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Ganz oben stand der Kiez-Club nie, auch wenn er sich 2002 nach einem überraschenden Sieg gegen die übermächtigen Bayern zum "Weltpokalsiegerbesieger" ausrief. "Pauli" war damals Tabellenletzter der 1. Bundesliga und: "Pauli" spielte wie eh und je in Hamburg nur die zweite Geige gegen den noblen HSV. In der 1. Liga hielt sich der Verein übrigens nie lange, krebste meist in der 2. oder gar 3. Liga herum. Das schmälerte die Begeisterung der Fans im "Freudenhaus der Bundesliga", also im Millerntor-Stadion, allerdings nie. Denn der FC St. Pauli ist irgendwie mehr als nur Fußball. Jedenfalls sagt das Ulf Dammann. LR 100 Jahre Freud & Leid / Dammann - 19'02" Atmo: Glocken der St. Pauli Kirche 1 - darüber: Autor: Sonntagvormittag, kurz vor elf Uhr. Die Glocken der St. Pauli Kirche rufen die Gläubigen zum Gottesdienst. Die rote Backsteinkirche liegt nur einen Steinwurf entfernt von der legendären Hafenstraße und vom Pinnasberg, mit seinem "gelben Haus" einst literarisch und im Film verewigt - Symbol für das verruchte St. Pauli. Direkt neben dem Gotteshaus ein alter, kleiner Friedhof; im Garten, der die Kirche umgibt, grünt es frühlingshaft - ein Idyll mitten im Kiez. Von hier aus blickt man über den Hafen. Hier kann ein jeder Ruhe finden. Kreuzblende mit Atmo: Orgel mit Gesang - darüber: Autor: In der Kirche singen inbrünstig etwa 40 Menschen. Ein paar alte Leute, aber auch Eltern mit Baby. Alle Altersgruppen sind vertreten, die aktive Gemeinde scheint jünger als man vermuten möchte. In den Sonntagsstaat hat sich niemand geworfen. Wolfgang ist in seinem Rollstuhl da, trägt eine FC St. Pauli-Kutte. Zwei St. Pauli-Wimpel - auch der mit dem Totenkopf - zieren sein Gefährt. Eine junge Frau lässt sich heute taufen. 1. O-Ton: Pastor Wilm über seine Gemeinde (34") - über die Atmo Wir heißen jeden willkommen. Und wir haben tatsächlich einen Millionär, und wir haben einen Obdachlosen, und wir haben eine frühere Terroristin, und wir haben jemanden, der im Milieu gearbeitet hat., und wir haben jemanden, der zur See gefahren ist, und wir haben Studenten. Und wir haben auch Eltern, die mit ihren Kindern zu uns kommen - wir haben eine eigene Kinderkirche -, der Papa ist Rechtsanwalt und die Mutter ist Filmemacherin oder der Papa ist Investor und die Mutter leitet eine Galerie. Also, das haben wir Alles. Autor: Seit neun Jahren ist Sieghart Wilm einer von zwei Pastoren auf St. Pauli. Er lebt mit seinem Partner und einem Pflegesohn in einem der roten Backsteinhäuser, die die Kirche umgeben. Dass der Pastor schwul ist, stört auf St. Pauli niemanden. Der Kiez ist liberal und tolerant. Und irgendwie auch wie das Dorf, aus dem Wilm stammt. Atmo langsam ausblenden - auf die Blende: 2. O-Ton: Wilm - St. Pauli ist ein Dorf (18") Genauso wie mein Vater damals auf dem Dorf hab ich hier einen Garten und arbeite in meinem Garten und grüße über den Gartenzaun, hab die herrlichsten Gespräche, lade Leute ein, um sich die Rosen anzugucken. Ja also, St. Pauli bietet die Möglichkeit, auch das Dorf zu leben. Atmo: Stadion - darüber: Autor: Knapp anderthalb Kilometer von der St. Pauli-Kirche entfernt spielt am Sonntagnachmittag der FC St. Pauli. Das alte MIllerntor-Stadion wird gerade umgebaut. Die neue Südtribüne steht schon, die neue Haupttribüne ist im Bau, die beiden anderen Stadionseiten haben noch den rauen Charme der sechziger Jahre. "Das Freudenhaus der Bundesliga" hat Sportreporter Jörg Wontorra das Millerntor-Stadion genannt. Weil die Fans so begeisterungsfähig sind. Weil sie immer hinter ihrer Mannschaft stehen. Weil sie anders sind als woanders. Und das hängt nicht zuletzt mit der Hafenstraße zusammen. Archiv-O-Ton: Hafenstraße - darüber: In den achtziger Jahren tobt dort der Häuserkampf. Anarchos, Linke, Alternative halten die leer stehenden Gründerzeithäuser besetzt, über den Dächern weht die schwarze Piratenfahne mit dem Totenkopf. Vereinspräsident und Theaterdirektor Corny Littmann: 3. O-Ton: Littmann über Hafenstraße (20") Einige dieser Hausbesetzer haben auch den FC St. Pauli für sich entdeckt, den Totenkopf, das Piratenimage, "die Freibeuter der Liga", all das mit ins Stadion gebracht - nicht immer zur Freude der Alteingesessenen im Übrigen. Atmo: Stadion "St. Pauli" Autor: Inzwischen ist der Totenkopf zum zweiten Vereinsemblem des FC St. Pauli aufgestiegen. Die Hafenstraße ist längst beruhigt; nur die verbliebenen Veteranen träumen manchmal noch bei einem Pfeifchen von den alten Zeiten, erzählt Pastor Wilm. Und: 4. O-Ton: Wilm über Hafenstraße (17") Es gibt natürlich jetzt auch ganz andere Leute, die da eingezogen sind. Das sind alles legalisierte Verhältnisse und sehr privilegiert, muss man sagen. Also das sind schöne Wohnungen mit Elbblick. Phantastisch. Nein, es ist ruhig geworden um die Hafenstraße. Musik: Hans Albers, "Auf der Reeperbahn" - darüber: Autor: Überhaupt hat sich St. Pauli in den letzten dreißig Jahren dramatisch verändert. Die alte Seemannsromantik ist dahin. Auch wenn es immer noch ein paar der alten Kneipen gibt. Atmo: Schlemmereck 1 - darüber: Autor: Fünf Uhr nachmittags im Schlemmereck am Hamburger Berg. Eine Traditionskneipe. Am Tresen sitzt, wie fast jeden Tag, Udo. Mit der rechten Hand hält er sein Bier fest - auf dem Kiez natürlich Astra in der knubbeligen, braunen Flasche. Gläser zum Bier gibt's nicht; auf dem Kiez trinkt man sein Astra grundsätzlich aus der Flasche. Der linke Arm liegt auf Udos Schoß; er ist aus Plastik. Arbeitsunfall. Nach dreißig Jahren als Hafenarbeiter. Das erzählt Herbert Stender, dem das Schlemmereck gehört. Udo, der zwar in Altona geboren wurde, aber fast sein ganzes Leben auf St. Pauli verbracht hat, redet nur wenig. Herbert war lange Jahre Seemann. Vor drei Jahrzehnten übernahm er die Kneipe. Seitdem ist viel passiert auf St. Pauli: 5. O-Ton: Herbert Stender über Hafenarbeiter und Seeleute (19") Früher hatten sie 30.000 Werftarbeiter, 30.000 Hafenarbeiter, und das wurde dann immer weniger. Eine Werft nach der anderen machte dicht, die Reeder flaggten aus, die Schiffe wurden größer und dadurch wurde die Anzahl der Schiffe ja auch weniger. Und aus den Kneipen wurden dann Gemüseläden, Spielhallen, Sexshops. Und dann wurde das immer weniger. Atmo Schlemmereck 2 - darüber: Autor: In gewisser Weise spiegelt auch das Schlemmereck diese Entwicklung wider. Touristen aus aller Welt kommen hierher. Aber auch junge St. Pauli-Fans. Früher waren die Hafenkneipen rund um die Uhr geöffnet. Südlich der Reeperbahn lagen die Seemannskneipen, nördlich die Lokale der Hafen- und Werftarbeiter. Gearbeitet wurde in drei Schichten. Und nach jeder Schicht ging's erst mal einen trinken. 6. O-Ton: Herbert über Szene-Kneipen (18") Richtig verändert hat es sich in den letzten 15, 20 Jahren, als die sogenannten Szenekneipen aufkamen. Autor: Seitdem sitzt Udo immer öfter allein am Tresen. Von den alten Kollegen ist kaum einer geblieben. Mit den jungen Gästen von heute hat er nix am Hut. Plötzlich spricht Udo doch: 7. O-Ton: Udo über junge Gäste auf dem Kiez (19") Die sind gerade aus den Windeln gekrochen. Oder wie sagt man heute: aus den Pampers gekrochen. Kriegen von Mama und Papa noch 50 oder einen Hunderter: Geh mal am Wochenende los, dann haben Papa und Mama Ruhe. Atmo: Backbord - darüber: Autor: Wenige Schritte vom Schlemmereck entfernt hat vor etwas über einem Jahr eine neue Szenekneipe aufgemacht, das Backbord. Hauptsächlich jüngeres Publikum, natürlich viele St. Pauli-Fans, aber nicht nur, sagt Mitbesitzer Hannes Wittenburg: 8. O-Ton: Hannes Wittenburg über Backbord Publikum (13") Wir haben viel Stammpublikum aus dem Viertel, aber auch viele Touristen. Inzwischen kriegen wir immer wieder mit, dass die Hotels die Leute zu uns schicken. Bis jetzt haben sich Alle hier wohl gefühlt, wie man so schön sagt: der Banker und der Punker. Autor: Natürlich gibt es auch im Backbord Astra aus der Flasche - Kiez bleibt Kiez -, aber man serviert auch passable Weine und die Speisekarte ist modern: Pasta, Bio-Fleisch und Bio-Zutaten, Vegetarisches. Könnte es so auch am Prenzlauer Berg oder in Schwabing geben. 9. O-Ton: Hannes Wittenburg über Backbord keine Seemannskneipe (17") Wir wollen ja auch keine alte Seemannskneipe oder irgendwas darstellen, was früher mal existiert hat. Also es ist schon ein Laden, der mit der Zeit geht, der einen ganz besonderen Anspruch hat. Also es geht nicht darum zu sagen, verkaufen wir jetzt nur Schnitzel oder Matjes und dann gibt's ein Bier knallhart auf den Tresen gestellt und das war's. Autor: Wie im Schlemmereck sind auch viele Stammgäste im Backbord Anhänger des FC St. Pauli. Andreas Kahrs ist einer der vielen Fans, die inzwischen eine Funktion im Verein übernommen haben. Er ist Projektkoordinator "100 Jahre FC St. Pauli" und bereitet mit ein paar Kollegen die Jubiläumsfeierlichkeiten im Mai vor. Kahrs entstammt der linken Fan-Szene und ist stolz darauf, dass bei den Spielen am Millerntor noch viele linke Werte gelten, obwohl es natürlich auch am Millerntor hin und wieder pöbelnde oder gewaltbereite Fans gibt, doch das ist die Ausnahme: 10. O-Ton: Kahrs über Rassismus (23") Rassistische Diskriminierung von Spielern auf dem Platz, die wird es am Millerntor nicht geben. Es gibt natürlich auch Rassisten am Millerntor, das ist ja keine Insel der Glückseligkeit. Es gibt sicher auch mal jemanden, der einzeln da sitzt und mal einen Spruch bringt, der absolut nicht dem entspricht. Es gibt aber große Bereiche im Stadion, wo dieser Spruch absolut niemals toleriert werden würde. 11. O-Ton: Teister über Fan-Szene (23") Ganz nebenbei verstößt das auch gegen die Stadionordnung. Das ist verboten am Millerntor so etwas zu rufen oder solche Transparente aufzuhängen. Also es gibt immer noch einen großen Anteil an Menschen, die für diesen Selbstreinigungsaspekt sorgen in der Fanszene. Der Verein hat in der Szene auch einen extrem hohen Frauenanteil. Ich glaube, das weißt auch auf etwas hin. Autor: Ergänzt Claus Teister, ebenfalls ein Fan, der heute für den Verein arbeitet. Und der ebenfalls aus der linken Kiez-Szene stammt. Autor: Als eher links wird der Verein auch von außen wahrgenommen. 12. O-Ton: Krug über HSV und St. Pauli (9") Der HSV bürgerlich und St. Pauli eher ein bisschen links, also politisch. Autor: Sagt zum Beispiel Gert Krug, eingefleischter HSVer, einst Mannschaftskamerad von Uwe Seeler, Deutscher Meister 1960, später erfolgreicher Journalist. 13. O-Ton Krug (23") Das ist auch das, was die so sympathisch macht für mich. Und manchmal nehmen sie sich nicht ganz ernst, das finde ich auch ganz gut. Haben Kontakt zur Bohème in Hamburg. Das ist schon eine etwas andere Welt. Autor: Trotz aller Sympathie für den Kiez-Club: gespielt hätte Krug nie für den FC St. Pauli. 14. O-Ton: Krug nie Pauli (8") Undenkbar. Undenkbar, dass ich für St. Pauli gespielt hätte. Entweder HSV oder keiner. Autor: Apropos Hamburger Sportverein. Bei aller Beliebtheit des FC St. Pauli im ganzen Land: Hamburgs Topverein ist nach wie vor der HSV. Nur eben nicht auf dem Kiez, obwohl es auch hier ein paar Widerstandsnester gibt. Am Hamburger Berg, schräg gegenüber von Herberts Schlemmereck, hängt doch tatsächlich an einem Balkon eine große HSV- Fahne: 15. O-Ton: Herbert über HSV- und Pauli-Fans (12") Tja, ein paar Spacken gibt's hier natürlich auch am Hamburger Berg. Hier kommen auch mal welche rein, aber ansonsten ist das eine reine St. Pauli-Fan-Kneipe hier. Atmo: Trainingsgelände - darüber: Autor: Rund zehn Kilometer vom Millerntor entfernt liegt das Jugendleistungszentrum des FC St. Pauli. Ein großer Kunstrasenplatz, ein Rasenplatz und ein Kleinfeld. Einfache Umkleidekabinen, die Büros in Containern. Hier trainieren die Nachwuchsmannschaften des Vereins, weit ab vom Kiez. Claus Teister ist der sozialpädagogische Betreuer des FC St. Pauli. Er hat das Konzept erarbeitet, das den Verein auch in diesem Bereich positiv von vielen anderen Proficlubs abhebt. 16. O-Ton: Teister über Schulprojekt (20") Wir haben hier eine Ganztagsschulbetreuung von Seiten des FC St. Pauli für St. Pauli-Spieler organisiert. Wir haben aus eigener Kraft mit eigenen Ideen, mit eigenen finanziellen Mitteln dieses Projekt vor einem Jahr aufgebaut und sind da ganz erfolgreich mit. Und das verbirgt sich hinter dem Projekt "Leitungsport und Schule". Autor: Ein Nachwuchsspieler des FC St. Pauli soll nicht mit leeren Händen dastehen, wenn aus der erhofften, aber selten erreichten Profikarriere nichts wird. Er soll einen Schulabschluss, möglichst das Abitur oder die Mittlere Reife in der Tasche haben. Oder eine Berufsausbildung. Die Spieler werden deshalb umfassend betreut und intensiv auf ihrem Schul- oder Ausbildungsweg begleitet. Um den schwierigen Spagat zwischen Leistungssport und Schule zu ermöglichen, ist der Verein eine Kooperation mit der benachbarten Gesamtschule eingegangen. Lehr- und Trainingspläne sind sinnvoll aufeinander abgestimmt, für pädagogische Betreuung ist immer gesorgt. Sechs Nachwuchsspieler wohnen sogar in Schulnähe gemeinsam in einem gut bürgerlichen Reihenhaus, dem Jugendtalenthaus des FC St. Pauli, betreut von Claus Teister. 17. O-Ton: Teister mit Theo (20" / 1'38) Kooperationsschule, Internat und Leistungszentrum - in dem Dreieck bewegst Du Dich von Montag bis Freitag (...) weil das System so aufgebaut ist, dass kaum der gleiche Unterricht ausfällt. Ja? Verstanden? Autor (auf den O-Ton): Theo spielt zur Zeit noch bei Concordia Hamburg. Er hat Talent und wurde deshalb vom FC St. Pauli angesprochen, ob er nicht den Verein und auf die Julius-Leber-Schule wechseln wolle. Mit seinem Vater ist der zukünftige Elftklässler heute zu Teister ins Leistungszentrum gekommen, um sich zu informieren. Theos Ziele: Profi und Abitur. 18. O-Ton: Theo hat eine Frage (38") Haben Sie Fragen Herr Gannitis? Theo Du? (...) dass Du Deine Sachen wirst transportieren müssen. Autor (auf den O-Ton): Theo wird lange Fahrwege auf sich nehmen müssen. Weil Sport und Schule aber nicht in Konkurrenz zueinander stehen, sondern sich ergänzen, wird er letztlich mehr Freizeit haben als vorher. Und er wird, sagt Teister, etwas fürs Leben gelernt haben. 19. O-Ton: Teister über Tugenden (26") Disziplin, Pünktlichkeit, Kritik vom Trainer, von den Betreuern, von den Eltern, von den Mitspielern, was hier täglich sechs mal die Woche für die Spieler im Schulprojekt, für die anderen vier mal stattfindet, das sucht seinesgleichen. Das heißt, diese Tugenden, die sie mitbringen, machen sie für's Alltagsleben sehr, sehr fit und für's Berufsleben auch noch mal. Atmo: Reeperbahn abends Autor: Freitagabend auf der Reeperbahn, so gegen neun. Um diese Zeit sei das Operettenpublikum unterwegs, sagt Ulrich Wagner, Leiter der wohl berühmtesten Polizeiwache der Welt, der Davidwache. Dann sei es hier noch vergleichsweise ruhig. 20. O-Ton: Wagner über die drei Gesichter St. Paulis (18") Tagsüber ist St. Pauli ein ganz ruhiger, beschaulicher Stadtteil, fast wie ein Dorf mit einer ganz bunten, sehr toleranten Einwohnerschaft. Abends wird's dann eher so Touristenanziehungspunkt und in der Nacht dann eben die Partymeile. Das sind so die drei wesentlichen Gesichter, die St. Pauli zeigt. Atmo: Reeperbahn nachts 21. O-Ton: Wagner über gewalttätige Jugendliche (50") Wenn's hier dunkel wird, kurz nach Mitternacht, dann fängt St. Pauli an, sein hässliches Gesicht zu zweigen. Insbesondere am Wochenende sind hier ganz, ganz viele Heranwachsende hier. Unsere Zielgruppe ist so 18 bis 25, die einen ungeheuren Alkoholkonsum an den tag legen, die eine ungeheuer hohe mitgebrachte Aggressivität an den Tag legen. Die Hemmschwelle, Gewalt anzuwenden sinkt. Das führt ganz häufig zu Körperverletzungen, Hauereien, aber es werden auch Messer oder Glasflaschen zu Hilfe genommen, als Waffe eingesetzt. Und bei ungefähr hunderttausend Besuchern am Wochenende hier auf St. Pauli, da passieren schon die einen oder anderen Taten, wo wir dann auch relativ zügig hinfahren müssen, wo auch relativ forsch im Auftreten sein müssen, damit wir die Lage vor Ort beruhigen. Die Gewalt schlägt oft um gegen die Polizeibeamten. Atmo: Glocken der St. Pauli Kirche 2 - darüber: Autor: So friedlich das Dorf St. Pauli bei Tage erscheint, so bedroht ist diese Welt. Denn der Kiez, so will es die Politik, so wollen es die Investoren, soll verändert, schicker werden. Und könnte dabei seine Seele verlieren. Pastor Wilm: 22. O-Ton: Wilm über das soziale St. Pauli (15") Viele Menschen werden hier durch eine Nachbarschaft, durch ein Netzwerk mitgetragen, die woanders in sehr teuren therapeutischen Einrichtungen untergebracht werden müssten, wo sie aber auch nicht glücklicher wären. Atmo: Davidstraße - darüber: Autor: Wenn man am späten Abend an der Davidwache vorbei in Richtung Hafen läuft, vorbei an den Damen des nächtlichen Gewerbes, vorbei an ein paar alten Kneipen, vorbei am Eingang der Herbertstraße, wird es nach hundert Metern schlagartig ganz still. Wo bis vor ein paar Jahren Bier gebraut wurde, wo sich früher die Seemänner amüsierten, ragen heute an der linken Straßenseite kalte, moderne Fassaden in den Himmel. Wohnungen - zum Teil übrigens durchaus erschwinglich für junge Familien und alte Kiezbewohner -, Büros, ein gelacktes Restaurant und ein Luxushotel sind hier in den letzten Jahren entstanden. 23. O-Ton: Wilm über Verdrängung der Tagesprostitution (1'08) Die neue Architektur auf dem ehemaligen Gelände der Bavaria-St. Pauli- Brauerei ist natürlich eine austauschbare Architektur. Man kann dort nicht kieziges an der Stelle mehr erkennen, sondern nur die glatte Fassade. Besonders extrem natürlich in der Hopfenstraße, das war die Straße direkt an der Mauer zum Brauereigelände. Dort war die Tagesprostitution. Eine ganz andere Prostituierte als sonst die, die in der Nacht unterwegs sind. Frauen, die machen's Fenster auf, legen ein dickes Kissen hin und gucken eben tagsüber aus dem Fenster und dann sind's LKW-Fahrer oder Geschäftsleute, die dort halten und sich anlocken lassen. Die Tagesprostitution ist verdrängt worden an dieser Stelle. Das finde ich schon schlimm, weil diese Frauen, die eben im reiferen Alter sind, ganz schlecht noch woanders sich neu etablieren können. Hört sich vielleicht komisch an, dass ein Pastor mit Prostituierten Mitleid hat. Man könnte doch auch Sagen, das sind DIE Sünderinnen und sind diejenigen, auf die wir Alle mit einem moralischen Finger zeigen, aber das sehe ich doch ein bisschen differenzierter. Autor: St. Pauli hat sich verändert und wird sich weiter verändern. Aber Veränderung, sagt Pastor Wilm, sei Teil des Lebens und ja auch nicht immer schlecht. Allein dass es wieder so viele Familien mit Kindern im Kiez gebe, sei doch schön. Auch der FC St. Pauli wird sich weiter ändern, professioneller und kommerzieller werden, werden müssen, wenn man im Profifußball mithalten will. Das sehen auch die meisten Fans ein, solange ihr "Pauli" trotzdem IHR Stadtteilverein bleibt, solange der FC St. Pauli wie es in den Leitlinien des Vereins heißt, "ein Lebensgefühl und Sinnbild des authentischen Sports" vermittelt. Der FC St. Pauli ist eben mehr als nur ein Bundesligaclub. Der FC St. Pauli ist Gemeinschaft. 24. O-Ton: Wilm über "You'll Never Walk Alone" Als wir den Neujahrsempfang hatten in unserer Gemeinde, waren 300 Leute in der Kirche und wir haben natürlich zum Schluss alle miteinander "You'll Never Walk Alone" gesungen, also die undeklarierte Hymne des FC St. Pauli. "You will never walk alone", Du wirst nie alleine unterwegs sein, das ist natürlich ein wunderbares Lied, eine Hymne, die sehr, sehr viel mit biblischen Texten zu tun hat. Das ist der 23. Psalm: "Und wenn ich auch wanderte im finsteren Tal, so fürchte ich doch kein Unglück, denn Du bist bei mir." Und natürlich sind im Fußball so viele religiöse Themen. Und die Leute kommen immer und sagen: "Herr Pastor, beten Sie mal dafür, beten Sie mal, dass der FC St. Pauli aufsteigt. Und das ist jetzt natürlich etwas, wo sich Alle drauf freuen. Das ist natürlich wunderbar. Wir freuen uns riesig. Atmo: Stadion "You'll Never Walk Alone" - schon unter den 24. O-Ton legen 25. O-Ton: NDR-Reportage (30") Ruben Hennings. 4:1. Party. Das ist der 5. Aufstieg für St. Pauli in der Clubgeschichte. Keine andere Mannschaft hat so oft getroffen, kein anderes Team hat so viele Spiele gewonnen wie der FC St. Pauli und deshalb steigen sie verdient auf in die Bundesliga. -ENDE BEITRAG Dammann- MOD 100 Jahre Freud und Leid. 100 Jahre FC St. Pauli, der Kiezverein. Ulf Dammann, ein bekennender HSV-Fan, blieb fair. Am Mikrofon verabschiedet sich von Ihnen Claus Stephan Rehfeld. -ENDE Sendung-