Deutschlandfunk GESICHTER EUROPAS Samstag, 17. Mai 2014 - 11.05 - 12.00 Uhr Verlassene Landschaften - Bulgariens Nordwesten Mit Reportagen von Simone Böcker Redakteur am Mikrofon: Gerwald Herter (DLF 2013) Urheberrechtlicher Hinweis Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Die Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in §§ 44a bis 63a Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. (c) - unkorrigiertes Exemplar - Opening: O-Ton-1, (aus Rep. 2, dort O-Ton 9) "Früher haben wir uns oft versammelt, zu Weihnachten zum Beispiel, mit der ganzen Familie. Wir haben gegessen, getrunken, gesungen. Heute sind die Menschen überall verstreut, in Italien, in Spanien, Amerika. Und jeder rechnet jetzt: Die Reise kostet mich so und so viel. Und das für ein paar Tage? Die Leute sind zu Mathematikern geworden, sie stellen Berechnungen an wie Buchhalter, (lacht), das gab es früher nicht". Mod-1: .....nicht einmal im ländlichen Nordwesten Bulgariens, wo Valeri Todorov ohne das Geld nicht leben könnte, das ihm seine Frau aus Italien schickt. Mit ihrer Arbeit in der Fremde finanziert sie die Familie, kommt aber nur noch selten zu Besuch. Demokratie, Marktwirtschaft und EU-Beitritt haben aus dem bulgarischen Nordwesten die ärmste Region der Europäischen Union gemacht und auch für ihre Entvölkerung und Überalterung gesorgt. Das glauben die meisten Menschen dort. Dass es nicht ausschließlich daran liegt, sagen nur wenige: O-Ton-2, (aus Rep. 5, dort O-Ton 6) "Es ist schwer zu verstehen, dass die Dinge nicht mehr funktionieren wie im Sozialismus, wo jemand uns gesagt hat, was wir machen müssen. Du musst den Weg jetzt selbst wählen und entscheiden, ob der richtig ist oder nicht. In diese Richtung ist bislang wenig passiert in unseren Oberstübchen". Mod-1-a: Gesichter Europas: "Verlassene Landschaften - Bulgariens Nordwesten", mit Reportagen von Simone Böcker und mit Gerwald Herter. Musikwechsel = 1 zu 2 Herzlich willkommen zu Geschichten von Menschen, die um ihre Würde ringen, die bleiben müssen, obwohl so viele andere gehen, die hoffen, dass sich das Blatt doch bald wendet und sie bis dahin ausharren können. Wie unter einem Brennglas bündeln sich im Nordwesten alle Probleme, mit denen ganz Bulgarien zu kämpfen hat: Armut, schlechte Straßen und Verkehrsverbindungen, Landflucht, Überalterung. Atmo Stimmen alter Menschen Nach dem Ende des Sozialismus und der Planwirtschaft waren auch hier die Fabriken geschlossen worden und die Menschen wanderten in die Städte ab. Zurück blieben die Alten. In Bulgarien sind die Renten so dürftig, dass sie zu den Ärmsten der Armen gehören, auch in Tscherkaski ist das so. Einst lebten hier gut 2000 Menschen, nun wohnen hier vielleicht noch 250. Fast alle davon sind im Rentenalter, so wie auch Boika Dimitrova: REP 1 Atmo Rentner in der Post Autorin Es ist ein graunebeliger Vormittag. Ein paar Gänse laufen über den asphaltierten Dorfplatz, und wie an jedem Monatsanfang wartet ein Grüppchen Frauen auf den Bänken vor der Post. Sie plaudern, bunte Kopftücher sitzen über den runzeligen Gesichtern. Die Männer stützen sich auf geschnitzte Spazierstöcke, die Füße stecken in selbstgestrickten Socken und Gummigalloschen. Es ist der Tag, an dem die Rente ausgezahlt wird. Atmo quatschen, Boika Boika Dimitrova nimmt am Schalter ihr Geld in Empfang. Dann wickelt sie sich den viel zu großen Anorak eng um ihre schmalen Schultern und tritt ins Freie. O-Ton 1 Boika Ich schäme mich zu sagen, was ich an Rente ich bekomme. Es ist die Minimalrente: 135 Leva. Dazu kommt noch ein Teil der Rente meines verstorbenen Mannes. 200 Leva also zusammen genommen. Das sind umgerechnet 100 Euro. Autorin Das kleine gelb getünchte Haus der 66-Jährigen liegt ganz am Ortsende. Ein schmaler Pfad führt an abgeernteten Gemüsebeeten vorbei. An ein paar Stöcken hängen noch verdorrte Tomatenpflanzen. Im Innenhof laufen Hühner frei herum, im Holzschuppen am Ende des Grundstücks hält sie ihre vier Schafe. O-Ton 2 Boika Ich schlachte die Lämmer, und von der Milch mache ich Käse. Im Garten wachsen Bohnen, Paprika, Tomaten, Erdbeeren, Kartoffeln. Ich habe auch Hühner, Enten und Gänse. Anders kann ich mit dieser Rente nicht überleben. Sie reicht gerade, um fünf Mal im Laden einzukaufen. Aber was soll ich den Rest des Monats essen? Im Laden kaufe ich also nur das Allernötigste: Öl, Zucker, Mehl, Speck. So überlebe ich. Atmo drinnen, Küchenuhr, Holzofen Autorin Die Küche ist klein, die Decke niedrig. An den Wänden hängen Stickbilder und alte Fotos der Familie. Seit ihr Mann gestorben ist und die zwei Kinder aus dem Haus sind, bewohnt sie das Haus alleine. Boika greift nach einem Holzscheit und öffnet die Luke des Holzofens. O-Ton 3 Boika Ich heize nur diesen Raum. Das hier ist im Winter Küche, Schlafzimmer und Wohnzimmer, alles in einem. Warmes Wasser gibt es nicht, es gibt nicht mal eine Kanalisation im Dorf. Der Boiler im Bad funktioniert mit Holz, ich muss ihn anheizen. Heute Abend will ich mal wieder baden, das geht nicht jeden Tag. Das ist Luxus. Autorin Früher war Boika die Dorflehrerin, 30 Jahre hat sie die Kinder von Tscherkaski unterrichtet. Doch heute ist die Schule geschlossen. Die Augen der kleinen, zierlichen Frau schauen angriffslustig aus dem hageren Gesicht. Blick und Stimmer werden erst weicher, wenn sie von früher erzählt. Es war ein gutes Leben, damals im Sozialismus, unter Staatschef Todor Schiwkov, sagt sie. O-Ton 4 Boika Ruhig! Ruhig war es. Jeden den sie hier fragen wird ihnen sagen, unter Schiwkov war es besser. Weil wir gute Gehälter hatten, das Essen war billiger. Es gab Arbeit. Vor allem in der Landwirtschaft, bei den großen Agrarkombinaten. Wir waren zwar nicht auf europäischem Niveau. Aber wir haben etwas im Leben erreicht und mein Kühlschrank war voll. Atmo Ofen, Topf Autorin Boika stellt einen Topf mit dem kalt gewordenen Kaffee vom Morgen auf den Ofen. Sie ist keine Kommunistin, sie hat den Sozialismus nie gemocht. Deswegen wählt sie auch nicht die BCP, die Partei der ehemaligen Kommunisten - im Gegensatz zu den meisten anderen im Dorf. Sie glaubt noch immer an den Wandel, an bessere Zeiten - trotz der riesigen Enttäuschung, die die Zeit nach der Wende gebracht hat. O-Ton 5 Boika Wir dachten, es wird besser und, dass wir irgendwann das Niveau des Westens erreichen. Zumindest ein bisschen sollte es bergauf gehen. Und was geschah? Sie haben die Fabriken und die Industrie zerstört, und die Landwirtschaft vernichtet. Mit einem Wort: Sie haben Bulgarien vernichtet. Autorin Boika schenkt sich den aufgewärmten Kaffee ein und rührt ihn um. Auch in Tscherkaski war nach der Wende das kollektivierte Land zurückgegeben worden. Doch dadurch wurden die noch funktionierenden Landwirtschaftsbetriebe zerschlagen. Die Privatisierung machte dann auch den meisten Fabriken den Garaus. Zu Niedrigstpreisen wurden sie verschleudert, ausgeschlachtet und dicht gemacht. Atmo rausgehen, umgraben Boika stellt die leere Tasse in die Spüle, dann geht sie hinaus in den Garten. Sie muss noch die letzten Beete umgraben. Trotz ihrer 66 Jahre und der zarten Figur packt Boika immer noch kräftig zu. Und trotz der körperlichen Anstrengung, der Mühsal, die das alltägliche Leben für sie bedeutet: Sie liebt den Geruch der Erde. O-Ton 6 Boika Mich um den Garten zu kümmern ist nicht nur Arbeit. Ich merke auf diese Weise, dass ich lebe, das ich existiere. Im Sommer gibt es so viele Blumen! Mich erfüllt das mit Energie und Freude. Ich sitze dann hier draußen auf der Bank, trinke Kaffee und freue mich. Vor allem über die Blumen. Die liebe ich sehr. Autorin Heute wird Boika noch ein Beet umgraben, dann die Obstbäume beschneiden. Und schließlich die Schafe und Hühner füttern. Abends geht sie früh schlafen, um Strom zu sparen. O-Ton 7 Boika Es ist, als wären wir noch im 18. Jahrhundert. Die meisten Leute sagen, das ist kein Leben. Ja, es ist schwer, aber für mich ist es trotzdem Leben. Und es ist uns nur einmal von Gott gegeben, man muss es leben. Autorin Sie verscheucht eins der Hühner, das die Würmer aus der frisch umgegrabenen Erde pickt. Dann geht doch noch ein Lächeln über ihr Gesicht. O-Ton 8 Boika Das sind glückliche Hühner, sie leben frei. Aber dafür sind wir Bulgaren jetzt unglückliche Hühner. Mod-3: Früher, in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, war der Nordwesten Bulgariens noch eine ländliche, aber belebte Region. Der Schriftsteller Jordan Raditschkow ist dort geboren worden und erlebte das noch. In seinem Werk hat er uns die Chronik dieser untergegangenen Welt hinterlassen: LIT 1: "Leko Alexow hatte seine Werkstatt im Freien, auf dem Hof. Der Hof war zur Gasse hin abschüssig, deswegen konnte der Meister sehr schön auf alles hinunterschauen, was sich auf der Gasse so abspielte - obwohl es da natürlich kaum was zu sehen gab. Er sah bloß, wie die Leute in aller Frühe zu Angel Kolows Bäckerladen gingen, ihr Brot holen, dann kamen auch bald die Zigeuner vorbei mit den langen Stangen zum Kastanienschlagen auf den Schultern, der Hufschmied klappte die Läden hoch und ging an sein Werk, der Schneider brachte die Kohle in seinem Bügeleisen zum Glühen (...). Wenn Angel Kolows Brot verkauft war, kam er die Gasse entlangspaziert und schaute überall mal rein bei den anderen Zünften, hatte hier was zu beschwatzen und ließ sich da auf ein Zigarettchen nieder. Auch bei Leko Alexow machte er halt, kam aber nie bis hintern Zaun. Er stützte seine Ellenbogen von draußen auf die Latten, die Rede ging hin und her, Leko Alexow hat auch gefragt, ob er denn nicht reinkommen will, aber der Bäcker schüttelt den Kopf - Steinkreuze mag er sich nicht angucken, außerdem spritzen hier immer so viel Splitter unterm Meißel hervor, man könnte leicht einen ins Auge kriegen. "Das ist wahr", spricht Leko Alexow. "Steine klopfen und Teigkneten sind zweierlei" (..) Alles das kann Leko Alexow von seiner Werkstatt aus sehen. Es liegt vor ihm, wie auf dem Handteller ausgebreitet, das Leben ringsum spielt sich vor aller Augen ab. Das Leben des Steines hingegen ist nur für Leko Alexows Augen sichtbar, das ist sein Handwerk, und er kennt als einziger im Ort die Seele vom Stein. Alles Übrige ist sichtbar für jedermann". MUSIK Mod-4: Zünfte, Bäcker, Schneider oder Steinmetze - vorbei! Das Fehlen von Arbeit, die Arbeitslosigkeit ist der Grund dafür, dass so viele Menschen die Dörfer im Nordwesten verlassen haben. Die Arbeitslosenrate beträgt in dieser Gegend nur 11 %. Dass die Zahl so trügerisch niedrig ausfällt, liegt daran, dass die meisten Menschen nicht mehr im erwerbsfähigen Alter sind. Und jenen, die noch eine Anstellung haben, reicht der Lohn nur selten. Auszuwandern, das ist deshalb zur einzigen Möglichkeit geworden, um Leben und nicht nur überleben zu können. Atmo Schritte, nach Hause kommen Gute Jobs hat der "goldene Westen" allerdings nicht allen zu bieten. Gut sind die Chancen für Frauen, die in die Altenpflege, nach Italien gehen. Einige Dörfer leiden deshalb schon unter einem ausgesprochenen Frauenmangel. Und vielen Familien fehlen die Mütter, ihre Männer müssen sie ersetzen: REP 2 Atmo Ankunft, Küchengeräusche Autorin Valeri Todorov packt ein Stück Schweinefleisch aus der Tasche - frisch geschlachtet. Dann holt er Kartoffeln und Zwiebeln aus dem Vorratsschrank seiner kleinen Küche und fängt an, das Abendessen für sich und seine beiden Kinder vorzubereiten. Es wird Schweinefleisch mit Kartoffeln geben. O-Ton 1 Valeri Ich habe nicht Probleme anderer Männer, die ohne Frau kein Spiegelei braten können. Ich kann kochen, Kohl mit Fleisch, Suppe, Linsen, Huhn, alles Mögliche. Das habe ich in der Armee gelernt. Autorin Valeri Todorov ist Mitte Vierzig, ein sportlicher Mann mit ernstem Blick aus dunkelbraunen, etwas müden Augen. Der Tag war anstrengend. Harte Arbeit ist der gelernte Werkzeugmacher gewohnt, doch viel verdient hat er nie. Und auch als Bürgermeister eines nahen Dorfes bekommt er 340 Leva - umgerechnet 170 Euro monatlich. Seine Frau war Näherin, bis sie sich vor 10 Jahren entschied, nach Italien zu gehen, um dort in der Altenpflege zu arbeiten. O-Ton 2 Valeri Sie hat gesagt, es sei sinnlos, sich hier so abzumühen. Fast 10 Stunden am Tag musste sie arbeiten, auch am Samstag, und am Ende bekam sie dann 175 Leva, also nicht mal 100 Euro. Das ist doch wie in China! Die Kinder hatten sowieso schon kaum noch etwas von ihrer Mutter, weil sie pausenlos arbeitete. Wo gibt es das sonst noch? Atmo reden, Essenszubereitung Autorin Tochter Kamelia kommt in die Küche, abends essen alle, die geblieben sind, meist zusammen. Sie ist mittlerweile 25, hat studiert und dann eine Arbeit in ihrem Heimatort gefunden. Seitdem lebt sie wieder beim Vater. Kamelia war 15 Jahre alt, als die Mutter die Familie verließ, ihr Bruder Robert war 12. O-Ton 3 Kamelia Die meisten Eltern der Familien in meinem Viertel waren im Ausland. Und jedem Kind fehlte seine Mutter. Das ist schwer, aber man gewöhnt sich daran. Auch wenn es natürlich überhaupt nicht schön ist, sich daran zu gewöhnen. Aber für uns war das normal. Autorin Valeri legt die geschnittenen Kartoffeln zusammen mit dem Fleisch und den Zwiebeln in eine Auflaufform und schiebt sie in den Ofen. Anfangs war seine Frau nur alle drei Monate nach Italien gefahren, doch wegen der hohen Kosten blieb sie schließlich ganz dort, für ein Gehalt von 450 Euro im Monat. O-Ton 4 Valeri Ich war Mutter und Vater in einem (lacht). Ich hatte eine sehr enge Beziehung zu den Kindern, wir waren wie Freunde. Wenn ich nach Hause kam, dann hab ich gekocht, Hausaufgaben mit ihnen gemacht, den Ofen angefeuert. Am Morgen musste ich sie in die Schule bringen und dann schnell zur Arbeit. Ich habe funktioniert wie ein Soldat. Man erledigt einfach eins nach dem anderen, ohne Zeit zu haben, über andere Dinge nachzudenken. Autorin Richtig schwer wurde es, als auch Sohn Robert mit dem Studium in Sofia begann. Seitdem ist es wieder schwieriger geworden, mit dem Geld auszukommen. O-Ton 5 Valeri Für mich ist das eigentlich sinnlos. Auf 130 Euro pro Semester kommen allein die Studiengebühren für meinen Sohn. Man versucht alles zu bezahlen, aber am Ende hat man weder Geld noch Familie. Mein Gehalt ist ein Witz, ich schäme mich darüber zu reden, ich weiß gar nicht warum ich dafür überhaupt arbeite. Aber so ist das. Man muss alles in Kauf nehmen, damit es den Kindern besser geht. Denn Bildung ist wichtig, damit sie eine gute Arbeit finden. Sonst kann man es vergessen. Autorin Kamelia sitzt auf der Küchenbank und schneidet die Petersilie klein. Bei den Worten des Vaters schüttelt sie den Kopf, denn Bildung allein hilft ja auch nicht viel, wenn die Löhne weiterhin so niedrig bleiben. Und so sind auch die meisten ihrer Studienkollegen schon nicht mehr in Bulgarien. O-Ton 6 Kamelia Ich habe bis jetzt das Glück, dass ich überhaupt Arbeit gefunden habe. Ich will hier leben in meiner Heimatstadt. Aber wenn die Situation noch schlechter wird, gehe ich vielleicht auch ins Ausland. Autorin Das Ausland - das Wort ist in aller Munde, es bedeutet gleichzeitig Fluch und Segen. Mal ist es Drohung, mal Verheißung. Es raubt Freunde und Verwandte, und es schenkt einen besseren Lebensstandard. Vor kurzem erst hat Valeri die Küche renoviert. Auf der Anrichte steht eine italienische Kaffeemaschine, Waschmittel und Olivenöl hat seine Frau beim letzten Besuch mitgebracht. Nur das Gemüse stammt aus dem eigenen Garten. Und die Pilze, die nun in der italienischen Pfanne anbraten, hat er im Wald gesammelt. Von den Bulgaren könne man Nützliches für die Fernsehshow "Survivor" lernen, sagt Valeri halb im Scherz. O-Ton 7 Valeri Wir bekommen 150-200 Leva, geben aber 500 aus! Im Frühling und Herbst kann man Pilze sammeln und verkaufen. Da treffen sich alle im Wald. Ich habe in einem Jahr 600 Leva mit den Pilzen verdient. Davon konnte ich dann die Studiengebühren bezahlen. So kratzt man nebenher hier und da noch was zusammen. Atmo Telefongespräch Autorin Das Telefon klingelt, Valeris Frau ist am Apparat. Einmal im Jahr kommt sie für einen Monat nach Bulgarien. Den Rest des Jahres wird telefoniert, und zwar täglich. "Wie ist das Wetter bei euch?" fragt Valeri. "Hier ist es neblig. Aber es gibt viele Pilze, die sind jetzt perfekt." Es folgen Neuigkeiten von den Kindern. "Uns geht es gut, mach dir keine Sorgen", sagt Valeri am Ende. "Kopf hoch! Tschüss, und alles Gute!" O-Ton 8 Valeri Man kann nicht beschreiben, wie man sich fühlt. Diejenigen, die voneinander getrennt sind, haben ständig Sehnsucht: nach der Heimat, nach den Kindern, und sie sind immer in Gedanken woanders. Nur wer das erlebt hat versteht, was für Opfer man bringt für das Geld und andere Dinge. Das alles nur, damit die Familie irgendwie über die Runden kommt. Atmo räumen Autorin Das Essen ist fertig, auch der Sohn Robert ist heute gekommen. Kamelia deckt den Tisch, und Valeri holt die Form aus dem Ofen. Die Armut habe auch die Menschen verändert, sagt er traurig. Jeder ziehe sich jetzt in seine eigenen vier Wände zurück. Und auch die Feste werden nicht mehr gefeiert wie früher. O-Ton 9 Valeri Früher haben wir uns oft versammelt, zu Weihnachten zum Beispiel, mit der ganzen Familie. Wir haben gegessen, getrunken, gesungen. Heute sind die Menschen überall verstreut, in Italien, in Spanien, Amerika. Und jeder rechnet jetzt: Die Reise kostet mich so und so viel. Und das für ein paar Tage? Die Leute sind zu Mathematikern geworden, sie stellen Berechnungen an wie Buchhalter, (lacht), das gab es früher nicht. Autorin Am liebsten würde Valeri mit der gesamten Familie nach Italien gehen. Bulgarien verlassen, endlich ein normales Leben führen. In einem Staat mit Recht und Ordnung, in dem jeder eine Chance hat. Doch stattdessen werden sich die Bulgaren wohl weiterhin als Überlebenskünstler durchschlagen, sagt er resigniert, während er sich vom selbstgekelterten Wein einschenkt. O-Ton 10 Valeri Aber das kann so nicht weitergehen. Jeder versucht einfach nur, Geld zu bekommen und zu überleben. LIT 2: "Immer nur Linsen gebar unser kümmerliches Stück Land, und mein Vater hatte es eines Tages satt, sein Lebtag lang Linsen zu säen, Linsen zu raufen und auf den Speicherboden zu schütten, wo der vermaledeite Linsenkäfer sich schon den ganzen Sommer die Zähne wetzte und auf den Linsenberg wartete, damit er sich endlich draufstürzen und Linse für Linse aushöhlen konnte. (..) Mein Vater hat Linsen und Linsenkäfer verflucht und gesagt, er werde fürderhin nur noch Löwen säen. So karrte er also eine Ladung Löwen an, pflügte den Acker um und begann mit der Aussaat. Die Leute von den Nachbarfeldern schauten herüber und wollten ihren Augen nicht trauen. .. Der Vater nahm die Egge und zog damit den frisch gepflügten Acker glatt, damit nicht gleich die Vögel kamen und sich die Löwen herauspickten. ... Als der Sommer ins Land zog, gingen wir auf Löwenernte, doch wie groß war unser Erstaunen als wir unser Feld statt von Löwen nur von Hasen besetzt fanden. Die Mutter ging zeternd ans Hasenpflücken, der Vater band sie verdrossen zu Garben zusammen und lud sie in den Wagen. Die Nachbarn brachten ihre Linsen ein und wollten sich scheckig lachen, als sie unsere Hasen sahen. Im Herbst starb der Vater und ich fuhr an seiner Stelle fort, Löwen auf dem Acker auszusäen und Hasen abzuernten". MUSIK Mod. 3: Überalterung, Entvölkerung - in der Hauptstadt Sofia sieht das anders, nämlich weit besser aus. Auch deshalb klingen die offiziellen bulgarischen Wirtschaftsdaten geradezu märchenhaft: Das Defizit, die Staatsverschuldung und die Inflationsrate - sie sind niedriger als in den meisten europäischen Ländern. Wegen des harten Sparkurses erfüllt Bulgarien selbst die Maastricht-Stabilitätskriterien. Bildungs-, Gesundheits-, und Rentensystem sind chronisch unterversorgt. Immer wieder streiken vor allem Ärzte gegen Unterbezahlung und Kürzung der Mittel. Die Regierung setzt auf die Geduld der Menschen und auf ihren Willen, das mühsam Erreichte aufrecht zu erhalten - im Großen, wie im Kleinen: REP 3 Atmo Straße, Bus kommt Autorin Es ist halb acht morgens, als ein Kleinbus vor dem Kindergarten im Dorf Dolno Ozirovo hält. Vier Kinder klettern heraus. Von Milka Petrova werden sie in Empfang genommen. Die ältere Frau ist die Haushälterin im Kindergarten. "Die Kleinste ist erst vier Jahre alt und trotzdem kommt sie schon jeden Morgen mit dem Bus", sagt sie und nimmt die Kinder bei der Hand. Atmo drinnen Drinnen, im Spielzimmer, verbreitet der Holzofen wohlige Wärme. Auf einem Wandbild wird Schneewittchen von den sieben Zwergen umringt, in einem Regal stehen Buntstifte, ein paar Stofftiere, ein Ball, ein Plastikbagger. Um zwei niedrige Kindertische sind Stühlchen angeordnet. Atmo Kinder, Begrüßung In vielen benachbarten Dörfern seien die Kindergärten schon geschlossen worden, erzählt die Direktorin Vanya Draganova, während sie den Kindern hilft, die Schuhe auszuziehen. O-Ton 1 Vanya Bei uns sind 19 Kinder. Aber die Zahl geht drastisch zurück. Wegen der Armut bekommen die Frauen immer weniger Kinder. Ein weiteres Problem ist, dass einige Eltern ihre Kinder nicht in den Kindergarten schicken können - sie haben keine Sachen zum Anziehen, ihnen fehlen die elementarsten Dinge für den Kindergarten. Und den Beitrag können sie auch nicht bezahlen. Autorin Vanya Draganova ist 39 Jahre alt, seit 15 Jahren arbeitet sie als Erzieherin. Sie ist eine mollige Frau mit knalltürkisfarbenem Lidstrich und Minirock, die dunklen Locken fallen um ihr strahlendes Gesicht. Sie hilft den Kindern beim Händewaschen und bringt sie in den Essraum, wo es jetzt Frühstück gibt. Die Köchin stellt frisch gebackene Blätterteigtaschen auf die Tische, das typische bulgarische Banitsa. Vier Mahlzeiten gibt es am Tag, der bis zum späten Nachmittag dauert - fast eine Rundumversorgung, die im Monat nur 35 Leva kostet, das sind 17 Euro. Vielen Eltern gelingt es aber nicht, diesen Beitrag regelmäßig zu bezahlen. O-Ton 2 Vanya Das ist nicht viel. Aber trotzdem ist auch das schon eine Menge für die Leute. Die meisten Eltern arbeiten nicht. Woher also sollen sie das Geld nehmen? Trotzdem, der größte Teil der Eltern schickt die Kinder. Weil wir sie überzeugen, dass Bildung sehr wichtig ist. Autorin Und wenn es gar nicht anders geht, dann greifen die Kindergärtnerinnen auch schon einmal zu ungewöhnlichen Mitteln. Vanya zeigt auf ein kleines Mädchen mit dunkelblondem Zopf. O-Ton 3 Vanya Dieses Kind dort, auch seine Eltern sind arbeitslos. Wir wollen nicht, dass das Mädchen nichts zu essen hat und sich auf der Straße herumtreibt. Deswegen übernehmen wir, die Angestellten, die Kosten für das Kind. Wir teilen uns ihre Gebühr. Wir können das nicht für alle Kinder machen, das ist klar. Aber wir versuchen ständig, Mittel aufzutreiben, damit alle Kinder den Kindergarten besuchen können. Atmo singen Autorin Nach dem Frühstück will Vanya mit den Kindern singen. Aus einer großen Kiste holen die Kinder einige Kostüme, mit denen sie sich passend zu den Liedern als Vogel, Schneemann oder Hexe verkleiden. Sie bilden einen Kreis, in der Mitte tanzt Detelina, ein 5-jähriges Mädchen mit dunklen Locken. Die meisten der Kinder gehören der Roma Minderheit an. Hier im Kindergarten sollen aber weder Herkunft noch Geld eine Rolle spielen, betont die Direktorin. Und so wird der Mangel oft mit persönlichem Engagement ausgeglichen - oft geht das sogar soweit, dass die Angestellten die Materialien von ihrem eigenen Geld kaufen. Bei einem Monatsgehalt, das kaum über 150 Euro liegt. O-Ton 4 Milka Wir haben die Knete gekauft, auch die Buntstifte, damit die Kinder überhaupt malen und schreiben können. Anders geht es nicht! Und auch das Spielzeug haben wir von zu Hause mitgebracht, von unseren Kindern. O-Ton 5 Vanya Im Budget sind diese Dinge nicht vorgesehen. Eigentlich sollten die Eltern das Material für die Kinder kaufen. Aber die können sich das nicht leisten. Autorin Vanya holt Stifte und Papier aus dem Regal und stellt sie auf die Tische. Sie will heute noch eine Seite im Vorschullehrbuch durcharbeiten. Haushälterin Milka hebt Ivan auf den Arm und drückt ihn an sich, der Dreijährige ist der Jüngste in der Gruppe. Mit ihrer blumigen Kittelschürze ist sie so etwas wie die gute Seele des Hauses. Der Kindergarten - er ist für die Kinder ein zweites Zuhause. Und das auch deshalb, weil die Erzieherinnen oft elementarste Aufgaben übernehmen. O-Ton 6 Vanya Viele Kinder sind schlecht angezogen. Die Eltern können keine neue Kleidung kaufen. Das meiste ist aus zweiter Hand. Wir haben auch eine Waschmaschine. Wenn wir sehen, dass die Kleider der Kinder dreckig sind, dann waschen wir hier und die Kinder gehen sauber nach Hause. Atmo Mittagessen Autorin "Manchmal haben wir sie auch schon gebadet!", erzählt Milka. Dann ist das Mittagessen fertig. Milka und die Köchin teilen Fisch und Reis aus, dazu gibt es eine Suppe. Vanya hilft den Kleinsten mit Löffel und Gabel. Danach wird sie die Kinder für den Mittagsschlaf fertig machen. Ihre Morgenschicht wird damit bald zu Ende gehen. O-Ton 7 Vanya Es kommt wirklich auf jeden Einzelnen an. Wenn Sie sich die Situation hier in diesem Kindergarten anschauen: Das meiste haben meine Kollegen und ich alleine gemacht. Mit unseren Mitteln, nur durch unsere Ideen, mit sehr viel Lust und Spaß. Aber man muss wirklich wollen. Wenn jemand Geld hat, aber nicht will, dann kann er auch damit nichts anfangen. MUSIK MOD 4 Alte, einsame Menschen; Familien, denen die Mutter fehlt; entschlossene Erzieherinnen, die den Kindergarten nicht aufgeben wollen. Ohne Bildung keine Chance auf Arbeit, ohne Arbeit aber kann kaum jemand bleiben, die Bevölkerung wandert ab. So leben im Nordwesten Bulgariens nur noch 44 Menschen pro Quadratkilometer. In Deutschland sind es im Schnitt fünf Mal so viele. Während immer weniger Angehörige der bulgarischen Mehrheitsbevölkerung im Nordwesten leben, steigt die Geburtenrate einer Minderheit: der Roma. In vielen Regionen könnten sie, die Roma deshalb bald in der Mehrheit sein. Eine Entwicklung, auf die bulgarische Medien und Politiker oft mit rassistischen Tönen reagieren. Dabei leben viele Roma und andere Bulgaren in den Dörfern am Fuße des Balkangebirges seit langem friedlich zusammen: oft Haus an Haus und ohne Probleme: REP 4 Atmo Markt, Stimmen... Autorin An Marktständen werden Obst und Gemüse, billige Klamotten, Teppiche, Haushaltswaren und Schuhe angeboten - wie immer am Sonntagvormittag auf dem Dorfplatz von Malorad. Ob Verkäufer oder Käufer - hier treffen sich Roma und andere Bulgaren, sie verhandeln und halten ein Schwätzchen. O-Ton 1 Peter Hier gibt es die unterschiedlichsten Dinge: Schuhe, Fisch, einfach alles. Und dank unserer Jungs hier haben wir auch Fleisch. Autorin Peter, ein 66jähriger Mann mit vollem weißem Haarschopf unter der Mütze, steht vor einem toten Schaf, das an einem Fleischerhaken vom Baum herunterhängt. Einige Männer machen sich mit Messern und Beilen daran zu schaffen. Die Eingeweide liegen auf dem Boden, ebenso wie das frisch abgezogene Fell. (Atmo flüstern) "Das Schlachten hier ist eigentlich illegal", flüstert Peter. Aber, und dabei zuckt er mit den Schultern, es sei eben eine der wenigen Einkommensquellen für Roma im Dorf. Peter kauft ein halbes Pfund Fleisch, dann steigt er auf sein Klapprad und macht sich auf den Weg nach Hause. Atmo eintreten Zusammen mit seiner Frau lebt Peter im Roma Viertel von Malorad. Im Erdgeschoss des Hauses betreiben sie ein kleines Café. Ein Treffpunkt für die Bewohner des Viertels, aber auch viele andere Bulgaren seien ihre Gäste, erzählt das Ehepaar. O-Ton 2 Peter Sie kommen hierher zu uns, wir haben viele bulgarische Freunde, und sie kommen jeden Abend zu uns, weil die anderen im Dorf früher schließen. Bulgaren und Roma - zwischen uns gibt es keine Konflikte! Und jeden Abend wird es ziemlich spät. Autorin Seine Frau Filka verstaut die Einkäufe in der Küche. Sie, eine kleine rundliche Frau mit warmherzigen dunklen Augen, stimmt zu. O-Ton 3 Filka Hier im Dorf kennen wir uns alle. Die Kinder spielen zusammen, egal ob Roma oder nicht. Sie heiraten auch untereinander. Es gibt keinen Unterschied. Wir sind alle arm, wir schlagen uns alle durch. Hier trinken und essen wir zusammen, wenn es was gibt. Aber wenn es für uns nichts gibt - dann auch nicht für sie! Autorin Filka und Peter setzen sich an den Esstisch in ihrem geräumigen Wohnzimmer. Peter wurde in Malorad geboren, nach der Hochzeit war er mit Filka in die Hauptstadt gezogen. 20 Jahre hatten sie in Sofia gelebt - allerdings ohne sich als Roma zu erkennen zu geben. Peter war Soldat, Filka arbeitete in einem Labor. Auch in der Schule wusste niemand, dass ihre beiden Kinder Roma sind. O-Ton 4 Filka Wir haben es nicht gesagt, damit wir nicht diskriminiert werden. Denn in der Hauptstadt haben sie eine sehr schlechte Meinung über Roma. Wir haben an einem Tisch zusammen gegessen, und wenn sie gewusst hätten, dass auch wir Roma sind, dann hätten sie vielleicht nicht mit uns zusammen sitzen wollen. Und auch unsere Kinder sollten sich in der Schule nicht schlecht fühlen. Autorin Weil sie ihre eigentliche Identität verschwiegen hatten, war ihnen ein normales bulgarisches Leben möglich, mit Arbeit, Wohnung und zwei Kindern, für die sie sorgen konnten. Atmo Café, Mann, Kaffeemaschine, Gespräch Ein Mann betritt das Café nebenan. Er bestellt einen Kaffee und einen Schnaps. Filka schaltet die Kaffeemaschine ein. Kurz nach der Wende ist das Ehepaar zurück ins Dorf gezogen, weil das Leben seit ihrer Pensionierung in Sofia zu teuer ist. O-Ton 5 Filka Wir wollten nie abhängig sein von irgendwem. Was hätten wir in Sofia machen können? Im Müll wühlen? Und hier im Dorf kann man alles selbst produzieren: Milch, Eier, Fleisch, alles. Es hängt nur von dir ab. Hier haben unsere Roma ein Huhn, eine Ziege, einen Garten. Und so müssen sie nicht stehlen oder im Müll wühlen. In Sofia schlafen Roma in Baracken, unsere hier haben Häuser. Autorin Ein wenig reden sie noch über die fehlende Arbeit, den Bürgermeister. Dann kippt der Mann seinen Schnaps hinunter. Die Wende habe einfach alles auf den Kopf gestellt, sagt Peter. Die Leute wüssten nicht mehr, was richtig und was falsch sei. Der real existierenden Demokratie kann er nur wenig Gutes abgewinnen. O-Ton 6 Peter Ich hasse diese Demokratie. Das ist keine richtige Demokratie. Unsere Freiheit bedeutet Verbrechen. Aus der Demokratie sind nur Verbrecher hervorgegangen. Und die sitzen jetzt bei uns ganz oben. Autorin Peter, dem ehemaligen Soldaten, fehlen Ordnung und Disziplin. Und auch Filka schaut voller Nostalgie zurück. O-Ton 7 Filka Wir sind dankbar für die Zeiten damals, die wir miterlebt haben. Damals konnten wir eine gute Ausbildung bekommen, und die war etwas wert. Heute ist das anders: Egal, ob du gebildet bist oder nicht - Arbeit gibt es nicht. Wir haben alles bekommen, was wir brauchten, alles war schön für uns. Aber jetzt mit dieser Demokratie... Das verstehen wir nicht. Vielleicht verstehen es unsere Kinder besser. (lacht) LIT-3: Schicksalsschläge werden, wenn ihnen genügend Mystik anhaftet, von den hiesigen Leuten mit dem alten slawischen Wort Schteta belegt. Tauchen zum Beispiel urplötzlich Scharen von Hermelinen auf und fahren durch die Hühnerställe wie ein Wüstenbrand, dann meinen die Bauern, sie müssten eine Schteta im Dorf haben, und die Bauersfrauen rücken mit allerlei magischen Sprüchen gegen die Wieselblitze vor. Manchmal tritt die Schteta auch in Menschengestalt auf. Es gibt Menschen, die haben den bösen Blick: Sie brauchen bloß irgendeine Kuh anzusehen, dann stockt dem Tier schon die Milch. Wer so etwas fertigbringt, ist Schteta. Einen Bauern hab ich gekannt, dem alle aus dem Weg gegangen sind, denn warst du in irgendeiner Angelegenheit unterwegs, und plötzlich tritt dieser Bauer vor dich hin, konntest du sicher sein, dass die Sache hernach schiefging. Ein Droschkenkutscher aus der Gegend hat darüber bloß gelacht - bis er dem Bauern einmal begegnet ist und, kaum dass er an ihm vorüber war, zwei Räder von der Droschke verloren hat. Der Mann war Schteta. MUSIK Mod. 5: Nostalgie, die Sehnsucht nach früheren, nach den ach so schönen Zeiten, der Glaube daran, dass damals alles besser war - dieses Gefühl ist präsent in der "Region Nordwest", die in Bulgarien bis heute als "rote Bastion" gilt. Die Anhänger der Sozialistischen-, früher Kommunistischen Partei - sind dort zahlreicher als anderswo. Investitionen in Wirtschaft und Infrastruktur wären nötig, um aus Modernisierungsverlierern Modernisierungsgewinner zu machen. Allerdings ist das in dieser Gegend besonders schwierig. Im Nordwesten grenzt Bulgarien an Rumänien und Serbien - gleichsam ein toter Winkel und alles andere als ein attraktiver Standort für Firmen, deren große Absatzmärkte viel weiter im Westen und Norden Europas liegen. So ist die neue Donaubrücke zu einem Zeichen der Hoffnung geworden. Ein großer Schritt, denn auf dem gesamten Donauabschnitt, der Bulgarien von Rumänien trennt, gab es bisher nur eine einzige Brücke: REP 5 Atmo Kabine, Fährmotor, Autos Autorin Flusskilometer 793, am bulgarischen Ufer der Donau, nahe der Stadt Vidin. Kapitän Ljudmil Petrov steht in seiner Kabine hinter einem Pult mit Navigationsgeräten. Von hier oben beobachtet er, wie ein Lastwagen nach dem anderen langsam über die Rampe auf die kleine Fähre fährt. Fast zwei Stunden hatte er am bulgarischen Ufer gewartet, um auf die andere Seite überzusetzen. O-Ton 1 Petrov Es gibt keinen Fahrplan. Denn wir können nicht einfach sagen, wir legen um 10 Uhr ab, und dann sind nur zwei LKW an Bord. Nur mit halber Ladung zu fahren, das können wir uns einfach nicht erlauben. Atmo ablegen Autorin Der 52-Jährige ist klein und kräftig, lebendige Augen schauen aus einem Gesicht mit Schnauzbart. Die Worte schießen schnell wie Pfeile aus seinem Mund, wenn er spricht. 30 Jahre ist er bereits auf der Donau unterwegs. Er spricht fast alle Donausprachen. Noch zu sozialistischen Zeiten ist er bis Rotterdam, Hamburg, Portugal und Spanien gefahren. Ruhig steuert er jetzt die Fähre durch dicke Nebelschwaden - Richtung Rumänien. O-Ton 2 Petrov Alles was ich gemacht und erreicht habe, mein ganzes Leben, mein "Ich" ist mit der Donau verbunden. Was ich in meinem Beruf alles gesehen habe! Wie viele Menschen ich kennen gelernt habe, ihre Art zu leben und zu denken. Und ich bin überzeugt: Die Donau könnte uns wirklich helfen. Es ist ein großer Vorteil, dass unser Land und diese Region an den Fluss angrenzen. Aber bislang nutzen wir das fast überhaupt nicht. Autorin Dabei habe der verarmte Nordwesten Potential, vor allem touristisch, schwärmt Ljudmil und zeigt in Richtung Hafenpromenade. Schon jetzt machen Kreuzfahrtschiffe in seiner Heimatstadt Halt. Denn Vidin existiert seit der Antike, schon die Römer hatten die Stadt befestigt. Vidin war eine der wichtigsten Städte in der römischen Provinz Moesia. Aus dieser Zeit stammt auch die Festung Baba Vida. O-Ton 3 Petrov Aber die Mauern der Baba Vidin sind in einem beängstigend schlechten Zustand. Das muss man in Ordnung bringen. Die Festung liegt direkt an der Donau, und vom Schiff aus sieht man sogar die Bäume auf dem Dach wachsen. Ich schäme mich dafür. Hier gibt es viele historisch interessante Dinge, aber man muss das auch gut präsentieren. Leider ist aber vieles schon fast zerstört. Atmo Sprechfunk Autorin Die Fähre nähert sich dem rumänischen Ufer. Ljudmil Petrov nimmt Kontakt mit seinem rumänischen Kollegen auf, dann steuert er die Fähre behutsam an die Anlegestelle. Zügig vertäut die Mannschaft das Schiff an den Metallpollern. Atmo anlegen, Autos Der Käpt'n tritt aus seiner Kabine. Nach und nach fahren die Lastwagen vom Schiff das Ufer hinauf. O-Ton 4 Petrov Wenn es hier Leute gäbe, die die Entwicklung vorantreiben würden! Ehrliche, fähige Menschen, dann könnte in 5 oder 10 Jahren wirklich etwas auf die Beine gestellt werden. Autorin Dann aber zeigt Ljudmil resigniert auf einen der Hafenangestellten, der die Fahrkarten für die Fähre verkauft. O-Ton 5 Petrov Der Kontrolleur da unten sollte mir eigentlich Bescheid sagen, wie viele Passagiere es gibt. Aber er macht das nicht. Ich muss selber hingehen. So funktioniert das aber nicht: Man muss verstehen, dass man sich auch selber anstrengen muss, wenn man anders leben will. Man kann sich nicht einfrieren und sich nach 20 Jahren, wenn es hier besser läuft, wieder auftauen lassen! Jetzt ist deine Zeit! Atmo schreiben, Sprechfunk, Kommando Autorin Auf der rumänischen Seite warten bereits neun Lastwagen, ein Kleintransporter und zwei PKW. Diesmal genug, um gleich wieder loszufahren. Ljudmil trägt die Anzahl der Fahrzeuge und Passagiere in sein Fahrtenbuch ein. Dann gibt er das Kommando zum Ablegen. Während er hin und herfährt, macht er sich immer wieder seine Gedanken über Land und Leute. O-Ton 6 Petrov Es ist schwer zu verstehen, dass die Dinge nicht mehr so funktionieren wie im Sozialismus. Da bekamen wir gesagt, was wir machen müssen. Du musst den Weg jetzt selbst wählen und entscheiden, ob er richtig ist oder nicht. In diese Richtung ist bislang wenig passiert in unseren Oberstübchen. Aber wir müssen verstehen, dass es niemand anderen gibt außer uns selbst, um dieses Land aufzubauen. Wir Bulgaren müssen das machen. Autorin Ein Blick auf das Radargerät und Ljudmil Petrov nimmt Kurs auf das geliebte Heimatufer. Seit sieben Jahren ist er der Kapitän auf der Fähre, hier fühlt er sich wohl - bisher noch. Denn ganz in der Nähe spannt sich jetzt die neue Brücke über den breiten Strom. O-Ton 7 Petrov Wenn die Brücke fertig ist, dann hat die Fähre wahrscheinlich ausgedient. Aber wir alle denken trotzdem, dass die Brücke für die Entwicklung dieser Region hilfreich ist. Autorin Was lange währt, wird also endlich gut - ein Satz, der vielleicht sogar für Bulgarien gelten kann? O-Ton 8 Petrov Ich weiß nicht, ob ich den Tag noch erlebe, an dem dieses Land so ist, wie sich das eigentlich gehört. Mein Leben ist schon fast vorbei. Wir hoffen auf die nächste Regierung, oder die übernächste, und darauf, dass die etwas für uns tut. Wir hoffen und kämpfen, die Hoffnung stirbt zuletzt. Schluss-Musik "Verlassene Landschaften - Bulgariens Nordwesten". Das waren "Gesichter Europas" mit Reportagen von Simone Böcker. Musikauswahl und Regie: Babette Michel, Endproduktion: Hendryk Manok und Angelika Brochhaus. Die Literaturauszüge stammen aus dem Buch: "Dem Herrgott vom Wagen gefallen", von Jordan Raditschkow. Axel Gottschick hat sie vorgetragen. Danke fürs Zuhören! Am Mikrophon war Gerwald Herter. 1