DEUTSCHLANDFUNK Redaktion Hintergrund Kultur / Hörspiel Redaktion: Tina Klopp Feature Was groß war, hat sich als klein erwiesen Ein Feature über Czeslaw Milosz Von Grace Yoon Produktion: DLF 2015 Regie: Grace Yoon Urheberrechtlicher Hinweis Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Die Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in §§ 44a bis 63a Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. (c) - unkorrigiertes Exemplar - Sendung: Freitag, 02. Januar 2015, 20.10 - 21.00 Uhr Sprecher 1: Gedichte, Czeslaw Milosz Sprecher 2: Zitate - Adam Michnik, Personenangabe Sprecher 3: Andrzej Franaszek, Richard Lourie, Adam Zagajewski, Jerzy Illg Sprecher 4: Tony Milosz Sprecherin 1: Erzählerin, An u. Absage Sprecherin 2: Renata Gorcsynska, Agnieszka Kosinska Musik Rzeki Czeslaw & Anthony Milosz, O Fim..........Montage Krakau Ansage: Was groß war, hat sich als klein erwiesen - Czeslaw Milosz. von Grace Yoon Sprecher 1: Gedicht Als der Tod schon nahe war, dachte der Dichter bei sich. Es gab wohl keine Obsession und keine törichte Idee meiner Zeit, in die ich mich nicht Hals über Kopf gestürzt hätte. Man sollte mich in die Wanne setzen und mich so lange bürsten, bis der ganze Schmutz von mir abgewaschen ist. Und doch, gerade durch diesen Schmutz konnte ich ein Dichter des 20. Jahrhunderts sein. Und vielleicht wollte es der Herrgott so, damit ich ihm von Nutzen sei. Sprecherin 1: Das Gedicht "Waschtag", gelesen im Jahr 2000 im Literarischen Colloquium in Berlin. Milosz hat einmal über sich selbst gesagt, er habe sich nie als politischer Autor empfunden. Er habe immer nur für sich geschrieben, privat, wenn auch zunehmend verbittert. OT Michael Krüger: Die einzige Lesung, die ich mit ihm zusammen hatte, war eben in Berlin. Sprecher 2: Michael Krüger, Schriftsteller und ehemaliger Verleger des Hanser-Verlags, bei dem zahlreiche Werke von Milosz erschienen sind OT Michael Krüger: Er war beglückt dass so viele Leute gekommen waren, es war ein überfüllter Saal und er sass da, ein mächtiger Mann, ein Mann mit den grössten Augenbrauen die man sich vorstellen kann, er hörte schwer, ging am Stock, war ein alter Mann, aber freute sich dass eben so viele junge Leute da waren. Und dann las er, unvergesslich, ein Gedicht vor, das davon handelt dass ein alter Mann auf einer Bank sitzt und den jungen Mädchen hinterher guckt die mit ihren Mini-Röcken an dieser Bank vorbei gehen, und ich fragte ihn, Czeslaw, wie ist dieses Gedicht entstanden, und dann hat er lange überlegt und kam dann plötzlich mit seiner tiefen rostigen Stimme zu dem Ergebnis "Well, Michael, I´m only a moderate Feminist" und dieses letzte Wort von ihm werde ich immer im Gedächtnis behalten. Milosz ist für die polnische Poesie deshalb so interessant weil er derjenige war der den ganzen Modernismus überlebt hat. Atmo Litauen - die Störche Sprecher 3: OT Andrzej Franaszek: In der polnischen Literaturgeschichte gibt es einige Schlüsselfiguren, Jan Kochanowski im 16. Jahrhundert, Adam Mickiewicz im 19. - und dann eben Czesław Miłosz im 20. Jahrhundert. Er wurde 1911 in einer recht provinziellen Gegend in Litauen, in der Nähe von Vilnius, geboren. Sprecher: Andrzej Franaszek, Literaturkritiker und Biograph von Czeslaw Milosz Sprecherin 2: OT Renata Gorcsynska: Milosz hat immer wieder seine Verbundenheit mit dem Land seiner Kindheit betont, dem Großherzogtum Litauen, das eine Art von Union mit Polen bildete. Genaugenommen hatte die ganze Dynastie der polnischen Könige ihren Ursprung in Litauen. Er studierte in Vilnius (Wilna), Vilnius war sein Bezugspunkt. Sprecher 2: Renata Gorcsynska, Jounalistin und Autorin Sprecher 3: OT Andrzej Franaszek: Milosz hat die wichtigsten politischen und historischen Veränderungen seines Jahrhunderts miterlebt, vom Ersten Weltkrieg über das Ende der Zarenära bis hin zum Zerfall des Russischen Reichs. Die Unabhängigkeit der kleineren osteuropäischen Staaten ....... den Beginn der russischen Revolution. Dann die 20 Jahre des unabhängigen Polen und hier war er nicht nur Zeuge, sondern auch Bestandteil des politischen Lebens. Solange er lebte, war er gegen den rechten Flügel der politischen Szene. Er war gegen Antisemitismus, das war ihm sehr wichtig. OT: Czeslaw Milosz - polnisch Sprecher1: Ich möchte ein Gedicht vorlesen, das in viele Sprachen übersetzt worden ist. Es heißt "Campo di Fiori". Es ist ein Gedicht über den Aufstand im Warschauer Ghetto und ein gewisser Akt der Solidarität mit den im Ghetto sterbenden Menschen. Wie ich weiß, bedeutete dieses Gedicht auch für diejenigen, die diesen Aufstand im Warschauer Ghetto überlebt hatten und danach irgendwo in der Nähe von Warschau waren, sehr viel, es wurde in Handschriften weitergereicht. "Campo di Fiori" polnisch - deutsch .....Campo di Fiori In Rom auf dem Campo di Fiori Körbe Oliven, Zitronen, Wein fließt über das Pflaster Zwischen den Blumenresten. Rosige Früchte des Meeres Schütten die Händler auf Tische, Bündel von dunklen Trauben Fallen auf Pfirsichdaunen. Auf diesem selben Marktplatz Verbrannte Giordano Bruno, Das Feuer, geschürt vom Henker, Wärmte die Neugier der Gaffer. Und kaum war die Flamme erloschen, Füllten sich gleich die Tavernen, Körbe Oliven, Zitronen Trugen die Händler auf Köpfen. Ich dachte an Campo di Fiori In Warschau an einem Abend Im Frühling vor Karussellen Bei Klängen lustiger Lieder. Der Schlager dämpfte die Salven Hinter der Mauer des Ghettos Und Paare flogen nach oben Hinauf in den heiteren Himmel. Der Wind trieb zuweilen schwarze Drachen von brennenden Häusern, Die Schaukelnden fingen die Flocken Im Fluge aus ihren Gondeln. Der "Wind von den brennenden Häusern Blies in die Kleider der Mädchen, Die fröhliche Menge lachte Am schönen Warschauer Sonntag. Vielleicht wird jemand hier folgern, Das Volk von Rom oder Warschau Handele, lache und liebe Vorbei an den Scheiterhaufen; Ein andrer vielleicht die Kunde Von der Vergänglichkeit dessen Empfangen, was schon vergessen, Bevor die Flamme verglüht war. Ich aber dachte damals An das Alleinsein der Opfer. Daran, daß, als Giordano Den Scheiterhaufen bestiegen, Er keine einzige Silbe, Menschliche Silbe gefunden, Von jener Menschheit, die weiter Lebte, Abschied zu nehmen. Schon liefen sie, Wein zu trinken, Seesterne zu verkaufen, Körbe Oliven, Zitronen Mit lustigem Lärmen zu tragen. Und schon war er ihnen so fern, Als wären Jahrzehnte vergangen, Als hätten sie niemals gewartet Auf seinen Abflug im Feuer. Auch diese Opfer sind einsam, Sie sind von der "Welt vergessen, Und fremd ist uns ihre Sprache, Als kam sie vom andern Planeten. Bis alles dann zur Legende Erkaltet und später nach Jahren Auf neuem Campo di Fiori Ein Dichterwort aufruft zum Aufruhr. (Karl Dedecius) Sprecherin 1: Zitat Seit dieses Gedicht von Czesław Miłosz 1943 geschrieben wurde, angesichts des Aufstandes von Juden im Warschauer Ghetto, vier Jahrhunderte nach dem geistigen Aufstand Giordano Brunos und dessen Tod im Feuer der Inquisition, tobt in Polen eine teils verdeckt, teils offen geführte Auseinandersetzung. Dabei geht es um Deutungshoheit in der polnischen Nationalgeschichte, um unabhängiges Denken und um das unumstößliche Recht auf Selbstbehauptung. Schlichtere Gemüter leugnen einfach die Existenz des Rummelplatzes auf dem Krasiński-Platz vor den Ghettomauern zu einer Zeit, da jüdisches Pesach und katholische Karwoche, Alltag und Aufstand sich zeitlich kreuzten - das Karussell sei des Dichters Erfindung, es habe niemals und schon gar nicht zu jener Zeit und überhaupt nicht an diesem Ort gestanden. Das zu behaupten, beschmutze das polnische Nest, tönen andere. Vor allem geht den einen wie den anderen des Dichters Vision gegen den Strich, dass Menschen sich wieder und wieder gegen klerikale Dogmen, gegen menschen- und menschheitsfeindliche Zustände auflehnen. Der Dichter, er lebte zu jener Zeit in Warschau und hat am Widerstand teilgenommen, hat das Karussell gesehen. Haben es auch andere gesehen? Aus dem Nachwort zu Campo di Fiori von Gerd Kaiser, Edition Bodoni, Berlin 2008 Sprecher 2: Zitat Als Polen 1945 von der sowjetischen Armee befreit wurde, gehörte Milosz zu den nicht wenigen polnischen Intellektuellen, die von Euphorie nichts wissen wollten und die zu Begeisterung nicht fähig waren, die es aber andererseits für falsch hielten, ihre Mitarbeit am Wiederaufbau des zerstörten Landes zu verweigern. Czeslaw Milosz trat schon 1945 ins Außenministerium ein. In den folgenden Jahren war er Kulturattaché in Washington und dann Erster Sekretär der polnischen Botschaft in Paris. Dem Kommunismus gegenüber blieb er zurückhaltend und skeptisch. 1951 tauchte sein Name in allen westlichen Zeitungen auf, er wurde plötzlich berühmt - wenn auch nur für kurze Zeit: Er hatte sich entschlossen, mit dem Kommunismus zu brechen, er hatte, wie es damals in den Meldungen hieß, "die Freiheit gewählt". Marcel Reich-Ranicki 2008 in der Faz. Sprecher 4: OT Tony Milosz: Als es klar wurde, dass absolut keine Hoffnung mehr bestand, dass Polen eine demokratischere Version der Sowjetunion werden könne, brach für ihn alles zusammen! Er flüchtete aus der Hintertür der Botschaft in Paris, man suchte nach ihm. Zu diesem Zeitpunkt schrieb er "Verführtes Denken", das meiner Ansicht nach eine sehr nachsichtige Analyse der Art und Weise ist, in der polnische Intellektuelle sich an das Regime anpassten oder nicht. Man hat gesagt, dass er zu verständnisvoll war. Sprecher 2: Tony Milosz, Sohn von Czeslaw Milosz, Informatiker und Komponist Sprecher 4: OT Tony Milosz: Den Regierenden in Polen war klar, dass das nicht gerade eine Befürwortung ihrer Politik war. Und sie strichen ihn von der Liste. Er war ein anerkannter Dichter zu diesem Zeitpunkt, das war er schon vor dem Krieg gewesen. Und nun, 1951, ließen sie ihn verschwinden, sie nahmen die Enzyklopädien aus den Bibliotheken und druckten die Seiten neu. Und so verschwand er. Sprecher 2: Zitat Milosz lieferte hier zum einen eine Analyse der Verführungsversuche und Polizeiaktionen, die der Stalinismus gegenüber Schriftstellern anwandte, und zum anderen eine Analyse des Geistes im 20. Jahrhundert, der nach dem Ende der alten Religionen einen neuen, gefährlichen Glauben suchte. Milosz verwendete Pseudonyme, aber es war leicht zu erraten, dass er über Autoren schrieb, die er kannte: Jerzy Andrzejewski, Tadeusz Borowski, Konstanty Ildefons Galczynski und Jerzy Putrament. Letztlich aber schrieb er über sich selbst; "Verführtes Denken" steht in der Tradition der Bekenntnisse des heiligen Augustinus, es ist das Buch eines Sünders, der sich von der Sünde frei machen will. Nur Milosz, streitlustig und linksorientiert, wie er seinem Wesen nach war, konnte sich nicht mit dem "Kapitalismus" anfreunden; zwar verwarf er damals entschieden den Stalinismus, aber auch der demokratische Westen der fünfziger Jahre war für den polnischen Dichter gewiss weit weniger attraktiv als das Christentum für den jungen Augustinus. Adam Zagajewski 2011 in der NZZ Polen - Bienen scape- Atmo Montage x Sprecher 1: Das Lied vom Weltende Am Tag des Weltendes Summt um die Kapuzinerkresse eine Biene. Flickt der Fischer das glitzernde Netz, Springen im Meer die fröhlichen Delphine, Junge Sperlinge krallen sich an der Rinne fest Und die Haut der Schlange ist goldene, wie sich das gehört. Am Tag des Weltendes Gehen Frauen unter Sonnenschirmen übers Feld, Schläft der Säufer am Rasenrand ein, Rufen Gemüsehändler auf der Straße, Und das Boot mit dem gelben Segeln inselwärts ist bestellt, Der Klang der Geige hängt in der Luft Und die Sternennacht fliegt vorbei. Und die auf Blitze und Donnerschlag gewartet haben, Sind enttäuscht. Und die auf Zeichen und Posaunen der Erzengel gewartet haben, Begreifen nicht, dass es bereits geschieht. Solange man Sonne und Mond oben drehen, Solange die Hummel die Rose befliegt, Solange rosige Kinder geboren werden, Glaubt niemand, dass es bereits geschieht. Nur der grauhaarige Greis, der ein Prophet sein könnte, Doch er ist keiner, denn er hat andres zu tun, Sagt beim Anbinden der Tomaten: Es gibt kein anderes Ende, Es gibt kein anderes Ende. (KD) OT Michael Krüger: Ich kannte sein Werk sehr gut, vor allen Dingen sind wir ja in Berlin aufgewachsen mit seinen politischen Schriften, die für uns eine große Rolle spielten. Berlin war geteilt, die Mauer war um die Stadt herum gebaut worden, wir hatten sozusagen von Grund auf die Erfahrung gemacht die er schon kurz nach dem Krieg gemacht hatte, und dann in vielen politischen Essays dargestellt hat, dass die kommunistische Partei nicht in der Lage sein wird, im Sinne der Toleranz und im Sinne der Demokratie, moderne Staaten hervorzubringen. Und ich hatte natürlich seine Gedichte gelesen, die in der Übersetzung von Karl Dedecius bekannt waren. Er war Professor in Berkeley und da ich durch die Freundschaft mit Dedecius mich ziemlich gut in der polnischen Poesie auskannte, und nicht nur in der Poesie, in der polnischen Literatur, weil die polnische Literatur eben Glück gehabt hatte im Nachkriegs- Deutschland, dass sie weitgehend vollständig in ihren besten Autoren übersetzt worden war, so war er ganz erstaunt, weil er das nicht in dem Umfang für möglich hielt. Vor allen Dingen diese Gedichte aus dem "Weltende" aus diesem ersten in Deutschland publizierten Buch, waren für uns doch eben große bedeutende Gedichte und man muss ja immer bedenken, dass er in Polen in der Zeit nicht besonders eine "Persona grata" war (er hat es so gesagt, bitte nochmal lesen, es ist schon richtig so) sondern doch sehr heftig angegriffen wurde. Sprecherin 2: OT Renata Gorcsynska: Es war zu der Zeit, als Milosz' Werke in Polen komplett verboten waren, also gab es auch keine Forschung über seine Arbeit Die amerikanischen Intellektuellen begannen sich für ihn zu interessieren, da einige seiner Bücher ins Englische übersetzt wurden, darunter Gedichtbände, Essaysammlungen und seine Geschichte der polnischen Literatur. Er war einer kleineren Gruppe von Menschen bekannt und man nannte ihn den Dichter der Dichter, denn seine wahren Anhänger waren andere Dichter in Amerika. Sprecher 1: Was groß war Was groß war, hat sich als klein erwiesen. Reiche verblassten wie verschneites Kupfer. Was niederschlug, schlägt niemals wieder nieder. Himmlisches Erden rotieren und leuchten. Am Ufer des Flusses, ausgestreckt im Grase, Wie früher, früher, lasse ich Boote aus Rinde fahren. Sprecher 2: Zitat /Adam Michnik Ich habe das Glück, Czeslaw Milosz fast 30 Jahre lang gekannt zu haben. Sprecher 3: Adam Michnik, polnischer Essayist und Chefredakteur der "Gazeta Wyborcza anlässlich seines Todes im Jahr 2004. Ich traf ihn das erste Mal im Herbst 1976 in Paris und natürlich kannte ich seine Gedichte und Essays. Als 15jähriger habe ich öfter mal die Schule geschwänzt und bin in die Nationalbibliothek gegangen, um seine Bücher zu lesen. Dem habe ich so vieles zu verdanken. Wenn ich mich ab und zu frage was ich beim Jüngsten Gericht zu meinen Gunsten vorbringen könnte, denke ich daran, dass ich zu der kleinen Gruppe von Menschen gehöre die Miloszs Arbeiten in dem illegalen, unabhängigen Verlag NOVA veröffentlichten. Als der Dichter dann später mit dem Nobelpreis geehrt wurde, konnten wir voller Stolz sagen, dass wir seine nationalen Verleger waren. Aber damals, 1976 in Paris, hätte sich niemand träumen lassen, dass Milosz einmal einen Nobelpreis bekommen würde! Ich lernte ihn durch Jerzy Giedroyc und Zygmunt Hertz von der Redaktion der polnische Exilzeitschrift "Kultura" kennen und er beehrte mich mit einer Einladung zum Abendessen. Wir verabredeten uns im Quartier Latin, wo Milosz lange nach dem Restaurant suchte. Er schaute umher, verlief sich ständig, endlich fand er es. Es war ein kleiner gemütlicher bulgarischer Pub. Wir setzten uns, Milosz bestellte Wein und sagte: "Genau hierher wollte ich Sie führen. Zu Beginn der 50er Jahre bin ich jeden Tag hier gewesen und jeden Tag dachte ich daran, mir das Leben zu nehmen". Unser Gespräch war lang und faszinierend. Irgendwann - so ungefähr nach der dritten Flasche Wein - begann ich ohne allzu viel Gestottere seine Gedichte aus dem Gedächtnis aufzusagen. Ich kannte recht viele. Und dann sah ich, zu meiner Überraschung, dass Milosz Tränen über das Gesicht liefen. Ich hielt erstaunt inne und hörte den Dichter mit bewegter Stimme sagen: "Ich wusste nicht, dass junge Menschen in Polen meine Gedichte kennen und auswendig können. Ich dachte, ich wäre verdammt worden." Er sagte das aus gutem Grund, denn seine Werke waren schonungslos konfisziert worden, als hätten die Kommunisten beweisen müssen, dass ihre Rache ewig währt. Musik: ***Ty silna noc (Tony Milosz) Sprechrin 2: OT Renata Gorcsynska: Mein Chefredakteur wollte, dass ich ein Buch über einen berühmten polnischen Emigranten schreibe, und meine Wahl fiel auf Czeslaw Milosz; das war damals in den späten 70ern. Er war seit 1960 Professor an der "University of California" in Berkeley. Ich schrieb ihm und bat ihn um ein ausführliches Interview für mein Buch, irgendwann stimmte er zu. Also reiste ich im November 1979 nach Berkeley um ihn zu interviewen. Es stellte sich als schwierig heraus, über seine Bücher zu sprechen, ohne dabei seine Biographie anzurühren. Als ich dann an der Niederschrift saß, stellte ich fest, dass ich immer noch nicht genug Material für mein Buch hatte. Also besuchte ich ihn ein zweites Mal, Ende September 1980. Dieses Mal war er viel offener und herzlicher, er stand dem ganzen Projekt nicht mehr so skeptisch gegenüber und am Ende unserer Gespräche sagte er mir: "Wissen Sie was, ich bin in der engeren Auswahl für den Literaturnobelpreis!" Und ich dachte mir, oh Gott, ein immigrierter Dichter und Schriftsteller, er hat keine sehr große Chancen. Ich flog zurück nach New York und ein paar Tage später schaltete ich den Fernseher ein und da war er, als Nobelpreisgewinner! (lacht) Das war ein ganz schöner Schock und machte mir richtig Angst, plötzlich bekam das Ganze eine völlig andere Dimension! Ich rief ihn an, um ihm zu gratulieren. Er war schrecklich erschöpft wegen der ganzen Reporter und all der Menschen, die ihn anriefen und er sagte mir: "Hören Sie, ich komme mit all dem nicht zurecht!" Sprecherin 1: Erst nach der Verleihung des Literaturnobelpreises im Jahr 1980 erlaubte die polnische Führung den staatlichen Verlagen wieder, seine Werke zu drucken. Die ersten 200.000 Exemplare waren in wenigen Stunden ausverkauft. Die Leute standen Schlange vor den Buchläden Sprecher 4: OT Tony Milosz: Nachdem er den Nobelpreis bekommen hatte, nahm man ihn von der Liste der unerwünschten Personen und es war ihm möglich nach Polen zu kommen und dort offiziell veröffentlicht zu werden, nicht nur auf kopierten Blättern, die im Unterboden von Autos oder anderswo versteckt waren. Sprecherin 2: OT Renata Gorcsynska: Ich bot ihm an, seine Sekretärin zu werden, zurück nach Berkeley zu kommen und ihn in dieser schwierigen Phase seines Lebens zu unterstützen. Und so fand ich mich einige Wochen später erneut in Berkeley. Milosz und seine Frau überließen mir das sogenannte "Gärtnerhaus" ihres Anwesens in Berkeley High. So begann ich also, als seine Sekretärin zu arbeiten. Zuerst hatte ich nicht einmal ein Telefon, da es keine freie Leitung gab, aber irgendwann hat es doch geklappt, das war sozusagen die zweite Phase. Ich lebte für ein Jahr in Berkeley und dann musste ich zurück nach New York. Er war also in Berkeley und ich arbeitete von New York aus als seine Sekretärin. Ich bekam fast jeden Tag seine Korrespondenz und beantwortete die meisten seiner Briefe. Und manchmal begleitete ich ihn auf seinen Reisen. Sprecher 4: OT Tony Milosz: Es war ein glücklicher Umstand, dass Robert Haas sich für seine Lyrik interessierte und er wurde der nächste Helfer bei den Übersetzungen, er war viele Jahre damit beschäftigt. Bob Haas war selbst ein angesehener Dichter und Mitglied der amerikanischen Akademiker- und Dichtergemeinschaft. Er war der Poet Laureate, der offizielle Staatsdichter der USA. Das allein war sehr hilfreich, um die Lyrik meines Vaters in den USA zugänglicher zu machen und zu verbreiten. OT Michael Krüger: Er brauchte nicht mehr wie viele andere nochmals sozusagen alle Wechselbäder der Moderne durchlaufen weil er eben als ein freier Dichter in einer freien Welt saß und darauf keine Rücksicht nehmen musste. Und deshalb konnte dieses Werk in seinem unendlichen Umfang so schön wachsen. Musik: Rzeki / Czeslaw & Anthony Milosz Sprecher 1: Deutsch Flüsse Mit verschiedenen Namen rühmte ich euch nur, Flüsse! Ihr seid der Honig und die Liebe und der Tod und der Tanz. Vom Quell in geheimen Grotten, der zwischen bemoosten Steinen sprudelt, Wo eine Göttin aus ihren Krügen lebendiges Wasser spendet, Von hellen Brunnen auf Rasen, worunter Rinnsale murmeln, Beginnt euer Lauf und mein Lauf, Begeisterung und Vergehen. Das Gesicht zur Sonne, nackt, selten mit dem Ruder steuernd, Und vorbei huschten Eichenwälder, Wiesen, der Föhrenurwald, Nah jeder Kehre öffnete sich vor mir ein Land der Verheißung, Rauch der Dörfer, schläfrige Herden, fliegende Strandschwalben, Sandrutsch, Langsam, Schritt für Schritt, trat ich in eure Wasser, Und die Strömung um um die Knie trug mich schweigend, Bis ich mich ihr anvertraute, und sie mich trug und ich schwamm Durch den großen gespiegelten Himmel des triumphierenden Mittags. Auch beim Anbruch der Sommernacht war ich an euren Ufern, Wenn der Vollmond aufsteigt und Lippen andächtig zueinnander finden. Wie damals hör ich es in mir das Rauschen der Anlegestelle, Das mich lockt, umarmt und besänftigt, Mit dem Geläut aller Glocken der versunkenen Städte verschwinden wir. Die vergessenen, von Botschaften früherer Geschlechter gegrüßt. Und euer ständiges Drängen treibt weiter und immer weiter. Was war und was ist, gibt es nicht. Nur der ewige Augenblick dauert. OT Michael Krüger: Wir haben uns dann mehrere Male wiedergetroffen, vor allem in New York zusammen mit Josef Brodsky der ja Teile von Milosz ins russische übersetzt hatte und bei anderer Gelegenheit, z.b. bei einer Feier zu Ehren des verstorbenen Witold Gombrovwicz und nach und nach habe ich dann auch einige seiner Bücher ins deutsche übersetzen lassen so unter anderem eben seine poetologischen Vorlesungen die er in Harvard gehalten hat, das Zeugnis der Poesie, und später dann auch seine kurzen Prosa-Stücke und weitere Gedichte und zum Abschluss eben dieser Serie von Büchern ist im letzten Jahr diese Auswahl in der Edition Akzente erschienen mit einem Nachwort von Adam Zagajewski der zum Schluss des Lebens von Milosz zusammen mit ihm in Krakau gelebt hat. Atmo Krakau Sprecherin 2: OT Agnieszka Kosinska: Ich habe 8 Jahre mit Czeslaw Milosz zusammengearbeitet. Von 1996 an bis zu seinem letzten Lebensmonat in Krakau. Sprecher 2: Agnieszka Kosinska, die persönliche Sekretärin von Czeslaw Milosz. Sprecherin 2: OT Agnieszka Kosinska: Ich musste ausblenden, dass ich mit einem Nobelpreisträger zusammen war, das wäre sonst lähmend gewesen. Du arbeitest mit einem Menschen, der wütend ist, der müde ist, der hungrig ist, der wach ist, der verzweifelt ist, der arbeiten will. Es ist fantastisch, Zeuge dieses kreativen Prozesses gewesen zu sein. Ich schrieb immer mit, Czeslaw Milosz hat alles diktiert. Also, Briefe auf Polnisch, auf Englisch, Korrespondenz, Entwürfe, Gedichte und Essays. Die vertraulichste Arbeit war die Poesie, das Diktieren von Gedichten. Sie sehen also, es war keine leichte Arbeit. Ich glaube auch, in dieser Situation war es hilfreich, dass wir ein Mann und eine Frau waren. Aber wissen Sie, wie kann man soo lange zusammenarbeiten.... (lacht) Nein, es war wirklich fantastisch. Sprecher 3: OT Andrzej Franaszek: Als ich ihn kennenlernte, war ich so um die 25, ich hatte viele seiner Bücher gelesen und mir wurde klar, dass er der wichtigste polnische Dichter des letzten Jahrhunderts war. Er kannte T.S. Eliot , Albert Einstein, Thomas Merton, Josef Brodsky, den polnischen Papst, Simone Weil, alle, die im 20. Jahrhundert von Bedeutung waren. Ich hatte also ganz schön Angst, wenn ich zu seiner Wohnung in der Wojciecha Boguslawskiego Straße ging. Manchmal hoffte ich tatsächlich, dass er die Klingel nicht hören würde und ich wieder gehen könnte, aber das war nie der Fall, er hörte mich oder seine Frau öffnete mir. Und: es gab keine Möglichkeit zum Smalltalk mit Milosz. Er hasste Smalltalk und er erzählte, dass ihn, wenn er in Berkeley auf Gartenpartys eingeladen war, diese Art von intellektuellem Geplauder so langweilte, dass er sich betrank. Leszek Kolakowski, der Milosz in der 60er Jahren in Berkeley kennen lernte, schrieb, dass sich ihre Gespräche üblicherweise um Gott, die Ewigkeit, die unsterbliche Seele, Jesus und den Teufel und so weiter drehten. Ich war nicht so gut darauf vorbereitet, mit Milosz über diese Themen zu sprechen, aber er fragte immer nach dem, was ihm wichtig war: Lyrik, neue Dichter, Artikel. Essays... "Herr Anrdzei, haben Sie diesen Artikel gelesen? Was halten Sie davon?" oder vielleicht: "Warum haben Sie dieses Stück veröffentlicht?" Es war immer eine Art Prüfung und man versuchte, sie mehr oder weniger erfolgreich zu bestehen. Sprecherin 2: OT Agnieszka Kosinska: Czeslaw Milosz war 93 Jahre alt als er starb, aber in seinen letzten Jahren, vielleicht weil er im Inneren so jung geblieben war und wegen seiner unerschöpflichen Neugierde, auch in Bezug auf das moderne Leben, entdeckte er das Internet und zwang mich, jede noch so kleine Information nachzuprüfen und zu recherchieren. Und er begann, E-mails zu schreiben, um mehr Briefverkehr in einer kürzeren Zeit zu bewältigen. Er korrespondierte mit Hunderten von Leuten. Für mich war das recht ermüdend, obwohl ich über 50 Jahre jünger war, aber es musste sein, denn wenn jemand sich an Czeslaw wandte, dann mussten wir ihm antworten. Er sagte manchmal, weißt du, Agneszka, ich glaube, es gibt zuviel Czeslaw Milosz in Polen und in der polnischen Literatur! Sprecher 3: OT Andrzej Franaszek: Einer der für ihn wichtigsten Menschen war sein Onkel Oscar Milosz, ein französischer Dichter und Mystiker. Sprecherin 1: Czeslaw Milosz traf den Onkel 1931 in Paris. Sprecherin 2: OT Agnieszka Kosinska: Es gibt ein langes Gedicht, ein spätes Czeslaw Milosz Gedicht mit dem Titel "Der Lehrling", das dem mystischen Dichter Oscar Milosz gewidmet ist. Sprecher1: "Die ganze Beschaffenheit der Welt war meinem Herzen fremd. Wie die Albigenser sehnte ich mich nach Befreiung, aber eine schützende Liebe leitete mich an und ich lernte, dankbar zu sein." Musik: Czeslaw & Anthony Milosz / Tak mato (So wenig) Sprecher 1: So wenig Ich habe so wenig gesagt. Die Tage sind Kurz. Kurze sind die Tage, Die Nächte Die Jahre. Ich habe so wenig gesagt, Ich kam nicht dazu. Mein Herz ist matt Von Entzücken, Verzweiflung, Eifer, Hoffnung. Leviathans Maul Klappte über mir zu. Ich lag entblößt am Ufer Der menschenleeren Inseln. Zum Abgrund riss mich hinab Der weiße Walfisch der Welt. Und nun weiß ich nicht mehr, Was Wahrheit gewesen ist. Sprecher 4: OT Tony Milosz: Ich schrieb einmal ein Stück für ein Schweizer Festival, auf dem ein Gedicht unseres Verwandten Oscar Milosz zu hören sein sollte, der ja ein französischer Autor war. Ich komponierte ein elektronisches Stück und las es dazu. Mein Vater mochte dieses Stück, also sagte ich zu ihm, lass uns einige deiner Lesungen aufnehmen, so dass ich das digital zur Verfügung habe. Nach seinem Tod kam ich auf das Projekt zurück. Wenn man das Metronom auf das richtige Tempo einstellte, folgte es perfekt seinem Lese- Rhytmus. Ich musste also nur die Tracks hintereinander abspielen und alles fügte sich. Es ist schon komisch, dass es unter die TOP 30 in den polnischen Radio-Charts kam. Es gab viele Nachfragen zu dem Gedicht und die Taxifahrer, die den ganzen Tag das Radio laufen haben, hörten es viele Male. Sie wollten dann über Musik und Dichtung reden und das war großartig... Dass viele, die sonst nie seine Gedichte gelesen hätten, plötzlich Zugang dazu hatten und darüber sprechen wollten. Das hat mich sehr gefreut. Krakau scape.......... Sprecher 3: OT Jerzy Illg: Als Czeslaw Milosz nach Krakau kam, war er sehr stolz und glücklich, dass er als Gastgeber endlich seine Freunde aus aller Welt nach Krakau einladen konnte. Einige von ihnen waren lange Jahr in Polen verboten, Joseph Brodsky, Stanislaw Barańczak oder Thomas Venclova, ein litauischer Dichter, der im Exil in den USA lebte. Milosz war für sie eine Art Meister, sie schätzten ihn sehr. Und Brodsky nannte ihn "Pan Czeslaw", das ist eine russische Formulierung, sie nennen die polnischen Adeligen "Pan", es war also ein Ausdruck seiner Bewunderung. Sprecher 2: Jerzy Illg, Hauptherausgeber des Znak Buchverlags in Krakau Sprecher 3: OT Jerzy Illg: Czeslaw erzählte mir lachend folgende Geschichte: "Ich hatte Joseph angerufen und gesagt, Joseph, du musst nach Krakau kommen, wir machen eine gemeinsame Lesung! Und Brodsky sagte, natürlich werde ich kommen, "Pan Czeslaw" Aber er fragte auch, wer wird das bezahlen?" Und Czeslaw sagte, du wirst das bezahlen! Und das tat Brodsky auch und kam nach Krakau. Es war schon unglaublich für uns, dass wir zwei solchen Giganten zuhören durften, und die Aula der Jagiellonen-Universität war überfüllt. Es war ein richtiges Lyrik- Fest! Es ist schwer zu glauben, dass es schon 10 Jahre her ist, dass er von uns gegangen ist.. Als sein Herausgeber und Freund tue ich mein Bestes, um die Erinnerung an ihn aufrecht zu halten und seine Bücher zu verlegen. Und so wie die verschiedenen Generationen seit jeher diskutieren oder streiten, wurde Milosz natürlich manchmal auch von den jüngeren Dichtern angegriffen oder von Leuten des rechten Flügels, sie konnten seine Offenheit und multikulturelle Haltung nicht akzeptieren. Aber er hat die jungen Dichter auch beeinflusst und ist heute noch eine Quelle der Inspiration. Und er hinterließ uns seine gesamte Bibliothek; wir können den Rest unseres Lebens damit verbringen, seine Bücher zu lesen und Inspiration in seinen Gedanken und in seinen wunderbaren Gedichten finden. Sprecher 1: Für Allen Ginsberg Allen, du guter Mensch, du großer Dichter eines mörderischen Jahrhunderts, du, der du trotzig den Wahnsinn verteidigt hast, bist zur Vernunft gekommen. Dir gestehe ich, mein Leben war nicht so, wie ich wollte. Ich lebte im Amerika eines Molochs, kurzhaarig und rasiert, mit Krawatte, Bourbon trinkend, vor dem Fernsehapparat, jeden Abend Die teuflischen gnome der begierde in mir schlugen Purzelbäume, ich war mir ihrer bewusst und zuckte die Achseln: das wird vorbeigehen, zusammen mit dem Leben Auch so kann die Schule der Visionen sein, ohne die Drogen und das abgeschnittene Ohr von van Gogh, ohne die Bruderschaft der besten Geister hinter Krankenhausgittern." Ich beneide dich um den mut zur absoluten Herausforderung, zu flammenden Worten, zum wüsten Fluch des Propheten. OT Czeslaw Milosz: I defined myself as a square and Ginsberg said, well, you are not as square as you pretend to be. (Lachen) Sprecher 1: Ich bezeichnete mich selbst als einen Spießer und Ginsberg sagte: "Nun, du bist weit weniger spießig als du zu sein vorgibst." OT Michael Krüger: Es gibt in Amerika eben Ausgaben seiner gesammelten Gedichte, 1000 Seiten, es gibt die gesammelten Essays, nochmal 2000 Seiten, es gibt seine sehr schöne Literaturgeschichte der polnischen Literatur, es gibt diese politischen Bücher und eben diese bewegenden Kindheitserinnerungen, das Tal der Issa und andere, so daß sein Werk jetzt sozusagen auf der ganzen Welt vorrätig ist und gelesen werden kann. Aus dieser riesigen Menge von Material werden wahrscheinlich nach dem Ende des kalten Krieges eben vor allen Dingen die Gedichte übrig bleiben, die Gedichte die mühelos die großen philosophischen Fragen mit den Fragen des Alltags-Lebens, mit der Beobachtung, mit dem Thema der Hinfälligkeit und dem Tod, doch eine große Spannweite der modernen Poesie abschreiten. Sprecherin 1: Milosz stammt aus einer Familie polnischen Landadels. Er wurde im Jahr 1911 in Seteniai geboren, in einer Region, die heute zu Litauen gehört und im vergangenen Jahrhundert zweitweise unabhängig, die längste Zeit jedoch von Polen besetzt oder Teil der Sowjetunion gewesen ist. Auch wenn er Polen im Jahr 1951 verließ und dann lange in Berkeley lehrte, schrieb er Zeit seines Lebens auf Polnisch. "Meine treue Sprache... Du warst mir das Vaterland, weil es mir fehlte", heißt es in einem seiner Gedichte. Sprecher 3: OT Jerzy Illg: Czeslaw Milosz war ein Mann voller Widersprüche, er suchte nach seiner spirituellen Identität und stellte sich vielen sehr unterschiedlichen Erfahrungen und Vorstellungen. Aus diesem Grund ist es nicht einfach, seine Lyrik oder sein Denken zu definieren oder mit einem Label zu versehen. Wenn er sagte "Ich war getrieben, weil ich wie die anderen sein wollte, ich hatte Angst vor dem, was in mir weiß und unschuldig war..." war ihm bewusst, dass jemand anderes in ihm steckte und dass seine Gedichte ihm von Dämonen diktiert wurden. Daran glaubte er. Dass es nicht wirklich er selbst war, der diese Gedichte schrieb. Er sah sich als eine Art Medium und er wusste auch um die dunklen Seiten seiner Seele. Und manchmal machte ihm das sogar Angst. Ich glaube diese mönchshafte Disziplin, mit der er jeden Tag seine Arbeit verrichtete, war eine Art Schutz gegen die dunklen Mächte in seinem Inneren, von denen er glaubte, dass sie ihm gefährlich werden könnten. Krakau scape.......... Sprecherin 2: OT Agnieszka Kosinska: Czeslaw hat 70 Jahre lang geschrieben. Die Hälfte dieser Zeit verbrachte er im Ausland, aber sein Leben lang schrieb er auf Polnisch. Er liebte seinen Waterman's Füller und benutzte nur schwarz-blaue Tinte. Er schrieb in sein Notizbuch und einige Tage oder Wochen später tippte er das Ganze in seinen Computer. ### ## Nach einigen Tagen, manchmal auch Wochen, las er die erste Version laut vor und entschied dann, ob das Gedicht fertig war oder nicht. War das nicht der Fall, machte er weitere Korrekturen und dann tippte ich diese Versionen. Also, die zweiten, dritten, fünften Versionen eines Gedichts. Und wissen Sie, das war eben der Abstand. Ich denke, in dieser enorm hektischen Welt, in der wir leben, fehlt uns das Bewusstsein für die Rolle, die eine solche Distanz im kreativen Prozess spielt. Und Czeslaw Milosz's Lieblingssatz - übernommen von Simone Weil, einer seiner liebsten Schriftstellerinnen - war: "Distanz ist die Seele der Schönheit." Das ist das Wichtigste für einen Schriftsteller oder Dichter. Man muss auf das warten, von dem man denkt, dass es einem seine Dämonen sagen wollen und dann muss man an seiner inneren Stimme arbeiten. Ich meine den Inhalt und die Form, die sind immer noch gültig. Krakau scape............ Montage Sprecherin 2: OT Agnieszka Kosinska: "Das Land Ulro", das in einer sehr schwierigen Zeit seines Lebens entstand, ist eine der wichtigsten Essay-Sammlungen von Czeslaw Milosz, es geriet komplett in Vergessenheit, ist aber sein persönlichstes Werk! Sprecher 3: OT Adam Zagajewski: (aus dem polnischen ) Das Buch erschien Ende der 70er Jahre in Paris, Jerzy Giedroyc gab es heraus. Der Begriff Ulro selbst stammt von William Blake, nach Blake ist Ulro nämlich eine Geisteswüste, es ist die moderne Welt nach der Industriellen Revolution, in der die Menschen aufgehört haben, an Gott zu glauben. Wenn man aber an Miłoszs Biographie denkt, dann wird offensichtlich, dass "Das Land Ulro" auf der Oberfläche dieses philosophische, ideologische Motiv hat, aber wir spüren, dass es auch die Verbitterung des einsamen Dichters-Emigranten beinhaltet. Dass es eigentlich zweierlei "Land Ulro" gibt. Das eine ist jenes philosophische aus Gelehrtenbüchern und Reflexionen, und das zweite dieses persönliche, Miłoszs Einsamkeit in Kalifornien, die Einsamkeit des Dichters, der wusste, dass er groß und hervorragend ist. Diese Gabe der Selbsterkenntnis, ein außergewöhnlicher Dichter zu sein, besaß er nämlich. Und als er 60 wurde, beschwerte er sich im Brief an einen Freund, er habe keine einzige Glückwunschkarte erhalten. Er hatte das Gefühl, vollständig verlassen zu sein, das Gefühl für niemanden zu schreiben. Ich denke, dass auch diese Einsamkeit, diese Verbitterung eines einsamen Dichters die Aussage von "Das Land Ulro" beeinflusst. OT Michael Krüger: Interessant war für mich immer sein Verhältnis zum Katholizismus, das war natürlich immer eine gespannte Angelegenheit, aber zum Schluss mit der Rückkehr nach Krakau und dem polnischen Papst mit dem er ja einen Briefwechsel hatte ist er auch sozusagen nicht in die Arme der Kirche zurückgekehrt aber doch wieder als ein Gesprächspartner angenommen worden. Er war natürlich nicht mehr ein naiver Katholik im Sinne der Zugehörigkeit zu einem Glauben, sondern er gehörte zu denen die eben auf eine sehr subtile und durchdachte Weise sozusagen den Anteil der Kirche an der Herausbildung der Zivilisation anerkannt hat und insofern war er als er dann im hohen Alter in Krakau starb mit sich im Reinen, und das hat mir immer sehr eingeleuchtet wie ein Mensch mit diesen Erfahrungen und diesem langen Leben dann zum Schluss tatsächlich in Ruhe und in Frieden die Augen schließen konnte. Sprecher 2: Zitat /Adam Michnik Miloszs Tod ist ein großer Verlust für die literarische Welt und für Polen. Aber wir finden Trost und Rat in dem, was er uns hinterlassen hat, wie zum Beispiel die Drohung in dem Gedicht an jene, die "einem einfachen Mann Leid zufügten". Sprecher1: Ihr, die ihr Leid über den einfachen Mann brachtet, ihr, die ihr über sein Leid lachtet, fühlt euch nicht sicher. Der Dichter erinnert sich. Ihr könnt ihn töten. Ein neuer wird auferstehen. Taten und Worte - nichts wird vergessen sein." Sprecherin 1: Diese Worte Czesław Miłosz zieren ein Denkmal, das im Jahr 1980 zur Erinnerung an den Aufstand der Werftarbeiter in Gedansk errichtete wurde . Es sind Zeilen die er 1950 geschrieben hatte und die erst drei Jahrzehnte später erstmals in Polen veröffentlicht wurden. Musik Rzeki Czeslaw & Anthony Milosz, O Fim..........Montage Krakau Absage: Was groß war, hat sich als klein erwiesen - Czeslaw Milosz von Grace Yoon Aus dem Englischen von Anna Panknin Aus dem Polnischen von Beata Burger Es sprachen: Hans Bayer, Kerstin Fischer, Jochen Langer, Claudia Mischke, Josef Tranik und Bruno Winzen Ton und Technik: Gunther Rose und Beate Braun Regie: Grace Yoon Redaktion: Tina Klopp Eine Produktion des Deutschlandfunk 2015 12 4