von sich gab, dieser trage den Hosenlatz hinten, wurde er in der Fernsehsitzung ausgebuht und ausgepfiffen. Genauso zornig reagierte das Publikum und auch die Lokalpresse, als der gleiche Redner den Berliner Regierenden Bürgermeister Klaus Wowereit als Pobereit beschimpfte. SPR Mancher muss halt erst emol öffentlich uff den Hinnern falle. Sonst kapiert er das nit. Unser Fassenacht hat also auch eine erzieherische Wirkung AUT Auch der politische Einfluss der Parteien auf die Fastnacht zeigt sich immer noch. Die älteste Garde der Stadt, die Mainzer Ranzengarde wird bis auf den heutigen Tag dominiert von dem früheren stellvertretenden Fraktionsvorsitzenden der Bundes-CDU, Johannes Gerster. Auf einer Gardeveranstaltung im Januar 2011 wurde offen für die Wahl der CDU Kandidatin bei der nächsten Landtagswahl in Rheinland-Pfalz aufgerufen. SPR Ja ja, "Mainz wie es singt und lacht" AUT Als im letzten Jahr der Mainzer Oberbürgermeister Jens Beutel in einen großen Finanzskandal verwickelt war und auf Kosten einer stadtnahen Gesellschaft kostenlos Urlaub gemacht hatte, gab es natürlich Zunder aus der Bütt. Der Stadt Mainz geht es wie einem Känguru, auch Mainz hat an einem Beutel schwer zu tragen. Unser Oberbürgermeister traut sich auch nicht mehr mit dem Zug zu verreisen. Auf jedem Bahnsteig ruft ständig einer: "Bitte zurücktreten!" Wir sollten deshalb ein neues Motto für die Fastnacht ausrufen: Kommt nach Mainz und jubiliert, bei uns läuft alles wie geschmiert. Tusch AUT Im Vorfeld der Live-Übertragung im Fernsehen wurde massiv Druck ausgeübt, um diese Passagen zu streichen - von Fastnachtern selbst. Von Narren also, die eigentlich die politisch-literarische Redekunst, das freie Narrenwort, unterstützen sollten. Von Personen, die sich immer wieder auf Seppel Glückert berufen und auf dessen Mut, die Wahrheit gesagt zu haben. Ein halbes Jahr später wurde im Zuge der staatsanwaltlichen Ermittlungen der Mainzer Oberbürgermeister Jens Beutel wegen Untreue zu einer Geldbuße von fast 10.000 ? verknackt. Trotzdem blieb Beutel im Amt. Doch im Oktober 2011 ereilte ihn letztendlich doch das politische Schicksal. Als Mitglied einer Besucherdelegation im rheinland-pfälzischen Partnerland Ruanda prellte Beutel abends an der Hotelbar die Zeche für drei Gläser Rotwein. Das war dann auch für die Mainzer Genossen zuviel! Denn wer in Mainz, das, was er gesoffen hat, nicht bezahlt, fliegt achtkantig raus! Deshalb wurde Beutel am 31.01.2011 in den Ruhestand geschickt. Als Dank erhielt er zum Abschied den Ehrenring der Stadt Mainz. Die drei Gläser Rotwein musste übrigens der rheinland-pfälzische Innenminister Roger Lewentz bezahlen. SPR Ja, ja, "Mainz bleibt Mainz, wie es singt und lacht". Dreifacher Tusch -ENDE Beitrag- 1